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CLAUS ROXIN

25 Jahre Karl-May-Gesellschaft(1)



Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Bei Gründung der Karl-May-Gesellschaft, an jenem denkwürdigen, wenn auch damals recht prosaischen 22. März 1969, haben wohl wenige geglaubt, daß die KMG 25 Jahre später noch existieren würde; und niemand wird ernstlich vermutet haben, daß die KMG zu ihrer heutigen Größe und Bedeutung aufsteigen würde. Wie es dazu gekommen ist, wissen wir alle; teils aus eigenem Miterleben, teils aus dem soeben erschienenen Buch von Erich Heinemann, das die Geschichte der KMG umfassend darstellt.(2)

   Ich brauche das nicht zu wiederholen und will mir deshalb heute – in internem Kreise – erlauben, die ›Gedanken und Erinnerungen des Vorsitzenden‹, um die ich gebeten worden bin, ganz aus meiner subjektiven Sicht vorzutragen. Dabei wird hoffentlich auch einiges objektiv Buchenswerte zur Erörterung kommen, weil die Sicht des Vorsitzenden, der alles aus nächster Nähe miterlebt und mitbeeinflußt hat, als objektiver Faktor in die Geschichte unserer Gesellschaft eingegangen ist.

   Nicht ohne Rührung sehe ich, daß von den elf Gründungsmitgliedern, die damals in Hannover anwesend waren, heute noch – von mir abgesehen – sieben der KMG angehören: Ekkehard Bartsch, Erich Heinemann, Hartmut Kühne, Kurt Morawietz, Ulrich von Thüna, Ursula Wardenga und Mario Wernerus. Nur drei der Urgründer, die schon damals die 60 überschritten hatten (Ernst Hildebrandt, Bernhard Scheer und Alfred Schneider), sind in hohem Alter verstorben.

   Wir Mitglieder der ersten Stunde hatten an jenem 22. März, wenn ich ganz ehrlich sein soll, nicht das Gefühl, mit unserem Gründungsakt etwas Bedeutendes und für alle spätere Karl-May-Forschung Grundlegendes getan zu haben. Wohl waren wir alle der beschwörenden Aufforderung Alfred Schneiders gefolgt und auch bereit, mehr oder weniger aktiv mitzuarbeiten. Aber wir alle wußten nicht recht, was wir tun sollten. Gewiß: Ein Jahrbuch war von Anfang an unser großes Ziel. Aber wir hatten damals noch fast keine Mitglieder, wir hatten kein Geld, keinen Verleger und noch nicht einmal Beiträge.

   Es entwickelte sich dann zunächst auch alles ganz trostlos, so wie Erich Heinemann es in seinem Buch geschildert hat. Der Gedanke, mich ernsthafter für die KMG zu engagieren, kam mir erst im Laufe von Monaten. Alfred Schneider hatte mir vor der Gründung beruhi-


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gend versichert, es sei nicht daran gedacht, meine wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen; es gehe ihm nur um die Werbewirkung meines Professorentitels. Wie hätte ich daraus folgern sollen, daß meine besten Mannesjahre von ständiger und zeitraubender Karl-May-Arbeit begleitet sein würden? Als ich in die KMG eintrat, besaß ich noch nicht einmal einen einzigen Fehsenfeld-Band und war auch sonst in Sachen der Karl-May-Forschung ein echtes Greenhorn. Zwar hatte ich die Bücher von Stolte, Wollschläger und Hatzig gelesen; aber ich kannte keinen dieser Autoren persönlich. Die Vorstellung, aktiv in der Karl-May-Forschung hervorzutreten oder gar Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft zu werden, lag mir am Anfang ganz fern.

   Das änderte sich erst, als ich erkannte, daß unser gewählter Vorsitzender die Karl-May-Gesellschaft nicht würde zum Erfolge bringen können, ja, daß er dies vielleicht nicht einmal wollte. Schon am 10. April 1969 erhielt ich in Westerland auf Sylt, wo ich damals Urlaub machte, lange Briefe der Herren Schneider und Kühne, die von mir ein aktives Eingreifen verlangten; nur so könne der Untergang der vor kaum drei Wochen gegründeten Gesellschaft verhindert werden. Wir hatten dann am 7. Juni in Hildesheim und am 2. August in Hamburg Vorstandssitzungen, die keine entscheidende Förderung brachten. Immerhin erschien im September unser erstes Mitteilungsblatt mit einem von mir im Namen des Vorstandes verfaßten Geleitwort. Welches Mißfallen das Heft bei unserem Vorsitzenden und auch bei Roland Schmid erregte, hat Erich Heinemann anschaulich geschildert.

   Diese Erfahrung gab bei mir den Ausschlag. Die dritte Vorstandssitzung am 25. Oktober fand in meinem Hause in Göttingen statt. Der Vorsitzende war nicht erschienen. Alfred Schneider, Erich Heinemann und ich waren unter uns. Die Quintessenz unserer Beratungen faßt mein Tagebuch in dem Satz zusammen: »Herrn Scheer soll der Austritt nahegelegt werden.« An diesem Tage wurde mir klar, daß ich den Vorsitz würde übernehmen müssen, und zwar in einer scheinbar aussichtslosen, auch damals schon von Prozessen und ständigen Interventionen von außen bedrohten Lage. Seit jenem Tage – und nicht erst seit meiner Wahl im Jahre 1971 – habe ich dann auch praktisch die Vorstandsgeschäfte geführt.

   Heute frage ich mich, warum ich das damals gemacht habe. Ehrgeiz war daran sicher nicht beteiligt. Denn nach allen bisherigen Erfahrungen konnte ein solches Amt nicht Ruhm, sondern nur Mühe und Ärger mit sich bringen. Auch wird ein Professor, der gerne berühmt werden möchte, dies besser auf seinem Fachgebiet als ausgerechnet mit Hilfe einer Karl-May-Gesellschaft versuchen. Es war aber immerhin ein dem Ehrgeiz ähnliches Motiv, das mich leitete. Ich überblickte die Vielzahl meiner erfolglosen Vorläufer, die Herren Zimmermann, Coböken, Droop, Barthel, Beissel, Henniger und Scheer.(3) Ich sah, daß


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sie alle in hochgemutem Optimismus angetreten waren, vor den alsbald auftauchenden, jeweils ganz verschiedenartigen Schwierigkeiten aber sehr rasch die Waffen gestreckt hatten. Das ist ganz verständlich. Alle arbeiteten ehrenamtlich und waren mit einer Mischung von Verehrung und Idealismus, obgleich ohne klares Konzept, an ihre Aufgabe herangegangen. Wenn dann die Realität einer Vereinsgründung weit von den freundlichen Vorstellungen abweicht, die man damit verbunden hat, wenn die Widerstände sich häufen und die Ärgernisse überhandnehmen, sagt man sich: »Wozu hast Du das eigentlich nötig?« und kehrt der Sache resigniert den Rücken.Dies alles bedenkend, habe ich mir damals gesagt: Es muß einmal einer kommen, der den Wid-rigkeiten standhält, der nicht aufgibt, der seinen Optimismus nicht erschüttern läßt, sondern ihn auf die Mitarbeiter und Mitglieder überträgt und dadurch der Sache einen Schwung gibt, der sie über die Schwierigkeiten des Beginns hinaushebt. ›Aller Anfang ist schwer‹, sagt schon das Sprichwort. Wie soll man etwas Bleibendes schaffen, wenn man dieser trivialen Erkenntnis nicht Rechnung trägt und meint, es müsse alles leicht gehen? So waren meine schlichten Gedanken.

   Dazu kam jener Impuls, den ich als etwas dem Ehrgeiz Ähnliches bezeichnet habe. Ich hatte mir als Junge vorgenommen, einmal etwas für den Mann zu tun, der mir in einer schwierigen Lebensphase so viel gegeben hatte. Mir war klar: Wenn ich dieses innere Versprechen meiner Kinderzeit einlösen wollte, mußte es jetzt geschehen, oder es würde nie geschehen. Daraus entwickelte sich die etwas überwertige Idee: Wenn Du jetzt nicht in die Bresche springst, wird es eine Karl-May-Gesellschaft und eine May-Forschung, wie sie dann später entstanden ist, nie mehr geben. Das mag ein überheblicher Irrtum sein. Aber der für die meisten Menschen sicherlich wunderliche Gedanke, auf dem Gebiet der Karl-May-Forschung eine Mission zu haben, hat mich nie ganz verlassen. Wir alle gehen in Spuren und schneiden uns unsere Lebensentwürfe nach kindlichen Träumen zurecht. So dachte ich mir, daß es dem Mythos, in dessen Bannkreis wir uns bewegten, ganz entspreche, wenn nicht nur Karl May, sondern auch seine Gesellschaft in Ardistan geboren war, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.(4) Aber am Rande des Horizontes leuchteten die Vulkane von Dschinnistan.

   Dies sind, meine Damen und Herren, Tagträumereien, wie sie auch erwachsene Menschen manchmal noch heimsuchen. Man gibt sie, wie schon Freud wußte, normalerweise nicht preis – aus Furcht, sich lächerlich zu machen. Aber so war es, und so soll es nach 25 Jahren einmal gesagt sein. Freilich liegt zwischen dem Entschluß, eine solche Aufgabe zu übernehmen, und der KMG, wie sie heute vor uns steht, ein sehr weiter Weg. Auf diesem Weg bedurfte es neben den schönen Visionen, die wir alle hatten, eines sehr ausgeprägten Realitätssinnes.


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Ich hätte mich aller irrationalen Antriebskräfte ungeachtet an die Sache nie herangetraut, wenn ich nicht im ersten halben Jahr unserer Gesellschaft, in dem praktisch nichts geschah, eine konkrete Vorstellung davon gewonnen hätte, wie die Sache auf den Weg gebracht werden könnte. Mir war deutlich geworden, daß unter den Mitgliedern der ersten Stunde drei waren, die nach ihren Fähigkeiten und nach ihrer Persönlichkeit geeignet waren, eine leistungskräftige Organisation aufzubauen: Alfred Schneider, Erich Heinemann und Hansotto Hatzig. Der Gedanke, mit diesem Triumvirat zu arbeiten, das ähnlich motiviert war wie ich, erwies sich als überaus glücklich. Noch heute wirkt die Gesellschaft auf den Grundlagen, die diese Drei geschaffen haben. Zwei von ihnen – Hatzig und Heinemann – nehmen ihre Ämter mit dem Engagement des Anfangs noch immer wahr. Ich danke ihnen für entscheidende Beiträge, die wichtiger waren und sind als das, was ich tun konnte. Alfred Schneider – seit 1983 im Ruhestand – ist 1985 verstorben. Aber die KMG ist sein Werk mehr als meines, und er hat das Gelingen dieses Werkes noch erlebt.

   Doch lassen Sie mich zu den Geschehnissen zurückkehren! Eine funktionierende Organisation ist die notwendige Voraussetzung jeder Institution. Aber für die Forschung, die unser Ziel war, braucht man natürlich auch möglichst bedeutende Forscher. Es war einer der entscheidenden Fehler bei früheren Bemühungen um eine Karl-May-Gesellschaft, daß die Verantwortlichen glaubten, eine Anzahl begeisterter Amateure könne eine Gesellschaft tragen. Wir ›Administratoren‹, zu denen noch einige Gründerväter, wie Bartsch und Kühne, hinzukommen, wollten zwar auch an der Forschung mitwirken und haben das später nach besten Kräften getan. Meine Überzeugung war aber, daß wir einen Durchbruch in der breiteren Öffentlichkeit nur würden erzielen können, wenn wir die beiden namhaftesten May-Forscher der Gegenwart, Heinz Stolte und Hans Wollschläger, für ein aktives Engagement in unserer Gesellschaft würden gewinnen können. Beide waren ihr schon am Gründungstage beigetreten, hatten sich aber in den folgenden Monaten abwartend verhalten, und zwar aufgrund der zutreffenden Erkenntnis, daß aus der KMG wohl nichts werden würde, wenn es mit ihr so weiterginge wie am Anfang.

   Ich trat also mit beiden, die ich persönlich noch gar nicht kannte, in briefliche Verbindung und stieß mit meinen Vorstellungen auf ein erfreuliches Echo. Schon im zweiten Mitteilungsheft, das im Dezember 1969 erschien, konnten wir einen Aufsatz Stoltes abdrucken. Dem sind dann in den Jahrbüchern 1971-1992 siebzehn große Beiträge gefolgt, die für unsere Arbeit repräsentativ waren und sie maßgebend geprägt haben. Da wir inzwischen mehr als 100 Mitglieder hatten, erklärte ich in meinem Einführungsartikel das Jahrbuch 1970 kurzerhand für finanziell gesichert. Die ca. 2000 DM, die wir dafür hätten aufwenden


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können, hätten aber höchstens für eine hektographierte Broschüre gereicht. Ich betonte daher vorsichtshalber, daß die »Ausstattung im einzelnen (. . .) noch von der weiteren Entwicklung des Mitgliederbestandes und der Spendenkasse abhängt«. Auch vom Inhalt des Jahrbuches hatten wir damals noch keine klare Vorstellung. Ich mache darüber in der Einleitung zum zweiten Mitteilungsheft zwar einige Andeutungen, aber das Jahrbuch 1970, das unsere Reihe im nächsten Herbst so glücklich eröffnen sollte, sah dann doch sehr viel anders aus.

   Der ›neue Kurs‹ im November und Dezember 1969 hatte aber immerhin die Grundlage für eine erfolgversprechende Arbeit geschaffen. Die große Wende brachten dann die Monate Februar, März, April 1970. Was in diesen drei Monaten entstand, besteht noch heute. Am 14. Februar erhielt ich einen Anruf Alfred Schneiders: Ein Verleger für unser Jahrbuch sei gefunden! Es war Herr Heinz W. Hass, den ich Ihnen nicht vorzustellen brauche und der zu unserer großen Freude trotz seines inzwischen hohen Alters heute unter uns ist. Heinz Stolte war der ›Finder‹ dieses für uns so unersetzlichen Verlegers. Er hatte ihn mit Herrn Schneider in seiner Wohnung aufgesucht und für das Projekt gewonnen. Unter dem 7. März vermelden meine Aufzeichnungen: »17.00 Uhr bis 3.00 Uhr nachts: das Ehepaar Wollschläger bei uns in Göttingen zu Gast. Karl-May-Gespräche und -pläne.« Dieser zehnstündige Besuch war in seinen Folgewirkungen nicht weniger wichtig als der Verlegerfund vom 14. Februar. Denn nicht nur wurde an diesem Tage eine Freundschaft begründet, die sich bis heute bewährt hat. Hans Wollschläger erklärte sich auch bereit, am Jahrbuch als Redakteur und Autor mitzuwirken. Er ist dann auch wirklich mit zwei Beiträgen darin vertreten und hat zusammen mit Ekkehard Bartsch die entscheidende Redaktionsarbeit daran geleistet. Seine großen Jahrbuchbeiträge in den drei Folgejahren haben an der Anerkennung, die unsere Arbeit in der Öffentlichkeit gefunden hat, maßgeblichen Anteil. Am 10. März ging der Jahrbuchbeitrag von Hainer Plaul und Klaus Hoffmann ein; damit war zu diesen beiden May-Forschern im östlichen Teil Deutschlands eine Verbindung geknüpft, die neben den Arbeiten von Stolte und Wollschläger für die Publikationen unseres ersten Jahrzehnts entscheidende Bedeutung gewonnen hat.

   Aber es ging dann Schlag auf Schlag weiter. In meinen Aufzeichnungen vom 14. März, also schon einige Tage später, heißt es: »Langer Brief an Scheer. Aufforderung zur Niederlegung des Vorsitzendenamtes.« Am 26. März finde ich den Eintrag: »15.15 – 1.30 Uhr nachts: Besuch von Herrn Bartsch. Alle Fragen der KMG diskutiert.« Das waren wieder zehn Stunden, und sie haben ähnliche Früchte getragen wie der Besuch Hans Wollschlägers. Denn Ekkehard Bartsch wurde nicht nur neben Wollschläger der maßgebende Redakteur der ersten Jahrbücher; er hat auch in das Jahrbuch 1970 aus Beständen des Karl-May-


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Verlages die große Dokumentation der Wiener Rede Karl Mays eingebracht, die dann das Glanzstück des Jahrbuches gebildet hat. Am 12. April habe ich zusammen mit Herrn Schneider Herrn Hass in Hamburg besucht und einen Jahrbuchvertrag mit ihm ausgehandelt. Der Vertrag wurde am 14. April von Herrn Hass und am 20. April von mir unterzeichnet.

   Damit war die Gründungsphase der KMG abgeschlossen. Am 4. Mai fuhr ich zu Berufungsverhandlungen nach München und konnte einer neuen Epoche meines Lebens, aber auch der weiteren Entwicklung der KMG mit gespannter Erwartung entgegensehen.

   Sie wissen, daß die Geschichte der KMG dann ähnlich abenteuerlich weitergegangen ist. Aber auf der Kippe stand ihr Schicksal nur im ersten halben Jahr; und gesichert wurde ihre Zukunft in den geschilderten drei Monaten des beginnenden Jahres 1970. Was dann an Schwierigkeiten noch kam – Prozesse, anonyme Polemiken unter dem Motto ›Die Zukunft in falschen Händen‹, Konkurrenz- und Gegengründungen –, hat zwar viel Mühe mit sich gebracht und die von mir erwähnte Durchhaltebereitschaft auf eine harte Probe gestellt. Aber eine existentielle Bedrohung für die KMG haben diese Aktionen nicht mehr bedeutet. Und das hat seine Ursache in einem Faktor, der für das Gedeihen einer Gesellschaft dasselbe Gewicht hat wie Organisation und Forschung: der Solidarität der Mitglieder. Keiner der Angriffe, die gegen die KMG geführt worden sind, hat Resonanz gefunden. Die Mitglieder erhöhten ihre Spenden, verstärkten ihr Engagement und haben aus dem kleinen Kreis der Gründer eine blühende Groß-Gesellschaft gemacht, deren Produktivität und Rührigkeit bei kaum einer anderen literarischen Gesellschaft eine Parallele hat. Alle gegnerischen Aktivitäten, die das erste Jahrzehnt der KMG begleitet haben, sind in sich zusammengebrochen; niemand spricht mehr von ihnen. Mit dem Karl-May-Verlag, mit dem wir anfangs so viele Konflikte hatten, besteht heute eine gute Zusammenarbeit, auf deren Intensivierung wir hoffen.

   Die weitere Entwicklung der KMG brauche ich nicht mehr zu schildern. Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich sage, daß es sich um eine märchenhafte Erfüllungsgeschichte handelt. Alles, was wir bei der Gründung gewünscht haben, ist in Erfüllung gegangen; und es ist vieles entstanden, wovon damals niemand auch nur zu träumen gewagt hätte. Wer hätte sich damals vorstellen können, daß nach 25 Jahren das gesamte Werk Karl Mays wieder im Originaltext vorliegen würde, im Faksimile des Erstdrucks, aber auch im Neusatz, und vieles sogar in mehreren Ausgaben? Wer hätte an die Entstehung von 24 Jahrbüchern glauben mögen, mit grundlegenden Forschungsbeiträgen, in edles Leinen gebunden, mit Schutzumschlag und in sorgfältiger typographischer Gestaltung? Kaum eine andere Gesellschaft kann so schöne


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Bücher vorzeigen; die alte Radebeuler Jahrbuch-Reihe haben wir weit übertroffen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Zahl der Bände als auch auf ihren Inhalt und ihre Ausstattung. Wer hätte uns etwa je 100 Mitteilungs- und Sonderhefte prophezeien mögen, die Hansotto Hatzigs liebevoll sorgende Hand an das Licht der Druckerschwärze befördert hat und die den Kreativitätsstrom unserer Autoren auch über die Jahrbücher hinaus auf ein fruchtbares Land leiten? Wer hätte mit 15 Materialienbänden aus Karl Serdens KMG-Presse und mit noch zahlreicheren Büchern gerechnet, die Mitglieder der KMG in anderen Verlagen herausgegeben haben? Nie hätte ich im Sommer 1969 geglaubt, daß heute im Kröner-Verlag ein Karl-May-Handbuch neben dem Shakespeare- und dem Thomas-Mann-Handbuch einträchtig im Regal stehen würde und daß ein 800 Seiten starkes Karl-May-Figurenlexikon in 2. Auflage würde erscheinen können! Wer hätte an die Möglichkeit einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Mays auch nur zu denken gewagt? Wem wäre vor 25 Jahren der Gedanke in den Sinn gekommen, daß die KMG heute im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften vertreten sein, daß der deutsche Germanistentag ihr seine besondere Beachtung schenken, daß Universitätskongresse über Karl May (in Bonn und Wien) stattfinden und daß Mitarbeiter aus Radebeul und Hohenstein-Ernstthal an diesem Tag in unserer Mitte sein würden? Es ließe sich noch sehr viel mehr aufzählen. Sie wissen, daß Karl May das Renommieren liebte. Und es ist sicher richtig, daß ein in seinen Spuren wandelnder Vorsitzender wenigstens bei Jubiläumsanlässen Gefahr läuft, in dasselbe Fahrwasser zu geraten. Aber in diesem Falle besteht für die Kunst schönrednerischer Übertreibung einfach kein Bedarf. Es ist eine schlichte Tatsache, daß die Arbeit der KMG einen überwältigenden Erfolg gehabt hat.

   Die diesen Erfolg ermöglicht haben, sitzen hier unter uns: die Mitarbeiter des engeren Kreises und auch die Mitglieder in einer repräsentativen Auswahl aus Hannover und dem weiteren Deutschland. Ich will jetzt nicht die Verdienste aller einzelnen rühmen. Denn da käme ich an kein Ende. Aber ich will doch sagen, daß fast alle, die am Anfang dabei waren, auch heute noch in verantwortungsvoller Funktion mitarbeiten. Alfred Schneider und Heinz Stolte, der am 25. Geburtstag der KMG 80 Jahre alt geworden wäre, hat der Tod uns genommen; wir gedenken ihrer in Dankbarkeit. Daß Renate Stolte heute unter uns ist und daß auch Margot Schneider hier wäre, wenn nicht Krankheit sie daran gehindert hätte, symbolisiert eine Verbundenheit, die über den Tod hinausreicht. Zu erwähnen ist aber auch, daß wir unseren Mitarbeiterstamm wunderbar ergänzt haben. Die wichtigsten administrativen Posten, die die KMG zu vergeben hat, sind die des Geschäftsführers und des Schatzmeisters: Sie sind mit Erwin Müller und Uwe


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Richter geradezu optimal besetzt. Ihnen ist es vor allem zu verdanken, daß der Geschäftsbetrieb reibungslos läuft, und dies ist wiederum eine der wichtigsten Voraussetzungen für die ständig wachsende Zustimmung der Mitglieder. Auch die Gewinnung dieser beiden tragenden Säulen unserer Organisation beruht auf jenen Fügungen, an denen die Geschichte der KMG so reich ist.

   Ich hatte an jenem schicksalsschweren 21. März 1981, als auf dem fernen Hof Borstel bei Carl-Heinz Dömken über Alfred Schneiders Nachfolge entschieden werden mußte, den naheliegenden Gedanken, Erich Heinemann zum neuen Geschäftsführer zu machen. Er aber, der allein wußte, wie krank er damals war, winkte ab. Da sagte Erwin Müller, der als Organisator der Berliner Tagung unter uns war, ganz schlicht: »Ich kann das machen.« Und wie er es konnte, haben wir nun schon elf Jahre lang gesehen!

   Ähnliches Glück hatten wir mit unserem Schatzmeister. Nachdem Herbert Meier und Walther Ilmer dieses Amt aufopferungsvoll und übergangsweise sechs Jahre lang betreut und dadurch den Fortbestand der KMG gesichert haben – denn sie kann ohne einen tüchtigen Schatzmeister nicht existieren –, meldete sich bald nach der Wiener Tagung 1987 Uwe Richter bei mir, den ich bis dahin gar nicht kannte. Er wolle auch einmal etwas für die KMG tun und zusammen mit seiner Frau die Sammlung von Zitaten aus dem May-Werk, die Dr. Franz Zhernotta noch nach den bearbeiteten Ausgaben zusammengestellt hatte, auf den Originaltext zurückführen, ins reine schreiben und den Mitgliedern zugänglich machen. Daß das Ehepaar Richter auf diese Weise dem alten Wiener May-Forscher seinen letzten Wunsch erfüllt und den Mitgliedern ein schönes Lesebuch geschenkt hat, verriet einen uneigennützigen und edlen Charakter. Als ich dann sah, daß Herr Richter Finanzfachmann war, wurde mir sofort klar: hier hat uns der Große Geist unseren neuen Schatzmeister zugeführt! Und er hat dann auch unser Finanzwesen trotz Rezession und immer steigenden Ausgaben zu einer einmaligen Blüte gebracht.

   Neu im Vorstand ist seit 1987 auch Helmut Schmiedt, der vielleicht mein Amt einmal übernehmen wird. Er ist, wenn ich recht sehe, zuerst im März 1975 im Mitteilungblatt Nr. 23 als damals 25jähriger Doktorand mit einem Aufsatz ›Waldkönig und Buschgespenst‹ hervorgetreten. Auch bei ihm hatte ich damals gleich den Eindruck: »Das ist unser Mann!« Jedenfalls stehen wir seither in ständigem Briefwechsel, und unsere Zusammenarbeit ist immer enger geworden. Herr Schmiedt nimmt mir vieles ab: die immer zahlreicher werdenden Kontakte zur Universitätsgermanistik liegen fast ganz in seiner Hand. Er hat vor den verschiedensten Gremien als Repräsentant unserer Gesellschaft unzählige Karl-May-Vorträge gehalten; nur Walther Ilmer kann darin mit ihm wetteifern. Er hat den Kongreß an der Universität Bonn organi-


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siert; er verhandelt mit den Rednern für die Segeberger Tagung; und er wird die KMG auch auf dem Germanistentag in Aachen vertreten. Kurzum: er ist eine unentbehrliche Stütze der Gesellschaft!

   Über den Kreis der Vorstandsmitglieder hinaus bildet die Gesamtheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ob sie schreiben, zeichnen oder Klavier spielen, redigieren, Druckvorlagen, Prospekte oder werbende Artikel herstellen, ob sie die KMG durch Vorträge repräsentieren, Sammelbände herausgeben, den Spendern danken, die Medien mit Informationen versorgen, Ausstellungen oder Auktionen organisieren, Register verfassen, Schriften versenden, Forschungsfragen beantworten, juristisch beratend tätig werden oder sonst eine Aufgabe verwalten, einen Organismus von erstaunlicher Leistungskraft. Und diese Menschen verwirklichen ein Stück gelebter Sozialethik auf der Grundlage heute altmodisch gewordener Tugenden, deren Wiederbelebung vielleicht auch anderen gesellschaftlichen Bereichen guttäte. Dazu gehört die Ehrenamtlichkeit aller Mitarbeit; selbst die Reise- und Übernachtungskosten einer Vorstands- und Mitarbeitersitzung zahlt jeder aus eigener Tasche. Es ist anerkannt, daß niemand Sonderinteressen verfolgen und daß die Person des einzelnen hinter der gemeinsamen Sache zurücktreten soll; die wenigen internen Zwistigkeiten, die wir natürlich auch in der KMG gehabt haben, beruhen auf der Vernachlässigung dieses Gesichtspunktes. Andererseits soll jeder seine je besondere Begabung einbringen und möglichst selbständig und unreglementiert entfalten können. Dadurch ergibt sich eine bunte Palette von Produktionen. Wir veröffentlichen hochgelehrte Abhandlungen, die jeder germanistischen Fachpublikation zur Ehre gereichen würden; aber wir bringen – z. B. in den KMG-Nachrichten – auch viel Information und Unterhaltung, so daß unterschiedliche Bedürfnisse der Mitglieder gleichermaßen befriedigt werden. Wichtigste Voraussetzung der Mitarbeit in der KMG ist schließlich, daß jedem seine Tätigkeit (mancher Mühe und unvermeidlichem Ärger zum Trotz) Spaß macht. Das muß so sein; denn ohne die Freude am Mitmachen wäre niemand für eine kostenlose und zeitraubende Arbeit motivierbar.

   Die geschilderten Grundsätze hat niemand vorformuliert. Sie haben sich ergeben. Sie haben aber eine gemeinsame Arbeit von großer Effizienz ermöglicht, die Schwung und gute Laune ausstrahlt. Darin liegt wohl auch das ›Geheimnis‹ unseres Erfolges. Die Mitglieder identifizieren sich mehr und mehr mit ›ihrer‹ KMG. Nur daraus ist es zu erklären, daß die Spenden des Jahres 1993 die des Jubiläums- und Rekordjahres 1992 noch wieder weit übertroffen haben. Auch die ständig steigende Außenwirksamkeit der KMG, die inzwischen auf dem deutschen Germanistentag ebenso willkommen ist wie im Llano estakado, beruht auf dem florierenden Teamwork der Mitarbeiter und dem aktiven Engagement eines großen Teiles der Mitglieder.


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   Bleibt denn überhaupt noch etwas zu tun für die nächsten 25 Jahre? Ich denke: übergenug! Mays handschriftlicher Nachlaß (darunter sein Briefwerk) ist immer noch erst zum geringsten Teil erschlossen, weil er der Forschung nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Auch die Prozeßakten seines letzten Lebensjahrzehnts (vor allem die Materialien der Münchmeyer-Prozesse) sind noch auszuwerten. Ich bin überzeugt, daß dies alles zwar große Arbeit erfordern, aber bis zum Jahre 2019 gelungen sein wird. Auch auf dem Felde der Werkinterpretation stehen wir noch vor großen Aufgaben. 25 Jahre haben nicht hingereicht, um auch nur eine einzige Monographie über Mays vielleicht bedeutendstes Werk, ›Ardistan und Dschinnistan‹, hervorzubringen. Und, fast noch erstaunlicher: Über eine der besten Reiseerzählungen Karl Mays, die drei Bände ›Im Lande des Mahdi‹ und über sein nach dem ›Winnetou‹ erfolgreichstes Werk, den ›Schatz im Silbersee‹, gibt es noch keinen Jahrbuchbeitrag. Entsprechendes gilt für manche andere Reise- und Jugenderzählung. Auch in institutioneller Hinsicht stehen wir noch vor großen Aufgaben: Das Institut für Amerikanistik der Universität Dresden will sich speziell mit der Karl-May-Forschung beschäftigen und braucht unsere Unterstützung; und auf weite Sicht wird unter der Federführung unseres Mitarbeiters Prof. Reinhold Wolff die Einrichtung eines ›Karl-May-Forschungszentrums für Reise- und Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts‹ geplant, zu dem wir viel werden beitragen können. Gehen wir also ans Werk! Wir haben nicht viel Zeit, auf unseren Lorbeeren auszuruhen.

   Meine Damen und Herren, die Gründung einer Karl-May-Gesellschaft war vor 25 Jahren eigentlich ein verrückter Entschluß. Aber ohne ein paar Verrückte wäre die Welt um manches Kulturwerk ärmer. Wir können heute mit Freude auf eine 25jährige Arbeit zurückblicken und sagen: Alle Mühe hat sich gelohnt. Ich bitte Sie, auf die nächsten 25 Jahre der KMG mit mir das Glas zu heben!



1 Rede anläßlich des Festaktes zum 25. Jahrestages der Gründung der Karl-May-Gesellschaft am 27. März 1994 in Hannover

2 Erich Heinemann: Eine Gesellschaft für Karl May. 25 Jahre literarische Forschung 1969-1994. Husum 1994

3 Vgl. ebd., S. 11-26.

4 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 8; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul


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