Wir beginnen mit zwei biographischen Beiträgen. Klaus Hoffmann zeichnet unter Auswertung der zeitgenössischen Lokalpresse erstmals das Bild des Gemeindebürgers Karl May, der sich uns als ein an der Entwicklung Radebeuls Anteil nehmender, an der Förderung des öffentlichen Wohls lebhaft mitwirkender Mann darstellt. Ulrich Schmid geht demgegenüber in weitgespannten Reflexionen auf dem Hintergrund des Hermes-Mythos und der jüngsten deutschen Geschichte der Rolle Mays als eines psychologisch einfühlsamen, beinahe analytischen Seelenführers nach. Er verdeutlicht das an der Beziehung Mays zu Wilhelm Einsle und zu Prinzessin Wiltrud von Bayern, aus deren unveröffentlichten Tagebüchern wir Aufschluß über verschiedene Begegnungen mit Karl May erhalten. Mays Briefwechsel mit Wilhelm Einsle und seine sämtlichen Briefe an das bayerische Königshaus hat die Karl-May-Gesellschaft bekanntlich schon in den Jahren 1983, 1991 und 1992 veröffentlicht.
Übergreifenden Themen der Werkinterpretation sind vier Studien dieses Bandes gewidmet. Wolfgang Hammer untersucht Die Rache und ihre Überwindung als Zentralmotiv bei Karl May und legt dar, daß bis zu der programmatischen Liebesethik der späteren Werke Mays ein langer, von vielen Rückschlägen begleiteter Weg zurückzule-
gen war. Es ließe sich sogar zeigen, daß noch im Spätwerk, das Hammer nicht mehr behandelt, Karl May von diesem Thema nicht loskam. Erst die kleine Erzählung Bei den Aussätzigen (1907) behandelt Die Rache und ihre Überwindung in einer für May abschließenden Form. Unabhängig von Hammer, aber parallel zu dessen Darlegungen, macht Gregor Seferens deutlich, daß Mays Idealbild des ursprünglich edlen, aber von den Weißen betrogenen und zugrundegerichteten Indianers das Ergebnis einer langen und nicht widerspruchsfreien literarischen Entwicklung ist.
Rudi Schweikert liefert in seinem Beitrag Von Befour nach Sitara ein Fantasiestück in philologischer Manier, indem er den Assoziationsvorgängen in der Psyche Mays nachspürt und damit wesentliche kreative Zusammenhänge in dessen weitgespanntem Werk erhellt für den Kenner eine faszinierende Lektüre! Regina Hartmann schließlich behandelt Behaustheitsphantasien bei Karl May und Ludwig Ganghofer und bringt damit zwei der bis heute wirkungsmächtigsten Schriftsteller der Jahrhundertwende in eine sicher nicht zufällige Beziehung. Freilich darf man vermuten, daß Behaustheitsphantasien solcher Art sich nicht nur im Kontext zeitgenössischer Befindlichkeit aufspüren lassen, sondern zur anthropologischen Grundausstattung unserer Spezies gehören. Aber das nimmt dem Vergleich nichts von seiner Aussagekraft.
Drei weitere Abhandlungen sind Studien zu Einzelwerken Mays. Christoph F. Lorenz bringt eine umfassende Analyse des Frühromans Auf der See gefangen und seiner späten Wiederkehr im Surehand-Roman; die Abhandlung ist zugleich eine der bisher gründlichsten Arbeiten über die Erzähltechnik in den frühen Abenteuerromanen Karl Mays.
Andreas Graf deutet den Verlorenen Sohn, Mays wahrscheinlich bedeutendsten, sicher aber am meisten autobiographischen Kolportageroman, mit großer Überzeugungskraft als Entwurf einer schriftstellerischen Karriere. Gerhard Neumann hatte am Beispiel der späten Reiseerzählung »Weihnacht!« schon vor Jahren (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1987) Das erschriebene Ich als zentralen Topos im Werk Karl Mays sichtbar gemacht. Hält man Grafs und Neumanns Texte heute nebeneinander, bekommt man frappierende Einblicke in die psychischen Antriebskräfte, die Mays enorme Produktivität ermöglichten, aber auch in die gewaltigen Unterschiede der literarischen Verarbeitung desselben Grundmotivs in den Formen der Kolportage und der schon zum Alterswerk hinüberleitenden Reiseerzählung.
Werner Kittstein, dem wir schon eine wertvolle Monographie über Karl Mays Erzählkunst (zu Mays Geist des Llano estakado) verdanken (Materialien zur Karl-May-Forschung. Bd. 15. Ubstadt 1992),
unternimmt eine Ehrenrettung von Mays Jugenderzählung Kong-Kheou, das Ehrenwort (Der blau-rote Methusalem). Die Geschichte verdient die exakt-liebevolle Würdigung, die ihr hier zuteil wird. Denn Mays einziger humoristischer Roman (der schon wegen dieser Besonderheit Aufmerksamkeit verdient) ist, wenn man die Märchenstruktur des Handlungsablaufs akzeptiert, ein erzählerisches Meisterwerk. Zutreffend rückt Kittstein auch die verbreitete Ansicht, der Roman zeige »kolonialistische Überheblichkeit in hoher Perfektion« (Koppen), ein wenig zurecht.
Die vier übrigen Beiträge des Jahrbuches bewegen sich auf unterschiedlichen Forschungsgebieten, haben es aber alle mit der Beziehung der Werke Mays zur Realität (der von ihm geschilderten Völker und Gegenden, aber auch ihrer Wirkung und Verbreitung) zu tun.
Michael Schmidt-Neke erörtert mit der kritischen Kennerschaft des Fachmannes zum ersten Mal das Thema Albanien bei Karl May. Wir sehen, daß May von Albanien wenig wußte, viel weniger als von den meisten anderen geographischen Räumen seiner Phantasie; um so verblüffender ist es, daß es der Erzählkraft Mays gelungen ist, das Land der Skipetaren zu einem geflügelten Wort zu machen und der deutschen Leserschaft einzuprägen wie kein zweiter Autor.
Brigitte Fleischmann untersucht unter kulturanthropologischem Gesichtspunkt Mays Schilderung der Apachen und beschäftigt sich vor allem mit seinem letzten Roman, Winnetou IV, in dem der Autor in desillusionierender Weise wenn auch im Dienste einer neuen Utopie den Indianermythos seiner klassischen Reiseerzählungen zerstört. Sie kommt dabei zu Erkenntnissen, die weit über das konkrete Thema hinausreichen und für jede Beschäftigung mit Karl Mays Darstellung fremder Länder gelten: daß nämlich »Fiktionalität auch ein unvermeidbarer Bestandteil echter Ethnographien ist, und dies nicht nur, weil die Sprache an der Wirklichkeit scheitert. Wenn wir uns diese Tatsache bewußt machen, wird es uns leichter fallen, nicht immer und in jedem Fall nach der Relation von Fakt und Fiktion zu fragen und statt dessen Karl Mays Ethnopoesie zu würdigen«.
Meredith McClain vergleicht Karl Mays Llano estakado mit der Wirklichkeit heute. Wir hören mit einiger Überraschung, daß Karl May über den Llano estakado viel besser informiert war als über Albanien, und wir erfahren auch, woher er über diese Gegend so relativ gut Bescheid wußte. Nicht ohne Rührung lesen wir, wie Karl May ein auslösender Faktor der heutigen Bemühungen ist, »den Einheimischen die spannende und wichtige, aber fast in Vergessenheit geratene Geschichte des Llano estakado nahezubringen«. Der Umstand, daß dort im Jahre 1993 ein Winnetou-Haus eingeweiht worden ist, zeigt, wie Mays Ethnopoesie auf die Realität zurückwirkt.
Die weltweite Wirkung Karl Mays demonstriert auch Hans-Dieter
Steinmetz, indem er die finnischen, tschechischen und slowenischen Karl-May-Übersetzungen, die schon zu des Autors Lebzeiten in den Einwandererverlagen der USA erschienen, vorstellt und mit bibliographischer Exaktheit dokumentiert. Die Studie zeigt, daß die Erforschung der fremdsprachigen Übersetzungen Mays noch ein weithin unbeackertes Feld ist; Steinmetz hat hier auf einem entlegenen Teilgebiet Pionierarbeit geleistet.
Die Literaturberichte von Helmut Schmiedt und Ruprecht Gammler würdigen, was sonst noch in der letzten Zeit über May veröffentlicht worden ist. So wird der Forscher über sämtliche Publikationen, die mit May zusammenhängen, umfassend informiert.
Unser Jahrbuch will freilich nicht nur Forscher, sondern jeden Leser ansprechen, der sich für Karl May und seine Welt ernsthaft interessiert. Ich denke mir, daß gerade die bunte Vielfalt des vorliegenden Bandes, der den Leser von Radebeul und Sachsen bis nach Albanien, China und in die Welt der Apachen und des Llano estakado führt und dessen Beiträge auch im übrigen Mays Werk ertragreich kreuz und quer durchschreiten, eine belehrende und fesselnde Lektüre sein kann. Wir dürfen gespannt sein, was die nächsten 25 Jahre der Karl-May-Forschung noch alles zutage fördern werden!