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WERNER KITTSTEIN

Aus den Armen des Urwalds in die Fänge
der Kolportage
Karl Mays Erzählung ›Ein Oelbrand‹ –
Zeugnis einer frühen Schaffenskrise



Vorbemerkungen

Die frühen Erzählungen Karl Mays erfreuen sich keiner großen literarischen Wertschätzung: Ihre Struktur weist unübersehbare Mängel auf, die Handlungsführung erscheint oft nicht folgerichtig, die Erzählweise ist hektisch, Sprache und Stil sind noch weniger durchgeformt als in den großen Reiseromanen. Dies alles gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die 1883 im 4. Jahrgang der Jugendzeitschrift ›Das Neue Universum‹ erschienene Erzählung ›Ein Oelbrand‹.(1) Doch bei sorgfältiger Lektüre gerade dieses Textes fällt vieles auf, was ihm einen besonderen Stellenwert innerhalb der Abenteuererzählungen Mays verleiht: Es zeigen sich Widerhaken, gleich zu Beginn mit der unerklärten Verwundung des Ich-Erzählers, dann in der merkwürdigen scheinbaren Unlogik, die den Beginn der langen Reflexion über das Verhältnis von Roten und Weißen prägt. Mich hat gerade diese Erzählung, als ich sie erneut las, an ein Problem erinnert, das ich als Zehn- oder Elfjähriger mit meinen Mitschülern, von denen viele genauso begeisterte May-Leser waren wie ich, diskutierte. Ausgangspunkt war die Frage, weshalb der Erzähler die hartnäckigsten Feinde immer wieder laufen lasse, statt sie unschädlich zu machen, indem er sie tötete. Das ist nun nichts Besonderes; viele Leser haben ihre Schwierigkeiten mit der oft unangebracht scheinenden Humanität und Menschenliebe, die es dem Helden verbietet, einen Feind ohne Not zu töten. Unsere Überlegungen aber gingen weiter. Die humane Haltung des Helden schloß ja keineswegs aus, daß er in Notwehr denn doch hie und da einen Gegner umbringen mußte. Wir fragten uns nun, ob dies gerechtfertigt sei, da doch niemand den Helden gezwungen hatte, sich in solche Gefahr zu begeben. So war er z. B. aus freien Stücken nach Nordamerika, in die ›dark and bloody grounds‹, gegangen, wo er selbstverständlich auf Menschen treffen mußte, die ihm nach dem Leben trachteten. Er hatte sich also freiwillig, wenn nicht gar


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mutwillig in Situationen begeben, in denen er voraussichtlich gezwungen war, andere Menschen umzubringen. Wäre er zu Hause oder wenigstens an der Ostküste der USA geblieben, hätte er es wohl kaum nötig gehabt, Menschenleben zu opfern. Ich weiß nicht mehr, ob wir eine Lösung dieses Problems gefunden haben, aber das ist für unseren Zusammenhang auch nicht wichtig.

   Ich schildere dies nicht als eine der wohlfeilen Anekdoten, mit denen Erwachsene oft an ihre Kindheitserlebnisse und die selige May-Lektüre erinnern, sondern weil dieser Fall imstande ist, auf die besondere Bedeutung der Erzählung ›Ein Oelbrand‹ zu verweisen. Welches Bewußtsein von der angesprochenen Problematik hat eigentlich der Erzähler, und welche Folgen zeitigt dies für den Verlauf der Handlung? Mit anderen Worten: Was denkt der Erzähler über seine Stellung in der exotischen Welt und die Berechtigung seines Daseins, seines Handelns in der Wildnis, seines Einwirkens auf diese Welt; entwickelt er überhaupt ein solches Bewußtsein, und in welcher Weise wird dies deutlich: durch direkte Aussagen, Urteile oder bloß in indirekter Form, beispielsweise in der Erzählhaltung? Schließlich muß man nach dem Standort des Autors May fragen: Wieweit ist es ihm gelungen, sein Phantasie-Ich in der exotischen Welt zu verwurzeln und damit auch seine soziale Existenz als Schriftsteller zu retten?

   Hartmut Kühne stellt die Erzählung in eine Reihe von frühen Texten Mays, die das Brand-/Feuer-Motiv gestalten, und urteilt: »Man darf sagen, daß die Zeit um 1883 (. . .) einen Wendepunkt bildet im Reifungsprozeß des Schriftstellers«.(2) Damit ist gemeint, daß sich gegenüber den frühen Erzählungen zunehmend humane Tendenzen durchsetzen, was an der vorliegenden Erzählung aufgezeigt werden könne. Mir scheint, die Erzählung ›Ein Oelbrand‹ stellt einen noch viel wichtigeren Einschnitt in Mays literarischer Tätigkeit dar, sie ist Ausdruck einer tiefgreifenden Schaffenskrise des Autors mit bis ins Alter und ins Spätwerk reichenden Konsequenzen!

   In seiner Einführung zum KMG-Reprint der Hausschatz-Erzählung ›Die Todes-Karavane‹(3) macht Claus Roxin wahrscheinlich, daß ›Ein Oelbrand‹ vor dem Herbst 1882 entstanden ist.(4)

   Im Spätsommer 1882 begegnet May in Dresden Münchmeyer und verpflichtet sich zur Lieferung eines umfangreichen Kolportageromans. Bis zum 20. Oktober 1882 schickt er die ersten Manuskriptseiten zum ›Waldröschen‹ ab; von November 1882 an erscheint der Roman regelmäßig. Roxin begründet das Eingehen Mays auf Münchmeyers Angebot damit, daß May in einer äußerst schlechten finanziellen Situation gewesen sei, was dazu geführt habe, daß er die Arbeit am Orientroman


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für den Deutschen Hausschatz unterbrach; er habe wohl gehofft, während des Schreibens am ›Waldröschen‹ einige Erzählungen aus dem Jahr 1882, u. a. ›Ein Oelbrand‹, an den Regensburger Verleger Pustet senden und dann, nach einem Jahr, den Orientroman wieder aufnehmen zu können.(5)

   Dann aber schreibt May vier weitere Lieferungsromane und führt den Orientroman nur noch sporadisch weiter. Als Grund wird wiederum ein finanzieller vermutet, nämlich die Erhöhung des Honorars durch Münchmeyer. Roxin urteilt: »Es ist nicht leicht verständlich, daß May sich zu einer derartigen Fronarbeit bewegen ließ, die seine übrige Produktion fast völlig zum Erliegen brachte und ihn literarisch zwangsläufig auf das Niveau einer Trivialität zurückzog, die er mit seinen letzten Arbeiten glücklich verlassen hatte. Mays Erklärung, er habe an Münchmeyer (. . .) etwas wiedergutmachen wollen«,(6) sei zurückzuweisen zugunsten ausschließlich finanzieller Gründe. Aussicht auf höheres Einkommen habe ihn – gegen sein literarisches Gewissen – zum rastlosen Kolportageschriftsteller werden lassen.

   Aber es ist zu bezweifeln, daß Geld das wichtigste oder gar alleinige Motiv für Mays Handeln war. Untersucht man die literarische Produktion Mays aus dem Jahre 1882, kurz vor der erneuten Bindung an Münchmeyer, liegt die Vermutung nahe, daß der ausschlaggebende, die finanzielle Misere überlagernde Grund ein ganz anderer gewesen sein dürfte, für den sich in den in diesem Zeitraum verfaßten Orient-Episoden(7) wie in ›Ein Oelbrand‹, dem einzigen Beispiel, das in Nordamerika spielt, gewichtige Indizien erkennen lassen. Natürlich spielte die finanzielle Notlage auch eine Rolle, schien doch die literarische Existenz, die sich May aufzubauen versuchte, zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht ein einigermaßen gesichertes Leben gewährleistete.


Fragen und Thesen

Ich glaube, insbesondere aus der Erzählstruktur nachweisen zu können, daß die Erzählung ›Ein Oelbrand‹ Ausdruck einer ersten großen Schaffenskrise Karl Mays ist, die darin gründet, daß es May nicht gelang, sein Phantasie-Ich in der von ihm entworfenen exotischen Welt heimisch werden zu lassen und damit seine Existenz durch die Tätigkeit als Reiseschriftsteller zu festigen. Er resigniert, nimmt das Angebot Münchmeyers an und wird zum Kolportageschreiber. Die spätere Krise, die hauptsächlich durch die Erfahrungen der Orientreise ausgelöst wird und zum symbolischen Spätwerk führt, wird verstärkt durch die Ent-


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hüllungen über Mays Straftaten und die moralische Verurteilung aufgrund seiner Kolportagetätigkeit und ist damit auch als eine langfristige Folge der ersten Krise von 1882 zu betrachten.

   Meine Frage an die Erzählung ›Ein Oelbrand‹ lautet zunächst: Inwieweit reflektiert der Ich-Erzähler die Problematik seiner eigenen Stellung in der exotischen Welt? Meine These lautet: Er entwickelt zwar kein Bewußtsein potentiellen Fehlverhaltens, keine selbstkritische Einsicht in eigene Schuld, eigenes Unrecht durch sein Eindringen in die fremde Welt der Indianer, womit er zur Einengung der Lebenswelt der Eingeborenen beiträgt; er erhebt in den reflektierenden Partien nur Anklagen gegen andere Weiße. Aber in der Erzählstruktur zeigt sich eine immanente Selbstkritik des Erzählers, der als Störenfried, welcher gleichzeitig selbst gefährdet ist, im Wilden Westen erscheint und am Ende des zweiten Teils wie Winnetou symbolisch stirbt, ohne daß es – wie in anderen Werken – zu einer ›Wiedergeburt‹ kommt.

   Die Fragestellung erweitert sich aufgrund folgender Überlegungen: Jürgen Wehnert hat überzeugend aufgezeigt,(8) daß der Held der Reiseromane Mays zum ersten Mal in der Erzählung ›Old Firehand‹ von 1875 auftaucht, und zwar als Mays ›Ich‹, das allein auf sich gestellt und unter allenthalben lauernden Gefahren zu ungeheuren Taten der Selbstbefreiung gefordert war. Ausgelöst durch die Bearbeitung eines Berichtes von J(ohn) T(reat) Irving über einen Präriebrand, wurde der Vorgang einer Selbsterrettung aus dem Feuer zum rituellen Urmodell einer fast unüberschaubaren Reihe im Kern gleichartiger Befreiungshandlungen, die in immer weiter ausgebauten Befreiungs- und Bewährungslandschaften stattfinden.

   Betrachtet man diese ›Selbstbefreiung‹ genauer, könnte man gegenüber Wehnert eine interessante Differenzierung zwischen handelndem fiktivem ›Ich‹ und schreibendem Autor vornehmen: muß der Akt der Selbstbefreiung unbedingt von beiden durchgeführt werden? In der Old-Firehand-Geschichte ist dies zwar der Fall: der Held rettet sich und Ellen aus eigener Kraft und entkommt unbeschädigt der Gluthölle, und damit rettet sich auch der Autor May kurzfristig aus seiner sozialen und psychischen Bedrängnis. Aber die Erzählung ›Ein Oelbrand‹ nimmt auch unter diesem Gesichtspunkt eine besondere Stellung ein. Betrachtet man das Ende, stellt man fest, daß der Anteil des Erzählers an seiner Errettung vergleichsweise gering ist: statt dessen heißt es: das »tötende Feuer«, der Häuptling der Tetongs, kam von oben herab [!], um uns zu retten (S. 179), indem er einen Weg zeigt, der aus dem brennenden Talkessel herausführt. Die Selbstrettung könnte sich hier also bestenfalls auf das schreibende, nicht aber das handelnde ›Ich‹ beziehen! Das ist


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aber undenkbar, wenn die Voraussetzung richtig ist, daß der fiktive Erzähler den realen Autor verkörpert und ganz konkrete Funktionen in dessen Dasein zu erfüllen hat.

   Aus diesen Überlegungen ergibt sich die erweiterte Form meiner Fragestellung: Welchen Eigenwert besitzt die exotische Welt, in die sich der Abenteurer ein- und in der er sich auszuleben versucht; wie reagiert die Natur auf das Eindringen des Abenteurers, welche Widerstände setzt sie seinen Versuchen, ein neues, das wahre Leben zu beginnen, entgegen? Meines Wissens ist diese Frage noch kaum gestellt worden; bezeichnenderweise untersucht Bernd Steinbrink in seiner grundlegenden Studie über die Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland(9) die Beispiele dieser Gattung fast ausschließlich aus der Perspektive des Abenteuerhelden, nicht der der abenteuerlichen Welt. Meine These lautet nun: Selbst die Natur nimmt den Erzähler nicht auf, ja sie weist ihn sogar ab, was nicht allein an der Erzählstruktur, sondern auch am Inhalt abzulesen ist.

   Meine Analyse hat zwei Schwerpunkte: zum einen untersuche ich den Text ›Ein Oelbrand‹ unter erzähltechnischen Gesichtspunkten, zum anderen vergleiche ich ihn mit den anderen Texten, die vor und nach der Entstehung dieser Erzählung geschrieben worden sind und in Nordamerika spielen, bis zum Jahre 1893.

   Was ›Ein Oelbrand‹ selbst angeht, soll vorrangig der Anfang untersucht werden und ein Vergleich mit dem Ende der Erzählung erfolgen; der lange Mittelteil braucht, weil er für das vorliegende Thema unergiebig ist, nur kurz betrachtet zu werden.


I. Die Erzählung ›Ein Oelbrand‹

Der Anfang: Zwei Welten – Fort und Urwald

Der erste große Handlungsabschnitt (S. 1-11) hat die Stellung des Erzählers in seiner Umwelt, zunächst der (noch) zivilisierten des amerikanischen Militärs, dann der exotischen Wildnis als Lebenswelt der Indianer, zum Inhalt. Strukturell ist sie geprägt durch mehrfache Kontrastierung: einerseits ist es der bis in die Wortwahl hinein (leider nicht konsequent) gestaltete Gegensatz zwischen den beiden Welten der Weißen und der Roten mit eindeutiger Sympathie des Erzählers für die Indianer, andererseits der Gegensatz zwischen seinen Bemühungen, sich in die Wildnis zu integrieren, und der abweisenden Haltung eben dieser Wildnis.


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   Der Einsatz der Erzählung in medias res benennt den Zustand, in dem sich der Erzähler befindet: Er ist verwundet. Ein Grund für die Verwundung wird nicht genannt, weder jetzt noch später, dadurch wird die prinzipielle Verwundbarkeit des handelnden wie des schreibenden Ichs betont. Von allen Menschen, die rechtmäßig in diese exotische Welt gehören, ist er verlassen, auch von Winnetou. Das ist in mehrfacher Weise befremdlich. Der Apache weiß von der nicht ganz leichten Verwundung (S. 1) seines weißen Freundes (S. 168); in späteren Erzählungen wird er ihn selbst pflegen, und zwar aufgrund seiner Naturheilkenntnisse gründlich;(10) der Erzähler sagt selbst, als er sich dem Sioux-Häuptling vorgestellt hat: Winnetou und ich waren als unzertrennlich bekannt (S. 8), und Winnetou stellt fest:»Winnetou ist da, wo sein Bruder Schar-lih ist« (S. 168). Diese Widersprüche kann man nicht als bloße Ungereimtheiten, die auf wenig sorgfältiges Arbeiten des Autors zurückzuführen sind, abtun; und selbst dann wären sie ein Beleg für das Unvermögen des Schreibenden, sein handelndes ›Ich‹ in die exotische Phantasiewelt zu integrieren. Die Widersprüche zeigen vielmehr, daß gerade jetzt die Trennung radikal ist – der Erzähler zurückgeworfen in die Gesellschaft von Menschen, die ihn anwidern und die ihrerseits im Grunde genommen nicht in dieses Land gehören, berücksichtigt man beispielsweise die in dieser Erzählung berichtete unmenschliche Haltung der Soldaten gegenüber den Eingeborenen während deren Jagdzuges. Unterstützt wird diese Deutung durch den Satzbau: Einer nicht ganz leichten Verwundung wegen (S. 1) – die Nachstellung der Präposition betont die Verwundung, die ganz prononciert am Anfang steht (sie korrespondiert mit dem Zustand am Schluß der Erzählung in auffälliger Weise) und symptomatisch ist für die Grundbefindlichkeit des Erzählers und des Autors. Betont wird der neue Anlauf, den der Protagonist nehmen muß, will er in die exotische Welt hineingelangen. Sie hindert ihn, in ihr zu leben; sie zwingt ihn, in die Welt der Weißen zurückzukehren, die er ausdrücklich ablehnt und vor der er in die abenteuerliche Daseinsform auszuweichen versucht. Wieder ist er zur Untätigkeit verdammt, empfindet grenzenlose Langeweile, ist sich selbst entfremdet.(11) Erst nach einer mehrere Wochen dauernden Rekonvaleszenz kann der Erzähler erneut den Versuch machen, das ersehnte, das richtige Leben zu beginnen; ein Versuch, den übrigens auch die zivilisierte Welt mit der (stillschweigenden) ärztlichen Anordnung, nur einen kleinen Ausflug zu unternehmen, zusätzlich erschweren oder gar verhindern will.

   Entsprechend negativ fällt die Bewertung des Aufenthaltes im Fort aus: Der erzwungene Aufenthalt wird um so lästiger empfunden, als die


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Mittel, ihn sich angenehm zu gestalten, in Fülle vorhanden sind, aber der Zweck, für den sie eingesetzt werden könnten, sich als gänzlich untauglich erweist. Das Alleinsein des Erzählers wird mehrfach begründet (zum zweiten Mal, wieder mit Inversion, wird die Wunde erwähnt), Soldaten und Offiziere werden scharf kritisiert. So ist er ohne echten Ansprechpartner und versinkt in Untätigkeit.

   Stilistisch wird der Gegensatz zwischen dem Erzähler und den Soldaten überdeutlich, aber in konventionelle, wenig überraschende Bilder gefaßt, allerdings mit karikierenden Elementen: Lager gehütettrübselige Zeit; GenüsseTabakrauchen und Brandytrinken; TabakSurrogat; Brandyverdünnte Schwefelsäure; Herren Militärskein großes Wohlgefallen; Herren Offizierenicht sympathischer (S. 1).

   Der Aufenthalt im Urwald ist demgegenüber als klare Kontrast-Situation angelegt. Zum ersten Mal erscheint ›Ich‹ in Spitzenstellung: betont wird seine Aktivität; die rechte Güte steht den zweifelhaften Genüssen, die ganze Nacht im Urwalde (S. 2) der Zeit meines Krankenlagers (S. 1) im Fort gegenüber.

   Der Erzähler entfernt sich vom Fort, von seiner gesicherten Existenz, besorgt sich seinen Lebensunterhalt selbst, benutzt die Natur als Nahrungslieferanten, steht ihr also – anders als den Menschen im Fort – nicht fremd gegenüber, sondern befindet sich im Einklang mit ihr. Das wird betont mit der Beschreibung der Lagerstelle als ein stiller, einsamer Ort, so ganz nach meinem Geschmack (S. 2). Der Kontrast zum untätigen Alleinsein im Fort trotz dessen Tabak rauchender, Brandy trinkender, geistloser Bewohner ist offensichtlich. Der Urwald wird personifiziert als alte(r), treue(r) Freund, in dessen Armen man liegen kann, dem man kein Herzeleid anthun darf, dessen ernsten, tiefen, schwermütigen Stimmen man lauschen darf (ebd.).

   Gewiß – auch diese Metaphern sind nicht gerade originell (auf das verunglückte zentrale Wort einsam wurde schon hingewiesen); aber der intendierte Gegensatz zu der Situation des Erzählers im Fort wird deutlich und aussagekräftig herausgearbeitet.

   Gleiches (positiv wie negativ) gilt für die dann folgende Schilderung der akustischen und visuellen Eindrücke, die, oft nicht genau bestimmbar, aus der Nähe und der Ferne kommen. Die ersten akustischen Signale scheinen die beruhigende Einbettung des Erzählers in die Natur zu bestätigen, wenn es heißt: Ich lauschte der Abendhymne des Waldes (ebd.); sie umgibt und umklingt einen von allen Seiten . . . das kosende Plätschern und Glucksen der Wellen . . . ein Eichkätzchen . . . kehrte . . . beruhigt in seinen Kober zurück (ebd.). Das ganze soll wohl eine Art Seelenlandschaft darstellen – sie ist allerdings sehr bieder geraten –, in


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der der sich nach unverfälschtem Menschsein sehnende, an der entfremdeten Zivilisation leidende Abenteurer zu sich selbst kommt und sein eigentliches Wesen verwirklichen kann. Aber dann erscheinen unüberseh- und unüberhörbare Risse in diesem Landschaftsstimmungsbild: eine Kopperhead . . . raschelte davon . . . machte sich jetzt aus dem Staube; ein Nachtfalter stört den bewegten Reigen einer Moskitoschar und verbrennt seinerseits im Lagerfeuer (ebd.). Die kleinen Katastrophen gipfeln darin, daß sich ein Frosch über des Erzählers Anwesenheit höchst beleidigt zu fühlen (ebd.) scheint und mit seinem höchst ärgerliche(n) Belfern . . . die reinste, ausgesprochenste Verbalinjurie (S. 3) gegen den Störenfried herausbrüllt. Die Beziehung der Tiere zu dem Erzähler steigert sich von Neugier über Flucht zur (akustisch) angriffslustigen Ablehnung. Der Abbruch des Gequakes signalisiert schließlich die Annäherung eines menschlichen Ureinwohners, des Indianers, der seinerseits den Frosch stört, nun aber nicht mehr nur passiv Beschwerden über die Anwesenheit des weißen Eindringlings losläßt, sondern eine ernsthafte, konkrete Gefahr für dessen Leben darstellt. Letztlich kann man das Motiv dafür ebenfalls im Verhalten des Erzählers erkennen: auch dieser zwingt den Indianer allein durch seine Anwesenheit zu feindseligem Verhalten, das nicht einmal mit dem Rauch der Friedenspfeife gänzlich gewandelt wird.

   Auch die im Kontrast zur Welt der Weißen im Fort entworfene Urwald-Szenerie erweist sich als widerspenstig; in ihr vermag sich der Erzähler genausowenig einzurichten und heimisch zu fühlen wie in der zivilisierten Umwelt.

   Mir fällt zum Vergleich das Bild ›Genoveva in der Waldeinsamkeit‹ von Ludwig Richter ein, das im Jahre 1841 entstanden ist.(12) Der Titel des Bildes nimmt den von Ludwig Tieck in seinem Kunstmärchen ›Der blonde Eckbert‹ erstmalig verwendeten Begriff ›Waldeinsamkeit‹ auf, der die Macht der Natur wie die Sehnsucht des Menschen, mit ihr eins zu werden, benennt.(13) Richter gebraucht diesen Begriff in seinem Bild naiv-unreflektiert als Ausdruck für einen idyllischen, den Menschen in Sicherheit und Geborgenheit wiegenden Ort, anders als Tieck; in dessen Erzählung ist die Waldeinsamkeit, die der Vogel besingt, gefährdet durch den Menschen, der – entwurzelt und von daheim, dem Elternhaus, geflohen – seiner Gier nach Reichtum nachgibt und Unrecht tut. Aufgrund seines Menschseins, des Bruchs zwischen der Schöpfung und dem Menschen ist es diesem nicht möglich, das Einssein mit der Natur zu verwirklichen; als Eckbert in die intakte Welt der Alten, des Hundes und des Vogels zurückkehrt, wird er wahnsinnig. Mir scheint, eine Wiederaufnahme dieses Motivs – wenn auch in verflachter Form – stellt die


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Szene in Mays Erzählung dar: Auch hier scheitert der Versuch des Erzählers, sich von der Natur aufnehmen zu lassen. Erstes Indiz dafür ist schon die pathetisch-unbeholfene Art, mit der die Abendhymne des Waldes geschildert wird; ein weiteres Anzeichen ist die bereits erwähnte, sich zur Abwehr des Eindringlings steigernde Reaktion der Waldtiere. Natürlich wird der Erzähler nicht mehr wahnsinnig, aber sein Leben wird in Gefahr gebracht, und er muß sich aktiv zu behaupten suchen. Die Brüche in dieser Urwald-Idylle zeigen, daß Karl May näher an der von Tieck intendierten Rolle der Natur im Verhältnis zum Menschen ist als der spätromantische Maler Ludwig Richter – vielleicht ein Beleg für die Stimmigkeit der von Harald Fricke(14) vertretenen Thesen.

   Ich möchte behaupten, daß die besprochene Stelle als einzige in den Ich-Erzählungen, die Nordamerika zum Schauplatz haben, eine Situation enthält, die vom Autor so angelegt ist, daß der Erzähler detaillierte Naturbeobachtungen machen kann, die keinem anderen Zweck dienen, als seine Gemütsverfassung wiederzugeben, nicht aber, um die Natur im Sinne des Phantasie-›Ichs‹ funktionieren zu lassen. In allen anderen Fällen werden die landschaftlichen Elemente arrangiert, um bestimmte Topoi der Abenteuerhandlung vorzubereiten. Sie ermöglichen das Anschleichen und Belauschen (z. B. in ›Winnetou I‹ bei der Befreiung der beiden Apachen durch den Erzähler, wo die Bäume so passend stehen und auch der stachlige Strauch nicht fehlt, in welchen Sand geworfen werden kann, um den Wächter abzulenken); sie führen zur frühzeitigen Entdeckung eines sich anschleichenden Menschen (in ›Old Surehand I‹, wo die den Lagerplatz umgebenden Büsche so dicht stehen, daß der sich heimlich nähernde Old Wabble ein Ästchen abschneiden muß, was dem Erzähler selbstverständlich nicht entgeht); sie ermöglichen die Einkesselung von Feinden (z. B. der Comanchen durch Winnetou im ›Scout‹) oder die Übertölpelung des angreifenden Gegners (wieder in ›Winnetou I‹ auf der Halbinsel, auf der man lagert, um die Apachen in die Gewalt zu bekommen); manchmal geben sie nur ein Naturbild, auf das der Erzähler aber erklärtermaßen gar nicht achtet, wie wir es in ›Old Firehand‹ finden werden; oder die Naturszenerie dient dem im Grunde belanglos bleibenden Kontrast zur schlechten Stimmung des Erzählers wie zu Beginn der Jugenderzählung ›Unter der Windhose‹, ohne weitere Bedeutung zu erlangen. Die Detailbeobachtungen in ›Ein Oelbrand‹ dagegen drücken die Sehnsucht nach Vereinigung mit der exotischen Welt aus. Um so bezeichnender ist es, daß die Naturelemente sich verselbständigen, daß sie sich den Vorstellungen des ›Ichs‹ entziehen und abweisend reagieren, wie ich es oben zu zeigen versucht habe.


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   Wie schütter diese Urwald-Idylle tatsächlich ist, fällt dem Leser recht eigentlich erst auf, wenn sie abrupt unterbrochen und abgelöst wird durch eine mehrschichtige Reflexion.

   Der Abbruch des Froschquakens stellt einen starken Kontrast zu allem, was bisher vom Erzähler geschildert worden ist, dar. Er wirft viele Fragen auf; die nächstliegenden stellt der Erzähler zunächst selbst: Er war gestört worden; aber wodurch? von wem? (S. 3) und beantwortet sie auch selbst.

   Jetzt – angesichts der neuen, gefährlichen Situation – wird die Natur nur noch funktional gesehen, nicht mehr stimmungsmäßig. Jeder Naturlaut wird beurteilt, weil er für den Menschen von Bedeutung ist: Hier ist der Erzähler ein Wesen, das sich behaupten will, das auf die Vorgänge in der freien Natur reagiert, weil ein menschlicher Feind sie verursacht haben kann.

   Die sich anschließende, lange reflektierende Sachdarstellung, welche die aktuelle Situation des Erzählers erklärt, ist sehr genau und detailliert und wird abgeschlossen durch die Schlußfolgerung, daß sich ein Indianer da drüben jenseits der Bucht befinde, und dies konnte nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge keineswegs ein beruhigender Gedanke für mich sein (ebd.).


Reflexion über Indianer und Weiße

Hier und jetzt muß – sollte man meinen – die Handlung weitergehen; allenfalls darf eine kurze Begründung erfolgen, weshalb die vermutete Anwesenheit eines Indianers gefährlich ist; denn eigentlich kann jeder Leser eine logische Begründung selber geben: Ein Indianer stellt für einen Weißen im Wilden Westen eben immer eine Gefahr dar, so lange sie einander unbekannt sind. Statt dessen aber folgt »eine lange polemische Rede gegen den europäischen Imperialismus«,(15) eingeleitet durch eine scheinbar unlogische Begründung für die Beunruhigung des Erzählers.

   Logisch wäre die Feststellung, daß das bisherige Verhalten der Weißen gegenüber den Roten (S. 3) den Erzähler gefährdet, weil er ein Weißer ist. Stattdessen wird überraschenderweise sogleich der kritische Standpunkt des Erzählers den Weißen gegenüber dargelegt.

   Motiviert wird diese Begründung für die Notwendigkeit, besonders auf der Hut zu sein, durch die Überlegung, daß der Erzähler gerade aufgrund seiner humanen Einstellung gegenüber den Indianern sozusagen zwischen zwei Stühlen sitzt: Mit den Weißen kann er es leicht verderben, da er mit ihren Ansichten und ihrem Verhalten nicht konform geht;


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die Ereignisse, die sich bald darauf im Fort begeben, belegen dies schlagend. Aber trotz seiner indianerfreundlichen Einstellung kann er es leicht auch mit den Roten zu tun bekommen – das Mißtrauen, das ihm der Sioux-Häuptling wenig später entgegenbringt, bestätigt auch dies –, und deren Rache an den weißen Soldaten kann auch ihn treffen. In diesen Aspekt der Gefahr, die dem Erzähler droht, mündet denn auch die gesamte Reflexion, die durch den Abbruch des Froschquakens ausgelöst wird.

   So bekommt die auf den ersten Blick unlogisch erscheinende Begründung für die Unruhe, die von der vermuteten Gefahr ausgeht, ihre besondere Bedeutung. Als Weißer ist der Erzähler so selbstverständlich gefährdet, daß dies nicht eigens betont werden muß. Als einer, der das Verhalten der Weißen mißbilligt, ist er aber auch durch deren negative Vertreter – das Militär, die Rowdys – bedroht, ohne daß ihm dies auf der Seite der Indianer Pluspunkte einbringt.

   Nach dem zweiten Teil der Reflexionen des Erzählers, seinen allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Indianern und Weißen, führt der dritte Schritt wieder zum aktuellen Geschehen: dem Verhalten der Soldaten gegenüber den Sioux und der zu erwartenden Racheaktion der Roten, woran sich bruchlos die detaillierte und spannende Schilderung der Verteidigungsmaßnahmen des Erzählers anschließt.

   Die folgenden Ereignisse von der Überwältigung des Indianers bis zur Rückkehr ins Fort sind für unser Thema weitgehend belanglos. Bemerkenswert ist nur, daß die prinzipielle Gefährdung der Existenz des Erzählers dadurch betont wird, daß nicht einmal der Rauch der Friedenspfeife und die Beteuerung, jeder werde für den anderen sein Leben geben, ein ganz harmonisches Verhältnis zwischen den beiden entstehen lassen: der Weiße kann sich nicht rückhaltlos auf die Seite der Roten schlagen, da er auch den Angehörigen seiner Rasse gegenüber verpflichtet ist, was allerdings von diesen nicht honoriert wird.


Der Mittelteil der Erzählung

Was nun folgt, ist eine ganz gewöhnliche Geschichte mit Kampf und Verrat, Schlichtungsversuch und Flucht; ein verbrecherischer Plan wird belauscht, er bildet das lockere Bindeglied zu den Ereignissen um den roten Olbers. Auch hier scheint alles eher konventionell zuzugehen, wenn auch stellenweise, gegen Ende, sehr aufregend: alle möglichen Leute, die mit dem Banditen einmal zu tun hatten und von ihm geschädigt wurden, treffen sich – mitten im Urwald! –: Winnetou und der


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Erzähler alias Old Shatterhand, vier Fallensteller, der Ölprinz Wittler, dessen Bruder von Olbers ermordet und beraubt wurde; der Überfall auf die Besitzungen des Ölprinzen soll verhindert werden usw. usf. Bis in die Einzelmotive hinein liest man Bekanntes aus früheren oder späteren Erzählungen: alte Rechnungen, die beglichen werden müssen; der große Ölbrand; Verfolgung und Irreführung; Spuren und Erkennungszeichen; der feige reiche Ölprinz und der infame Bösewicht; der jahrelang vom Erzähler herumgeschleppte Gegenstand (das Notizbuch eines Ermordeten), der schließlich die Identität eines Menschen klärt.

   Immerhin fallen bei diesen Vergleichen Unterschiede zum Üblichen auf: Winnetou und Old Shatterhand haben gegen eine Übermacht von Feinden den kürzeren gezogen; dem Apachen ist es nur gelungen, den Hauptbösewicht zu zeichnen (daher der Name des roten Olbers; merkwürdig ist allerdings, daß der Erzähler den Verbrecher im Fort nicht erkennt); beide werden im zweiten Teil der Erzählung von diesem böse an der Nase herumgeführt, regelrecht im Kreise getrieben, weshalb sie den Überfall auf den Öl-Bluff nicht verhindern können; vor allem fällt eine interessante variierende Spiegelung der Situation am Anfang der Erzählung ins Auge: Zu Beginn des 2. Teils sitzt der Erzähler wieder eines Abends beim Lagerfeuer (161); wiederum wird er am Einschlafen gehindert, diesmal durch das Schnauben seines Pferdes, das ihn auf die Anwesenheit von Menschen in der Nähe aufmerksam macht. Aber vielfältige Unterschiede gibt es: Keine Schilderung der abendlichen Stimmung im Wald wird versucht, keine Einbettung des Erzählers in die Natur unternommen; er ist nicht allein, sondern hat seinen Mustang bei sich; im Zusammenhang damit wird sogleich auf eine mögliche Gefahr durch feindliche Menschen verwiesen; diese gefahrenträchtige Situation wird unterstrichen durch die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Zeit, an die geplante Indianerrache; von Anfang an also besteht kein Gedanke daran, sich in die Arme des Urwalds zu werfen und seinen Moll-Tönen zu lauschen – das erste Geräusch, das erwähnt wird, ist das warnende Schnauben des Pferdes; die Anwesenheit des Tieres unterstreicht die gefährdete Existenz des Erzählers, da es oft schärfere Sinne hat als selbst der geübteste Jäger (ebd.). Die Gefährdung des Menschen in dieser feindlichen Umwelt ist viel früher präsent als am Anfang des 1. Teils, gleich im zweiten Satz wird sie angesprochen; zur Ruhe kommt das ›Ich‹ auch jetzt nicht, es wird erneut am Einschlafen gehindert und muß weiterziehen; wieder wird es an dem Ort, wo es sich zur Ruhe legen wollte, nicht geduldet. Seine am Anfang der Erzählung so deutlich erkennbare Eigenschaft als Störenfried wird auch hier spürbar,


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aber weniger deutlich, da sie von der konventionell-spannenden Handlung überlagert wird. Das in der Erzählhaltung des ›Ichs‹ am Anfang unbewußt angelegte Eingeständnis seiner Eigenschaft als unliebsamer Eindringling in die Welt, die einmal dem Indianer gehörte, ist fast gänzlich verdrängt worden durch sein aktives und partiell erfolgreiches Eingreifen in die Auseinandersetzung zwischen den Menschen, die schon da sind: Indianer und Soldaten, und natürlich durch die mit der Friedenspfeife geschlossene Freundschaft mit dem Sioux-Häuptling, die es sozusagen erneut – nach der Freundschaft mit Winnetou – als nicht nur geduldetes, sondern – äußerlich betrachtet – gleichberechtigtes Mitglied in die freie Gesellschaft der Wilden hineingenommen hat. Aber unterschwellig ist die Reserve, die diese Umwelt ihm gegenüber zeigt, noch vorhanden, und sie wird sich am Schluß der Geschichte in dem symbolträchtigen Bild des totenschädelähnlichen Aussehens der beiden Protagonisten bestätigen.


Der Schluß der Erzählung

Eine genauere Betrachtung ist der Schlußteil der Erzählung wert, für sich genommen und im Vergleich mit dem Anfang.

   Die Bewegung der Helden, die mehrfach ausdrücklich beschrieben wird, ist bezeichnend: Old Shatterhand und Winnetou kommen nicht voran. Besonders auffällig ist dies am Schluß, wenn beide auf der Spur des roten Olbers streckenweise im Halbkreis geführt werden und den Überfall nicht verhindern können; vorgeprägt ist dies, wenn auch nicht so augenfällig wie auf diesem Verfolgungsritt, im 1. Teil, wo die Bemühungen des Erzählers, dem Sioux ›Tötendes Feuer‹ zu seinem Recht zu verhelfen, fruchtlos bleiben. Die Kreisstruktur wird mehrfach abgelöst durch gegenläufige Bewegungen, ein Hinein und Heraus: Hinein in den Urwald, um sich ganz seinem Zauber hinzugeben, dies hat eine sofortige Rückkehr ins Fort zur Folge; der Indianer hinein ins Fort, unverrichteter Dinge wieder auf der Flucht heraus; hin zu der Ölbohrstelle, d. h. hinein in den Kessel, und wieder heraus hinter Olbers her – und in einer Art Zickzack-Kurs erneut hinein in den Kessel; wiederum scheitert das ursprüngliche Vorhaben, die Ausführung des Planes des roten Olbers zu verhindern; nur das Leben der Bewohner kann gerettet werden mit Hilfe der wie Dei ex machina (von oben herab (S. 179)) auftauchenden Sioux unter Führung des ›Tötenden Feuers‹ – und um den Preis des Verlustes menschlicher Gestalt. Zwar gibt es auch in anderen Erzählungen Mays vergebliche Versuche der Helden, Böses zu


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verhindern, kommen Irreführung der Guten durch die Bösen, Hin- und Her-Bewegungen vor, aber nicht in so auffallend gehäufter Zahl auf engem Raum wie in der vorliegenden kurzen Erzählung.

   Welche Rolle spielt die natürliche Umgebung bei der abschließenden Jagd auf den Bösewicht? Dazu muß man zuerst nach der Interessenlage der Natur fragen. Alle Weißen – Old Shatterhand, der Erzähler, wie der rote Olbers mit seiner Bande, aber auch der Ölprinz mit seiner Begleitung – sind als Fremdlinge in dieses Land eingedrungen; aber ihr Status in dieser Welt ist doch verschieden: Der Erzähler steht auf der Seite der Eingeborenen, beutet das Land nicht aus, sondern angelt nur Fische oder schießt sich einen Braten; der Ölprinz will die natürlichen Rohstoffe des Landes ausbeuten, handelt also immerhin in einem größeren wirtschaftlichen Zusammenhang, wenn er damit auch zwangsläufig in ganz starkem Maße zum Zurückdrängen der Indianer beiträgt; Olbers schließlich will sich nur auf unrechte Art bereichern, tötet und vernichtet, was sich ihm in den Weg stellt, ohne damit einen erkennbaren Sinn zu erfüllen. Das Interesse der natürlichen Umgebung, wenn ich sie einmal so personifizieren darf, ist zwiespältig: den verbrecherischen Eindringling kann sie keinesfalls integrieren wollen; den Ölprinzen muß sie ablehnen, weil er die Zivilisation bringt und die bis dahin intakte Umwelt zwangsläufig zerstört; dem Erzähler steht sie aber, wie wir gesehen haben, als dem ursprünglich ihr nicht zugehörigen Individuum ebenfalls reserviert gegenüber.

   Welche Spuren hat dies im Text (S. 175ff.) hinterlassen?

   Die Verfolgung führt durch die Durchbruchsspalte (S. 175) aus dem Talkessel hinaus. Der Erzähler und Winnetou kommen zunächst schnell voran, bis ein deutlicher Abdruck im moosigen Boden (ebd.) zu sehen ist: er hält die beiden Verfolger auf, die die Bedeutung der Spur erraten müssen; er führt aber auch zur Entdeckung der Finte, die der Verfolgte angewandt hat – schadet also im Grunde beiden Parteien. Die Verfolger müssen nun durch einen Bach waten, was ihr Tempo stark verlangsamt, aber die Verfolgung des Verbrechers natürlich nur be-, nicht verhindert. Dann gilt es, einen nassen, verdorrten Zweig und den Boden zu untersuchen, wieder mit der Doppelfunktion: Aufhalten der Verfolger, gleichzeitig Indiz für die Fluchtrichtung. Das gleiche ist der Fall bei dem als beschwerlich und zeitraubend (S. 176) bezeichneten Verfolgen der Spur zu Fuß: das läßt den Verbrecher größeren Vorsprung gewinnen, ohne daß er entkommen kann: auf jeden Fall ist der Boden so beschaffen, daß er beiden Gruppen zugleich nützt und schadet. Später steht das Buschwerk lichter (ebd.), so daß die Verfolgung wieder schneller geht. Erst gegen Abend bemerken die Verfolger, daß


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die Banditen zurückgekehrt sind, um die Siedlung doch noch zu überfallen. Nun aber werden sie durch das Dunkel und die vielen Hindernisse (S. 177) aufgehalten, so daß sie den Überfall nicht mehr verhindern können. So verursachen die Beschaffenheit der Landschaft und die Tageszeit Dreifaches: Der technisch-wirtschaftliche Vorposten der Zivilisation wird vernichtet; alle Banditen kommen um; der Erzähler und Winnetou werden übel zugerichtet, aber sie bleiben wenigstens am Leben. Die Natur hat sich gewehrt und das erreicht, was sie im Rahmen der erzählten Geschehnisse sinnvollerweise erreichen kann und was ihrer Rolle am Anfang der Erzählung entspricht. Daß nicht alle Eindringlinge vernichtet werden, ist den Sioux-Indianern zu verdanken. Der Krater sah aus wie eine Hölle, und die Indianer erschienen wie Teufel, die um die riesige Flammenfontäne tanzten (S. 180). In dieser Hölle hätten sie alle Weißen zusammen mit deren rotem Helfer Winnetou verbrennen lassen können, dann wäre es ein Freudentanz gewesen; so aber wird unmittelbar davor berichtet, daß sie den Feuerstrom eindämmen, womit sie dem Vordringen der weißen Zivilisation und ihrem eigenen Untergang zuarbeiten, und damit führen sie einen Totentanz auf.

   So symptomatisch wie die Verwundung des Erzählers am Anfang, aber noch gesteigert, erscheint sie am Schluß: Wieder ist das ›Ich lädiert‹, diesmal sogar seines äußeren Menschseins ent-kleidet. Berücksichtigt man, wie sehr das sauber-adrette Erscheinungsbild des Protagonisten und Winnetous in dieser Erzählung (und in vielen anderen) mehrfach betont wird, wie eng es also zur Persönlichkeit der beiden gehört, dann wird erst richtig klar, wie wesentlich die Feststellung ist: Die Kleider hingen mir wie Zunder auf dem Leibe; Bart, Kopfhaar, Brauen und Wimpern, alles war verschwunden, und so war es auch bei Winnetou (ebd.). Auffällig bei letzterem: das Feuer hat dem männlich schönen, ernsten und dabei doch wohlwollenden Ausdruck seines Gesichtes sehr wohl Eintrag zu thun (S. 168) vermocht und damit einen entscheidenden Faktor der Wirkung des roten Helden auf den Leser sabotiert.

   Beide, der Erzähler und Winnetou, werden also aus dem brennenden Öltal gerettet, aber ihre Köpfe wirken wie Totenschädel, vergleichbar den Schädeln, die nach der Voraussage am Ende der Reflexion über Indianer und Weiße zu Beginn der Erzählung von späteren Generationen aus dem Boden gegraben werden und vom verzweifelten Abwehrkampf der Indianer zeugen; auch diese Schädel stammen, das geht aus dem Kontext hervor, von Weißen und Indianern, können also mit Recht auf das ›Ich‹ und seinen roten Freund bezogen werden.

   In dieser Stigmatisierung der Helden kann nun keineswegs »das zen-


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trale Thema der Initiation, der rituelle Tod und die Wiedergeburt«(16) erkannt werden. Bezeichnendes Detail dafür ist eben der Zustand der Kleider, die dem Erzähler wie Zunder auf dem Leibe hingen. Steinbrink bemerkt zu Recht: »der Kleiderwechsel kennzeichnet auch in der äußeren Erscheinung den Wechsel der Persönlichkeit.«(17) Dementsprechend trägt Old Shatterhand in der Regel in Amerika Westmannskleidung; gewiß auch hier, wenn sie auch nicht ausdrücklich beschrieben wird; sein Habit (S. 163), das er im Fort in Ordnung gebracht hat, kann nur eine Trapperkleidung sein – und die verbrennt im Feuer zu Zunder; nach der Logik des Initiationsrituals muß der Träger dieser Kleider damit aus der exotischen Welt ausgestoßen worden sein, mithin ist der erneute Initiationsversuch gescheitert.


Zusammenfassung

Es sind also eine ganze Reihe von Signalen zu finden, die der äußerlich über weite Strecken konventionell verlaufenden Geschichte einen gedanklichen Untergrund verleihen, in dem die problematische Stellung des Erzählers innerhalb der von ihm entworfenen Welt aufscheint, eine Stellung, die doppelt geprägt ist: zum einen ist er dauernd in Gefahr, zwischen zwei Feuern (weißen Soldaten oder Rowdys und Indianern) vernichtet zu werden (was für sich genommen nichts Besonderes in einer Abenteuererzählung ist), zum andern wird er abgestoßen von einer Umwelt, in die er eingedrungen ist, der er genuin nicht angehört, deren hervorragendster Vertreter ihn sogar verlassen hat in einer Situation, wo er ihm hätte beistehen müssen; gerade daß kein Grund für die Trennung nach der Verwundung des Erzählers genannt wird, zeigt die grundsätzliche Bedeutung dieser Trennung auf; die Versuche des ›Ichs‹, wieder in diese Welt hineinzukommen, stoßen auf mannigfache Hindernisse, ja auf Widerstand von seiten der Natur.

   Die Bemühungen des Erzählers, sich häuslich in der exotischen Welt Nordamerikas einzurichten, sich als einen Bestandteil dieser Welt zu stilisieren, als einen hervorragenden Bestandteil überdies: mit schon weit bekanntem Kriegsnamen, mit dem hervorragendsten Vertreter der roten Rasse als Busenfreund, ausgestattet mit den zwei berühmten Gewehren und seinem Jagdhieb (wenn auch noch auf den Hinterkopf, nicht gegen die Schläfe des Gegners) – diese Bemühungen zeitigen noch keineswegs den gewünschten Erfolg. Sie gelingen zwar, äußerlich betrachtet, mit der Rettung des Sioux-Häuptlings aus der Gewalt der Weißen, wobei allerdings mehr erhofft worden war, und der Rettung


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der Familie des Ölprinzen vor Banditen und Feuer, wobei ebenfalls mehr beabsichtigt war; aber sie zeigen unterschwellig, daß das ›Ich‹ in diese exotische Welt noch  k e i n e s w e g s  i n t e g r i e r t  ist.


II. Die übrigen Ich-Erzählungen von 1875 bis 1893
mit nordamerikanischem Schauplatz

Ich will nun zeigen, daß die Erzählung ›Ein Oelbrand‹ unter dem von mir gewählten interpretatorischen Ansatz einzigartig unter den in Nordamerika spielenden Reiseerzählungen Mays ist. Darum soll sie mit voraufgehenden und folgenden Texten verglichen werden, und zwar unter den beiden Gesichtspunkten: Wieweit reflektiert der Erzähler seine Stellung in der exotischen Welt, und welche Beziehung besteht zwischen ihm und der ihn umgebenden Natur?


Die Erzählungen vor 1882

›Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling‹ (1875)(18)

Diese kurze Erzählung gibt für unser Thema nichts her, da der Erzähler ein Erlebnis, dessen unbeteiligter Augenzeuge er war, berichtet und selbst ganz aus dem Spiel bleibt. Das gleiche gilt für die zweite Fassung von 1878 mit dem Titel ›Winnetou‹.(19)


›Old Firehand‹ (1875/76)(20)

Kein Element der Erzählhaltung deutet auf eine vergleichbare Stellung des Ich-Erzählers in der exotischen Welt wie in ›Ein Oelbrand‹ hin. Zwar wird der Erzähler auch hier von den Weißen abgestoßen (Anlaß dazu gibt das feindselig-verächtliche Verhalten Forsters und schließlich auch Ellens), aber die Wildnis, in die er sich dann begibt, und ihre Bewohner weisen ihn nicht ab; im Gegenteil: an Winnetous Stelle kämpft er gegen den weißen Bösewicht Parranoh alias Tim Finnetey und besiegt ihn; auffälligstes Indiz für die grundsätzliche Gleichberechtigung des ›Ichs‹ ist die Tatsache, daß Winnetou sich von ihm den Skalp des gefällten Feindes schenken läßt (auch Sam Hawkens nimmt sich später die Skalpe der vom Erzähler getöteten Indianer). Der Erzähler agiert wie ein integrierter Bestandteil einer Welt, die aus verschiedenen, einander bekämpfenden Parteien besteht, deren einer auch er fraglos angehört. Die Anfangspassagen enthalten keine Reflexion über das Verhältnis


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der Weißen zu den Indianern, die auch nur indirekt die Frage nach der grundsätzlichen Position des Erzählers im Wilden Westen aufwürfe. Auch die hektische Erzählweise, die ohne Rast einen Höhepunkt an den anderen reiht und die Umgebung, in der sich die Handlung abspielt, rein funktional unter dem Aspekt des Handlungshintergrunds bzw. Aktionsfortgangs benutzt, läßt nirgends erkennen, daß das Erzählerverhalten problematisiert würde. In dieser Hinsicht ist die Erzählweise mit der in ›Ein Oelbrand‹ insoweit vergleichbar, als darin von dem Zeitpunkt an, da der Protagonist ins Fort zurückkehrt, bis zum Ende ebenso kurzatmig von Ereignis zu Ereignis gesprungen wird. Auffallend anders ist dagegen der Anfang bis zu dieser Stelle gestaltet, nicht nur in den reflektierenden Partien, sondern auch in den Aktionsschilderungen; man denke z. B. an die minutiöse Beschreibung der Vorkehrungen, die der Erzähler zum Unschädlichmachen des sich anschleichenden Indianers trifft, und der damit verbundenen Überlegungen.

   Eine interessante Stelle gibt es allerdings in der frühen Erzählung, die auf den ersten Blick eine noch deutlichere Bewußtmachung des Problems, daß der Weiße in die Welt der Indianer eingedrungen ist und zum Untergang der roten Rasse beiträgt, zu enthalten scheint als ›Ein Oelbrand‹ – bei genauem Hinsehen aber anders zu verstehen ist.

   Der Erzähler hat gerade einen feindlichen Indianer getötet. Ich wandte mich ab, von jenem vor mir selbst grauenden und der Reue ähnlichen Gefühle erfüllt, welches in den Herzen aller Derer wohnen sollte, welche die stolzen Nationen der amerikanischen Savannen heimathslos und vogelfrei erklärt, mit Gift, Feuer und Schwert gelichtet und zwischen die Cannons der Felsengebirge getrieben haben, wo ihnen nur die Wahl bleibt, ruhm- und ehrlos hinzusterben oder mit kämpfender Hand den Todtesstoß zu empfangen. (S. 206)

   Scheint der Anfang noch eine Selbstanklage einzuleiten, wonach sich auch der Erzähler am Zurückdrängen und schließlichen Vernichten der Indianer beteiligt, so geht er sofort in eine Entlastung über, indem er die Anklage auf die anderen Weißen verlagert; und eigentlich handelt es sich um eine bloße Klage, die der Reue nur ähnlich ist, aber die Vernichtung der Roten durch die Weißen als Tatsache hinnimmt und das ›Ich‹ nicht etwa auffordert, sich davon zu distanzieren. Der Sermon endet in der Feststellung der ruhmvollen Alternative, mit der die Roten auf ihr Schicksal reagieren können, und lenkt damit vollständig von dem eigentlichen Problem ab.

   Vollends bestätigt wird diese Selbstentlastung durch den Erzähler wenig später, wenn er feststellt: . . . ich konnte die Ansicht nicht von mir weisen, daß Büchse und Messer in den Händen des Mannes Waffen, in


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denen eines Weibes aber Mordinstrumente seien (ebd.). Lassen wir die Ansicht über das Weib auf sich beruhen; der weiße Eindringling jedenfalls kämpft mit seinen Waffen gleichberechtigt mit dem Eingeborenen um Leben, Entfaltung, Landnahme usw.

   Auch eine Naturschilderung gibt es in ›Old Firehand‹, die mit der am Eingang der Ölbrand-Erzählung vergleichbar scheint. Der Erzähler ist auf einen Felsen gestiegen und schildert scheinbar seine optischen und akustischen Eindrücke, geordnet mit Hilfe adverbieller Bestimmungen, im parataktischen Beschreibungsstil, der auch durch einen Relativsatz nicht wesentlich variiert wird; dies alles entspricht stilistisch der Schau von einem festen Standort aus. Entlarvend aber ist der sich daran anschließende Satz: Meine Gedanken aber waren weniger bei diesem Frühconcerte als vielmehr bei den Erlebnissen des vorhergehenden Tages (S. 222). Der Sprecher hat gar keine Beziehung zu den ihn umgebenden naturhaften Vorgängen, sie sind ihm so unwichtig, daß er sie kaum wahrnimmt. (Stilistisch ist die Stelle überhaupt schlecht; sie wirkt unwahrhaftig, denn wie kann jemand so detailliert das Verhalten von Vögeln schildern, wenn er kaum auf sie achtet?) Die Stelle hat im Grunde gar keine Funktion, weder für die Handlung noch für die Beziehung des ›Ichs‹ zur Umwelt, sie gibt auch kein wirklich anschauliches Bild von der Morgenstimmung im Wilden Westen, da sie nur klischeehafte Details enthält. Sie ist ein Versatzstück ohne inneren Zusammenhang mit dem Kontext und könnte genauso gut fehlen.

   Viel plausibler erscheint die entsprechende Schilderung der nächtlichen Stimmung im ›Ölbrand‹: sie ist nicht nur ausführlicher und stilistisch variabler, sondern auch handlungsfördernd; ihr Schlußteil (der Abbruch des Froschquakens) löst die ganze weitere Aktionsfolge der Erzählung aus.

   Wie geht der Erzähler aus dem Flammeninferno hervor, innerlich und äußerlich?

   An Leib und Leben bleibt der Erzähler unversehrt, auch daß die Kleidung in der Hitze gelitten hätte, wird nicht berichtet.(21) Statt dessen erhält er ein Unterpfand der Liebe, wenn auch unbeabsichtigt: den Ring des Mädchens; dieser besiegelt im voraus die Verbindung der beiden; außerdem gewinnt er durch den Ring die besondere Zuneigung und Wertschätzung Winnetous und Old Firehands.(22)

   Weder ausdrücklich noch in der Erzählweise wird die Stellung des Erzählers in der ihn umgebenden exotischen Welt problematisiert, es reicht an einer Stelle zum bloßen Bedauern über das Schicksal der roten Rasse, ohne daß eine mögliche Mitschuld des Erzählers auch nur angedeutet würde. Dessen direkte Aussage über seine Rolle in der exoti-


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schen Welt fällt noch weniger selbstkritisch aus als die indirekte Selbstkritik in ›Ein Oelbrand‹, wo sie sich doch immerhin in der Erzählhaltung vergegenständlicht. Während 1875/76 der Erzähler das Problem expressis verbis von sich wegschiebt, hat er es 1882 ins Unterbewußtsein verdrängt, woher es sich in verschlüsselter Form zu Wort meldet und zumindest am Anfang und nochmals am Ende der Erzählung zeigt, daß es im Erzähler und damit auch im Autor virulent ist.

   Die Buchfassung von 1879, ›Im fernen Westen‹,(23) unterscheidet sich unter den genannten Aspekten nicht von der Erstfassung.


›Der Oelprinz‹ (1877)(24)

Die Geschichte spielt zwar nicht unter Indianern, sondern ist noch ganz im Dunstkreis der Zivilisation angesiedelt, sie weist aber doch in unscheinbar anmutenden Details Merkmale auf, die mit ›Ein Oelbrand‹ vergleichbar sind und gerade in ihrer so ganz anderen Gestaltung die letztere Erzählung in einem besonderen Licht erscheinen lassen.

   Da ist zum einen die unreflektierte Art, in der sich der Erzähler in die exotische Welt des Wilden Westens einordnet und als deren genuinen Bestandteil fühlt. Mein Begleiter war jedenfalls in seinem Rechte und zwei erfahrene Prairiemänner brauchten sich vor einem Häuflein Oelarbeiter nicht eben sehr zu fürchten – stellt der Erzähler fest (S. 172). Und wenig später noch deutlicher: Der Sohn des Westens pflegt, wenn er zur Waffe greift, mit seinen Drohungen niemals Scherz zu treiben (S. 173). Da auch der Erzähler zu seinen Waffen gegriffen hat, bezeichnet er sich also ganz ungeniert als Sohn des Westens, als sei er hier geboren. Kein Indiz, daß sich der aus Deutschland stammende Erzähler als Fremder in dieser Welt fühlte, im Gegenteil: er agiert, als gehöre er hierher, sei ureigener Teil dieser Welt.

   Für unser Thema noch bezeichnender ist die folgende Stelle, die sich fast Wort für Wort mit einer Parallele in ›Ein Oelbrand‹ vergleichen läßt – sich von ihr aber im entscheidenden Detail abhebt.

   Wieder einmal rettet der Held eine junge Dame aus den Flammen einer brennenden Ölquelle, mit ihm salviert sich sein Begleiter, Sam Hawkens. Unmittelbar danach erfahren wir noch mit keinem Wort, in welchem Zustand die beiden das Inferno überstanden haben. Verliert der Erzähler in ›Ein Oelbrand‹ das Bewußtsein und fällt in einen Schlaf, der bis zum Abend des nächsten Tages dauert, um dann erst die Folgen des Ereignisses an sich und Winnetou zu beobachten, bleibt er in ›Der Oelprinz‹ bei klarem Verstand. Trotzdem fällt ihm erst am nächsten Morgen auf: Der gute Sam sah heute noch possirlicher aus als gestern.


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Grad so wie mir war ihm in der gestrigen Hitze Kopf- und Barthaar vollständig weggesenkt [!] worden; Rock, Hose und Stiefeln, alle aus Leder gefertigt, hatten bei dem Wechsel von Gluth und Wasser ihren Zusammenhalt verloren und bröckelten ihm stückweise vom Leibe, und der alte Filz war ihm so zusammengeschrumpft, daß er ihm wie ein verbrannter Eierkuchen auf dem kahlen Scheidel [!] lag und die unvergleichliche Nase in ihrer ganzen Dimension erkennen ließ. (S. 175)

   Nun ist die unmittelbare schreckliche Wirkung der Vorgänge der letzten Nacht dahin, und die Erscheinung des halb verkohlten Sam Hawkens kann ins Komische gezogen werden. Wichtiger noch aber ist die unterschiedliche Perspektive: In ›Der Oelprinz‹ fällt der Blick des Erzählers sogleich auf Hawkens (Grad so wie mir war ihm . . .), dessen Aussehen ist wichtig, und die folgenden Aussagen über den Zustand der Kleidung können sich aus sprachlichen Gründen nur noch auf ihn beziehen. Ganz anders in ›Ein Oelbrand‹: Die Aussagen über die völlig versengten Kleidungsstücke und die Haare beziehen sich zunächst auf den Erzähler, und erst danach wird der gleiche Zustand bei Winnetou konstatiert.

   Alles weist darauf hin, daß die Wirkung des Feuers auf den Erzähler in dem späteren Text ganz anders empfunden und darum auch anders erzählt wird: nicht mehr in mehrfacher Distanzierung durch die unmotiviert späte Schilderung des Aussehens, die Sicht auf den Begleiter und die Wendung ins Lächerliche, sondern als Ausdruck der äußeren und inneren Betroffenheit durch Ohnmacht und langen Schlaf (der noch kein Heilschlaf ist!), den Blick auf sich selbst gerichtet, in einem ernsthaften Erzählton.


›Deadly dust‹ (1880)(25)

Kurz nach der Begegnung des Erzählers mit Sans-ear erzählt dieser, wie er seine Ohren verloren hat und daß er noch zwei Weiße sucht, an denen er Rache üben will. Darauf stellt der Erzähler fest: Vielleicht hatte auch ihn, wie so manchen Anderen, der Schmerz oder die Rache dem rauhen Leben der Wildniß in die Arme geworfen; denn der ächte Prairiejäger weiß nichts mehr von dem erhabenen Gebot: »Liebet eure Feinde!« (S. 438) Bei dieser Gelegenheit könnte der Erzähler über die Motive, die ihn in den Wilden Westen getrieben haben, sprechen, tut es aber nicht. Jedenfalls ist es nicht Schmerz oder Rache gewesen, die eine gewisse Rechtfertigung darstellen würden; was dann? In dem Zusammenhang wird die Bemerkung: es zuckte mir bereits in den Fingern (S. 435), nämlich mit seinem Bärentödter auf die Indianer, die Sans-ear verfolgen, zu


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schießen, aufschlußreich. Dann gilt also das erhabene Gebot der Feindesliebe auch für den Erzähler nicht – heißt dies, daß auch er ein ächte(r) Prairiejäger ist? Das soll wohl mit der ganzen Art der Schilderung behauptet werden. Er rechtfertigt seine Absicht, sich an der Tötungsaktion zu beteiligen, ganz naiv und unreflektiert mit einer Notwehrsituation, in der er sich nur deshalb passiv verhält, da der Kleine meiner Hülfe nicht bedurfte (ebd.); er hat bei der Ermordung der vier Roten jedenfalls nicht die geringsten Skrupel.

   Auch in dieser Erzählung werden Bestandteile der Natur unter rein funktionalem Aspekt gesehen und geschildert.

   An einer Stelle wird eine interessante Überlegung über die Motive, aus denen sich der Erzähler in Gefahr begibt, angestellt; sie ist – auf unsere Hauptfragestellung bezogen – von einiger Bedeutung. Nach den Angaben, was für einen Prairiejäger zu tun nötig ist, heißt es: Und außerdem liegt ja im Menschen überhaupt der Drang, sich über jede Gefahr Gewißheit zu verschaffen und jedem Bösen nach Kräften entgegen zu arbeiten; den Reiz gar nicht gerechnet, den auf jede kräftige Natur ein muthiges Unternehmen auszuüben pflegt (S. 450). Die letzte Feststellung darf man wohl dahingehend erweitern, daß auch die Reisen durch ferne Länder mit ihren Gefahren reizvoll sind. Das aber läßt wiederum jegliches Bewußtsein der Problematik, welche moralische Berechtigung beispielsweise das Töten der Bewohner jener Länder hat, vermissen. In die genannte Gefahr hat sich der Erzähler ohne jede Not begeben, und er ist auch nicht einem mittelalterlichen Recken vergleichbar, der auszieht, weil er es sich zur Aufgabe gemacht hat, überall das Böse zu bekämpfen. Statt dessen gibt der Erzähler in ›Deadly dust‹ als sein Motiv, das ihn in die Prärien und Felsengebirge treibt, an, er wolle über seine Erlebnisse Bücher schreiben.(26) Wenig später erzählt ein Indianer eines der früheren Abenteuer des Erzählers, den die Weißen für närrisch hielten, weil er Pflanzen und Käfer suchte und bloß gekommen war, um sich die Savanne anzusehen (S. 454).

   Dann wird ein Motiv genannt, das eine sehr wichtige Begründung für die Anwesenheit des Erzählers im Wilden Westen gibt, ausgesprochen von einem Indianerhäuptling, der damit diesem Motiv besonderes Gewicht verleiht: »Wer den Athem der Prairie getrunken hat, dürstet nach ihr, so lange ihm der große Geist das Leben läßt!« Das wird auch sogleich vom Erzähler bestätigt: Darin hatte er Recht. Wie der Gebirgsbewohner sich im flachen Lande bis zur Krankheit nach seinen Höhen sehnt und der Seemann nicht von dem Meer zu scheiden vermag, so thut es auch die Prairie Jedem an, den sie einmal umfangen hat. Ich war wieder zurückgekehrt. (Ebd.)


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   Auf eine naive, aber umfassende Weise wird das Verhalten des Erzählers mit einem inneren Zwang gerechtfertigt, der von der exotischen Welt ausgeht und den ihm selbst der Eingeborene attestiert, weshalb man ihm keinen Vorwurf machen kann, wenn er in Lagen gerät, in denen er mit seinen überlegenen Waffen Indianer töten muß und so zur Vernichtung der roten Rasse sein Scherflein beisteuert. Die metaphorischen Umschreibungen der Faszination, die von der Prärie ausgeht (›dürsten‹, ›umfangen‹), sind nichts als Redensarten und stehen pauschal für die Anziehungskraft der Fremde auf den zivilisationsmüden Europäer; sie sind nicht zu vergleichen mit dem Beginn von ›Ein Oelbrand‹, wo sie die Gemütslage des von seiner Verwundung genesenen Erzählers am ersten Abend im Urwald charakterisieren.

   Die Rechtfertigung des Erzählers ist an etwas späterer Stelle noch weniger überzeugend, wenn er nach der Tötung zweier Indianer durch seinen Begleiter, die er als traurige Nothwehr bezeichnet, räsoniert: Wer die Prairie nicht kennt, ahnt nichts von der Gluth der Erbitterung, mit welcher sich zwei Rassen bekämpfen, deren Angehörige von Schritt zu Schritt im Blute ihrer Gegner schreiten. Betritt der noch zartfühlende Mensch, der Christ, die »dark and bloody grounds«* (Anm. Mays:*»Die finsteren und blutigen Gründe« nennt man in den Vereinigten Staaten die Prairie.), so fühlt er sich entsetzt von der Strenge und Rücksichtslosigkeit, zu welcher die Savanne ihre kraftvollen Söhne erzieht; bald aber zwingt ihn das grausame Gesetz der Selbsterhaltung, alle seine Kräfte gegen Gewalten einzusetzen, denen gegenüber die Schonung zu seinem eigenen sicheren Untergang führen würde; und er erkaltet nach und nach im Innern wie Alle, welche vor ihm den »Athem der Savanne tranken«. (S. 467)

   Dazu kann man nur den vielleicht spießerhaften, aber trotzdem vernünftigen Standpunkt vertreten: Hätte das grausame Gesetz der Selbsterhaltung den Erzähler dazu gebracht, in New York Tellerwäscher zu werden, dann hätte er die Chance gehabt, nach wenigen Jahren Millionär zu sein – oder auch nicht; auf jeden Fall hätte er aber keine Indianer umbringen bzw. Beihilfe dazu leisten müssen.

   Auch zu Beginn des 2. Kapitels, wo der Erzähler und Sans-ear kurz vor dem Tode des Verschmachtens stehen und sich eine Reflexion über Sinn und Berechtigung des Aufenthaltes in der Exotik anböte, erfolgt nichts dergleichen: Das also sollte der Abschluß meines vielbewegten Lebens, das Ziel aller meiner Wanderungen sein! Ich wollte denken an die Eltern, an die Geschwister daheim im fernen Deutschland, wollte meine Gedanken zum Gebete sammeln – es ging nicht, denn mein Gehirn kochte. (S. 482)

   Der weitere Fortgang der Erzählung bietet für unser Thema nichts


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Neues. Darum kommen wir gleich zum Ende der Geschichte mit Winnetous Abschiedsrede und dem Schlußwort des Erzählers: »Die Bleichgesichter werden ausrotten die Zahl der rothen Männer, aber in dem Herzen meines weißen Bruders wohnt die Liebe des großen Manitou« (S. 667). Und er bekennt: Winnetou steht noch heut in meiner Erinnerung und wird nie darin verlöschen, er, der edle Typus einer dem Untergang geweihten Rasse, der meine innigste Theilnahme gehört (ebd.).

   Auch der Erzähler gehört zu den Bleichgesichtern, die die Indianer vernichten, aber selbst als Adressat der Rede bemerkt er nicht, daß er für den Untergang der roten Rasse mitverantwortlich ist.

   Trotz vieler Stellen, die die Gelegenheit böten, die Frage der Mitverantwortung des Erzählers für den Untergang der Indianer zu erörtern, erschöpfen sich seine Stellungnahmen in angedeutetem Mitleid mit dem Geschick der Indianer oder in Rechtfertigungsversuchen für das eigene Verhalten. Auch die Erzählhaltung, das Arrangement der Szenen, läßt nirgends eine Deutung zu, wie sie in ›Ein Oelbrand‹ möglich war, nämlich daß der Erzähler als ein nicht geduldeter Störenfried im Wilden Westen Nordamerikas erscheint.

   Die Feststellung, die Christoph F. Lorenz im Großen Karl-May-Figurenlexikon trifft: »daß es sich hier um eine Konstruktion aus den früheren Erzählungen handelt«(27), gilt auch für den hier behandelten Aspekt.


›Im »wilden Westen« Nordamerika's‹ (1881(28)/1883)(29)

Auch hier(30) gibt es eine – noch dazu besonders ausführliche – Polemik gegen die weißen Eindringlinge in Amerika, die die Roten ausrotten; außerdem gegen die weißen Banditen, die im Bunde mit Indianern zu einer besonders großen Plage werden. Die Polemik soll begründen, weshalb der Erzähler sich dem dicken Walker anschließt und mit ihm und Winnetou die Banditen jagt. Außerdem wird unverhohlen die Abenteuerlust als Motiv genannt. Das Unternehmen hat also nicht eigentlich etwas mit den Indianern zu tun, und die langen Ausführungen über das Verhältnis der Weißen zu den Roten erscheinen recht unvermittelt und ohne inneren Zusammenhang mit der Handlung. An keiner Stelle klingt das Bewußtsein des Erzählers, selbst als Weißer irgendeine Mitverantwortung am Schicksal der Roten zu tragen, an; an anderer Stelle der Erzählung(31) ist von der Anziehungskraft des Wilden Westens die Rede, die auch den Europäer dazu bringt, sich den todbringenden Gefahren der Natur und der in ihr lebenden Menschen auszuliefern.

   Die natürliche Umgebung spielt ganz im Sinne des Erzählers und seiner Verbündeten mit. An einem Abend finden er und sein Begleiter


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Walker einen Lagerplatz, an dem sie sich so vollständig sicher (S. 64) fühlen, daß sie ruhig schlafen können. Als der Held Feinde beschleicht, wird zwar ausführlich von den Schwierigkeiten, die im allgemeinen dabei zu überwinden sind, gesprochen, aber ihm gelingt es dann leicht, wenn auch mit großem Zeitaufwand, sich so weit zu nähern, daß er ein wichtiges Gespräch belauschen kann.(32) Der weitere Ritt erfolgt in totaler nächtlicher Dunkelheit völlig problemlos über schwierige(s) Terrain durch den Urwald . . . über Bäche und Felsen, über Stock und Stein (S. 134) – ganz anders als in ›Ein Oelbrand‹ bei der Verfolgung des roten Olbers.

   Auch fühlt sich der Erzähler selbst vollkommen in die exotische Welt eingepaßt. Dies ist an dem Ton zu erkennen, in dem er den deutschen Siedlern in Helldorf-Settlement Belehrungen über das Gebirge erteilt und dabei Settler und Westmann unterscheidet (116). Selbst langjähriges Urbarmachen der Wildnis machte noch keinen Westmann; für einen solchen aber hält sich der Erzähler, er kennt sich aus und weiß sich angemessen zu verhalten, er gehört einfach dieser Wildniß an.

   In dieser Natur kann das vom Erzähler getextete Lied erklingen; mit ihr werden er und Winnetou eins: Eine etwas erhöhte Felsenplatte ragte über die dunklen Wasser hinein, und auf ihr sah ich die Gestalt des Gesuchten. Er saß hart am Rande, bewegungslos wie eine Statue. Mit leisem Schritte näherte ich mich ihm und ließ mich neben ihm nieder, wo ich im lautlosen Schweigen verharrte. (167) Dort findet das Religionsgespräch zwischen den beiden Freunden statt.

   Als nach dem Überfall auf die Bahnstation die Zahl der Toten feststeht, erfolgen die gewöhnlichen Äußerungen des Bedauerns, die nicht über das aus früheren Erzählungen gewohnte Maß hinausgehen.


Die Erzählungen nach 1883

Wird in den Texten, die nach ›Ein Oelbrand‹ erschienen sind, wenigstens die dort in der Erzählhaltung sichtbar gewordene kritische Einstellung zum Eindringen des Europäers in die exotische Welt weitergeführt, gar ins Bewußtsein des Erzählers (und des Autors) gehoben, oder wird der in dieser Erzählung erkennbare Ansatz wieder verschüttet?


›Unter der Windhose‹ (1886)(33)

Diese kurze Erzählung gibt für unser Thema nichts her.


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›Der Scout‹ (1888/89)(34)

Beruflicher Ärger in Deutschland läßt den Erzähler nach Amerika gehen.(35) Auf die Frage von Old Death, warum er in die Staaten gekommen sei, gibt er an: »Aus demselben Grunde, welcher jeden Andern herbeiführt – um mein Glück zu machen.« (S. 186) Die Gleichsetzung mit dem ebenso pauschalen wie nichtssagenden Beweggrund aller anderen Amerikaflüchtlinge signalisiert gleich zu Beginn der Erzählung den geringen Bewußtseinsgrad, mit dem diese einschneidende Veränderung des Wirkungskreises wahrgenommen wird. Allerdings besagt das für unsere Fragestellung noch nichts, bleibt der Erzähler doch zunächst im Bereich der Zivilisation und übt Tätigkeiten aus, die sich nicht prinzipiell von den Anforderungen in Europa unterscheiden.

   Beim Kampf gegen die Kukluxer wird der Erzähler von Old Death aufgefordert, im Notfalle den Gegner unschädlich zu machen. Seine Reaktion: »Tödten?« flüsterte ich ängstlich, denn der Gedanke, einen Menschen in die Ewigkeit zu senden, war mir gar nicht behaglich (S. 360).

   Etwas später erfolgt die Überlegung: Zum ersten Male in meinem Leben sollte ich einen Menschen wirklich feindlich überfallen, sollte ihn »bei der Gurgel« nehmen, was sehr leicht seinen Tod zur Folge haben kann . . . Ich befand mich ungefähr in der Stimmung eines Schulknaben, welcher eine Gedächtnißaufgabe hersagen soll und nicht genau weiß, ob er stolpern werde oder nicht. (S. 382)

   Die saloppe Ausdrucksweise an der ersten Stelle und der ganz unpassende Vergleich an der zweiten beweisen, daß die Vorbehalte keine wirklich existentielle Bedeutung für den Erzähler haben. Vollends das Motiv, die eventuelle Tötung eines Menschen in Kauf zu nehmen: daß er sich nicht auslachen lassen will, läßt die ganze Reflexion oberflächlich erscheinen.

   Später, beim Kampf zwischen den Comanchen und Apachen, in dem Winnetou viele Gegner tötet, heißt es: Dem alten Westmanne waren solche Ereignisse etwas ziemlich Gewöhnliches. Sein Gesicht war . . . ruhig . . . Ich aber fühlte ein gelindes Entsetzen über die Art und Weise, Menschenleben zu vernichten. (S. 619) Sofort wird die Handlung weiter geschildert, das Entsetzen ist nicht sehr nachhaltig.

   Während der Auseinandersetzung zwischen den Indianerstämmen befindet sich der Erzähler mit der Gruppe der ihn begleitenden Weißen zwischen zwei Feuern und gerät in Gefahr, darin umzukommen. Höhepunkt ist sein Zweikampf mit Winnetou, bei dem er einen Messerstich in den Mund erhält, der sich aber als nicht weiter gefährlich erweist. Diese Verwundung ist kein Indiz für die grundsätzliche Gefährdung ei-


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nes Menschen, der sich in eine Welt begeben hat, in die er eigentlich nicht gehört – dieser Gesichtspunkt wird auch nirgends angesprochen –, sondern eine logische Folge der kriegerischen Situation, die das Thema dieses Kapitels bildet; sie ist also ganz handlungsimmanent zu sehen. Die kurzen Einschübe der Irritation des Erzählers über die Grausamkeiten, die im Wilden Westen begangen werden, ergeben sich aus der konsequent durchgehaltenen Perspektive des echten Greenhorns, das vieles noch nicht weiß – wenn es auch wieder für einen Neuling im fernen Westen erstaunliche Fähigkeiten besitzt –, das sich die Beine wund reitet, Mühe mit dem Anschleichen hat u. ä., und dazu gehört eben auch das Entsetzen darüber, daß da, wo gehobelt wird, Späne fallen. Ansonsten macht der Erzähler alles mit, was von ihm verlangt wird, er ist völlig integrierter Bestandteil der spannenden Handlung, wird anerkannt (erhält sogar ein Totem eines Apachen, was Old Death ausdrücklich als seltenen Glücksfall betrachtet(36)), und nirgends spürt man in der Erzählweise eine Verunsicherung wie in ›Ein Oelbrand‹. Auch herrscht im ›Scout‹ zumeist ein hektisches Erzähltempo vor, besonders in den Kampfszenen, die keinen Gedanken daran aufkommen lassen, das Verhalten des Erzählers kritisch zu hinterfragen.

   Die für unser Thema interessanteste Stelle ist die lange Rede, die Winnetou über das Verhältnis zwischen Weißen und Roten hält; er richtet sie an Old Death, seine eigentliche Absicht aber ist, den Erzähler über dieses Verhältnis aufzuklären.(37) Die Rede hat den gleichen Inhalt wie die Gedanken, die in ›Ein Oelbrand‹ vorgetragen werden, nur daß Wortlaut und Stil indianisch sein sollen. Die Vorwürfe, die Winnetou gegen die Weißen erhebt, beziehen die anwesenden Weißen durch die Anrede Ihr ausdrücklich mit ein. Sie böten dem Erzähler die beste Gelegenheit, über seine eigene Rolle nachzudenken und sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Aber nichts davon geschieht. Selbst der ausdrückliche Hinweis des Erzählers, daß Winnetous Worte ihm gegolten hätten, führt zu keinem Nachdenken, er kommt mit keinem Wort mehr darauf zurück. (Winnetou übrigens auch nicht; statt dessen läßt er das Greenhorn nur von einem Pferd abwerfen, eine unschädliche Malice dem weißen Eindringling gegenüber, der ihm immerhin das Leben geschenkt hat.) Auch die Tatsache, daß – im Unterschied zu ›Ein Oelbrand‹ – hier im ›Scout‹ nicht der Erzähler selbst, sondern ein Indianer, wenn auch einer mit Autorität, das Thema in einer Rede behandelt, entwertet deren mögliche Bedeutung, dem Europäer bewußt zu machen, daß er ein Eindringling, also ein Störenfried ist. Die Rede bleibt ebenso folgenloser Topos des Indianerromans wie in vielen anderen Romanen Mays, im großen Unterschied zu ›Ein Oelbrand‹, wo sie die nachfolgen-


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de Handlung ideologisch überlagert und sich im Schädelmotiv mit ihr verschränkt. Im ›Scout‹ versinkt der Erzähler nach dem Abschied von Winnetou zwar in tiefes Sinnen (S. 682), aber über den Apachen, der ihn so beeindruckt hat, nicht etwa über dessen flammende Rede.

   Die in ›Ein Oelbrand‹ an der Erzählweise sichtbar gewordene, wenn auch nicht ins Bewußtsein des Erzählers und Autors gehobene selbstkritische Reflexion des ›Ichs‹ über seine Rolle in der exotischen Welt findet in ›Der Scout‹ keine Fortsetzung. Die am ehesten dafür in Frage kommende Stelle, die Rede Winnetous, macht im Gegenteil deutlich, daß das Recht des Erzählers, sich im Indianerland zu bewegen, sich an den Kämpfen zu beteiligen und, wenn nötig, zu töten, naiv und vorbehaltlos akzeptiert wird.


›Winnetou I‹ (1893)(38)

Das Vorwort zu ›Winnetou I‹ und die Reflexion in ›Ein Oelbrand‹ scheinen die gleiche Einstellung des Sprechers aufzuweisen; die Gedankengänge sind gleich geformt und ähneln einander an manchen Stellen bis in die sprachliche Struktur, z. B. den Gegensatz von Worten und Taten der Weißen im Umgang mit den Indianern betreffend. Aber es gibt zwei entscheidende Unterschiede: Das Vorwort ist von der eigentlichen Erzählung isoliert, und es spricht der außenstehende Autor, der von vornherein keinen schuldhaften Anteil an dem Schicksal der Indianer haben kann; aber dieser Autor deutet auch an keiner Stelle an, sein innerhalb der erzählten Geschichte agierendes Phantasie-Ich könne durch sein Erscheinen in den Indianergebieten Nordamerikas mit zum Zurückdrängen der Eingeborenen, ihrer Dezimierung, ihrem schließlichen Untergang beitragen. In allgemeiner Form werden hier zwei Rassen gegenübergestellt, ohne daß sich das schreibende ›Ich‹ in das Handeln der Weißen einbindet. Die betonte Hervorhebung des Autors im letzten Abschnitt des Vorworts dient nur dazu, seine besondere Berechtigung zur Klage über den Untergang der roten Rasse herauszustellen, da deren edelster Sohn (S. 5) sein Freund gewesen sei. So ist denn die Einstellung des Autors zu der hier behandelten Problematik grundsätzlich die gleiche wie die in allen anderen Texten, ausgenommen eben ›Ein Oelbrand‹.

   Entsprechend knapp sind die diesbezüglichen Überlegungen im Roman. Als Intschu tschuna den Erzähler anspuckt und als Länderdieb für Geld beschimpft, heißt es: Hätte mir das ein anderer gethan und gesagt, ich hätte ihm mit der Faust geantwortet. Warum that ich es nicht? Hatte ich als Eindringling in fremdes Eigentum diese Züchtigung vielleicht ver-


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dient? Es war mehr instinktiv, daß ich sie mir gefallen ließ . . . (S. 136) Es scheint so, als äußere der Erzähler hier Einsicht in seine Schuld. Die Stelle ist es wert, sehr genau untersucht zu werden.

   Zunächst ist zu überlegen, wer hier eigentlich spricht und sich endlich einmal als Eindringling bezeichnet: das erlebende ›Ich‹ oder das sich erinnernde ›Ich‹? Gegen die zweite Annahme spricht die stilistische Gestalt der Stelle: erstens die doppelte Frage, die Ausdruck einer großen inneren Erregung ist, in welcher sich nur das erlebende ›Ich‹ befinden kann; zweitens das einschränkende Adverb vielleicht, das die Antwort völlig in der Schwebe läßt, obwohl sich doch der aus der zeitlichen Distanz sprechende Erzähler, der nach Ausweis der Einleitung mit dem am Schreibtisch sitzenden Autor gleichzusetzen ist, eine Meinung gebildet haben müßte. Eher handelt es sich also um die aktuellen Überlegungen des Betroffenen, d. h. der Figur, die der Erzähler geschaffen hat, hinter der er in diesem Augenblick vollständig verschwindet, indem er in der Stilform der in Ich-Romanen recht selten vorkommenden erlebten Rede(39) die beiden Fragen formuliert, die in dieser gefahrenträchtigen Situation nicht weiter überdacht werden können. Bestätigt wird dies, indem der Erzähler sein Verhalten selbst als instinktiv bezeichnet. So wird denn die in der rhetorischen Frage angedeutete Schuld sogleich wieder verdrängt und auch von dem erinnernden ›Ich‹ bzw. dem schreibenden Autor nicht weiter diskutiert.

   Vor dem Kampf gegen den Kiowa Blitzmesser heißt es ziemlich lapidar: Ich sage hier noch einmal, es war schrecklich, daß es auf Tod und Leben ging. Einen Menschen töten zu müssen, ist gewiß entsetzlich, aber hier mußte mir die geringste Schonung das Leben kosten, und so war ich fest entschlossen, diesen Simson zu erstechen. (S. 282) Trotz aller humanen Attitüde wird kein Zweifel daran gelassen, daß der Weiße im Falle der Notwehr einen Roten töten darf, wenn es gar nicht anders geht, unabhängig von der Frage, ob es richtig bzw. notwendig war, als Landvermesser in den Lebenskreis der Indianer einzudringen.

   Auch die Tatsache, daß der Erzähler im Pueblo der Apachen sein Spiegelbild im Wasser als Kopf eines Gespenstes, eines Skelettes (S. 312) erblickt, ist keineswegs mit dem Schluß von ›Ein Oelbrand‹ gleichzusetzen, denn in ›Winnetou I‹ wird er sich erholen und als Westmann glanzvolle Karriere machen.


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III. Die Bedeutung der Erzählung ›Ein Oelbrand‹
im Gesamtwerk Karl Mays

In wichtigen Punkten unterscheidet sich also dieser frühe Text von den zeitlich benachbarten Ich-Erzählungen, die im Wilden Westen Nordamerikas spielen. In letzteren gerät die Einführung des Abenteurers in die exotische Welt zwar zuweilen etwas schmerzlich (von wunden Schenkeln über einen Stich in den Mund bis zur qualvollen Feuersglut), aber sie wird ohne jeden bleibenden Schaden überstanden, der Held wird zum gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft freier Individuen, im frühesten Text sogar mit der Liebe einer schönen Frau belohnt. In keinem Fall erfolgt eine Zurückweisung durch die exotische Welt, sie hält nur Prüfungen bereit, die mehr oder weniger (›Scout‹) glänzend bestanden werden. Nirgends erfolgt eine kritische Hinterfragung der Rolle des Erzählers, die Berechtigung seines Eindringens in die Neue Welt wird nicht problematisiert, weder direkt durch Reflexionen des Erzählers oder Reden der handelnden Personen oder Naturereignisse noch indirekt in der Erzählhaltung, d. h. durch ein besonderes Arrangement der Szenen oder eine desillusionierende Perspektive. Innerlich und äußerlich unbeschädigt geht der Erzähler aus seinen Erlebnissen hervor, er wird in der von Anfang an intendierten Rolle des neuen, sein wahres Ich entfaltenden und selbstbestimmten Menschen bestätigt, aufgenommen und geehrt von den Eingeborenen, die ihr von zivilisatorischen Zwängen freies Leben so lange zu bewahren suchen, wie es geht.

   Und so wird es auch in den späteren Romanen sein. Immer wieder reitet der Protagonist in diese Welt hinein, unterwirft sich jedesmal neuen Prüfungen, ohne nachzudenken über die Berechtigung dieses Tuns und dessen für die ursprünglichen Eigentümer des Landes eventuell fatalen Folgen – nur dem Drang nach Selbstverwirklichung gehorchend. Zwar bleiben Narben zurück, die aber nur dazu dienen, das glorreiche Bestehen der Einführungsriten zu beglaubigen; nie endet eine Erzählung mit solcher körperlichen Destruktion und dem Eingeständnis von Folgen . . ., welche doch schlimmer waren, als ich zuerst geglaubt hatte. – – –(40)

   Ganz anders ›Ein Oelbrand‹. Am Anfang stehen die Isolierung des Erzählers von der exotischen Welt und der zweite Versuch, sich Einlaß zu verschaffen. Auch dieser stößt auf Hindernisse, die Natur im nächtlichen Urwald weist den Abenteurer als einen Störfaktor zunächst ab, er muß erneut in die Welt der Zivilisation zurückkehren. Erst der dritte Anlauf gelingt, führt aber schließlich in Todesgefahr, aus der der Held


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schwer beschädigt, fast nackt und mit totenähnlichem Aussehen entkommt; es wird zwar endlich von den Indianern aufgenommen, muß aber wiederum tatenlos verharren, um sich zu erholen. Die drei Gedankenstriche am Ende signalisieren, daß seine Aktivität endgültig beendet ist.

   Die logische Konsequenz ist ein radikaler Neuanfang in der nächsten Wildwesterzählung, im ›Scout‹, in der ein echtes Greenhorn zum ersten Mal nach Amerika zu kommen vorgibt und der ganze Prozeß von vorne beginnt. Hier aber wird die zwiespältige Rolle, die der Erzähler in ›Ein Oelbrand‹ spielte, nicht fortgesetzt, sie ist vergessen oder überwunden; fast skrupellos mischt er im grausamen Spiel aller gegen alle mit, vergleichbar seinem Verhalten in ›Old Firehand‹, der ersten echten Ich-Erzählung. Es scheint so, als solle das ganz irritierende Zwischenspiel in ›Ein Oelbrand‹ mit dem Widerstand, den die exotische Welt dem handelnden ›Ich‹ entgegengesetzt hatte, ausgelöscht werden; als sollten die unbewußten Skrupel des realen Autor-Ichs nun im ›Scout‹ überspielt werden durch die Rückkehr zur frühesten, unbedenklichen Erzählform, die nur überlagert und ergänzt wird durch die realistischer erscheinende Handlungsweise des echten Neulings im Wilden Westen. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Karl May – Roland Schmid geht darauf ein(41) – die ›Ölbrand‹-Erzählung aus dem Jahre 1882 seinen Gesammelten Werken nicht einverleibt hat. Aber auch die ›Scout‹-Erzählung konnte keinen Bestand haben, war ihr Held doch kaum imstande, die beabsichtigte »vollkommene Resozialisierung«(42) Mays zu bewirken. Und so kommt denn der Erzähler in ›Winnetou I‹ zum x-ten Mal als Neuling in den Westen Nordamerikas, diesmal aber noch viel ›fertiger‹ als in den früheren Fassungen.

   ›Ein Oelbrand‹ zeigt, wie verwundet der Autor Karl May war, weil der Versuch der Resozialisierung des gesellschaftlichen Außenseiters mit Hilfe des Schreibens für ihn selbst nicht so schnell zu bewerkstelligen war, vor ihm selbst nicht so bald Bestand haben konnte, wie er es wünschte.  W i e  schwer es ihm fiel, dafür legt dieser frühe Text ein überraschendes Zeugnis ab.

   Ich habe zu zeigen versucht, daß die kleine, 1882 entstandene Erzählung ›Ein Oelbrand‹, so literarisch anspruchslos sie sein mag, im Schaffen des Autors Karl May einen besonderen Stellenwert hat, ist sie doch der einzige Text, der wenigstens indirekt, durch seine Erzählweise, die Berechtigung der Existenz des Mayschen Phantasie-Ichs in der imaginierten Welt hinterfragt und – sehr verschlüsselt – verneint. Die Phantasiewelt verschließt sich vorerst dem ›Ich‹ des um seine Rehabilitierung kämpfenden Straftäters May. Damit aber erhält die ganze Ameri-


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ka-Fiktion, die sich ausschließlich auf dem handelnden ›Ich‹, das für den Autor steht, aufbaut, einen Riß, der erst Jahre später (1888) durch einen radikalen Neubeginn der Karriere des Helden in den ›dark and bloody grounds‹ von Nordamerika notdürftig übertüncht werden konnte, um dann noch weitere fünf Jahre danach (1893) in einen literarisch anspruchsvolleren Versuch zu münden. Die literarische Krise des Jahres 1882, die sich nicht nur in ›Ein Oelbrand‹ äußert,(43) hat – was den Schauplatz Nordamerika angeht – zur Folge, daß der Autor seine Bemühungen vorerst aufgibt und sich der Kolportage zuwendet; später, mit Beginn der Zusammenarbeit mit Spemann (1886) und Fehsenfeld (1891), wird er sich immer forscher bemühen, sein ›Ich‹ in der Exotik zu installieren. Dies scheint ihm auch in den folgenden Jahren zu gelingen, nicht zuletzt dadurch, daß er die Fiktion der exotischen Ferne in die Realität der Heimat hereinnimmt, indem er behauptet, er habe diese Erlebnisse alle wirklich gehabt, Old Shatterhand sei tatsächlich Karl May, handelndes ›Ich‹ und reales Ich seien eins. Dies scheitert aber dann kläglich, als sich kritische Geister daran machen, die Fiktion als solche zu erweisen und zugleich ihren Erfinder als Schreiber billiger Kolportage zu entlarven – ein Scheitern, das in unserer Erzählung schon vorgeprägt ist. Auch im wirklichen Leben werden die Folgen des Ölbrandes schlimmer sein, als der Autor zuerst geglaubt hatte!

   Als thematische Parallele fällt in dem anderen Text-Komplex, den im Deutschen Hausschatz erscheinenden Orient-Erzählungen,(44) wiederum die Gestaltung des Todes-Motivs auf, die ganz anders als in den früheren, oben analysierten Amerika-Erzählungen und mindestens ebenso radikal wie in ›Ein Oelbrand‹ keine problemlose Rettung aus Todesgefahr bieten, sondern die Existenz des überlegen schaltenden Erzählers in der von ihm entworfenen fremden Welt des Orients radikal zu negieren droht. Im Jahre 1882 gerät die Ich-Variante Kara Ben Nemsi tatsächlich an den Rand des Todes, wird ihm bei den Ruinen von Babylon nur entrissen, damit der Roman seinen Fortgang findet, während die Variante Old Shatterhand im Wilden Westen trotz des wunderbaren Erscheinens der Indianer symbolisch den Tod erleidet.

   Als Einzelmotiv ist vergleichbar: Als ich mich zum ersten Male im Wasser spiegelte, erschrack [!] ich über den dicht bebarteten Todtenkopf, welcher mir da entgegengrinste.(45) Man erinnert sich, wie der Erzähler vom Ölbrand zugerichtet wird, nur daß da eben der Bart ab ist. Auch die Gefährten, hier Halef, da Winnetou, werden in gleicher Weise mitgenommen. Wahrscheinlich nur ein Jahr früher, 1881, hatte May seinen indianischen Freund richtig sterben lassen. All das signalisiert über die biographischen Spiegelungen und den psychologischen Hintergrund


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hinaus die tiefgehende Krise, in die Mays fiktive Welt geraten war. Im Orientroman, der von Anfang an in Handlung und Personal monumentaler angelegt war als alle Amerika-Geschichten, gelang die dichterische Gestaltung dieser Krise weitaus beeindruckender als in der kleinen Erzählung ›Ein Oelbrand‹, der sie allerdings in subtiler Form ebenfalls ihren Stempel aufdrückt. Neben der Kolportagearbeit wurde der Orient-Roman wenigstens sporadisch noch weitergeführt, während die Produktion von Amerika-Erzählungen zum Erliegen kam, bis zum Juni 1886, als May die kurze Erzählung ›Unter der Windhose‹ schrieb, in der der Erzähler aber weitgehend passiv bleibt und in die Haupthandlung kaum eingreift.(46) Ende 1886 beginnt er seine Arbeit für die Jugendzeitschrift ›Der Gute Kamerad‹ mit Erzählungen, die in der Er-Form gehalten sind. Und dann – nach Beendigung der Fron für Münchmeyer – entsteht die Ich-Erzählung ›Der Scout‹. Bis dahin machen die Riesenromane für Münchmeyer den alles andere erdrückenden Anteil an Mays literarischem Schaffen aus, was – wie ich hoffe gezeigt zu haben – in erster Linie auf die Krise zurückzuführen ist, in der sich die Abenteuerwelt seines ›Ichs‹ um 1882 befand.

   Die Folgen dieser Krise sollten den Autor im Alter wieder einholen . . .



1 Karl May: Ein Oelbrand. In: Das Neue Universum. 4. Bd. (1882/83); Faksimile in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1970. Hamburg 1970, S. 221-57; die Seitenangaben der Vorlage sind unten auf den Jahrbuchseiten zusätzlich angegeben, sie werden im Text den Zitaten in Klammern nachgestellt.

Weitere Reprints in: Karl May: Winnetou's Tod. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1976, und in: Arbeitstexte für den Unterricht: Indianergeschichten. Hrsg. von Heinrich Pleticha. Stuttgart 1960 (Reclam 9561) (nur der 1. Teil: ›Tötendes Feuer‹)

2 Hartmut Kühne: Karl Mays »Ölbrand«. In: Jb-KMG 1970. Hamburg 1970, S. 262; vgl. auch: Hartmut Kühne: Werkartikel ›Ein Ölbrand‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 506f.

3 Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Die Todes-Karavane/In Damaskus und Baalbeck/Stambul/Der letzte Ritt. In: Deutscher Hausschatz. VIII./IX./XI./XII. Jg. (1881/82; 1882/83; 1884/85; 1885/86); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/ Regensburg 1978, S. 3

4 Die folgenden Daten: ebd., S. 2

5 Auch Hans Wollschläger gibt in seiner May-Biographie (Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 58 (Diogenes Taschenbuch 112)) Mays wirtschaftliche Notlage als einzigen Grund an. Vgl. dazu: Andreas Graf: »Ja, das Schreiben und das Lesen . . .« Karl Mays Kolportageroman ›Der verlorne Sohn‹ als Entwurf einer schriftstellerischen Karriere. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 195f.

6 Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 2, S. 96

7 ›Todes-Karavane‹, 1. Teil, März-Juni 1882 gedruckt; ›Todes-Karavane‹, 2. Teil, Oktober-November 1882 gedruckt (muß vor Beginn der ›Waldröschen‹-Arbeit fertig gewesen sein); ›In Damaskus und Baalbeck‹ und ›Stambul‹, Dezember 1882 – März 1883 gedruckt (sehr wahrscheinlich im Sommer 1882 fertig); alle Angaben nach Roxin: Einführung, wie Anm. 3, S. 2f.


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8 Jürgen Wehnert: . . . und ich das einzige lebende Wesen in dieser Wildnis. In: Karl May. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München 1987, S. 5-38 (Sonderband Text + Kritik)

9 Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung. Tübingen 1983

10 Vgl. z. B. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 332f.

11 Der Ausdruck, er habe sich recht einsam (S. 1) gefühlt, ist allerdings unglücklich gewählt; der gleiche Begriff soll wenig später den entgegengesetzten Gemütszustand charakterisieren.

12 Jens Christian Jensen: Malerei der Romantik in Deutschland. Köln 1985, Tafel 37

13 Ebd., S. 120

14 Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 11-35

15 Kühne: Mays ›Ölbrand‹, wie Anm. 2, S. 262; der Begriff ›Imperialismus‹ ist allerdings fehl am Platz.

16 Steinbrink, wie Anm. 9, S. 44

17 Ebd., S. 43

18 Karl May: Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975

19 Karl May: Winnetou. In: Omnibus. 17. Jg. (1878); Reprint in: Karl May: Der Krumir. Seltene Originaltexte Band 1. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Gelsenkirchen 1985

20 Karl May: Old Firehand. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

21 Der Vorgang ist also schwerlich als ›ritueller Tod und Wiedergeburt‹ (vgl. Steinbrink, wie Anm. 9, S. 44) zu deuten.

22 May: Old Firehand, wie Anm. 20, S. 125

23 Karl May: Im fernen Westen. Stuttgart 1879

24 Karl May: Der Oelprinz. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1877/78); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1971; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

25 Karl May: Deadly dust. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

26 Ebd., S. 435

27 Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991, S. 477

28 Roland Schmid vermutet einen verschollenen Erstdruck im Jahre 1881. Vgl. Roland Schmid: Vorwort des Herausgebers. In: May: Winnetous Tod, wie Anm. 1, S. 4.

29 Karl May: Im »wilden Westen« Nordamerika's. In: Feierstunden im häuslichen Kreise. 9. Jg. (1883); Reprint in: May: Winnetous Tod, wie Anm. 1; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

30 Ebd., S. 101f.

31 Ebd., S. 26

32 Ebd., S. 131

33 Karl May: Unter der Windhose. In: Das Buch der Jugend. 1. Bd. (1886); Reprint in: May: Der Krumir, wie Anm. 19

34 Karl May: Der Scout. In: Deutscher Hausschatz. XV. Jg. (1888/89); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Gelsenkirchen 1977; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

35 Vgl. ebd., S. 170.

36 Ebd., S. 550

37 Ebd., S. 666

38 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893; Seitenangaben sind im Text den Zitaten nachgestellt.

39 Vgl. dazu Dorrit Cohn: Erlebte Rede im Ich-Roman. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 19 (1969), S. 305-13.


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40 May: Oelbrand, wie Anm. 1, S. 180

41 Vgl. Schmid, wie Anm. 28, S. 5.

42 Vgl. Wehnert, wie Anm. 8, S. 33.

43 Merkwürdig erscheint auch die 1882 erschienene Erzählung ›Christi Blut und Gerechtigkeit‹ (Karl May: Christi Blut und Gerechtigkeit. In: Vom Fels zum Meer. 2. Jg. (1882/83); Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. 10: Orangen und Datteln. Freiburg 1894), wo die Abenteuerhandlung plötzlich, nachdem der Ich-Erzähler das ›Aennchen von Tharau‹ gesungen hat, einfach abbricht.

44 Vgl. Anm. 7.

45 May: Todes-Karavane, wie Anm. 7, S. 124

46 Vgl. Siegfried Augustin: Unter der Windhose. In: May: Der Krumir, wie Anm. 19, S. 154.


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