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RUDI SCHWEIKERT

Panorama, Zauberland und Freiligrath
Anspielung, Zitat und Geist der Epoche
zu Beginn von Karl Mays letztem
›Old Surehand‹-Kapitel

Das ist der junge Mai,
(. . .)
Ein Zaubrer, ein Jongleur

Ferdinand Freiligrath
Die Amphitrite; Mai 1832



Gewiß, denkt man an Walther Killys Kitsch-Kriterium der »Kumulation der Effekte«,(1) dann ist der Auftakt des Kapitels ›Am Devils-head‹ in ›Old Surehand III‹ wahrlich nicht frei davon:

Nun befanden wir uns hoch oben in den eigentlichen Rocky-Mountains und ritten an der östlichen Seite des Pahsawehre-payew* (*Berg des grünen Wassers.) hinan. Das Riesenpanorama, in welchem wir Zwerggeschöpfe uns bewegten, war ein überwältigend großartiges. Hier wirkte die ungeheure Massigkeit der Gebirgsstöcke im Vereine mit dem Farbenreichtum der unbekleideten Felsen. Das waren himmelhohe und meilenlange Granitmauern mit wunderbar gestalteten Bastionen, über welche es kein Hinüberkommen zu geben schien. Wenn wir, uns umwendend, rückwärts blickten, lag im Osten die weite Prairie wie ein endloser, flimmernder See tief, tief zu unsern Füßen. Die Bäche rauschten um uns wie zu Schaum gewordenes, flüssiges Silber dahin; Frau Flora stieg, gekleidet in ihr reich nuanciertes, grünes Sammetgewand und ihr Haupt mit Gold gekrönt, stolzen Schrittes zu den erhabenen Scheiden und Kuppen des Gebirges empor. Hier bauten sich gigantische Felsenstufen, eine über die andere, auf, mächtige Balsamtannen tragend und den Geistern des Gebirges als Treppe dienend, wenn sie nächtlicherweise niedersteigen, »eine Wildschur um die Lenden, eine Kiefer in der Faust«. Hier wieder haben sich zu Füßen eines einzeln thronenden Bergtitanen ganze Reihen kolossaler Säulen herausgebildet, hinter deren Waldkulissen die wunderbaren Geheimnisse der Hochwelt träumen. Hinter den scharfgezeichneten, dunklen Kanten der scheinbar höchsten Höhen flimmern silberne und goldene Punkte und strahlen diamantene Linien und Streifen aus blaugrauen Schleiern hervor. Sind das die Grüße einer für den Sterblichen unerreichbaren Märchenwelt, eines jenseits der Erde befindlichen Zauberlandes, oder sind es die Sonnenreflexe von fernen Gebirgshäuptern, mit deren Höhe diejenige der uns umgebenden Felsenriesen nicht zu wetteifern vermag?(2)


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Was wird von May nicht alles bemüht, um das Überwältigende der eigentlichen Rocky-Mountains in Worte zu fassen, in Worte, die vornehmlich auf Reiz, auf anhaltend repetierten Reiz aus sind, auf möglichst totale Wirkung: Das Register der schmückenden Adjektive wird gezogen – überwältigend großartig, ungeheuer, himmelhoch, wunderbar, gigantisch, kolossal –, die Perspektive wird zur Betonung der kontrastierenden Extreme aufgezogen – das Riesenpanorama, in welchem wir Zwerggeschöpfe uns bewegten –, die Natur wird allegorisch überhöht, und zwar zeittypisch pretiös überladen – die ansonsten jungfräulich dargestellte Göttin alles frühlinglich Blühenden wird hier zur reifen Frau Flora, der kein einfaches grünes Kleid mehr genügt, nein, sie wird bombastisch, ohne Vertrauen in die Überzeugungskraft des einfachen Ausdrucks, herausgeputzt, drapiert und gewissermaßen mit aufdringlichem Parfüm überschüttet. Sie erscheint daher gekleidet in ihr reich nuanciertes, grünes Sammetgewand und ihr Haupt mit Gold gekrönt. So stieg sie stolzen Schrittes zu den erhabenen Scheiden und Kuppen des Gebirges empor. Wie die victorianisch-wilhelminische Prüderie ihren unterdrückten Trieb via sprachlicher Bedeutungspolyvalenz ausagiert, hier wird's Ereignis. Zumal, wenn im Leserbewußtsein die lockenden, quasi samtverhüllten Scheiden und tief dekolletierten Kuppen ein heimlich-leises lustvolles ›Echo von unten‹ auslösen, nachdem zuvor unbekleidete Felsen den leicht glitschigen Assoziationsweg durchs Kitschige geebnet haben. Das spießbürgerliche Gewissen bleibt ruhig, während das Dampfkesselchen des seelischen Apparates kurz mal Überdruck auspuffen darf.

   Nicht genug des (schwülen) Schwulsts, der den Leser an diversen Nervenenden kitzelnd zu packen sucht – May packt noch eins und noch eins drauf, ohne damit besonders aus der Unterhaltungsliteratur seiner Zeit herauszuragen; so machten es alle – nur: er scheint's schon wieder zu ironisieren. Er läßt, bloß keine Stockung in der Reizschwemme des liquiden lyrisierenden Texts,(3) die Natur talmi-edel klimpern: Die Bäche rauschten um uns wie zu Schaum gewordenes, flüssiges Silber dahin; Frau Floras Haupt ist, wie gesagt, mit Gold gekrönt, und hinter den scharfgezeichneten, dunklen Kanten der scheinbar höchsten Höhen flimmern silberne und goldene Punkte und strahlen diamantene Linien und Streifen . . . hervor.

   Dann appelliert er, hin und wieder durch Kontraste die Wirkung noch zu steigern suchend (aber immer folgt ein Reiz ohne Pause dem anderen), nicht mehr an die Schönheit der Natur, sondern an das archaische Grauen vor ihr. Er tut dies geschickt, wir sind ja aufgeklärt und gelehrt, indem er die Geister des Gebirges evoziert und, ein besonderer Reiz für


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den bildungsbürgerlichen Leser, indem er zur Bekräftigung ein Zitat anführt: Hier bauten sich gigantische Felsenstufen, eine über die andere, auf, mächtige Balsamtannen tragend und den Geistern des Gebirges als Treppe dienend, wenn sie nächtlicherweise niedersteigen, »eine Wildschur um die Lenden, eine Kiefer in der Faust«.

   Nun kumuliert auch noch der kostbare Tiefsinn, denn über die wunderbaren Geheimnisse der Hochwelt, die hinter den Waldkulissen kolossaler Säulen zu Füßen eines einzeln thronenden Bergtitanen nichts anderes als träumen, türmt sich folgende gefühlige Frage, die das grundsätzlich Märchenorientierte des Kitschs(4) blumig-unverblümt ausspricht, um zum Schluß wieder ins realistisch-rational Verbürgte zurückzuführen: Sind das die Grüße einer für den Sterblichen unerreichbaren Märchenwelt, eines jenseits der Erde befindlichen Zauberlandes, oder sind es die Sonnenreflexe von fernen Gebirgshäuptern, mit deren Höhe diejenige der uns umgebenden Felsenriesen nicht zu wetteifern vermag?

   Das Locken mit dem (die menschengeschaffene Ordnung gefährdenden) Naturnuminosen, das sich in den Riesen-, Zwergen-, Feen- und Gespenstersagen des Volksglaubens bannenden Ausdruck geschaffen hat; das sentimental-geschwätzige Anrufen der ›Geheimnisse‹, des hehr und verlockend glänzend gemachten ›Jenseitigen‹ hinter der (grau-eintönigen) Alltagswirklichkeit – das alles gehört zum rhetorischen Arsenal des routiniert-gefällig die simplen Wünsche, die Ängste und Lüste seiner Leser befriedigenden literarischen Gesülzes, und May beherrschte dieses Metier, es gelegentlich sehr bunt und in zuvorkommender Übererfüllung parodistisch subversiv-kritisch treibend, aus dem Effeff.

   Für den Leser der Jahrhundertwende gab es über die charakterisierte und charakteristische Reizschwemme hinaus noch andere Textsignale, die wir heute nicht mehr so ohne weiteres spüren und denen man zum besseren-tieferen Verständnis daher durchaus ein wenig nachgehen kann.

   Da ist zunächst die altbewährte kurze Verständigungsform mit dem Leser durch ein Zitat. (Man erspart sich als Autor dank des von einem anderen bereits geprägten und durchgesetzten, das heißt einigermaßen bekannten Worts längere-umständlichere Erläuterungen und die Mühsal eigener Formulierung. Man kann augenzwinkernd auf diese Weise mit der Bildung des Lesers spielen, ihm einen Anreiz zur ›Wissensprobe‹ geben, ihn mit diesem gelehrten Spiel für sich einnehmen oder einfach ein bißchen mit dem Zitatwissen prunken.) Freilich mutet uns heute das hier in Anführungszeichen Gesetzte allein schon aufgrund der Wortwahl etwas seltsam-unverständlich an: »eine Wildschur um die Lenden, eine Kiefer in der Faust«.


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   Was ist eine Wildschur? Ein Druckfehler vielleicht? Schauen wir im ›Deutschen Wörterbuch‹ von Jacob und Wilhelm Grimm nach. Dort freilich finden wir das Wort genau so geschrieben, hergeleitet vom polnischen wilczura, Wolfspelz. In unserem Fall bedeutet es ein um die Lenden geschlagenes Tierfell. Und siehe da, als literarischen Beleg gibt das Wörterbuch justament folgenden Vers:

Oft zur Zeit der Sonnenwenden
Nächtlich ihr vorübersaust,
Eine Wildschur um die Lenden,
Eine Kiefer in der Faust.

Mit dem Autornachweis »Freiligrath«.(5)

   Um welches Gedicht es sich handelt? Das gibt das Wörterbuch nicht an. Also heißt es in einer Freiligrath-Ausgabe suchen – und finden: Es ist ein Vers aus dem Gedicht ›Die Tanne‹.(6)

   Zitiert ein Autor einen anderen, so gilt es allemal, nach beidem zu schauen: dem ursprünglichen und dem neuen Kontext, in dem das Zitierte steht. Machen wir's. Vergleichen wir Freiligraths Gedicht mit der Prosa-Stelle bei May. Ein intertextuelles Zusammenspiel, ein kleines Beziehungsgewebe zwischen beiden Texten wird sichtbar, wobei die intertextuelle Artistik dem In-Beziehung-Setzenden, also May, zuzuschreiben ist, ob er sie nun bewußt anwandte oder nicht.

   Doch zuvor ein weniges zu Freiligrath. Er war gegen die Jahrhundertwende noch ein prominenter, vielgelesener Dichter; auf ihn konnte man sich gut und erfolgreich berufen. (1885 etwa erschienen seine Gedichte bei Cotta in der 45. Auflage.) Für May und seine Sehnsucht weg aus dem kleindeutschen Mief, den Duft der großen, weiten Welt statt dessen einzusaugen, gab es eigentlich keinen berufeneren Autor. Wer hätte besser als Freiligrath, der sich mit seiner ›Wüsten- und Löwenpoesie‹ ins Tropische träumte – »Ach, was wäre das Leben, wenn man nicht einmal träumen könnte!«(7) –, May literarisch legitimieren können?

Denkt man an Mays Geschichte vom ›Pfahlmann‹ mit dem Helden Richard Forster, der, was gäbe es Idealeres, Dichter und Westmann zugleich ist, berühmt ob seiner Gedichte, der ›Savannenbilder‹, und der Reime über die alte große Wüste macht, ein verteufelt sonderbarer Gedanke,(8) dann liegt die Vorstellung nicht fern, May könnte in dieser Gestalt auch dem literarischen Wegbereiter für solche poetischen Perspektiven ebenso klammheimlich wie liebevoll eine kleine dankbare Reverenz erwiesen haben.

   Wolf-Dieter Bach hat bereits in seinen grundlegenden ›Fluchtlandschaften‹ auf Mays Verbundenheit mit Freiligrath gebührend hingewiesen:(9)


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Exotik und Erotik – das klingt fast gleich und zielt aufs Selbe, nicht nur bei May. Der ganze Exotismus im 19. Jahrhundert verrät diese Verbindung, in Literatur, Malerei, Musik, in den Interieurs der Salons. Und nicht selten mischt ein Element von Rebellentum sich dazwischen, wenn nicht gar von Revolution. Bei Freiligrath wird in Deutschland das Doppelgesicht von Flucht in exotische Ferne und Protest gegen die Zustände der Gesellschaft ringsumher am deutlichsten: »Meine erste Phase, die Wüsten- und Löwenpoesie, war im Grunde auch nur revolutionär; es war die allerentschiedenste Opposition gegen die zahme Dichtung, wie gegen die zahme Sozietät«, schrieb er an den Verlag Brockhaus.

   Kaum ein deutscher Dichter ist May so verwandt wie der Lehrerssohn aus Detmold, der Anwalt des Proletariats, – nicht zuletzt auch in der heimlichen Wahlverwandtschaft zur Kolportage, in der ein Nerv in ihm etwas von der wahren Verfassung der bürgerlichen Welt witterte. Der Vater Carl Hagenbecks, des Begründers der Freiland-Zoos, hat Freiligraths Gedicht vom Löwenritt in gruselig-groteske Schaubudenexotik übersetzt: ausgestopft Schimmel wie Löwe, die Blutspur mit Siegellack aufgeträufelt – ein Denkmal der ganzen Epoche. Aus der Welt der Panoramen und Panoptiken sog auch May.(10)

So nebenbei schiebe ich hier den Bericht von Friedrich Kapp ein, der zeigt, wie emphatisch Freiligrath in Nordamerika gelesen wurde – fast so wie Mays Richard Forster in der Fiktion (und von deutschen Verhältnissen, wie sie bei May, etwa im Schicksal Klekih-petras, leise anklingen, bekommt man im gleichen Atemzug auch einiges mit):

Ich [Friedrich Kapp] war im Herbst 1858 in einer jungen, von Achtundvierzigern gegründeten Niederlassung im äußersten Nordwesten zugegen, als einige Exemplare der Freiligrathschen Werke an den Meistbietenden verkauft wurden. Der Auktionator war ein Lehrer aus der Pfalz, der durch die Liebkosungen der dortigen Geistlichkeit nach Amerika getrieben war, also selbstredend nicht anders als radikal sein konnte. Das Publikum bestand aus einem Dr. jur. aus Darmstadt, der Fuhrmannsdienste zwischen dem ›Settlement‹ und den benachbarten Forts tat, und jetzt mit seinem Joche Ochsen dem Verkauf beiwohnte; einem ehemaligen kurhessischen Justizbeamten, der gehassenpflugt(11) worden war; einem paar ehemaligen Hanauer Freischärlern; einem Arzte, der in der ungarischen Armee gedient hatte; einem früheren preußischen Offizier und einem Dresdener Schneider, der infolge der dortigen Revolution nach Amerika gegangen war, und etwa einem halben Dutzend Frauen und Kinder. Ich glaube nicht, daß sämtliche Bieter zusammen drei Dollars besaßen; allein dieser Mangel trat dem Verkaufe nicht hindernd in den Weg. »Ihr wißt ja alle,« rief der Meister der Schule mit aufrichtigem Pathos, »welchen großen Dichter wir heute verkaufen wollen. Wer von Euch kennt nicht unseren Freiligrath? Sokrates, Christus und Freiligrath sind die größten Männer der Geschichte.« (Der Dresdener Schneider ruft begeistert: »Bravo!« während der Doktor aus Darmstadt seine langen Wasserstiefel in die Höhe zieht und »ein verdammter Blödsinn!« in den Bart brummt.) »Hört einmal das herrliche Gedicht: ›Die Revolution‹.« Der Lehrer trug eine tief ergreifende Stelle mit großem Eindruck daraus vor:


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»O nein – sie stellt sich vor euch hin, sie schlägt sie [die Harfe] trotzig,
euch zum Trotz!
Sie spottet lachend des Exils, wie sie gespottet des Schafotts!
Sie singt ein Lied, daß ihr entsetzt von euren Sesseln euch erhebt;
Daß euch das Herz – das feige Herz, das falsche Herz! – im Leibe bebt!«

Geld war, wie gesagt, nicht da. Der Darmstädter Doktor bot zuerst für die sechs Bände eine Ladung Brennholz und erhielt sie zugeschlagen. Der Ex-Offizier gab je einen seiner selbstgemachten Stühle für einen Band, ein Dritter zahlte in Mehl und ein Vierter in Sägeblöcken, bis endlich trotz aller Armut der Bietenden etwa sechs vollständige Exemplare abgesetzt waren. »Laß uns wenigstens die Gedichte kaufen,« sagte eine verkümmert und verarbeitet aussehende Frau zu ihrem Manne, »wäre es auch nur um das schöne Gedicht: ›Ehre jeder Stirn voll Schweiß!‹« Der Blick, mit welchem die Frau ihren Mann ansah, und die Freude, mit welcher sie das gegen zwei irdene Krüge erhandelte Buch einsteckte, hatten etwas ungemein Rührendes und enthielten eine vollständige Passionsgeschichte. Ueberhaupt boten die Art und Weise, wie die Angebote gemacht, die Verhandlungen gepflogen und die Abschlüsse zu stande gebracht wurden, eine eigentümliche Mischung von amerikanischer Gegenwart und europäischer Vergangenheit, geistiger Regsamkeit und leiblichem Mangel.(12)

Nach diesen mehr als nur Atmosphärilien abgebenden Digressionen aber endlich zu Freiligraths ›Tanne‹ und Mays Kapitelanfang.

   Wie sieht das Beziehungsgewebe zwischen beiden Texten aus? Wie integriert May die zitierten zwei Gedichtzeilen seinem eigenen Text?

   Er zitiert zwar korrekt, doch verändert er eigenmächtig auch einiges und fabriziert so ein Amalgam aus Fremdem und Eigenem. May, der alte Übertreiber, kann es nicht bei einem Berggeist belassen, wie es Freiligrath tat – Vers 7 bis 9:

Aber oben mit den dunkeln
Aesten sieht sie [die Tanne] schönres Leben;
Sieht durch Laub die Sonne funkeln,
Und belauscht des Geistes Weben,

Der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält,
Und mit seinen klugen Zwergen
Alles leitet und bestellt;

Oft zur Zeit der Sonnenwenden
Nächtlich ihr vorübersaust,
Eine Wildschur um die Lenden,
Eine Kiefer in der Faust.

Nein, May tut's nicht unter den Geistern des Gebirges, und er verändert das Bild, das bei Freiligrath vor der zitierten Zeile evoziert wird: Das Vorübersausen wird zum Niedersteigen. Daß dies nächtlicherweise geschieht, behält er, es liegt in der Natur der Sache, bei.


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   Interessant ist, daß bestimmte Wörter und Ideen, die bei Freiligrath im Umfeld des Zitats stehen, auch bei May auftauchen. Das kann Zufall sein. Sogar die Häufigkeit der Übereinstimmungen ist nicht unbedingt ein Indiz für mehr, da die Kongruenzen im Bereich klischeehafter Wort- und Bilderwahl liegen.

   Das ›Initialwort‹, das erste ›Verbindungswort‹ zwischen Mays und Freiligraths Text fällt kurz vor dem Zitat und lautet Balsamtannen – Freiligraths Thema, ›Die Tanne‹, ist angetippt, bombastisch präzisiert gehoben und zugleich den Bezug etwas verdeckend, denn bei May steht keine schlichte Tanne, sondern er denkt sie gleich im Plural, mit einem schmückenden, aber eher Selbstverständliches leerformelhaft bezeichnenden Beiwort: mächtige Balsamtannen müssen es sein. Nach dem Zitat vermag man vor dem Hintergrund-Text der ›Tanne‹ noch ein paar leise Widerhalle auf ihn zu vernehmen: Mays scheinbar höchste Höhen respondieren, nicht sonderlich beabsichtigt wohl, Freiligraths Auftaktzeile »Auf des Berges höchster Spitze«. Und was im Gedicht unten im Erdreich sichtbar wird, das zeichnet sich bei May oben am Himmel ab: Das Diamantene und Goldene (»Wirr läßt sie hinunterhangen / Ihre Wurzeln ins Gewölbe; / Diamanten sieht sie prangen, / Und des Goldes Glut, die gelbe«; Vers 6) kehrt wieder in den goldenen Punkten und diamantenen Linien und Streifen. Die Streifen am Himmel wiederum nennt auch Freiligrath (Vers 3):

Ja, der Wolken vielgestalt’ge
Streifen, flatternd und zerrissen,
Sind der Edeltann’ gewalt’ge,
Regenschwangre Nadelkissen.

Am kräftigsten klingt das Echo auf Freiligrath, so kann es einem scheinen, im Umfeld von Mays Zitierung, und zwar aus dem Umfeld der zitierten ›Tannen‹-Zeile. Beide Texte suggerieren die Stimmung des Märchenhaften als Versatzstück zur Wirkungserhöhung. Wobei sich Freiligrath der ästhetischen Fragwürdigkeit seiner poetischen Unternehmungen sehr wohl bewußt war: »Und dann sagst Du: prächtige, klingende Verse! – Ja sieh, das ist eben mein Fehler. Bombast, Rhetorik – das ist meine Force. Ich möchte oft bittere Tränen darüber weinen und könnte das ganze Reimhandwerk an den Nagel hängen, wenn's mir nicht manchmal auch wieder so zu Mute wäre, als wäre ich alledem zum Trotz dennoch ein Dichter.«(13)

   Bei Freiligrath korrespondieren die kleinen Zaubergeister, die Kobolde im Erdreich, dem riesenhaft groß gedachten Berggeist mit dem Baum in der Faust.(14) Einen Zwergen-Riesen-Gegensatz macht May gleich eingangs auf, in erster Linie und vordergründig nur zur plasti-


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schen Charakterisierung der Proportionen von Mensch und Landschaft: Das Riesenpanorama, in welchem wir Zwerggeschöpfe uns bewegten. Später aber ergibt sich, von der Anrufung der Märchenwelt, des Zauberlandes her betrachtet, ein zweiter Sinn, nämlich daß diese jenseits der Erde liegende Welt auch am Anfang der Einleitung bereits konnotiert werden darf. May bettet die Evokation der Geisterwelt ein ins aufgeklärte Weltbild seiner Zeit, hält jedoch seinen Text in der Schwebe: Was man sieht, sind's Grüße aus der Märchenwelt oder schlichte naturwissenschaftlich erklärbare Sonnenreflexe?(15)

   Bleiben wir beim Riesenpanorama. Das Wort weist nicht nur ins geheimnisvoll Zeitlose des Volksglaubens, sondern auch ins zeitverhaftet Aktuelle. Karl May spielt mit diesem Begriff an auf ein die Massen anziehendes Medium, das wir heute fast nicht mehr kennen. Damals aber, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, war es gerade wieder, nach einer ersten Phase der Breitenwirkung anfangs bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als Sensation von ungeheurer Anziehungskraft in Europa und Nordamerika enorm en vogue. Es handelt sich um das »erste optische Massenmedium im strengen Sinne«,(16) das der Rundgemälde, für die das griechische Kunstwort Panorama geprägt wurde. Die Verwendung des Worts in der (übertragenen) Bedeutung von ›Rundumsicht von erhöhtem Standpunkt aus‹ ist eine spätere Prägung: »das Naturphänomen (ist) nach einer besonderen Art der Abbildung der Natur« benannt.(17) Die Vielfalt der Formen reichte in zahlreichen Abwandlungen vom Kleinst- und Zimmerpanorama übers Georama, einer Großkugel, auf deren Innenfläche die Erdoberfläche abgebildet war, bis zu gigantischen, sieben Meilen großen 360°-Bildern in entsprechend kolossalen, extra errichteten Gebäuden, den Panoramarotunden. Ausmaße von bis zu 2000 m2 Bildfläche, von 120 Meter langen und 13 bis 18 Meter hohen Leinwänden in Rotunden von 40 Metern Durchmesser waren keine Seltenheit. Die Vielfalt der Bildthemen beeindruckte nicht minder; vom Städte- übers Schlachten-, Fluß- und Gebirgspanorama konnte man bis hin zu Seereisen in amerikanischen Moving Panoramas, Natur- und Technikkatastrophen oder Darstellungen der Kreuzigung Christi inklusive einer Totalansicht von Jerusalem alles in touristischer Seh-Sucht eingehend betrachten, ohne in die (unerreichbar teure) Ferne schweifen zu müssen.

   Beredtes Zeugnis von der Wirkkraft der Panoramen, in diesem Fall von Kleinpanoramen, legen beispielsweise George Grosz’ Jugenderinnerungen ab: »Einen unauslöschlichen Eindruck machten mir die schauerlich-schönen Greuelpanoramengemälde auf den Jahrmärkten und Schützenfesten. Eine Bude mit zwei Galerien, darin in Mannshöhe


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Löcher zum Ansehen der dahinter aufgehängten, links und rechts unten von einer Lampe beleuchteten Gemälde. In jener kinolosen Zeit befriedigten diese Panoramen das stets vorhandene Menschenbedürfnis nach Bildphantasie, ja schlechthin nach Kunst und Aktualität. Noch heute lebt in mir ein starkes Erinnern an diese, weiß Gott, doch recht primitiven Schauerstückmalereien. Trotz ihrer rohen Mache und Mängel waren diese Bilderrollen außerordentlich einprägsam und drückten häufig das Dargestellte sehr lebendig, einfach und suggestiv aus (. . .) Es waren eben Bilder für ein Volk, das, ohne höhere künstlerische Ideale nötig zu haben, von der Kunst nur rein Erzählend-Gegenständliches erwartet (. . .) Aber vielleicht durch die Abwesenheit irgendwelcher Problematik war diesen Bildern doch etwas inne, was an ganz ursprünglich Menschliches anklang, etwas Rührendes gleichsam, was oft auch Arbeiten von Dilettanten anhaftet.«(18)

   In Erinnerung ruft sich jetzt Wolf-Dieter Bachs oben zitierter Satz (wie sich so alles fügt): »Aus der Welt der Panoramen und Panoptiken sog auch May.« Dresden war weder während der ersten Hauptverbreitungsphase der Panoramen noch während der zweiten von diesem Massenspektakel mit häufig wechselnden Bildprogrammen unberührt geblieben. Wozu ich mit Blick auf Mays Schilderung des Felsengebirgspanoramas nur noch anfüge, daß ein um die Mitte des Jahrhunderts von Professor Goulard aus Paris in etlichen europäischen Städten gezeigtes ›Cyclorama von Nordamerika‹ in fünf Teilen sowohl ›Prairie-Scenen‹ als auch ›Gebirgs-Scenen‹ dem staunenden Publikum präsentierte (›Erster Anblick der Felsengebirge‹ – . . . – ›Ueberschreiten der Felsengebirge‹).(19)

   Daß May von dieser Form des weiten Freiblicks aufgrund seiner Lebensgeschichte mit Jahren des eingeschränktesten Blicks während seiner Haftzeiten zutiefst berührt gewesen sein muß, sofern er Panoramen besucht hat, ist kaum von der Hand zu weisen.(20)

   Wie sich so alles fügt, und sei's als Witz der Historie: Arno Schmidt, dem Oettermann sein Standardwerk widmete, da in ›Zettels Traum‹ entscheidende Hinweise zur Breitenwirkung der Panoramen, auch und gerade auf die Literatur, erfolgten, Arno Schmidt hat Karl Mays ›Ardistan und Dschinnistan‹ bekanntlich in Beziehung zu Bunyans ›Pilgrim's Progress‹ gesetzt. Es rundet sich und schließt sich der Kreis, denn in den USA gab es das Rundgemälde ›Bunyan's Pilgrim's Progress‹ von einem gewissen May(21) . . .


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1 Siehe Walther Killy: Versuch über den literarischen Kitsch. In: Ders.: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 1962 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 125-127), S. 12; ich zitiere nach der 6. Auflage von 1970. – Aus Karl Mays Feder bringt Killy übrigens die Szene von Winnetous Tod als Kitsch-Beispiel (S. 98ff.).

2 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 460f.

3 Zur ›Liquidität‹ von Kitsch-Texten siehe Killy, wie Anm. 1, S. 13, zur ›Lyrisierung‹ ebd., S. 15.

4 Vgl. ebd., S. 24.

5 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 14. Bd., II. Abt. Leipzig 1960, Sp. 121

6 Erschienen in: Gunloda. Westfälisches Taschenbuch für das Jahr 1833 (laut Walter Heichen: Das Leben des Dichters in Briefen und Tagebuchblättern. In: Freiligraths Werke in fünf Büchern. Hrsg. von Walter Heichen. Berlin o. J. (= Weichert-Ausgabe), Bd. 1, S. 19). In dieser Gesamtausgabe steht das Gedicht im 3. Buch, S. 88ff. (mit der Variante »Wildschnur«; dazu das ›Deutsche Wörterbuch‹, wie Anm. 5, Sp. 120: »vereinzelt neuerdings auch wildschnur«).

7 Brief an Immermann vom 24. 7. 1838; zitiert nach Heichen, Das Leben des Dichters, wie Anm. 6, S. 61.

8 Vgl. Karl May: Der Pfahlmann. In: Ders.: Die Rose von Kaïrwan. Osnabrück 1894, S. 127 und 154.

9 Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1971. Hamburg 1971, S. 43f.

10 Und gelegentlich auch aus Freiligraths Gedichten; Nachweise bei Hedwig Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) 41/1983, S. 61; Deutscher Herzen Liederkranz. Teil II. S-KMG 60/1985, S. 88 (ohne Hinweis auf das ›Tannen‹-Zitat).

11 Hans Daniel Ludwig Friedrich Hassenpflug (1794-1862), 1832 bis 1837 kurhessischer Minister der Justiz und des Innern; reaktionärer Bekämpfer der Ständeversammlungsrechte und Unterdrücker der Presse.

12 Friedrich Kapp: Aus und über Amerika. Tatsachen und und Erlebnisse. 2 Bde. Leipzig 1876; zitiert nach Heichen, wie Anm. 6, S. 146f. – Kapp schrieb unter anderem eine ›Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika‹ (Hamburg 1861), eine ›Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika‹ (Leipzig 1868) sowie über den ›Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika‹ (Stuttgart 1864) und ›Justus Erich Bollmann. Ein Lebensbild aus zwei Weltteilen‹ (Leipzig 1880), einer der Hauptfiguren in Heinrich Albert Oppermanns ›Hundert Jahren‹ (vgl., mit Bezug zu May: Rudi Schweikert: Felsenburg einst und jetzt. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992, S. 246).

13 Brief Freiligraths an August Schnezler vom 14. 2. 1837; zitiert nach Heichen, Das Leben des Dichters, wie Anm. 6, S. 43

14 Vgl. den oben zitierten Vers 8 sowie Vers 4 und 5: »Tief in ihren [der Tanne] Wurzelknollen, / In den faserigen, braunen, / Winzig klein, und reich an tollen / Launen, wohnen die Alraunen, // Die des Berges Grund befahren / Ohne Eimer, ohne Leitern, / Und in seinen wunderbaren / Schachten die Metalle läutern.«

15 Dieses, auch als subversiv gegen planes Wirklichkeitsverstehen gerichtet deutbare ›Oszillieren‹ ist bei May häufiger zu beobachten; im Zusammenhang mit der Sage von der Wilden Jagd habe ich's mal ausgeführt (siehe Rudi Schweikert: Von Befour nach Sitara in Begleitung der Wilden Jagd. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 117ff.).

16 Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a. M. und Wien 1981, S. 9 (Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg; zuerst Frankfurt a. M. bei Syndikat 1980) – Alle nachfolgend im Zusammenhang mit Panoramen erwähnten Informationen sind diesem Standardwerk entnommen. – Vgl. aber auch, als eminent instruktive Darstellung von Epochenzusammenhängen im 19. Jahrhundert, als geradezu epochales Panorama, Dolf Sternbergers grundlegendes Werk: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1974 (suhrkamp taschenbuch 179); zuerst 1938 erschienen.

17 Oettermann, wie Anm. 16, S. 8


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18 George Grosz: Jugenderinnerungen. In: Das Kunstblatt. 13. Jg. (1929), Heft 6-8, zitiert nach: George Grosz: Eintrittsbillett zu meinem Gehirnzirkus. Erinnerungen, Schriften, Briefe. Leipzig/Weimar 1988 (Gustav Kiepenheuer Bücherei 83), S. 10f. (S. 12 mit Themendetails zu gesehenen Panoramen).

19 Vgl. Oettermann, wie Anm. 16, S. 259

20 Jedes Ding hat seine zwei Seiten. Die Panorama-Idee brachte nicht nur die »Befreiung des Blicks«, sondern zugleich auch »seine neuerliche Begrenzung«, ablesbar etwa an Plänen von Rundbauten, die die totale optische Überwachung vom Zentrum aus ermöglichten (Gefängnisse, Manufakturen; nach Oettermann, wie Anm. 16, S. 17f. und S. 34-38).

21 Oettermann, wie Anm. 16, S. 271


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