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HELMUT LIEBLANG

Adolf von Wrede und Karl May
Erlebte und fabrizierte Reisebeschreibungen

» . . . O, Sihdi, du bist ein Ssa›ir (Dichter), welcher sich Dinge ausdenkt, die ganz unmöglich sind.«(1)



Nur ganz ausnahmsweise nennt Karl May in seinen Erzählungen Autoren und Werke, die er als Quellen oder Vorlagen für seine eigene Produktion benutzt hat.(2) Eine dieser seltenen Ausnahmen ist Adolf von Wrede, den May zweimal in seinem Werk im Zusammenhang mit Sandseen erwähnt: in seinem Südamerikaroman ›In den Cordilleren‹ und in der Erzählung ›Er Raml el Helahk‹.(3)

   Adolf von Wrede ist dem größeren Publikum heute genauso unbekannt wie zu seiner Zeit. Daß sein Name dennoch nicht ganz in Vergessenheit geriet, ist nicht zuletzt Karl May – wenn auch wohl unfreiwillig – zu verdanken. In der Einleitung zu von Wredes Reiseschilderung

Adolph von Wrede's Reise in Hadhramaut, Beled Beny
‘Yssà und Beled el Hadschar
Herausgegeben von Heinrich Freiherr von Maltzan.
Braunschweig 1873(4)

schrieb Heinrich von Maltzan: »Noch mancher Name, der berühmt zu sein verdient, schlummert im Verborgenen, den Fachmännern allein und selbst diesen nur oberflächlich bekannt (. . .) So ging es auch dem trefflichen Manne, den wir den unbekannten Reisenden nennen können.«(5)

   Im ›Großen Brockhaus‹ aus dem Jahre 1935 und im ›Lexikon Arabische Welt‹ finden sich einige dürftige Angaben zu von Wredes Leben. Danach wurde er am 14. Oktober 1807 in Münster i. W. geboren. Seit 1827 lebte er als Soldat und Händler vor allem in Kairo. Zwischen 1826 und 1850 reiste er in türkischen und ägyptischen Diensten im Orient und starb am 15. März 1863 in Konstantinopel.(6)

   Tatsächlich war Adolf von Wrede der erste Europäer, der das Innere des heute zur Republik Jemen gehörenden Hadramaut erforschte.(7) Getarnt als ägyptischer Pilger reiste er im Frühjahr 1843 als Abd el Hud


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von dem damals britischen Aden nach dem Hafen Mukalla und drang von dort aus weiter vor über das Wadi Sarr hinaus bis zum Bahr es-Safy in der seinerzeit so genannten Wüste el-Ahqaf (Ramlat Sabatain), dem südwestlichen Ausläufer der großen Rub al-Khali, der größten zusammenhängenden Sandfläche der Erde. Schon 1845 pries der französische Arabist Fulgence Fresnel im ›Journal Asiatique‹ von Wredes Reise als eine der wichtigsten Entdeckungen des Jahrhunderts: »Nie ist eine interessantere Reise gemacht worden als die des Herrn von Wrede, und dieselbe muß in der geographischen Wissenschaft Epoche machen.«(8)

   »Ueber Heimath, Leben und sonstige Privatverhältnisse unseres Reisenden habe ich mir Mühe gegeben, etwas Bestimmtes zu erkunden, leider nur mit sehr geringem Erfolg«, schreibt Heinrich von Maltzan in seiner Einleitung zu von Wredes Reisebericht.(9) Einige Zeit nach seiner Entdeckungsreise in Hadramaut kehrte von Wrede nach Europa zurück, um sein Manuskript zu veröffentlichen, was ihm jedoch nicht gelang. Lediglich in England erschien 1849 ein Auszug seiner Reiseberichte in der Zeitschrift der ›Geographischen Gesellschaft‹. Die vollständige Herausgabe seines Manuskriptes scheiterte schließlich daran, daß sein Übersetzer durch Selbstmord starb. Karten, Zeichnungen und Aquarelle von Wredes verschwanden spurlos. Erst 1873 veröffentlichte Heinrich von Maltzan von Wredes Reisebericht, der, wie er schreibt, »zufällig in (s)eine Hände geriet«. Zeit seines Lebens hat von Wrede in Deutschland keine Anerkennung gefunden, weil ihn bestimmte Koryphäen, allen voran Alexander von Humboldt und Leopold von Buch,(10) wie May richtig schreibt, zum Schwindler erklärten. Namentlich Humboldt habe sich über die ›Aufschneidereien‹ geärgert, »welche sich von Wrede beim Könige Friedrich Wilhelm IV. in Sanssouci, wo ihn Humboldt eingeführt hatte, über seine Abenteuer erlaubt habe.«(11) In den 50er Jahren lebte von Wrede als Förster auf den Gütern des Freiherrn von Haxthausen in Westfalen. »Doch scheint es ihm in Deutschland im Ganzen schlecht gegangen zu sein, seine Reiselaufbahn fand keine Anerkennung, seine Privatverhältnisse sollen drückend gewesen sein. Dazu kam noch jene Entmuthigung des Mislingens der englischen Herausgabe seines Werkes, und dies scheint das Maß der Leiden für ihn voll gemacht und ihn zum Entschluß gebracht haben, sein Vaterland (wahrscheinlich für immer) zu verlassen. Bald darauf (ich glaube um 1856) soll er nach Texas ausgewandert und dort gestorben sein. Aber über seinen Tod fehlen mir alle zuverlässigen Angaben.«(12) Aus dem Brockhaus wissen wir, daß sich von Wrede wieder in türkische Dienste begab, in denen er vorher schon einmal gestanden hatte. Er starb in Konstantinopel.


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   Zum ersten Mal wird von Wrede ganz überraschend an einer Stelle in Mays Werk genannt, die weitab von seinem Forschungsgebiet liegt: Bei der Beschreibung des Gran Chaco verweist May auf dort anzutreffende Treibsandstellen und beschreibt sie mit Hilfe eines Verweises auf von Wrede (wohl weil die Quellen, die er für seine Südamerikaromane benutzte,(13) eine solche Beschreibung nicht enthalten):

[May:] Als Adolf von Wrede im Jahre 1843 sich auf seiner denkwürdigen Entdeckungsreise in Hadhramaut befand, kam er am Bahr es Ssafy in der Wüste el Ahgaf an eine Stelle, deren Sand er, als er ihn faßte, beinahe unfühlbar fand. Es war ein bis oben an den Rand damit gefüllter Felsenkessel, und dieser Sand war sehr fein, so leicht und widerstand so wenig, daß, als Wrede mit dem Stocke hineinstieß, es ihm vorkam, als ob er ins Wasser stoße. Er legte sich vorsichtig auf den Rand des Felsens und band ein Gewicht an eine lange Schnur. Als er dasselbe in den Sand warf, sank es unter und zog ihm die Schnur aus der Hand. Keiner seiner arabischen Begleiter hatte sich wie er bis an dieses alles verschlingende Grab gewagt. Humboldt zweifelte an der Wahrheit dieser Schilderung, und Leopold von Buch nannte Wrede geradezu einen Lügner, Karl Ritter aber und der berühmte Arabist Fresnel retteten seine Ehre.

   Die Araber hatten dem Reisenden erzählt, daß diese Gegend Bahr es Ssafy genannt werde, weil einst ein König Namens Ssafy, welcher vom Beled es Ssaba Wadian mit einem großen Heere kam, um in Hadhramaut einzufallen, den größten Teil seiner Truppen an der erwähnten Stelle verloren habe. Wrede war und blieb lange Zeit ein Märtyrer des Zweifels großer Geographen, welche seine wahren Berichte vom Studiertische aus recensierten.(14)

[von Wrede:] Dieser Mann, dessen Namen wohl viele Leser jetzt zum erstenmal hören werden, war Adolph von Wrede (. . .) im Frühjahr 1843 seine denkwürdige Entdeckungsreise unternahm (. . .)

   Obgleich einige tüchtige Geographen, wie Carl Ritter, Sir Roderich Murchison, Kiepert, Petermann die Wichtigkeit seiner Entdeckungen zu würdigen wußten, so blieb doch nicht nur das Publikum ihm gegenüber gleichgültig, sondern sogar bedeutende Männer, wie Alexander von Humboldt und Leopold von Buch, sprachen offen ihre Zweifel über die Glaubwürdigkeit seiner Reiseschilderungen aus. Letzterer in seiner derben Weise nannte den Reisenden geradezu einen Lügner (. . .)

   Im Uebrigen macht seine Reiseschilderung durchaus den Eindruck der Wahrhaftigkeit. Wie hätte auch ein Schwindler solche Männer, wie Carl Ritter, und die andern bedeutenden Geographen täuschen können, wie hätte der langjährige Kenner Arabiens, der berühmte Arabist Fresnel, von Wrede's Reise als eine der wichtigsten Entdeckungen unseres Jahrhunderts preisen können? (Vorwort von Wrede, S. 1ff.)

   Am Abend hatte ich wieder ein bedeutendes Auditorium, welches mich weidlich mit Fragen plagte. Jedoch erfuhr ich auch manches Interessante, unter Anderm, daß die große arabische Wüste El Ahqâf ganz nahe sei, und


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daß sich am Fuße des Plateau, welches wie eine steile Wand abfiele, auf eine Strecke von acht Tagereisen eine Menge Stellen befänden, in denen Alles verschwindet, was das Unglück hätte, darauf zu treten. Diese Strecke (sagte man mir) würde Bahr ess Ssafy genannt, weil ein König Namens Ssafy, welcher von Beled ess Ssaba’ Wadiân aus mit einer Armee durch diese Wüste marschiert sei, um in den Hadhramaut einzufallen, den größten Teil seiner Truppen in diesen Stellen verloren habe. (von Wrede, S. 241)

   Nach einem dreistündigen Marsche ruhten wir zwei Stunden aus und erreichten dann in drei Stunden den Rand der Hochebene, welche etwa 1000 Fuß jäh zur Ahqâf abfällt. Links zur Seite zog sich eine tiefe, theilweise mit Flugsand gefüllte Schlucht zur Wüste nieder (. . .) ›Das ist Bahr ess Ssafy, sagten meine Beduinen, indem sie auf die drei blendendweißen Stellen deuteten, um die sich hier und da dunkle Felszacken über die Sandfläche erheben. (von Wrede, S. 242)

   Nachdem ich gefrühstückt hatte, forderte ich die Beduinen auf, mich nach den Stellen zu führen, wozu sie aber nicht zu bewegen waren; denn die Furcht vor den Geistern hatte sich ihrer schon bei unserer Ankunft dergestalt bemächtigt, daß sie kaum zu sprechen wagten. Ich entschloß mich also, allein zu gehen, und trat, mit einem Kilogewicht und 60 Faden Schnur versehen, die gefährliche Wanderung an.

   In 36 Minuten erreichte ich die zunächstgelegene Stelle, welche auf ½ Stunde Länge 25 Minuten Breite hält und sich nach der Mitte hin allmählich abdacht; wahrscheinlich die Wirkung des Windes. Mit aller nur möglichen Vorsicht näherte ich mich dem Rande, den ich mit einem Stocke sondirte. Aus dieser Untersuchung ergab sich, daß der Boden des Randes steinig ist und dann plötzlich abfällt. Beim Hineinstoßen des Stabes in den den Abgrund bedeckenden Staub fühlt man fast gar keinen Widerstand, sodaß es mir vorkam, als stieße ich ins Wasser. Ich legte mich dann der Länge nach hin, um den Sand oder vielmehr Staub zu untersuchen, welchen ich beinahe unfühlbar fand. Hierauf warf ich das Gewicht, an welchem ich die Schnur befestigt hatte, so weit als möglich hinein; es sank auf der Stelle und mit abnehmender Schnelligkeit, und nach Verlauf von 5 Minuten verschwand das Ende der Schnur, welches mir beim Wurfe entschlüpft war, in dem Alles verschlingenden Grabe. (von Wrede, S. 243)(15)

Von Wrede ist jedoch für Karl May noch etwas mehr als eine exotische geographische Marginalie. Denn ganz offensichtlich lieferte seine Schilderung des Bahr ess Ssafy May die Vorlage zur Gestaltung des ›Raml el Helahk‹, des ›Sand des Verderbens‹.

   Kara Ben Nemsi und die Handelskarawane des Abram Ben Sakir sind in die Hände der Tuareg gefallen. Während eines Sandsturms gerät Khaloba, der Sohn des Tuareg-Scheichs Rhagata, in den ›Sand des Verderbens‹. Kara Ben Nemsi, von den Tuareg um Hilfe gebeten, kann den Knaben unter Lebensgefahr mit Hilfe eines ›Sandfloßes‹ retten und so den Tuareg beweisen, daß der Christengott mächtiger als Allah ist.


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Er Raml el Helahkvon Wrede
». . . Mitten in der Wüste liegt Er Raml el Helahk, der ›Sand des Verderbens‹, ein See, der anstatt mit Wasser mit so leichtem Sand gefüllt ist, daß jedes Geschöpf, welches hineingerät, viele hundert Fuß zur Tiefe sinkt und wie in einem Meere ertrinken oder ersticken muß . . .« (222f.) Bahr ess Ssafy, ›das sandige Meer‹ oder Sandmeer (292)
   Kamil mein Diener, erzählte mir noch viel von Menschen und Kamelen, welche in diesem Raml el Helahk untergegangen seien, und von den Geistern, die in der Magarat ess ßuchur ihr Wesen treiben sollten (223)

   . . . der Reisende Adolf von Wrede hat im Bahr ess Ssafy in der Wüste el Ahqaf einen ähnlichen Sandsee [wie den Raml el Helahk] gefunden, in dem ein Kilogewicht an einer sechzig Faden langen Schnur verschwand. (ebd.)    ›Das ist Bahr ess Ssafy, sagten meine Beduinen (. . .) »Geister bewohnen ihn und haben mit trügerischem Sand die Schätze bedeckt, welche ihrer Wachsamkeit anvertraut sind. Ein Jeder, der sich ihnen nähert, wird hinabgezogen; darum gehe nicht hin.« (242)
   Vor mir sah ich die Ränder einer fast zirkelrunden, riesigen Felsenschüssel, deren Durchmesser ungefähr zwei Kilometer betrug; ihre Tiefe war natürlich unbekannt, mußte aber sehr bedeutend sein, denn die Steinränder fielen fast genau senkrecht ab. Welche Flüssigkeit diese Schüssel enthielt, war jetzt nicht zu sagen; ihr Inhalt schien aus einem nassen, außerordentlich feinen und leichten Sand zu bestehen, der keine Last zu tragen vermochte, wenigstens nicht den Fuß eines Menschen oder eines Tieres. Nicht im Sande schlechtweg versank die Meßschnur, sondern in einer tiefen Höhlung, die dem Reisenden wie ein Brunnen erschien, in deren Grunde wahrscheinlich eine Petroleumquelle sich befand, und deren Oberfläche nur eine Schicht sehr feinen Sandes oder Staubes, sehr verschieden von dem gewöhnlichen Wüstensand, bedeckte. (›Vorwort‹ 3)

   (. . .) erreichten dann in drei Stunden den Rand der Hochebene, welche etwas 1000 Fuß jäh zur Ahqâf abfällt. Links zur Seite zog sich eine tiefe, theilweise mit Flugsand gefüllte Schlucht zur Wüste nieder. (242)

   Aus dieser Untersuchung ergab sich, daß der Boden des Randes steinig ist und dann plötzlich abfällt. (243)


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   Man denke sich, daß dieses Riesengefäß erst nur Wasser oder sonst eine Flüssigkeit enthalten hatte. Dann war der Sand von den Wüstenstürmen herbeigetrieben worden. Der schwere, also untere Teil einer solchen Sandsturmmauer, wie die heutige, war von den hohen Felsenrändern abgehalten worden; der hoch oben in den Lüften fliegende, leichte, feine, fast unwägbare Staub aber war über sie hereingedrungen und auf die Flüssigkeit niedergesunken, ohne unterzugehen, weil er nicht schwerer war als sie. So dachte ich mir das Entstehen dieses Sandsees, und ich glaube nicht, daß ich mich dabei irrte. (248)    In 36 Minuten erreichte ich die zunächstgelegene Stelle, welche auf ½ Stunde Länge 25 Minuten Breite hält und sich nach der Mitte hin allmählich abdacht; wahrscheinlich die Wirkung des Windes. [. . .] Beim Hineinstoßen des Stabes in den den Abgrund bedeckenden Staub fühlt man fast gar keinen Widerstand, sodaß es mir vorkam, als stieße ich ins Wasser. Ich legte mich dann der Länge nach hin, um den Sand oder vielmehr Staub zu untersuchen, welchen ich beinahe unfühlbar fand. (243)

May verlegt reale Gegebenheiten in Südarabien in einen gedachten Raum in der großen afrikanischen Wüste. Der Raml el Helahk ist ein fiktiver Ort im Ténéré des nordöstlichen Niger, zwischen den Bergen des Kaouar und dem Aïr-Gebirge. Der Ténéré ist größtenteils eine Geröll- und Sandwüste, deren südlicher Teil von langen, bis 100 m hohen Dünenrücken durchzogen ist. Er liegt im Süden der mittleren Sahara und bildet den Nordwest-Teil des großen Tschad-Beckens. Dieses Gebiet war während des 19. Jahrhunderts gänzlich unerforscht und gehört auch heute noch zu den unbekanntesten Gebieten der Erde. Zwar sind berühmte Afrikaforscher, wie Denham, Heinrich Barth, Eduard Vogel, Gerhard Rohlfs und Gustav Nachtigal durch diese Region vom Fessan aus in den Sudan gezogen, sie blieben aber auf der sogenannten ›Bornustraße‹, die, der Oasenreihe des Kaouar folgend, die Verbindung zwischen den Ländern des Sudan mit der Mittelmeerküste, vornehmlich Tripolis, darstellte; die riesigen Wüstengebiete beiderseits blieben sozusagen rechts und links liegen. Sie bildeten bis weit in unser Jahrhundert hinein weiße Flecken auf der Karte und lieferten somit geeignete Tummelplätze poetisch fabrizierter Reisebeschreibungen. Kieperts Handatlas von 1878 verzeichnet auf seiner Afrikakarte in dem Gebiet nordwestlich der Oase Bilma, in dem Mays Erzählung spielt: »Steile Felsen, Berge mit Grotten«. May ›arabisierte‹ diese Angaben zu Magarat ess ßuchur, zu deutsch ›Felsengrotten‹. Ein weiteres Beispiel für Mays fiktive Geographie ist die Beschreibung des Brunnens Ikbar zu Anfang der Erzählung. Hier lagert auf ihrem Rückweg von der Oase


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Bilma die Handelskarawane des Kaufmanns Abram Ben Sakir aus Murzuk, der sich Kara Ben Nemsi und sein Diener Kamil Ben Sufakah angeschlossen haben: Die Sonne hatte ihren Tageslauf fast ganz vollendet; darum lag ich nach der heutigen glühenden Hitze etwas entfernt von dem Brunnen vollständig im Schatten meines Reitkameles, während sich die andern Mitglieder der Karawane rund um das brackige, schlecht schmeckende Wasser niedergelassen hatten . . . (Er Raml, S. 199) ». . . Sollen wir hier warten, bis sie fort sind, hier am Bir (Brunnen) Ikbar, dessen Wasser für Menschen kaum zu genießen ist und für unsere Tiere kaum noch einen Tag ausreichen würde?« (Er Raml, S. 203)

   Alle Reisenden, die diesen Ort besucht haben, nennen sein Wasser »von der köstlichsten Frische« (Barth), »erfrischend kühl« (Vogel), »süsses, reinschmeckendes Wasser« (Rohlfs), »ein sehr wohlschmeckendes Wasser« (Nachtigal). Außerdem handelt es sich nicht nur um einen Brunnen, sondern um eine Oase, »mit einer grossen Menge Dumpalmen« (Barth), die »mit ihren fächerförmigen Blättern angenehmen Schatten erzeugen (. . .) und das ganze Plätzchen erscheint dem Ankommenden, den die trostlose Einförmigkeit der vorherigen langen Wüstenfahrt bis zum Aeußersten ermüdet, als ein kleines Paradies« (Vogel).(16)

   Das läßt den Schluß zu, daß May für seine Erzählung die Reiseberichte dieser Forscher nicht kannte oder nicht benutzt hat. Dafür spricht auch, daß May nur von einem Brunnen und nicht von einer Oase spricht. Für das ›Brackwasser‹ können zwei Erklärungen, die einander noch verstärken, angeführt werden: Erstens findet sich in dem Reisebericht ›Die afrikanische Wüste und das Land der Schwarzen am obern Nil‹ von Graf d›Escayrac de Lauture die Passage: »Die meisten Brunnen [der Sahara und der libyschen Wüsten] haben brakiges schlechtes Wasser; es kommt entweder aus einem mit Steinsalz, Natron, Magneria u.s.w. geschwängerten Boden, oder es steht lange den Sonnenstrahlen ausgesetzt (. . .) Das eigentliche Brunnenwasser ist oft bitter und verursacht bei Denen, welche es trinken müssen angreifende Purganzen (. . .)«.(17) Dieses Werk kann als Mays ›Handbuch‹ für eine große Zahl seiner Sahara-Angaben gelten. Zweitens könnte ein psychologischer Grund vorliegen: Am Brunnen Ikbar schürzt sich der bedrohliche Knoten der Handlung: Eine unfreundliche Umgebung erschien May möglicherweise dem angemessen.

   Zurück zu von Wrede: Karl May scheint in Adolf von Wrede eine Art ›Leidensgefährten‹ gesehen zu haben. Nicht umsonst schildert er von Wrede als einen Verkannten, ja Verstoßenen, der zu unrecht als ›Lügner‹, ›Schwindler‹ und ›Aufschneider‹ hingestellt worden war. Eine Reminiszenz an sein eigenes, lebenslang nicht überwundenes Trauma vom


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jugendlichen Klein-Kriminellen, der er erst durch die als Unrecht empfundenen bitteren Erfahrungen in der Gesellschaft geworden war. Aber auch eine Reminiszenz an Mays unterdrücktes Unbehagen an seiner eigenen Aufschneiderei.

   Die Veröffentlichung von ›In den Cordilleren‹ (1894) und ›Er Raml el Helahk‹ (1897) fällt in eine Zeit, in der sich Karl May vollständig mit dem ›Ich‹ seiner Reiseerzählungen identifiziert. Es ist eine Zeit des Für-wahr-Haltens seiner Fiktionen und des Nicht-wahr-haben-Wollens seiner geliehenen Existenz, eine Zeit des Als-ob: Der Roman wird zum Erlebnis. In einem Brief an Gustav Jäger schrieb May am 9. 8. 1894: Ich habe jene Länder wirklich besucht und spreche die Sprachen der betreffenden Völker . . . auch ohne dies zu wissen, muß und wird jeder Fachmann aus meinen Werken ersehen, daß ich solche Studien unmöglich in der Studierstube gemacht haben kann . . .(18) Und am 15. 4. 1897: Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle . . .(19)

   Die Brüchigkeit seiner angenommenen Identität mag May bei der Lektüre von von Wredes Buch gesehen oder zumindest geahnt haben. In der Einleitung zu diesem Reisebericht kontrastiert Heinrich von Maltzan nämlich, um dessen Authentizität zu unterstreichen, von Wredes erlebte Reisebeschreibung mit fabrizierten Reisebeschreibungen, mit »völlig erdichtete(n) Schilderungen von Ländern, in die der Autor nie einen Fuß gesetzt hat«.(20) Wenn May andere, welche seine [von Wredes] wahren Berichte vom Studiertische aus recensierten(21), dafür tadelt, muß er sich im Spiegel dieses Wortes selbst gesehen und dann – die Augen geschlossen haben, denn er behauptet ja, daß er solche Studien unmöglich in der Studierstube gemacht haben kann.(22)

   Heinrich von Maltzan schildert am Beispiel des Franzosen du Couret den Fall einer erdichteten Reisebeschreibung, die in gewisser Weise Mays Arbeitsweise trifft. »Ein französischer Reisender, du Couret, der sich auch Hâdschy Abd el Hâmid Bey nannte, wollte im Jahre 1844 (also ein Jahr nach von Wrede) eine Reise durch Hadhramaut gemacht haben, die er unter dem romanhaften Titel ›Les Mystères du désert‹ in Paris im Jahre 1859 veröffentlicht hat (. . .) Von geographischem Material wird nur das Allerdürftigste, und auch dies nur aus falschen, veralteten Quellen geschöpft, geboten.«(23) Das geographische Element werde von weitläufigen, oft romanhaften Detailerzählungen erdrückt. Im einzelnen weist Maltzan zunächst du Courets Fehler nach, um dann dessen Quellen anzusprechen. »Einen siegreichen Beweis gegen die Wahrhaftigkeit des Verfassers der ›Geheimnisse der Wüste‹ hat uns jedoch dessen eigene Unvorsichtigkeit an die Hand gegeben. Wenn man eine Rei-


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sebeschreibung erdichtet, so muß man sie wenigstens ganz erdichten, und sich wohl hüten, die Abenteuer anderer, die bereits gedruckt sind, als eigenes Erlebniß wiederzugeben. Diese Vorsicht hat du Couret gänzlich außer Acht gelassen, indem er eine Scene mit Schlangengauklern aus dem bekannten Werke des englischen Consuls Drummond Hay ›Marocco, its wild tribes and savage animals‹ nicht nur wiedergiebt, sondern fast wörtlich aus der französischen Uebersetzung dieses Werkes abschreibt und dem Leser zumuthet, diese in Marokko vorgefallene Scene, deren Details durchaus nicht nach Arabien passen, für eine in letzterm Lande von ihm persönlich bezeugte hinzunehmen.«(24) Eine Vorgehensweise, die auch May nicht fremd ist.

   Warum zitiert May von Wrede? Ist es eine Art vorbeugender Abwehrzauber, um im Falle einer Entdeckung sagen zu können: »Ich habe ja darauf hingewiesen!«? Mays Dilemma ist nicht, daß er mehr als ein Dichter sein wollte, sondern weniger – auch noch ein abenteuernder Reisender, der das erzählt, was er erlebt hat. Dabei war er doch ein wahrhaft Reisender: »Die größten Reisenden sind nicht über die Grenzen ihrer eigenen Welt hinausgekommen; sie sind den Pfaden ihrer eigenen Seelen gefolgt, von Gut und Böse, Moral und Erlösung.«(25)



1 Karl May: Er Raml el Helahk. In: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIII: Auf fremden Pfaden. Freiburg 1897, S. 222

2 Z. B. Richard Burton in: Karl May: Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882, S. 1292 u. 1319; Reprint Leipzig 1988ff. – Adolphe Delacour in: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 4 – Ferdinand V. Hayden in: Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. Stuttgart 1890, S. 177 – den Forscher Eduard Vogel (dessen Werke er allerdings wohl nicht als Quelle benutzte) erwähnt May in: Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886/87, S. 697; Reprint Hildesheim-New York, und Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1885-87, S. 545; Reprint Bamberg 1976.

3 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIII: In den Cordilleren. Freiburg 1894, S. 157f.

May: Er Raml el Helahk, wie Anm. 1, S. 223

4 Dieses Buch findet sich in Mays Bibliotheksverzeichnis: Karl Mays Bücherei. Aufgezeichnet von Franz Kandolf und Adalbert Stütz. In: Karl-May-Jahrbuch 1931. Radebeul 1931, S. 223

5 Adolph von Wrede's Reise in Hadhramaut, Beled Beny ‘Yssà und Beled el Hadschar, a.a.O., S. 1 (künftig von Wrede)

6 Vgl. Der Große Brockhaus. Bd. 20. Leipzig 1935, S. 461, sowie Lexikon Arabische Welt. Hrsg. von Günter Barthel und Kristina Stock. Wiesbaden 1994, S. 634.

7 Vor von Wrede waren vom Hinterland der südarabischen Küste nur der Südwesten (Jemen) und der Südosten (Oman) einigermaßen bekannt. Im Zuge der britischen Expansionspolitik machten im Jahre 1833 die Engländer Haynes, Cruttenden und Wellsted Aufnahmen der südarabischen Küsten. Neben von Wrede waren die ersten, die von den Küsten Arabiens ins Innere der Halbinsel vordrangen, Palgrave, der Er-


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forscher des Wahabitenlandes, und Arnaud, der Entdecker von Mârib in Jemen. Frühere Reisende, wie Burckhardt, Niebuhr und Seetzen, hatten sich nur in den Küstenregionen aufgehalten.

8 von Wrede, wie Anm. 5, S. 12f.

9 Ebd., S. 2

10 Leopold von Buch, Freiherr von Gellmersdorf, *26. 4. 1774, È 4. 3. 1853, gilt als bedeutendster Geologe seiner Zeit; er war Mitbegründer der Deutschen Geologischen Gesellschaft und ein Freund Alexander von Humboldts.

11 von Wrede, wie Anm. 5, S. 2

12 Ebd., S. 10

13 Vgl. Bernhard Kosciuszko: »Man darf das Gute nehmen, wo man es findet.« Eine Quellenstudie zu Karl Mays Südamerika-Romanen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1979. Hamburg 1979, S. 169-85.

14 May: Cordilleren, wie Anm. 3, S. 157f.

15 Hervorhebungen H. L.; die unterstrichenen Passagen korrespondieren mit dem Maytext.

16 Heinrich Barth: Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centralafrika. 5. Bd. Gotha 1858, S. 434;

Hermann Wagner, Eduard Vogel: Reisen und Entdeckungen in Central-Afrika. Leipzig 1860, S. 122;

Gerhard Rohlfs: Quer durch Afrika. 1. Theil. Leipzig 1874, S. 234;

Gustav Nachtigal: Sahara und Sudan. 1. Theil. Berlin 1879, S. 515

17 Graf d›Escayrac de Lauture: Die afrikanische Wüste und das Land der Schwarzen am obern Nil. Leipzig 1855, S. 290; eine Spezialuntersuchung zu diesem Werk als Quelle Karl Mays ist in Vorbereitung.

18 Zitiert nach: Hans Wollschläger: Karl May – Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 84

19 Zitiert nach Wollschläger, ebd., S. 91

20 von Wrede, wie Anm. 5, S. 5

21 May: Cordilleren, wie Anm. 3, S. 158

22 Wollschläger, wie Anm. 18

23 von Wrede, wie Anm. 5, S. 6

24 Ebd., S. 8

25 Carlo Levi: Christus kam nur bis Eboli. Zürich 1947, zitiert nach: Wilton Barnhardt: Der dreizehnte Apostel. München 1994, S. 271


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