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JÜRGEN HAHN

Old Shatterhands Berceuse oder
die Ballade vom dozierenden Säugling
in Rondoform
Ein Versuch über die Tücken der Banalität

Des Kindes Seligkeit

Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Die Mutter ist so fromm; sie ist so rein,
Und ich will so wie sie auch immer sein.

Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Sie ist so lieb; sie ist so mild, so gut;
Ich sag ihr Alles, was mir wehe thut.

Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Geht sie dereinst in Gottes Himmel ein,
Wird sie mein Engel, o mein Engel sein!
(1)

»Was wären wir nicht für traurige Gestalten
ohne unsere verschwiegenen Bestände an
inwendiger Trivialität!«
Peter von Matt, ›Der Traum an der Grenze‹(2)

»Das Licht gehört freilich dazu, den Diamanten
blitzen zu machen.«
Heinrich Wölfflin, ›Die klassische Kunst‹

wie der Diamant . . . das tagesüber eingesogene
Licht noch lange fest(hält)

Karl May, ›Old Surehand I‹

›Welches Licht?‹ wird eine Leserschaft fragen, die ihre lyrischen Wertmaßstäbe sich durch den ›Echtermeyer-von Wiese‹ verordnen läßt oder neuerdings seitens der bereits im siebzehnten Band vorliegenden ›Frankfurter Anthologie‹ souffliert bekommt. Wer mit mehr als satirischer Impertinenz auftritt, ihr die matriarchale Phänomenologie seeli-


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scher Detergentia, wie sie Karl Mays Gedicht ›Des Kindes Seligkeit‹ abhandelt (: fromm, rein, lieb, mild, gut), als lyrische Kostbarkeit zu empfehlen, muß über eine wunderliche poetologische Illumination verfügen. Mit den Mitteln dieser eingestandenermaßen etwas befremdlichen hermeneutischen Pyrotechnik beschäftigt sich folgender Versuch.


Introduzione

Als »religiösen Lyriker« müsse man sich Karl May »verbitten«,(3) ereiferte sich die zeitgenössische Kritik angesichts der 1900 erschienenen Gedichtsammlung ›Himmesgedanken‹. Als Lyriker? Der Autor meinte unter Verweis auf die Tatsache, daß sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht befindet, der Kritiker sich mithin so wundersam blamiert(4) habe, ein poetologisches Mißverständnis korrigieren zu müssen, an dem er gleichwohl nicht ganz unschuldig war: auf den lyrischen Faltenwurf, die formale Draperie dessen, was versifizierte Lebensbeichte sein sollte, mochte er doch nicht verzichten, unempfindlich gegen die Verdächtigung, die er sich damit einhandelte, unverdient poetische Weihen zu usurpieren oder das, was er dafür hielt.(5) Die »Himmelsgedanken« bieten nämlich etwas ganz anderes als das, was man religiöse Lyrik nennt. . . . Schon durch das Wort »Gedanken« mußte sie [die Kritik] auf das Richtige geführt werden.(6) Und da traditionell die Poesie als Partisan des ›Himmels‹ das coeleste Element als ureigenste Verschlußsache verwaltet, so stipuliert der Autor für seine ›Himmelsgedanken‹ denn so etwas wie den Terminus der Gedankenpoesie. Das mag man hingehen lassen: die Neuauflage der überlebten Form des geistlichen Liedes, wie sie später Jochen Klepper nochmals beachtlich bewältigt hat. In sie hat May wiederum – im historisierenden Rahmen naiv mit der lyrischen Schablone hantierend – Biographie investiert und damit gegen Cardauns die in lyrischen Dingen beachtliche Autorität Gottfried Benns auf seiner Seite, der meint, daß Lyriker »entgegen der allgemeinen Auffassung (. . .) keine Träumer (sind), die andern dürfen träumen, diese sind Verwerter von Träumen«.(7) Mit anderen Worten: May, der in seinen Romanen unablässig Wunschtraumerfüllung betreibt, verabschiedet in den ›Himmelsgedanken‹ den Traum zugunsten ›lyrischer Realität‹, d. h.: »das Wort nimmt (. . .) beim primären Lyriker die unmittelbare Bewegung seiner Existenz auf«.(8) Und genau das spielt sich hier ab.

   Der unbestritten epochalen geistigen Validität dieses Vorgangs vermögen allerdings die sprachlich epigonalen Züge des Liedes auf den er-


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sten Blick in keiner Weise gerecht zu werden, geschweige denn daß sie den Tentakeln lyrischer Konfektion entrinnen könnte. Es gilt, was anläßlich der programmatischen Poesie festgestellt worden ist, die der Gymnasialprofessor Willibald Schmidt der Kommerzienrätin Jenny Treibel gewidmet hat. »Die ›Sprache des Herzens‹, die Sprache des ›natürlichen Menschen‹, verschwindet hinter einer Sprache, die andere gesprochen haben, hinter den Formeln und Wendungen der poetischen Überlieferung.«(9) Deren Versatzstücke überführen die ›Sprache des Herzens‹ in den Stand der Banalität, die jede Aussage dem Verdacht der Unwahrhaftigkeit aussetzt. Dabei ereignet sich, genau besehen, in diesem Gedicht – wie schon angedeutet – nichts Geringeres als die Liquidierung einer ganzen Existenz und der Lebensformen, die sie ermöglicht haben. Denn darum geht es: um Abgesang, Lebensbeichte als Jahrhundertparadigma: eine veritable Spiegelgeschichte; um den Versuch, »die Arbeit des Gedächtnisses zu beschreiben, als Krebsgang, als mühsame rückwärts gerichtete Bewegung, als Fallen in einen Zeitschacht, auf dessen Grund das Kind in aller Unschuld auf einer Steinstufe sitzt und zum erstenmal in seinem Leben in Gedanken zu sich selbst ICH sagt.«(10) Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust – man bedenke die Paradoxie, die in solcher Selbstreflexion eines Säuglings liegt, der hier im auffallenden Rollentausch mit der Mutter das Wiegenlied ›singt‹: erklärbar nur aus hypertrophen Affekten des regressionsgefährdeten alternden Dichters, deren Engführung die Textur dieses Gedichtes je nach exegetischem Anschlag sich sowohl ins Skurrile als auch Aberwitzige und Läppische auffächern läßt: in die wahngezeugte Idylle. »(Nicht eher schläft er), als bis auch ich mich lege (. . .). Sonst ist er aber lieb und gut, daß man ihn immer liebkosen möchte«,(11) berichtet die Mutter Franziska Nietzsche über ihren geisteskranken Sohn und bedient sich eines ikonologischen Rasters, welcher dann bis in die Wortwahl hinein durch das Arrangement Mays kopiert wird. Noch dem Anlehnungsbedürfnis des Heranwachsenden entspricht sie dergestalt, daß sie in höchst prophetischer Empfindlichkeit für die subtilen psychischen Bedürfnisse des Knaben befürchtet, »dich noch als Candidaten ins Bett«(12) tragen zu müssen. Wie es dazu kommt, führt in extenso Mays ›Silberlöwen‹-Tetralogie vor, in Abbreviatur dieses Gedicht: der Greis wird zum Säugling an der Mutterbrust; eine Existenz scheint zurückgenommen und endet in den tückischen Versen einer Berceuse – Old Shatterhands Wiegenlied.


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e rondò capriccioso: appassionato assai (in modo minore)


Berceuse als Biographie: oder Wiegenlied als Schicksalslied: die volkstümliche Form des Wiegenliedes ist ›Anrede‹, nicht ›Selbstrede‹ – bei Matthias Claudius etwa:

Liege weich in Deiner Wiege
    und in guter Ruh’;
Lieg und schlafe Deine Gnüge,
    Kleiner Engel Du!(13)

oder wie sie sich in der ›Wunderhorn‹-Sammlung findet; sie gibt nur der Mutter das Wort: das Kind bleibt stumm.

Höre, mein Kindchen, was will ich dir singen,
(. . .)
(. . .)
Mein Kindchen soll schlafen und schweigen.(14)

Um so mehr muß ein Wiegenlied verwundern, in dem das in den Schlaf gesungene, schweigsame Kind zum redenden Ich wird, das durch die Hintertüre des Alters in die kindliche Arena zurückkehrt, um zu singen, was ihm offenbar, an der Wiege verweigert, Wunschtraum des Lebens war. Dieser Fall ereignet sich in Karl Mays Gedicht, einer ganz eigenartigen Confession, die Lyrik zu nennen falsche Erwartungen erweckt. Eher handelt es sich um die Anmerkung zu einer Lebensbeichte; aber auch eine solche Charakterisierung greift zu hoch im literarischen Prestigejargon, den die poetische Gestikulation im Goldschnitt dieser Reime peinlich dementiert. Interesse erwecken sie allenfalls dadurch, wie in ihnen seelische Ratlosigkeit am Rande des Verstummens der Parodie ent- und im Paradoxon zu sich kommt und damit aufschlußreich für die Existenz eines ungewöhnlichen Menschen in einer von geistiger Orientierungslosigkeit gekennzeichneten Zeit wird. Wer diese Botschaft Karl May 1900 nicht glauben wollte, weil er so viel lyrische Chuzpe nicht ernst nehmen mochte, mußte sie sich 1909 von Hermann Bahr mit den Worten seiner Frau Marie bestätigen lassen:

Nein, die Männer werden nicht älter, die Männer werden immer jünger, Frau Pollinger! Bis sie dann zuletzt, der eine ein bissel früher, der andere ein bissel später, so in der Mitte der Vierzig halt wieder wie die Kinder sind! Ja, Frau Pollinger, unsere Kinder! Danach muß man sich richten, und wenn man es erst gewöhnt, ist es ganz schön.(15)

Auch was sie sonst noch über die Versorgungsbedürfnisse der Männer äußert, erinnert in parodistischer Form an dieses Gedicht Mays, in dem


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sich durchaus ernst und wenig erbaulich die Abdankung einer Lebensform, nämlich des Patriarchats, äußert und dessen paradoxe Besonderheit darin besteht, daß wir es mit dem Wiegenliede eines Mannes zu tun haben, in dem nicht die Mutter oder der Säugling allenfalls das Wort hat, sondern ein Heros, eine Art Odysseus, im ›regressus ad uterum‹ begriffen. Es lag in der Luft damals: das Thema von der Abdankung des Mannes. Schon 1899, ein Jahr vor Erscheinen von Mays Gedichtsammlung ›Himmelsgedanken‹, der dieses Gedicht entnommen ist, hatte Lou Andreas-Salomé in der ›Neuen Deutschen Rundschau‹ das Verschwinden des Männlichen – verkörpert im »geborene(n) Fortschrittzellchen« – im vollendeten Kreis des Mütterlichen dekretiert, das »zeugend, nährend, schützend, führend« nicht etwa der Aufgabe der Gattungserhaltung unterworfen ist, sondern sie beherrscht und wohin »das männliche (. . .) immer wieder heimkehren, worin es untertauchen muß, damit es am Leben bleibe.«(16) So meldet sich hier zu Ende des Jahrhunderts wieder eine Strömung zu Wort, die es zu Beginn mit den Romantikern, mit Shelley, Wilhelm Müller und Justinus Kerner z. B. eindringlich erhoben hat. Und entsprechend – ist sie doch Spiegel des Jahrhunderts – denunziert ihr erneuter Durchbruch Mays heroische Biographie als einen Selbstbetrug, deren Mühen als Verschwendung zurückgenommen werden durch die Umdeutung, die der Autor seinen Werken im Lichte des Altersschaffens verpaßt. Insofern bietet das Gedicht eine Lebens- ja, eine Jahrhundertabrechnung. In einer höchst suggestiven Montage hat Arno Schmidt diesen mammophilen Monolog über den Resonanzboden des aufgedonnerten Flibustertums Mayscher Kolportage gespannt und seiner histrionenhaften Formelhaftigkeit unerwartete Töne sentimentaler Schrillheit entlockt,(17) die die Trivialität hintergründiger Weinerlichkeit als Kind »einer Zeit, wo der Expressionismus längst begonnen hatte«, durchaus beglaubigt. Alles war nur Imponiergehabe, Maske der Macht, hinter der so unmittelbar nah ›quietschend‹ und ›weinen(d) wie eine Frau‹(18) als verkappte Allegorie des Weiblichen das ›tränenselige‹ Monstrum Hyde in Dr. Jekylls Unterbewußtsein seine Ansprüche anmeldet, wie von ferne schon latent die Züge eines ›She-Man‹ à la Sonny Crockett auftauchen und die Larmoyanz in Metastasen des Spleens rumorend auf die Stunde des Durchbruchs lauert. Mit diesem Gedicht scheint sie gekommen. In ihm gerinnt der Geist der Zeit eines auf Imperialismus und industriellen Fortschritt ausgerichteten Jahrhunderts zur Grimasse, offenbart die Parabel vom Bildnis des Dorian Gray in der Säuglingsfratze ihre Schrecken, schließt das Maysche Gesamtwerk, dieser Fluchtversuch in die heroische Selbstdarstellung, in der Geste Prosperos: einer Selbstentzauberung und Depravierung –


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depravata imitatio poetae auch hier in Vorwegnahme von Rilkes grandiosem Diktum aus dem Jahre 1908: »Du mußt dein Leben ändern.«(19)

   Und May ist entschlossen, dies auch zu tun; denn nicht minder apodiktisch formuliert er in Jamben: »Du kannst nie wieder solche Bücher schreiben, wie du geschrieben hast! Du stirbst! Du mußt ein völlig andrer werden!«(20) Stirb und werde! Da stirbt einer als Supermann, um zum Kind an der Mutterbrust zu werden: wird die Pietà Durchgang zur Geburt. Zur Neugeburt? Oder handelt es sich nur um eine Regression als »Demenz, (. . .) als (. . .) Abweichung vom eigenen Ich, (. . .) Selbstentfremdung«,(21) wie Thomas Mann den vorliegenden Fall diagnostizierte? Jedenfalls: da liegen sie denn, die Nietzsche, May und Proust an der Mutterbrust – zurückgekehrt oder noch gar nicht aufgebrochen; und als ob der Eulenspiegelei noch nicht Genüge getan wäre, öffnet sich die Trivialphantasie zu eben jener Pietà. »Sie hob den Kopf des Bewußtlosen, (. . .) seinen Oberleib in mütterlichen Armen haltend«.(22) Thomas Mann eulenspiegelt ja auch gerne. Allerdings, die Trivialphantasie – und das macht ihre Betrachtung für die Analyse unerläßlich – lebt ja immer vom Jahrhundertmythos: wie alle Mythen ein zu Handlung gewandelter Affekt. So stellt sich May die Diagnose und schreitet zur Demaskierung, die belanglos wäre, fiele nicht mit seiner Maske die seines Jahrhunderts, vollzöge sich nicht in ihm vor unseren Augen nochmals der Rücktritt des ›trauernden Gottes‹ seines sächsischen Landsmannes, der das Jahrhundert dominierte. Der Himmel hat eine Umbesetzung erfahren; Gottes Himmel bleibt nur als Leerformel, Gott ist ausgezogen, die Herrschaft der Engel dort ist die Herrschaft der Mütter, wie das jüdische Sprichwort gar die göttliche und die mütterliche Fürsorge gleichsetzt: »Gott kann nicht überall sein, und deshalb schuf er Mütter.«(23) Der Mann hat sie schon immer gefürchtet. Mephisto fragt: »Schaudert's dich?« Und Faust antwortet: »Die Mütter! Mütter! – 's klingt so wunderlich.«(24) Gefürchtet und ersehnt sind sie: »Schaffende Wesen – das schaffende und erhaltende Prinzip«, meldet Eckermann am 10. Januar 1830, indessen sich Goethe in Schweigen hüllt: chthonische Gottheiten, die Mütter, die nun, da Nietzsches kritische Luftschiffahrt in hyperboreische Regionen den vaterbestimmten Himmel als leeren Estrich erwiesen hat, von unten die Herrschaft ergreifen; nicht mehr christliche Anabasis (das Hinaufsteigen), die mythische Katabasis (das Hinabsteigen) wird zur Bewegung des Jahrhundertgeistes, der die Gründungsakte des Patriarchats, den Schiedsspruch der aischyleischen ›Orestie‹ annulliert. Schon Bachofen sah das so, und in der Lyrik der Romantiker spricht sich oft das Unterbewußtsein des 19. Jahrhunderts als ein mutterbestimmtes aus, das dem verdrängten »Weibliche(n) im Menschli-


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chen«(25) die verlorengegangenen Positionen zurückzuerobern im Begriffe ist: eine Eroberung nicht frei von Eruptionen. »Gleichwohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich«,(26) notiert kurz vor seinem Tode am 11. 2. 1883 in Venedig der ›Zukunftsmusiker‹ Richard Wagner. Er hat in seinem Werk ein ausgesprochenes Gespür gezeigt für eine Tradition dieser Ekstasen, die literarisch mit den ›Bacchen‹ des Euripides beginnt, den Mephisto das Fürchten und im lyrischen Talmi Mayscher Vertikoexponate ›das Unbehagen in der Kultur‹ lehrt. Denn an diesem Punkt hebt sich die »Idealität des Mannes«, die zu seiner »Entartung« degeneriert ist, auf durch die Freisetzung »der gefesselten Mutterliebe«; sie ist Produkt einer ›verklärenden‹, idealisierungsbedingten Verdrängung, in der der »Gattungsinstinkt« »in der Mutter gesetzgebend fort(waltet)«.(27)

   Daß hier Lebensbeichte zum Jahrhundertparadigma avanciert, wird deutlich, wenn man sie auf den Prüfstand metaphorischer Exegese versetzt. In der allegorischen Konstellation vom selig an der Mutter Brust schlummernden Kind – Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust – liegt verschlüsselt das ehrwürdige Szenario des Meeres als Schauplatz stürmischen Lebens und der an ihm gemessenen männlichen Bewährung. In dieser Subthematik voll durchorchestriert, findet sich das Motiv bei May an exponierter Stelle, jener Eingangssequenz von ›Ardistan und Dschinnistan‹, die den paradiesischen Prospekt von Ikbal vorstellt, zweifellos ein ›Garten Eden‹-Topos, auf den, vom inhaltlichen wie formalen Reduktionismus des Gedichtes sekundiert, die Vision von der alliebenden Mutter abzielt. (Letzten Endes bedeutet ja jegliche paradiesische Emphase einen Akt der Reduktion, der Tilgung, besteht darin: alles Leid der Erde zu vergessen.(28)) Die Mutter, die dem durch die Gärten von Ikbal ›Wandelnden‹(29) entgegentritt, erfährt ihre Verklärung in Marah Durimeh, Prinzipalin zweifellos eines matriarchalen Reichs, in dem nach Süden sich die blaue, von silbernen Fäden durchzogene See (dehnt), leise atmend, wie ein schlafendes, glückliches Kind, welches im Traume lächelt.(30) In der orientalisierenden Symbolik des Jahrhundertendes entspricht der Auftritt Marah Durimehs, gleichsam »deterritorialisiert« (Michel Serres) vor dem Panorama dieser hesperischen Welt nach Sonnenuntergang . . . auf dem hohen Söller,(31) jenem der Queen Mab: Vor der Folie des Weltalls auf dem »Rand der überhangenden Zinne (. . .) – Vor ihnen lag das Weltall ausgebreitet«,(32) und »tief unten (. . .) lag, still wie ein schlummernd Kind, das furchtbar wilde Meer«(33); so von Shelley mit dem klassisch-romantischen Pathos des Jahrhundertbeginns beschworen. Das erstaunliche dichterische Werk Shelleys, das in seinem Kern die erste große Abrechnung mit der patriarchalischen


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Tradition des Okzidents ist, korreliert wohl mit dem erstaunlichen Spätwerk Mays darin, daß es in der Vision einer androgynen Menschheitszukunft gipfelt. Die Dichtung, in der jener zum ersten Mal die Befreiung der Welt von Königtum, Christentum und Männerherrschaft in mythischen Bildern zu gestalten versucht, ist gleichzeitig eine Beschwörung der großen Mutter Queen Mab (1813). Mit der ganzen Pracht englischer Verse tritt darin die Idee des Matriarchats in die europäische Geistesgeschichte ein und findet über ein saeculum hinweg, das durch Industrialisierung und Imperialismus rigoros militanten Verortungen der Bastionen des Patriarchats zuarbeitete, seine Spiegelung im Metareich der Marah Durimeh. Die Kongruenz erfährt nicht zuletzt ihre Bestätigung in der Identität des verwendeten metaphorischen Inventars, z. B. des Bildes vom Meer als tumultuösem Schauplatz des Lebens, pazifiziert in der Seligkeit des schlummernden Kindes: »still wie ein schlummernd Kind, das furchtbar wilde Meer« entspricht chiastisch der See, leise atmend, wie ein schlafendes, glückliches Kind. Und es macht die nicht geringe Bedeutung des Mayschen Gedichtes aus, daß die Bilder so glücklich in ihm konvergieren und es zu einer Jahrhundertallegorie auf den ewigen Frieden(34) erheben: Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust. Das stürmische Meer als Lebensraum und Metapher für den Lebenskampf beruhigt sich hier zur Idylle eines paradiesischen Friedens, in dem die ›malheurs de l›humanité‹ getilgt und aufgehoben sind, denen der patriarchalische Aktionismus des Jahrhunderts allenthalben in der Welt schauerliche Schauplätze bereitet hat. In dessen Negation rehabilitiert das Gedicht jene Friedensutopie, die zu Beginn des Jahrhunderts Queen Mab im Vokabular der Gnosis dem träumenden Menschheitsgeist offenbart: einem »Leuchtthurm ob dem finstern Wogenschwall (. . .), der aus dem Dunkel / Ans Licht den Edelstein der Wahrheit fördert, / Zu schmücken seines Friedens Paradies. (. . .)«(35)

So nahte sich die Menschheit der Vollendung,
Und wie das Kind, von Mutterlieb’ beschirmt,
Nahm zu an jeglicher Vortrefflichkeit
Die Erde, sich verschönend Jahr um Jahr.(36)

In der Illumination dieser Shelley-Verse zeigt sich die ganze Suggestionskraft, mit der Karl May das allegorische Denkbild des schlummernden Kindes, »von Mutterlieb’ beschirmt« – »Even as a child beneath its mother's love« , zum Emblem, zur »Gemälpoesie«(37) gewendet, der Initiale in dem Codex montiert, in den er ab 1900 sein pazifistisches Alterswerk eintragen wird. Und je nach ›Vertonung‹ macht die synästhetische Energie des Textes das Rauschen des Wassers in der Nacht hör-


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bar; beides Symbole des Archetypus Mutter, Phänomene des fruchtbaren Hervorbringens ebenso wie des soghaften Verschlingens, in denen sich die »Dialektik des Schoßes« artikuliert, wie sie »ein naives Geborgenheitsglück« »gläsern-gefährlich«(38) in den ›Heimkehr‹-Texten Robert Walsers bricht, deren finale Eindunkelung an die Todessehnsucht der ›Müller-Lieder‹ Schuberts gemahnt.

Gute Ruh, gute Ruh! Tu die Augen zu!
Wandrer, du müder, du bist zu Haus.
Die Treu ist hier, sollst liegen bei mir,
bis das Meer will trinken die Bächlein aus.(39)

»Eine himmelblaue Welle ist über mich gekommen und hat mich unter ihrem flüssigen, liebevollen Leib begraben.«(40) Die Rückkehr in die nächtlichen ›Wasser des Mütterlichen‹ partizipiert freilich unfreiwilllig an der ironischen Lumineszenz, die ein Leben lang von den ›Expeditionen‹ und ›Reiseerlebnissen‹ des ›Weltläufers‹ Dr. Karl May ausgeht: sie alle im Grunde ein großer Regressionstrip, als Rückzug größtenteils zu Pferde bewältigt: wiederum einem weiblichen Symbol(41) – wie denn Roß und Wiege gleichermaßen das Gefühl des Gewiegtwerdens vermitteln können. Schon des ›Baches Wiegenlied‹, Schlußstück von Schuberts Liederzyklus ›Die schöne Müllerin‹, das die Regression 1823 so eindrücklich besingt, oszilliert melancholisch in der Refraktion dieses ironischen Lichtes.

Will betten dich kühl auf weichem Pfühl
in dem blauen kristallenen Kämmerlein.
Heran, heran, was wiegen kann!
Woget und wieget den Knaben mir ein.(42)

Es ist allerdings in dieser (die Farbe blau signalisiert es) Schatulle des Todes – ›kristallen‹ wie der ›durchsichtige Sarg von Glas‹ Schneewittchens – eine Umarmung von schneidender metaphysischer Kühle, wenn man den »Himmel da oben« bedenkt, dem sich 1900 diese Sehnsucht nach Seligkeit empfiehlt: »so weit«(43), daß er wohl schon 1823 keine bestimmtere Antwort zu geben wüßte auf die 1884 gestellte Frage Zarathustras nach der Verkündigung der »tiefe(n) Mitternacht«(44) als den Hinweis mütterlicher Transformierung hin auf eine irgendwie verschlingende, auslöschende und insofern obskure ›ewige Lust‹. Am Ende also steht die Liquidation. In diesem Sinne summiert das Gedicht ein biographisches Programm, dessen epochale Qualitäten gerade in seinen ästhetischen Gebrechlichkeiten zum Vorschein kommen.


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   Seine so offenkundige Banalität ist als Akt – für May notorisch – raffinierter literarischer Mimese nicht zu unterschätzen, jener Verfertigung von Tarntrachten einer offensiven Trivialität, mit denen clevere Tierchen ihre Feinde austricksen, indem sie leblose Gegenstände imitieren, wobei hermeneutisch der Unterschied zwischen Maskerade und Versteckspiel ins Gewicht fällt, auf die Old Shatterhand in einer allegorisch aufschlußreichen Szene des ›Old Surehand‹-Romanes so viel Wert legt: nicht sich zu maskieren gelte es, sondern sich zu verstecken,(45) sich versteckend auf die Situation zu reagieren. Der Autor nimmt weniger in Anspruch, Mund des Zeitgeistes zu sein, als daß er ihm das Ohr leiht, und auf die bewegende Frage »Was spricht die tiefe Mitternacht?«(46) ermangelt er zum Glück der Arroganz, die Botschaft selbst zu formulieren; läßt uns vielmehr auf ihren Inhalt aus der Pose des (Be-)Lauschenden, die sich hinter diesem Gedicht versteckt, schließen. Das Versteckspiel bedient sich dabei erfolgreich – und ganz im Sinne der Mimese – der List des Metrums, das uns gerade in der gequälten Emphase des zweiten Verses, dessen Ostinato das ganze Gedicht heimsucht, den natürlichen Auftakt eines sich frei entfaltenden Anapästs vorenthält; etwa:

O welche Wonne, welch selige Lust!
x   x ' | x     x ' | x     x      x'|x  x    x' |

Die Frage, inwieweit der Dichter sich der Durchtriebenheit bewußt war, mit der poetische Regie hier Stümperei in ihren Dienst nimmt, beantwortet sich durch das Maß an Autopoiesis, das man der Sprache zubilligen will. Der Vers ist sicher von irritierender Zweideutigkeit: revolutionär in Gesinnung, reaktionär im Gehabe. Denn eine rechthaberische Verseschmiederei vergewaltigt das Metrum und deformiert ein zutiefst auf Anarchie und Promiskuität zielendes Pathos zur Platitüde eines konventionellen Stoßseufzers.

O welche Wonne, welche selge Lust!
x     x' | x   x ' |  x ¦   x' | x   x'|   x   x' |

Der zweite Halbvers werkelt mit dem Hammer und verweigert die Lust des entspannenden jambischen Auftakts. Der in diesem Gedicht ›Laut gebende‹ gedankliche Ansatz, der das schlichte Sein zum Mythos erhebt, betet ein reaktionäres Glaubensbekenntnis, das logischerweise den Menschen und sein Handeln der Kategorie der Verantwortung entzieht. Angst vor der Welt kommt dabei zum Ausdruck, als dessen Antwort die Geborgenheit des Mutterschoßes gesucht wird. Und an keiner Stelle hört man diese mißglückte infantile Antwortsuche so klar heraus


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wie in der gestammelten Synkopierung des ›selige‹ zu selge, der Unterdrückung des ›himmlischen‹ i. Wobei sich von den müde-holperigen Jamben des ›Schiffbrüchigen‹ an der Jahrhundertwende, eines Verwandten des Peer Gynt, in der Ikonographie nahtlos eine Verbindung herstellen läßt zur anapästisch-beschwingten Stretta eines Sonnenleithner zum Jahrhundertbeginn: zum »Engel im rosigen Duft«, der

sich tröstend zur Seite mir stellet,
ein Engel, Leonoren,
Leonoren der Gattin so gleich,
der, der führt mich zur Freiheit
ins himmlische Reich.(47)

In der Revolutionszeit des Jahrhundertbeginns, was da ein Freiheitsengel war, wird in der Restaurationszeit der Gründerjahre zur Mutterphantasie kindlicher (auch politischer) Entmündigung. Verglichen mit diesen Versen ist in denen Mays die Strangulation des in ihnen veranlagten anapästischen Aufschwungs förmlich zu spüren, die sich dem bleiernen Gewicht der Asymmetrie des Verses und der in den Versfuß gelegten Zäsur verdankt; ob aus Unfähigkeit, ist – wie gesagt – für die Transparenz der poetischen Form, den Ausblick, den sie auf das Scheitern menschlicher Existenz ermöglicht, unerheblich. Die Regelobsession macht die vom Autor intendierte Regression noch peinlicher. Diese Sprache neigt, in ihren Mitteln selbst in der Regression begriffen, zum Stottern. In auffälliger Konsequenz wird sie hier dem Kind in den Mund gelegt: das Scheitern des Mannes am Ende seines Lebensweges – denn um ein solches handelt es sich im Falle Mays, und das stellvertretend für seine Epoche! – wird surrealistisch überhöht und damit der Trivialität der Mutterlyrik enthoben, für die Gerok das Muster abgibt, dessen ›Palmblätter‹ immerhin zu Hanno Buddenbrooks vorweihnachtlicher Lektüre gehören.

Und nun liegt der Knabe wieder
Wohlig an der Mutter Brust,
Selig blickt sie auf ihn nieder;
Wiedersehn, o Himmelslust!(48)

(Wiedersehen? Die Rückkehr der Söhne an die Brust der Mutter ist weder idyllisch noch erhebend: »Schauerlich Rührenderes und Kläglicheres ist nicht zu erdenken, als wenn ein von seinen Ursprüngen kühn und trotzig emanzipierter Geist, nachdem er einen schwindelnden Bogen über die Welt hin beschrieben, gebrochen ins Mütterliche zurückkehrt.«(49) Die Bilanz, die Thomas Mann für das Leben Adrian Lever-


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kühns zieht, kann stellvertretend für das Selbstverständnis männlicher Ikarusflüge in der so imperialismusversessenen Zeit des 19. Jahrhunderts gelten.) Hier bei Gerok das gleiche konventionelle Formelrepertoire, nichts aber vom Aberwitz der Mayschen Perspektive. Die Rückkehr der Männer in die Anarchie der mütterlichen Brüste mit so viel Chuzpe zu artikulieren hat sich selbst ein Ibsen versagt, dessen Peer Gynt Solvejg das tödliche Wiegenlied singt, eine schöne Spiegelung zum Wiegenlied des Baches der Müller-Lieder:

An Mutters Brust hat mein Junge geruht,
Sein Lebtag. Gott segne dich, mein einzig Gut (. . .)
Schlaf denn, teuerster Junge mein!
Ich wiege dich und wache!(50)

Eine Paraphrase des Schubert-Müllerschen: »Die Treu ist hier, sollst liegen bei mir (. . .)«!

   In Umkehrung der Perspektive und unter Auswechslung der Sprecherfiguren, zu allem in veränderter Instrumentation ertönt hier des ›Baches Wiegenlied‹, spielt einer das ›Lied vom Tod‹. Schon die biographische Realität des Gedichtes nimmt die gegebene Realität unter Beschuß: in ihr wie in der heroischen Wahnwelt Mays vollzieht sich die Abdankung des männlichen Prinzips unter dem Motto Ibsens, es sei Größenwahn zu glauben, man lebe; zumal in einer Zeit, da technische Realität Eindeutigkeit des Wirklichen verheißt und sich die Leonardo-Welt (Mittelstraß) als Kopfgeburt des Mannes absolut zu setzen beginnt. Aufruf auch, sich nicht weiter in die Tasche zu lügen, es gehe dieser Epoche um die Autonomie des Individuums, deren Kultivierung zu einem pompösen Zeremoniell der Verhüllung ihres Status als Handlangerin der Gesellschaftspolitik verkommen war. Das Gedicht betreibt die Demontage des Vaterdenkmals. In seiner Mutterverfallenheit zeigt es einen Mythenverliebten während der Fährtensuche auf dem Ödipus-Pfad am ersehnten Ziel; da singt sich dann des ›Baches Wiegenlied‹ im Krebsgang.

Gute Nacht! Gute Nacht! Bis alles wacht,
Schlaf aus deine Freude, schlaf aus dein Leid!
Der Vollmond steigt, der Nebel weicht,
Und der Himmel da oben, wie ist er so weit.(51)

Dort wohl wird dann die Mutter, wird sie mein Engel, o mein Engel sein! Die Situation Florestans ist unverkennbar mit der Ineinssetzung von Mutter und Gattin als erlösungsschaffenden Engeln. Am Anfang wie am Ende dieses Jahrhunderts ist es die Frau, die die Erlösung bringen


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soll: um so mehr, je weniger sie in dieser männlichen Welt der Macher in Erscheinung tritt, der Forscher, Techniker, Weltläufer, Expeditionsleiter, Politiker und politisch Verfolgter. Nur selten hatte wie im Raisonnement Frickas gegen Wotan (›Walküre‹ II, 2) Dialektik als weibliche Tugend dem männlichen Gotte die Initiative entwunden; meist lähmte ihn wie in diesem Gedicht die weibliche Waffe der Sentimentalität. Sie läßt in ihrer speziellen Verfärbung uns sozusagen peep-show-artig des Autors innere Welt als déjà-vue, déjà-vécue wahrnehmen mit ihren bizarren Verwerfungen anarchischen Lebensgefühls, in der schon immer alles auf den Kopf gestellt und durcheinander gewirbelt war: Formen wie Normen, der Status der Realität schlechthin. Dies ist eine Evokation surrealistischer Wunschtraum- beziehungsweise Abenteuerbilder: im Grunde genommen Jahrhundertexpeditionen als faustische Katabasen ins Land der Mütter. »Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen«(52), gesteht sich Mephisto nur ungern ein: nämlich am Ende der Weltumsegelung auf jenen Zustand zu treffen, den Bahrs Frau Marie so profan-ironisch umschreibt und dem auf der Suche nach der blauhaarigen Fee, welche die Moral aufrechterhält, Pinocchio (1891) nicht so sehr entkommt, als daß er ihm durch diese Mutterfigur paradoxerweise in einem durchaus patriarchalisch gezeugten Normendasein vermittelt wird: Infantilität. Es ist eine Infantilität, die sich an anderer Stelle anläßlich der Rückkehr eines kindlichen Grenzgängers – dort in auffälligem Rollentausch – in Form einer Erlösungslegende Ausdruck verschafft, wo »der Gang über die Grenze zum Weg in eine mutterhafte, schoßwarm umfangende Geborgenheit (wird). Und dies verdeutlicht sich symbolisch, daß es eine Art hat. Ein kleines Holzhaus und darin eine tiefe, dämmrige Nische und in ihr wiederum ein Bett in Gestalt einer weichen, mächtig gehäuften Masse, wo man, heimgekehrt aus der weiten Welt, selig versinkt:«(53)

Da (. . .) war das Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber hatte der Großvater [sic!] ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. (. . .) Sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alp.(54)

Was dagegen den alten May betrifft, so rekapituliert er bei seiner Rückkehr aus den Gefilden, da er ›Patriarchenluft kostete‹, nur den Psalter und das Saitenspiel des jungen Nietzsche:


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Sie schaut in all die Sonnenlust
So selig stumm hinein:
Noch schöner wird's im Himmel sein,
Du liebes Mütterlein!(55)
Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Geht sie dereinst in Gottes Himmel ein,
Wird sie mein Engel, o mein Engel sein!
Die Gattin als Engel und zugleich als Hüterin des Himmels (als Uranognomon) hat Tradition und ist wohl in der Form Geschöpf der Revolution, tritt auf in den verschiedensten Kostümierungen zum Beispiel als Freiheitsgenius bei Delacroix, wobei sie dann doch nicht ihr Herkommen aus dem allegorischen Tableau-Arsenal des ancien régime verleugnen kann.

ein Engel, Leonoren,
Leonoren der Gattin so gleich
der, der führt mich zur Freiheit
ins himmlische Reich!(56)

Zu Beginn des Jahrhunderts mit diesem enorm politischen Bild wird so der Regenbogen ins freilich theatralische Reich der Utopie betreten: zur Freiheit ins himmlische Reich. Am Ende des Jahrhunderts hat das Bild politisch zur Proszeniumssoffitte abgewirtschaftet und führt als Text für das engelhafte Wiegenlied, das wie hier im ›Fidelio‹ der Mann sich selbst singt, in seinen ausgebrannten Formen der Idylle zur Regression, zum Verstummen: keine Freiheit mehr, nur noch oder wieder die restaurative Formel von Gottes Himmel, auf dem schon immer der Verdacht gelastet hat, er sei nach dem ersten, dem irdischen, eine zweite, versteckte Form von Gefängnis, nun in den Dienst der klaustrophobischen Zwänge der wilhelminischen Epoche gestellt.

   Seinen Beitrag mithin zum Dementi des Patriarchats als Echo an der Wende des Jahrhunderts auf die unerhörte Provokation Shelleys zu dessen Beginn – denn nichts anderes spielt sich hier ab als die Aufkündigung und Liquidation einer jahrhundertealten Konvention – scheint die sprachliche Materialschwäche dieses Gedichtes im besten Falle zur Parodie zu pervertieren, im schlimmsten zum Produkt des Obskurantismus zu depravieren. Gerade die Berufung auf die Verfertigung von ›Gedankenpoesie‹ erweist sich dabei eher als für den Autor kaum zu bewältigende Hypothek. Mit dem Wort Gottfried Kellers ist hier zweifellos ein ›Gedankenmaler‹ am Werk und verfertigt ›Ideenbilder‹. Je gedankenlastiger jedoch das Werk gerät, um so mehr entraten die Ausdrucksmittel der Überzeugungskraft. Im ›Grünen Heinrich‹ heißt es dazu: »(. . .) man sah es an Heinrichs Bäumen, je geistreicher und gebildeter diese wurden, desto mehr wurden sie grau oder bräunlich, statt grün.«(57) Freilich mißglückt an dieser Stelle das Zusammenwirken zwi-


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schen dem Wort und dem (Denk-)Bild so spektakulär, daß der poetologische Mehrwert, der aus dem ästhetischen Bankrott resultiert, eigentlich nicht unerwartet kommt.


TRIO (in modo maggiore): fugato con spirito quasi una buffoneria

Man kann gleichwohl das Form-Inhalt-Problem unter einer weniger idalisierenden heuristischen Prämisse betrachten. Und da ersteht das Gedicht Mays in einem sonderbar bizarren Licht, das seiner Beiläufigkeit einen – im modernen Sinne – in hohem Maße existentialistischen Charakter verleiht. So einfach nämlich, daß sich ein bedeutungsvoller Inhalt durch die Banalität seiner Erscheinungsform hoffnungslos kompromittiert sieht, ist die Streitfrage (die querelle de l›adaptation) nicht zu entscheiden. Denn bei genauem Hinsehen bestätigen sich Inhalt und formale Perspektivierung des Gedichtes dann doch als überraschend kompatibel – Regression existentiell wie ästhetisch –, dergestalt, daß sich wirklich ein lyrisches Skandalon abzeichnet: im Ansinnen des alternden Weltläufers Old Shatterhand, der sich seiner heroischen Insignien begeben hat, in den Schoß der Mutter zu regredieren, seine Majestät das Ich auf eine rein lustbetonte Mamillenexistenz zurückzumodellieren und diesen Vorgang in Wort und Weise eines Wiegenliedes zu setzen, dessen Verse, gegen den Strich gebürstet, in ihrem stammelnden Duktus das Verstummen durchscheinen lassen. Eine durchaus surrealistische Form der poésie pure: mit dem Wiegen geht es so glatt auch nicht mehr. Erschütternd, wie hier im hilflosen Zerreimen der Form sich Entropie des Denkens wie des Sprechens bemächtigt. Es ist die gleiche Entropie der Sprache, die zwei Jahre später (1902) in der Klage des Lord Chandos über die Unmöglichkeit, die Sprache des Herzens(58) in ein ihr adäquates Idiom zu dolmetschen, ihre epistolarische Definition gefunden hat. Doch weit entfernt von solcher kritischen Selbstdiagnose, daß »die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre (. . .), eine Sprache (ist), von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist (. . .), und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde«,(59) weiß die poetische ›Autorität‹ Karl Mays unter ähnlichen Voraussetzungen in ihrer Mitteilungsnot sich allenfalls in einem Akt der Selbstentmündigung auf die Mittlerdienste der Mutter zu berufen: Geht sie dereinst in Gottes Himmel ein, / Wird sie mein Engel, o mein Engel sein. Das ist nun eine Wiedergängerbeschwörung, deren zombiehaften Schrecken nur der begreift, der sich das Elend (sagen wir: das Hor-


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rorkabinett eines semantischen huis clos) vergegenwärtigt, in dem die ›Sprache des Herzens‹ einen ›hygienischen‹(60) Terror des wahnhaften Surrogats produziert und sich aus dem Bild der Mutter das Gespenst des Engels in eben den Worten ›klont‹, »deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelche Urteile an den Tag zu geben, (die ihr aber) im Mund wie moderige Pilze (zerfallen).«(61) Man wird das Gedicht Mays als Hilferuf, den weniger der Autor als die Sprache an sich in ihrer autistischen Verfassung nach einem Dolmetscher artikuliert, in Überblendung jenes epochalen Hofmannsthal-Textes lesen müssen. Insofern entziehen sich diese Verse jeder Parodie, sie sind so humor- wie ironielos: widerständig gegen jegliche satirische Keßheit und darin eben schrecklich, von so terroristischem Duktus wie wiedergängerischer Ambivalenz.

   Denn zu allem: die ›Sprache des Herzens‹, die scheinbar so unbefangen das Feld eines abgetakelten lyrischen Jargons bestellt, findet sich ›kontrafaktorisch‹ unterlaufen und überhöht in der anagrammatischen Verfassung des Gedichtes, in der ein Grabensystem spektakulärer Subthematiken angelegt ist. Man betritt hier das metasprachlich verminte Terrain jenes ›Subtextes‹, der jedem literarischen Werk auf der Ebene der unterschiedlichen Assoziationsfelder einzelner Wörter eingeschrieben ist. Die daraus sich ergebenden Makro- oder Mikrostrukturen – sie reichen von das Werk durchziehenden Metaphernketten und Leitmotiven bis zu den Spurenelementen feinsten idiomatischen Aromas – dürften im feinmaschigen Netz anagrammatischer Textanalyse mit Sicherheit aufgefangen werden. Mit anderen Worten, um sich der zitierten Meeresmetapher zu bedienen: in dieser Perspektive werden Wortgestalten von unten lebendig, unterhalb der Oberflächentextur, bei der – verglichen mit der Meeresoberfläche – ja Bewegung und Stillstand für den Betrachter oft in ein schwebendes Gleichgewicht übergehen; denn obwohl die Wasserfläche sich ständig verändert, hat man den Eindruck einer ruhigen Konstanz, die sich allerdings nicht berechnen läßt. Die Behauptung sei gewagt, daß Anagramme die ›Schlüsselwörter des Lebens‹ enttarnen, die in den Sätzen von tückischer Einfachheit dieser pseudokindlichen Reime sich verstecken. Inwiefern? Anagrammgedichte rekrutieren sich aus Gedichtversen, deren Letternbestand permutativ zu immer wieder neuen Verszeilen zusammengefügt wird. In der Folge entstehen Texte, die Zeile für Zeile ausschließlich (und vollständig) jene Buchstaben enthalten müssen, welche die Ausgangsfassung vorgibt.

   Solche Spielereien – und der Akzent liegt auf Spiel – sind nicht ohne hintergründigen Reiz: gerade weil Anagramme nur auf Schriftebene


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funktionieren, wo sie – oberfächlich wie alle chiffrierten Texte – Kommunikation nicht herstellen, sondern verhindern, indem sie Bedeutung nicht übermitteln, vielmehr sie überhaupt erst hervorbringen. Was sie für die Deutung des vorliegenden May-Gedichtes so interessant macht, ist, daß sie keinen Sinn haben, kraft ihrer Sinnleere aber immer wieder andere Sinnbildungen ermöglichen und diese Sinnbildungen letztlich dem Eigensinn des Lesers überantworten, der im Falle des Anagramms eben auch der Autor ist – ein solcher allerdings allenfalls in Parenthese, denn er erschließt sie ja lediglich kombinatorisch anhand der vorgegebenen Wörter oder Sätze, praktiziert damit bloß eine aktive Spielart der Lektüre. Spiel ist im Zusammenhang mit Anagrammbildungen notorisch – wie trotzdem damit die Wahrheitsfindung befaßt werden kann, darauf soll im folgenden noch kurz eingegangen werden. In seiner gleichsam defizitären Erscheinung als ›thematisches Wort‹ ist das Anagramm schon oft beschrieben worden. Dabei hat man – wie gesagt – zu berücksichtigen, daß die Sprache nicht eigentlich dem Bewußtsein als entscheidender Eigenschaft der Gattung Mensch, sondern der unbewußten Denkfähigkeit eine einzigartige Durchschlagskraft verleiht. Als Beleg dafür läßt sich auf die Wirkung des Anagramms verweisen, das als doppelte, verschlüsselte Botschaft des Textes hinter dessen Kulisse auf der lautlichen wie inhaltlichen Ebene agiert. Es ist Ferdinand de Saussure, der in seinen 1906–09 durchgeführten Untersuchungen zur Phänomenologie der Anagramme am Beispiel griechischer und lateinischer Dichtung diese auf thematische Motive reduziert hat. Dichterische Rede »(sei) ganz und gar von einem lautlichen Ziel beherrscht«,(62) oder wie Jean Starobinski formuliert: »Der Dichter setzt bei der Komposition des Verses das Lautmaterial ins Werk, das von einem thematischen Wort bereitgestellt wird (. . .) Ein Vers – oder mehrere – anagrammatisieren ein einziges Wort, (. . .) indem sie sich bemühen, vor allem seine ›Vokalfolge‹ wiederzugeben.«(63) Das widerspricht der herkömmlichen Auffassung des Anagramms, indem nur Teile eines Textes, einzelne Phoneme als Elemente des Anagramms figurieren und – wie im Falle des Mayschen Gedichtes – der Vers nichts anderes als den phonetischen Träger eines Anagrammes abgibt, bloßer Lautkörper auf dem Fundament eines ›thematischen Wortes‹. Es ist nun nicht besonders schwierig – zumal hier auf eine vollständige und strenge Anagrammierung des Gedichtes mit Rücksicht auf den Rahmen dieser Betrachtung verzichtet werden muß –, solche anagrammatischen Konstellationen in den Versen Mays nachzuweisen – ja das anagrammatische Spiel mit ihren Schlüsselwörtern gibt den Blick frei auf ›kontrafaktorische‹ Gebilde, die sich an prominenter Stelle zur Erscheinung bringen lassen: etwa im entscheidenden ersten Vers. Machen wir die Probe:


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Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;

anagrammiert:

In Flaschenbauch, ei, rett’ in Meersturm.

Daß diese anagrammatische Variante des Verses zu dessen Ausgangsform, was den metaphorischen Gehalt betrifft, in bezeichnender Konjunktion steht, bedarf mit Blick auf die vorangegangen Ausführungen eigentlich nicht der ausführlichen Erläuterung. Der Befund spricht für sich selbst. Hinter der Pathosformel des an der Mutterbrust schlafenden Kindes öffnet sich der Prospekt des stürmischen Meeres, der Lebenszeit, in die beständig Schiffbrüche zu interferieren drohen, und erscheint gleichzeitig vieldeutig der Verweis auf die Rettung: das Bild der ›Flasche‹ (Anagramm zu schlafe) assoziiert die bergende, nährende Mutterbrust, die jene Tranksame verheißt, deren der Säugling später aus der ›Flasche‹ teilhaftig wird; ›Flaschenbauch‹ hingegen sowohl die rettende Flaschenpost wie auch die Endstation Sehnsucht jenes regressus ad uterum, einen paradiesisch intrauterinen Zustand, den das Gedicht so ausführlich apostrophiert. Der anagrammierte Vers betreibt zu allem – als wollte er schalkhaft das Eulenspiegelhafte des Verfahrens denunzieren – Camouflage mit dem ›Als ob‹ der Kindersprache: unkorrekte Kasusrektion: ›in Flaschenbauch‹, ›in Meersturm‹, Synalöphe: ›rett’ in‹ und die forcierte Interjektion ›ei‹ bietet er dazu auf. Aber auch signifikante Teile des Verses lassen sich unter den gleichsam eidetischen Einfluß des Anagramms setzen und stellen votivtafelartig das Bild der im Sturm rettenden Mutter aus. Etwa:

. . . meiner Mutter Brust

anagrammiert in

›Retter’n beim Sturm‹

oder erweitert um an

an meiner Mutter Brust
›Neu: Mab, Sturmretterin!‹

in Form einer saloppen Annonce also und Kotau vor der englischen Feenkönigin, die hier gleichsam als Therapeutin, für die seelischen Komplikationen auch deutscher Heroen zuständig, gemanagt wird. Wie überhaupt Mab und Marah (Durimeh) sich in diesem Vers über ein Jahrhundert hin begrüßen. Beide lassen sich anagrammatisch aus ihm ableiten und mit weiteren Anagrammata kontrastieren, deren syllabische Verklammerung über die Strophen hin eine semantische Parastruktur bildet, die der Aussage des Gedichtes, in wunderlicher Weise


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komplementär, assistiert. Mab oder Marah im ersten Vers erfahren ihre Entsprechung in der Frage: ›n Engel, wo?‹ aus (selge) Wonne im zweiten Vers anagrammiert; worauf im dritten – wenn man den die Stelle liturgisch einfärbenden lateinischen Imperativ konzediert(64) – der Hinweis folgt: ›ito, Retterin muß‹ aus Mutter . . . ist so rein; und der vierte die – wiederum fremdsprachlich gesprenkelte – Lösung bringt:

›Lies: ici w’ ewi’ Himmelrauch-Sound sein.‹

anagrammiert aus:

Und ich will so wie sie auch immer sein.

Dabei bleiben die anagramatischen Strukturen beileibe nicht eine reine Letternangelegenheit, sie lassen sich auch phonetisch assoziieren, was bei dieser Art von Lyrik, die so von der Emphase der Anapher, geminatio und invocatio, der Assonanz und vielfältiger laut-metathetischer Spielerein lebt, allerdings nicht verwundert.

   So können als anagrammatisch Schlüsselwörter der vier Verse der ersten Strophe leicht gefunden und aufeinander bezogen werden:

1. Vers:     Retterin     Sturm
2. Vers:     Wo(g)e     En(g)el(65)
    – in chiastischer Stellung –
3. Vers:     Retterin     Mord
4. Vers:     Himmel     Rauch
oder auch nur:         Himmel:
je nachdem, wie man die Kombination dieser Sememaphore in Vers 1-3 als Programm auswerten will. Für die zweite Strophe ergibt sich als Schlüsselwort – klanglich sehr suggesitv – im
3. Vers:     Bi(b)el
aus     lieb,
so man denn, etwas gewagt, b als Wortachse nimmt und es verdoppelt, und im
4. Vers:     walle!

In der anagrammatischen Verkleidung der ersten Strophe fällt auf, daß in ›Engel‹ und ›Himmel‹ sich die Epigrammatik der beiden Schlußverse des Gedichtes schon affirmativ ankündigt, desgleichen die Funktion der Mutter als ›Retterin‹. Schauplatz der Rettung an meiner Mutter Brust ist der ›Meersturm‹, ihr Ziel der ›Himmel‹; wobei diese Begriffe – worauf schon hingewiesen wurde – in ihrer metaphorischen Überblendung semantisch eine starke metasprachliche Verklammerung des Textes bedeuten. Aus den Nöten des ›Meersturmes‹ führt der ›Engel‹ als


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›Retterin‹ in den ›Himmel‹(66) – eine ›Wall‹fahrt, die sich der ›Bibel‹ verdankt, welcher Begriff sich, rein zahlenmäßig gesehen, genau in der Mitte des zwölfzeiligen Gedichts anagrammatisch verbirgt. Im Grunde sagt die erste Strophe bereits alles, die zweite und dritte sind – bis auf den auffällig epigrammatischen Schluß (vgl. auch Anm. 37) – nur liedhafte Doubletten; so interessiert vor allem, wie sich in anagrammatischer Umsetzung diese erste Strophe ausnehmen würde; gemäß unseres obigen Versuches folgendermaßen:

›In Flaschenbauch, ei, rett’ in
        Meersturm!‹
›’N Engel? Wo?‹
›Ito, Retterin muß
- Lies! – ici w’ ewi’ Himmelrauch-
        Sound sein.‹
Ich schlafe ein an meiner Mutter
        Brust;
(selge) Wonne!
Mutter . . . so rein,
Und ich will so wie sie auch immer
        sein.

Der Monolog des Kindes entpuppt sich als ein ausgesprochen absurd anmutender Dialog. Jedoch, man echauffiere sich nicht über die Tendenz zu nonsense verses: kommentiert nicht ein Vers wie ›Retterin muß – Lies! – ici w’ ewi’ ( = hier wie ewich) Himmelrauch-Sound sein‹ den Inhalt des Originals sehr verräterisch – als ob der Dichter ›subkutan‹ das Illusionäre seiner Vorstellungswelt annoncieren wollte. Und ist nicht viel realitätstreffender als die geflickte Anmaßung geborgter lyrischer Couture das Kindersprachliche dieses Textes? bei dessen ›Himmelrauch-Sound‹ man den Eindruck hat, es ver›rauche‹ die Sprache, indem sie allen Automatismen und Regelhafigkeiten ihres Gebrauchs entflieht; indem sie immer nur das ausspricht, was sie nicht bedeutet und was kein Autor auszusprechen vermöchte – den reinen (man könnte auch sagen poetischen) Nonsense, der freilich in seiner ›Offenheit‹ der »Sprache des Herzens«, wo sie »hinter den Formeln und Wendungen der poetischen Überlieferung« zu verschwinden droht, eine so diaphane Qualität verleiht, daß sie als CD einer in mythische Metaphern zielenden Biographie spielbar gemacht werden kann. Soweit eine poetologische Diatribe, die aber nicht Ironie induzieren soll und kann, wo das Leitermaterial dafür nicht geeignet ist.


Andante malinconico (in modo minore)

Das ereignet sich in diesem Gedicht: eine formale Regression, die nicht durch Ironie gerettet sein will, sich jeglicher parodistischen Chuzpe, mit der Morgenstern oder der ›schlesische Schwan‹ die Gattung Lyrik reflektieren, versagt: die eigentlich nur das reine Sprechen – das Verdich-


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ten reinen Gefühls – einfordert: gesagt sein soll, was ist: unmißverständlich! So sehen wir den Autor am Werk. ›Poetik‹ wird hier zur ›Poethik‹, die Trivialität der Formel außer Kraft gesetzt, dadurch daß die Funktion des Autors sich zugunsten des selbstredenden Wortes schwächt, das sich von seiner konventionellen Bedeutung und damit vom Zwang, etwas Bestimmtes, außerhalb seiner selbst Liegendes benennen zu müssen, weitgehend emanzipiert hat. »(. . .) man muß weiterreden, man muß Wörter sagen, solange es welche gibt; man muß sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mich sagen – befremdende Mühe, befremdendes Versagen«(67) – Oder wie es Beckett an anderer Stelle formuliert:

(. . .)kein Geben, kein Wort
kein Sinn, keine Not
durch den Feim
hinab, ein kleines Stück,
dahin, woher ein Schimmer
von jenem Quellpunkt.(68)

Eindeutigkeit steht im Verhältnis der Idiosynkrasie. Äußerster Subjektivismus diktiert eine Fülle von Lesarten, die im focus des Ichs konvergieren. Diese formale Regression, die sich aus dem reinen Gefühl speist, spielt (avant la lettre) mit der Idee der minimal art und der poésie pure: will nur entobjektivierter Sinn sein und macht in diesem Sinne die Form zum Spiegel einer autopoetischen Existenz. Zurück zu den Müttern! Unter diesem Imperativ vollzieht sich die Jahrhundertwende, vollzieht sich – und das verleiht ihr symbolisch einen epochalen Rang – die Peripetie in Mays schriftstellerischer Existenz, in der ein Zerrbild europäischen Großschriftstellertums zu sehen, gleichzeitig heißt, die übermächtige Symbolik des Dorian-Gray-Motives, aus der dieses Gedicht erwächst, nicht nur für die künstlerische Existenz des Dix-neuvième anzuerkennen (darüber weiter unten noch ein Wort!). Was von den Müttern ausgegangen ist: von der Hades-Fahrt Fausts, der Parusie(69) der großen Mutter Queen Mab und dem kosmischen Ausflug der ›Menschheitsseele‹ Janthe, was schon beim Melancholiker Justinus Kerner (1836) in der Abwahl jener auf aufklärerische Lumineszenzwirkung setzenden väterlichen Ausleuchtung der Welt zugunsten einer Menschheitsdämmerung endet, die ihre mystische Erhellung aus dem Glanz der mütterlichen Nacht empfängt, das kehrt am Ende des Jahrhunderts in den Umkreis matriarchaler Opaleszenz zurück: und findet in der Demontage des erborgten Heldenmythos eines Dioskurenpaares, in dem sich das Jahrhundert eigene uneingestandene, weil illegitime Sehnsüchte erfüllt hat, seinen Abgesang: in den Berceusen für Old Shatterhand und Peer Gynt. Sie sind inhaltlich fast identisch – bis auf die Perspekti-


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ve: was das Ich ›nur‹ behauptet, wird dem »teuerste(n) Junge(n)« gewährt. Die Gedichte Kerners (1836) und Ibsens (1867) lohnen die vergleichende Gegenüberstellung:(70)

Henrik Ibsen:(71)Justinus Kerner:(72)
   Schlaf denn, teuerster Junge mein!
Ich wiege Dich und ich wache. –    Auf meinem Schoß hat mein Junge gescherzt,
Hat ihn seine Mutter ein Lebtag geherzt.
   An Mutters Brust hat mein Junge geruht,
Sein Lebtag. Gott segne Dich, mein einzigstes Gut!
   An meinem Herzen zunächst war sein Platz,
Sein Lebtag. Jetzt ist er so müd›, mein Schatz.
   Schlaf denn, teuerster Junge mein!
Ich wiege Dich und ich wache!
Zur Ruh›, zur Ruh›,
Ihr müden Glieder!
Schließt fest euch zu,
Ihr Augenlieder!
Ich bin allein,
Fort ist die Erde;
Nacht muß es sein,
Daß Licht mir werde.


Karl May:
Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Die Mutter ist so fromm; sie ist so rein,
Und ich will so wie sie auch immer sein!
O führt mich ganz,
Ihr innern Mächte!
Hin zu dem Glanz
Der tiefsten Nächte.
Fort aus dem Raum
Der Erdenschmerzen,
Durch Nacht und Traum
Zum Mutterherzen!

Hier inszeniert sich mehrstimmig das andere Jahrhundertbild, das, je herrischer sich der Mensch in der Beletage gebärdete – vor allem, wenn er sich, wie das bei einem Großteil des Bürgertums der Fall war, als Parvenu in sie einkaufte –, um so intensiver die fraulichen Züge auf dem Estrich bewahrte. Die Zerstörung des Bildes, die Tilgung jeder Form von männlicher Idolatrie, diese Form des Ikonoklasmus wirft den alten Mann Karl May, der sich im Bild vergöttlicht hat, auf die Regressionsstufe einer Säuglingsexistenz zurück. Auch formal belegt das Gedicht diesen Vorgang höchst eindrücklich.


Cadenza ermeneutica: pezzo lusinghiero

Auf den Spuren strukturalistischer Verfahrensweise haben wir uns mit dem Gedicht Mays auf einen sprachexperimentellen Umgang eingelassen, dessen operationelle Verfahrensweise von nicht zu übersehendem heuristischem Ertrag ist; freilich im Bewußtsein, daß es jede Annäherung an (sprachliche) Kunstwerke vorab mit der gehörigen interpretatorischen Skepsis aufzurüsten gilt. Soweit mag diese kurze Betrachtung, was man auch von ihr hält, doch einleuchten, daß es gilt, das Licht des hermeneutischen Eros aus verschiedenen Blickwinkeln und durch ver-


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schiedene Linsen auf den Gegenstand der interpretatorischen Begierde fallen zu lassen. Auch aus diesen bescheidenen Versen Mays erhellt, was Heinrich Wölfflin für das Kunstwerk postuliert,(73) daß es dem Menschen ein Analogon sein müsse und daß, wer ihm gerecht werden wolle, es in der Summe seiner Aspekte zu erfassen habe. Dazu erweise es sich als notwendig, denjenigen Standpunkt zu finden, der dem Werk adäquat ist; erforderlich somit, das jeweilige »Organ« für die bestimmte Formierung »zu entwickeln«,(74) was ermögliche, in das Wesen eines zunächst befremdlichen Artefakts Einblick zu bekommen. Dazu hätten sich eben »die Wertbegriffe in einer Weise sublimiert, daß von der alten europäischen Schulästhetik nicht mehr viel übriggeblieben ist.«(75) Methodisch wird hier bereits ein Dekonstruktivismus eingeklagt, der, wenn er die Sublimation ästhetischer Wertbegriffe nicht zur völligen Auflösung geführt, so doch deren Mutation zu hermeneutischem Spielzeug zu verantworten hat. Mit einiger Dreistigkeit bezieht gerade auch das oben vorexerzierte anagrammatische Verfahren aus der Definition der ›Wahrheit als Spiel‹ seine Legitimation, womit man sich unversehens auf Wittgensteins ›Sprachspiel‹ verwiesen sieht, wonach ›die Sprache den Gedanken verkleidet‹ (Tractatus Logico-Philosophicus 4.002) und sich außerhalb ihrer ohnehin keine Wahrheit verorten läßt. »Der ganze Verstehensprozeß, der immer neue Anwendung hervorruft, ist die unendliche Darstellung neuer Sinngehalte, d. h. schöpferische Produktion und mithin Wahrheitsgeschehen.«(76) Das erkennende Subjekt wird aus dem Geschehen zwar nicht eliminiert, aber als einziger ›Garant‹ der Sinnstiftung hat es längst ausgedient. Auf das Gedicht Karl Mays angewendet, zeitigt eine solche multilaterale Perspektivierung bemerkenswerte hermeneutische Folgen: nämlich eine Art Relativitätstheorie der Sinnpotenzen. Hier liegt eher eine erhöhte Gefahr als eine Erleichterung für den Interpreten, der – auch das lehrt der Umgang mit dem vorliegenden Gedicht –, um den notwendigen strukturellen Gestus zu finden, sich geduldiger Materialsuche und subtilster Ausleuchtung z. B. des lyrischen Inventars eines Textes zu befleißigen hat, will er nicht einem interpretatorischen Border-Line-Syndrom verfallen. Sich in die hierarchischen Bastionen irgendeines Kanons zu retirieren, diskreditiert das hermeneutische Geschäft vollends. Vielmehr gilt es, Interpretation als das Finden eines ›Spiel‹raumes zu praktizieren, der dem Werk angehört und in der Erfahrung seine ›Freiheit‹ darstellt: ohne das allmähliche Aushöhlen des Subjektbegriffes und die verheerende Auflösung eines minimalen magisch-mythischen Bezugs zwischen Wort und Ding.

*


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Eben, auf die Perspektive kommt es an, auf die Stellung, die man zum Gedicht als ›gemalter Fensterscheibe‹ einnimmt, auf die Richtung, aus der man Licht darauf fallen läßt: auf das kontextuelle Moment. – Wie das gemeint ist, hat Wolf-Dieter Bach höchst pointiert in einem Aufsatz über Muttergedichte Hesses und Mays vorgeführt, wo er unter anderem auch prinzipiell mit der Kommodifizierung und Konsumation unbequemer Aspekte in der Beschäftigung mit dem îuvre des ›Volksschriftstellers‹ abrechnet.(77) Bequemt man sich dazu, die literarische Optik im Umgang mit den ›gemalten Fensterscheiben‹ neu zu justieren, erweist sich der billige Tand plötzlich scharfblitzend als geschliffenes Gestein, und »Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle«.(78) Die Banalität wird zur Bombe. Die Absurdität, daß in Umkrempelung der topologischen Muster nicht die Mutter, daß das Kind die Berceuse singt, ein zum Säugling geschrumpfter Heros: Old Shatterhand zu allem, gewinnt eine bedrohliche Plausibilität. Man kann die etablierte Literaturkritik gut verstehen, wenn sie weniger aus Blasiertheit denn aus Selbstschutz die Beschäftigung mit solchen ›Machwerken‹(79) als Zumutung ablehnte. Denn die Trivialität, einmal in das Nest des herkömmlichen ästhetischen ›Konventionalismus‹ geschmuggelt, entfaltet dort die Wirkung eines Kuckuckseis, die zu domestizieren ihm nicht gelingen kann. Lange hatte man sich Ästhetik als Palliativ verschrieben, um die Fratze nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, sich Herrn May als lyrischen Dichter verbitten zu dürfen; was bedeutete, möglichst schnell einen Spiegel zu verhängen, der im Zerrbild, in der Karikatur des Großschriftstellers Dr. Karl May der literarischen Zunft eine Röntgenanalyse ihres eigenen Portraits lieferte: sich einer ›Dorian-Gray‹-Erfahrung zu stellen, war man damals – im fin de siècle des Dix-neuvième – wohl so wenig willens wie überhaupt fähig. In diesem trivialen Produkt nämlich demaskiert sich eine als unerheblich disqualifizierte Poetenhirnerweichung als Demontage eines Jahrhundertmythos: wo es dem Zeitgenossen Oscar Wilde um den Amoralismus des Dandy geht, zerbricht im Gedicht Mays der Mythos vom imperialen Mannsbild: beides Männlichkeitsphantasmen des 19. Jahrhunderts. So exzentrisch, »unter einem beruhigenden und anerkannten Gesichtswinkel, dem ästhetischen nämlich,«(80) gerückt, der Anblick bei Oscar Wilde wirkt, so kurios bei May; eine Kuriosität, die, aus den ideologischen Konstruktionen des ›Poetenlebens‹ befreit, die Wirkung ästhetischer Urteile als Produktionsquelle anästhesierender Phantasmagorien entlarvt, hinter denen die Albträume lauern: der Geist, der »gebrochen ins Mütterliche«(81) zurückkehrt, die »Selbstentfremdung« in Form der »Demenz«.(82) Caput XLVII des ›Doktor Faustus‹ richtet dazu die Szene. Die Wahrheit, solange es


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»anging, sie als Poesie zu betrachten«,(83) führt eine sonderbare Palimpsest-Existenz, die das Werk Mays und – in auffallender Dioskurenanalogie – Nietzsches in ein beunruhigend changierendes Licht rückt. Auch des letzteren (Männer-)Schicksal findet seine Repräsentation in Emblemen, die endlich mütterliche Abhängigkeit besiegeln; gewinnt seine Leistungen aus dem lebenslangen Widerspruch zum Mütterlichen, dem es entwächst und in dem es versinkt. Am Anfang stehen Mutter und Sohn während eines Spazierganges »Arm in Arm, umleuchtet von den grellsten Blitzen« eines Gewitters, das sie auf dem Nachhauseweg überrascht, imaginiert sich in einem Brief an die Schwester(84) der Sohn als ›Held‹, am Ende »(hat) die Liebe der Mutter bei Professor Nietzsche der Krankheit die Spitze abgebrochen, (. . .) auch das viele Spazierengehen (. . .) das ›Wildsein‹, welches sonst bei einem derartigen Leiden so besonders auftr(itt), gemildert und der Krankheit die Kraft genommen.«(85) Es bedarf keiner besonderen Phantasie, sich auszumalen, welche Existenzvernichtung hier im Triumph der ›Mutterliebe‹ über das ›Wildsein derartiger Leiden‹ aufgehoben ist.

   Als ›Kontrafaktur‹ zum philosophischen Höhenflug spannt sich bei diesem vom »Ich bete dich an, mein liebes Mutterchen«(86) aus dem Jahre des Zusammenbruchs der Bogen zum

Noch schöner wird's im Himmel sein,
Du liebes Mütterlein!(87)

aus dem Jahre 1860. Dazwischen findet sich 1882, dem Jahr der Entstehung des ›Zarathustra‹, eine Kreuzungsstelle, die das philosophische îuvre im poetischen bedenklich reflektiert:

Schiefe Sprüchlein voller Eile,
Trunkne Wörtlein, wie sich's drängt!
Bis ihr Alle, Zeil’ an Zeile
An der Tiktak-Kette hängt.(88)

Die Bumerangwirkung dieser Verse, das eigene Werk betreffend, ist in Rechnung zu stellen. Darüber hinaus sind sie eine selten treffliche Anweisung, den lyrischen Abgesang des nahezu sechzigjährigen ›Literatur-Machos‹ May im Jahre 1900 zu deuten. Ästhetisch gesehen ein vom Klischee korrumpierter ›Tiktak‹, wird er metaphorisch zu einem existentiellen Gong: der die Demontage des patriarchalischen Gottesbildes begleitet. Gleichzeitig läßt sich das ›kuriose‹ Gedicht als eine Geschichte des Männlichkeitswahnes im neunzehnten Jahrhundert à rebours lesen: als Antwort auf ein Werk, in dem die Angst vor dem Chaos ›chtonischer‹, mütterlicher Kräfte in hypertrophen Vorstellungen von


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Männlichkeit Gestalt gewinnt. Zu deren Revision liefert schon die ›Surehand‹-Trilogie (1894-96) in ihren unverhüllt autobiographischen Digressionen propädeutisches Anschauungsmaterial. Und das Gedicht aus der Sammlung der ›Himmelsgedanken‹ affektuiert sozusagen wörtlich nochmals, was die Confessiones des Romans mit ihrem auffälligen Rekurs auf Zarathustra(89) als Anti-Nietzsche Gestalt werden lassen: »Ich war der Liebling meiner Großmutter, welche im Alter von sechsundneunzig Jahren starb; sie lebte in Gott, leitete mich zu ihm und hielt mich bei ihm fest. Das war ein wunderbarer, seliger Kinderglaube, voll hingebender Liebe und Vertrauen . . . Mein Kinderglaube ist also durch zahlreiche Prüfungen gegangen; er hat sich in ihnen voll bewährt und wohnt mir darum doppelt unerschütterlich im Herzen.«(90) Mühelos läßt sich vom Bild der Großmutter als Pause jenes der Mutter abheben und die räsonierend gleichsam erkenntnistheoretische Geste hier in die lyrische dort überführen.


quasi una coda: da capo al fine ma un poco più presto

Blicken wir zurück: Wiegenlieder sind weibliche ›Rollentexte‹ und als solche per se eine Kritik der Frau an der vom Mann geschaffenen Welt: eine Rückführung auf die mütterlichen Quellen: so auch hier, wo sich May als Beschwörer des Muttertums einführt, das »inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird«(91), mit einem Wort D. H. Lawrences, als »Friede der Seelen«. – Ihm verdankt sich dieses Gedicht, wenn auch als ›Antiberceuse‹: denn das Kuriose, in gewissem Sinne Einzigartige an diesem Wiegenliede liegt im Rollentausch von Mutter und Kind; da singt das in den Schlaf zu Singende etwas, was ihm offenbar nicht an der Wiege gesungen worden ist; malt sich eine Mutterliebe aus, die, wie man Anlaß zu vermuten hat, dem Kind Karl May – trotz der Selbsttäuschung, der der alte Dichter in seiner Autobiographie anhängt – vorenthalten worden und in den knabenhaften Sehnsüchten der Männer offenbar immer wieder den gleichen Mustern verpflichtet ist: »Paul schlief gern bei seiner Mutter. Trotz aller Gesundheitslehren ist der Schlaf noch immer am tiefsten, der mit einem geliebten Wesen geteilt wird. Die Wärme, die Sicherheit und der Friede der Seelen, die Behaglichkeit, die aus der Berührung mit dem anderen entsteht, knüpft den Schlaf, so daß er Leib und Seele vollständig in seine heilende Kraft einschließt. Paul lag dicht neben ihr und schlief, und ihm wurde besser; während sie, die nie gut hatte schlafen können, später in tiefen Schlaf


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fiel, der ihr neues Vertrauen zu spenden schien.«(92) Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust; das Wiegenlied, ein Therapeutikum, ist wohl in seiner ursprünglichsten Form als wunderbar verwandelnde, als ›Wunderhorn‹-Lyrik zu denken:

Höre, mein Kindchen, was will ich dir singen,
Äpfel und Birnen soll Vater mitbringen,
Pflaumen, Rosinen und Feigen,
Mein Kindchen soll schlafen und schweigen.(93)

Gerade das aber tut es nicht; vielmehr spricht der Gewiegte, nicht die Wiegende; das Gedicht gerät zum Lebensrückblick, erwächst aus einer Allegria di naufragi und enthüllt dieses Leben als einen Akt der Suche, auf die verlorene Mutterliebe gerichtet, jene Lust, die – nach Nietzsche – Ewigkeit will, den Ewigkeitsaugenblick des mütterlichen Kusses, dessen Ermangelung in der Schilderung Prousts(94) zum säkularen Trauma überhöht wird. Das 19. Jahrhundert – in einem Anflug von Masochismus – scheint süchtig danach, und hinter der eisernen Maske der industriellen Heroen, jener Männer ohne Materialfehler, die sich an den Problemen dieser Zeit abarbeiten und wie die Mayschen Helden nicht durch das überzeugen, was menschlich ist, sondern menschenähnlich durch das werden, was sie als Fachmann tun, spukt die Urangst als Marotte der Weinerlichkeit, wird dank einer mythischen Form der Interferenz im Bilde des Sohnes das verdrängte der Mutter sichtbar – denn bei »uns Christen ist es Brauch, wenn sie mit einem Sohne sprechen, zugleich auch an diejenige zu denken, die ihn unter ihrem Herzen getragen hat«(95) – und sondert sich in einem Prozeß psychischer Mineralisation der Gips lyrischer Nippes im Stile Geroks ab, wo die Rückkehr, »gebrochen ins Mütterliche«,

Und nun liegt der Knabe wieder
Wohlig an der Mutter Brust,
Selig blickt sie auf ihn nieder;
Wiedersehn, o Himmelslust!

noch in einen ›Triumphzug‹ umgeschminkt wird:

Großes ist vom Herrn geschehen;
Größeres noch hat er vor:
Seine Wunderwege gehen
Aus dem Licht ins Licht empor.(96)

(Die optische Metapher des »(. . .) ins Licht empor« erfährt im Laufe des fortschrittsüchtigen Jahrhunderts, dem sie als Emblem und Motto


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dient, ihre Umwertung von der Fackel der Revolution, die dem Florestan aus dem de profundis des Kerkers voranleuchtet,(97) zu den elektrischen Riesenkugeln auf hoch emporstrebenden Masten, deren Erlöschen die Apokalypse bedeutet: ein Krach, als ob die ganze Welt untergehen wolle.(98)) – Dagegen der Monolog Mays: die ›lyrische Szene‹ als Jahrhundertspiegel einer gescheiterten Verdrängung. Bankrotterklärung einer Vergangenheitsbewältigung – schon in diesem Terminus treibt Ungereimtheit ihr Unwesen –: ›Mutterliebe‹ heißt eine späte Erzählung Mays, dessen Schaffen im Zeichen des Vaters aufbricht – ›Des Kindes Ruf‹ (auch dies ein Titel bei May) wird erst spät von der Mutter beantwortet – und im Zeichen der Mutter, sich kulturell, den Indianern in diesem Punkte konform, der Gynaikokratie zuwendend, endet:(99) voll ungestillter Ursehnsucht nach dem ›Urlicht‹ – um nochmals die optische Metapher, diesmal aus den ›Wunderhorn‹-Liedern, zu bemühen. »Das Herz bricht auf vor dem Ewig, Ewig, vor dem Urlicht tief innen« (Ernst Bloch über Gustav Mahler(100)), »das wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben.«(101) Bei May selbst findet sich die Beschreibung eines optischen Vorgangs, die in diesem Zusammenhang zur hermeneutischen Metapher von einigem Gewicht gerät und für den Umgang mit diesem Gedicht ein treffendes Gleichnis abgibt, daß an dunklen Abenden Licht aus der Tiefe ihres Inneren, aus der Dunkelheit leuchtet. Sich orientieren heißt in diese Dunkelheit tauchen. Das Wasser hält, grad wie der Diamant, das tagesüber eingesogene Licht noch lange fest; darum kann ein guter Taucher an dunklen Abenden unter Wasser . . . noch besser sehen als über demselben.(102) Dieses Licht, das zu Beginn des Jahrhunderts im nächtlichen Kosmos der Queen Mab aufgeht – »Ein kleines Licht erglomm / In weiter Nebelferne«(103) –, erfährt seine Brechung im Trennungsleiden des Mannes.

Es gab keine Zeit, nur den Raum gab es. Wer konnte sagen, seine Mutter hätte gelebt und lebte nicht mehr? Sie war hier gewesen und war jetzt anderswo. Das war alles. Und seine Seele konnte sie nicht verlassen, wo immer sie auch war. Jetzt war sie eingegangen in die Nacht, und immer noch war er bei ihr. Sie waren zusammen. Aber sein Körper, seine Brust waren doch da, die sich jetzt gegen den Zauntritt lehnten, seine Hände, die auf der Holzstange lagen. Sie waren doch auch etwas. Wo war er? – Ein kleines, aufrechtes Stückchen Fleisch, weniger als eine Weizenähre auf einsamem Felde. Er konnte es nicht ertragen. Von überallher schien das ungeheure, dunkle Schweigen ihn, den so kleinen Funken, auslöschen zu wollen, und doch konnte er, war er fast nichts, nicht ausgelöscht werden. Die Nacht, in die sich alles verlor, reichte weit hinter die Sterne und die Sonne. Sterne und Sonne, ein paar leuchtende Körper, drehten sich angstvoll im Kreise, hielten sich fest umschlungen in dieser Dunkelheit, die viel größer war als sie alle, sie klein und besiegt hinter sich ließ. So groß, und er selbst unendlich klein, im Grund ein Nichts und doch wieder nicht nichts.


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   »Mutter«, wimmerte er, »Mutter!«

   Sie war das einzige, das ihn mitten in allem hielt. Und sie war fort, war eingegangen irgendwohin. Er sehnte sich nach ihrer Berührung, an ihrer Seite wollte er gehen. Doch nein, er wollte nicht nachgeben. Er wandte sich plötzlich um, ging auf das goldene Schimmern der Stadt zu. Seine Fäuste waren geballt, sein Mund fest geschlossen. Er wollte nicht in die Dunkelheit, wollte ihr nicht folgen. Schnell schritt er auf die leise, summende, funkelnde Stadt zu.(104)

Der Mutter, der sich dieser Wanderer zuwendet, ist die »summende, funkelnde Stadt«, »eine herrliche Stadt (,wo) zur Zeit der ersten Menschen das Paradies (stand)«(105) und deren Magie die Vereinnahmung wie die Vereinsamung androht: jene Isolation bringt für seine Zeit symbolisch das venezianische Gondellied des großen Mutterfernen zum Aufleuchten, Echo der Todessehnsucht, die ›Des Baches Wiegenlied‹ dem Müllergesellen im »Himmel da oben (. . .) so weit« erfüllt, und dem am Rande des Verstummens die hilflosen Verse Mays im Gestammel eines nicht bewältigten Metrums die Appogiaturen gebrochener Appetenz liefern. – Seele als Saitenspiel »Hörte Jemand ihr zu? . . .« »Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht?«(106) – Eben, daß alle Lust ›tiefe, tiefe Ewigkeit will‹! Auch hier wieder erweist sich das Maysche Gedicht als verstörende depravata imitatio poetae.


Stretta patetica (nello stesso modo)

Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß Mary Wollstonecraft Shelley unter dem Einfluß ihres Gatten jene Figur geschaffen hat, die repräsentativ geblieben ist für die letzte Konsequenz des ›männlichen‹ Geistes – prometheisch oder faustisch, wie man will: jenen zum gefährlichen Roboter und Unhold ausgewachsenen Homunculus, der seinen Schöpfer Frankenstein in den Eiswüsten der Arktis zerstört. Wir können nur erahnen, was dem neunundfünfzigjährigen May auf seiner anderthalbjährigen Orientreise in den Gewässern Sumatras widerfahren ist; daß er an den Geschöpfen seiner Phantasie, den Heldenphantomen, die er in die Wirklichkeit gefordert hatte, zu zerbrechen drohte, erdrückt von den Versatzstücken seiner Inszenierungen, dafür legt dieses Gedicht, das das Programm für den Konkurs und die Annihilierung der bisherigen Schriftstellerexistenz umreißt, beredt Zeugnis ab; Zeugnis einer Existenzkrise, die in der Dekonstruktion und ›Derealisierung‹ der eigenen Biographie und ihrer Produkte einer persönlichen und kollektiven Idolatrie gipfelt und in der Passivität an der Mutterbrust endet: in der Paralyse, dem Durchgangsstadium zum Tode – so stellt ›Des Kindes Seligkeit‹ auch Ausdruck der Sehnsucht nach Selbstvernichtung dar. Man


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muß das auf dem Hintergrund der romantischen Todessehnsucht sehen: und May ist – trotz allen realistischen Dekors – Romantiker, und wie jeder Romantiker – so Carl Schmitt in seiner ›Politischen Romantik‹ – bietet er »Beispiele anarchistischen Selbstgefühls« – »dient alles, Gesellschaft und Geschichte, Weltall und Menschheit, nur der Produktivität (dieses seinen) romantischen Ich«, in dem »die substantielle Wirklichkeit überwunden (war)«(107) –, ist er »promisk« und »feminin«, d. h. im Grunde zugunsten eines umstandfreien, antiadverbiellen Fluktuierens jeder Ritualisierung abhold. Das Gedicht formuliert diese Selbstauflösung einer Existenz in ärgerlich banaler Form, indem es die Formel des »selig scheint es in sich selbst«(108) nicht als Chiffre für Schönheit, sondern allein für die schmähliche Zersetzung des aktiven Geistes konnotiert: nichts anderes als Aschenbachs Skandalon erscheint hier um ein Jahrzehnt vorweggenommen.

   Auf Adverbien – das eine auffällige Äußerlichkeit – wird, wie um die Passivierung zu unterstreichen, in diesem Text gänzlich verzichtet. Man muß nicht May zum Partisan moderner Lyrik promovieren, aber gerade in diesem Gedicht vollzieht sich jene – von den Symbolisten zum Programm erhobene – Regression ins selbstreferentielle Lallen. Was bleibt, ist allein die Erfahrung des Schmerzes: das Sagen, was mir wehe thut. »Zu sagen, wie ich leide (. . .)«(109) – das hat etwas mit Tassos Gang in die Depravation der Persönlichkeit zu tun. Physisch-Physiognomisches erscheint da auf zunächst mirakulöse Weise sprachlich kongruent umgesetzt. Das Mirakel erklärt sich, wenn man mit Eco den Gebrauch des Adverbs als Schibboleth des Dichters konzediert, daß dieses also gleichsam zum poetischen Fingerabdruck wird. Für den späten May, wie er sich in diesem Gedichte porträtiert, trifft das wohl zu, was die Anonymität, die es ausstrahlt, erklärt, die Annihilierung des Persönlichen, die darin zum Ausdruck kommt: der antigoethesche Affekt in der so sanften, wie unerbittlichen Zurücknahme der Divan-Verse aus dem Buch Suleika, die die Persönlichkeit rühmen.(110) Eine ›antiadverbielle‹ Existenz, die keine ›Fingerabdrücke‹ hinterläßt und alles Aktivische negiert, wird hier mit einer reimenden Impertinenz umgesetzt, deren Automatismus die lebenslange Kräfteanspannung, der sich Mays Romanwerk verdankt, in einem Akt ›lied‹erlich reimenden Momentanismus kompromittiert, indem diese Automatik sich als der eigentliche ›motus perpetuus animi‹ der nur scheinbar so wechselnden Überlebensmuster, die dieses Werk ausmachen, enthüllt. Frankensteins Technik und Fluch wirken auch hier. Die Unverfrorenheit annulliert die adverbielle Konditionierung und – Parodie und Widerruf in sich vereinigend – dieses Zurückzoomen in den Mutterschoß, das Verfahren der


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Aichingerschen ›Spiegelgeschichte‹ antizipierend, schlägt um in die Pathographie eines Jahrhunderts, eine ›Ecce-homo-Travestie‹, als die die lallend reimende Imbezillität wohl beim Worte genommen werden muß; in ihrer Anstößigkeit nicht zu überhören, gerade weil »es (. . .) keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst (gibt)«, wie Benn bemerkt,(111) und das Lebenswerk des ›Lyrikers‹, um den es hier geht, für sein Jahrhundert eben doch paradigmatisches Gewicht hat.

   Über diesem Jahrhundert allerdings »(ist) der Himmel da oben (. . .) so weit« wie leer. Auch mit Kindern, dazu mit der zweifelhaften Qualität von Engeln ausstaffiert, läßt er sich nach dem entscheidenden Atheismustraum, dem Unsterblichkeitsverlust der Feuerbachgeneration nicht mehr bevölkern. Es bleibt in aller Berufung des Infantilismus bei Applikationen der Selbsttäuschung, beim Nobilitieren des Nichts als »glanzvolle Leere«,(112) wie sie Rückert 1833 in den ›Kindertotenliedern‹, in unendlichen Reimereien die »Entmachtungsmacht der Wörter gegen das Unheil der Welt«(113) mobilisierend, apostrophiert.

Eigene Persönlichkeit
Ließ’ ich ehr mir rauben,
Als, da ihr gestorben seid,
Nicht an die Unsterblichkeit
Meiner Lieben glauben.(114)

Und da wird deutlich, daß die Berufung auf Gottes Himmel: – Geht sie dereinst in Gottes Himmel ein –, den das Jahrhundert ja leergeräumt wußte, in maßloser Trauer ein Zeugnis paradoxerweise der ›Unfähigkeit zu trauern‹ ist. Auch May – wie Rückert – verarbeitet in seinem Gedicht, diesem Regressionstrip via Mutterbrust in die himmlische Unsterblichkeit, den Verlust seiner ›Kinder‹, der von ihm konstruierten und alimentierten Männlichkeitsphantome, die er in die Rumpelkammer seiner Vergangenheit gesperrt, mithin eingesargt hat. »Hier hängt das Eigentum von Kara Ben Nemsi . . . Du bekommst es nie im Leben wieder in die Hände. Es bleibt für alle Zeit in dieser Rumpelkammer, und keinem Menschen wird es je gezeigt.«(115)

   Sich der Lebenslast entziehen und wieder Kind werden: diese Flucht vor der Verantwortung hat jedoch einen hohen Preis. Und hier findet sich in einer harmlosen Berceuse ein Bewußtseinsbefund gleichsam kodiert, dessen Entschlüsselung der Banalität den schon erwähnten Bombeneffekt verleiht. Die simple Reimerei spiegelt nach dem destruktiven Größenwahn, den, wer will, aus den Kolportageromanen und Reiseerzählungen Mays herauslesen kann, eine »traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals«; in ihr wird ein »Gefühl völligen Unwertseins«(116)


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hörbar, indem der Autor, wie Alexander Mitscherlich es zu einem analogen Sachverhalt formuliert, in einer »Notfallreaktion« unter den »außergewöhnlichen psychischen Anstrengungen des Selbstschutzes«, und um den Ausbruch der Melancholie zu vermeiden, zur »Derealisierung«(117) seiner Vergangenheit wie seiner Schuld greift. Auch so spiegelt sich in Mays Schicksal die ›Menschheitsfrage‹.

   Die Verwandlung – über einen regressiven Rückgriff auf die »kulturspezifische Kindheitsneurose, die mit dazu beitrug, daß man als Glaubender gehorsames Werkzeug (. . .) des (eigenen) Größenwahnes geworden war«,(118) – von Schuldgefühl, Angst, Reue und Scham in Selbstmitleid erscheint psychoanalytisch plausibel, weil die Bindung an Heldenideale keine Objektbindung, sondern eine narzißtische Bindung ist. Deren Destruktion und die Entwertung des Ich-Ideales, verbunden mit einem ins Unterbewußtsein verlagerten Schuldgefühl, war für May eigentlich nur durch eine ›Entwirklichung‹ der Vergangenheit auszuhalten. Es fällt nicht schwer, hinter der individuellen Psychopathologie Mays kollektive Muster auszumachen, aus denen die Paradigmenfunktion der Figuren May/Nietzsche – sozial zwar different, aber in der Wahnhaftigkeit konvergierend – für die Existenz der Deutschen im 19. Jahrhundert erhellt. Die Wirkung dieser Autoren bis in heutige Tage zeigt, daß zumindest der ›May in uns‹ – trotz aller Bemühungen – nicht ausgelöscht ist. Der ›Nietzsche in uns‹ hoffentlich erst recht nicht.

   Dieses Gedicht mithin wäre – muß man sich fragen und wird dabei wohl nicht am eigenen ästhetischen Selbstverständnis irre – ein Jahrhundertereignis? War sie es nicht, eine gewisse Art von ›Volksgehirnerweichung‹, die in ›Des Kindes Seligkeit‹ rumort? Das Ganze ist wahrhaft zu erbärmlich, als daß man darüber lachen könnte. Schließlich geht es darum, gerade ein solches Elaborat transparent zu machen, ihm in einem prismatischen Verfahren »die Wohltaten der Erkenntnis angedeihen zu lassen«:(119) gerade weil das nicht sehr erbaulich ist, ebensowenig wie die Erbschaft des Tyrtaios bei Hölderlin. Wiegenlieder sind auch Kriegsgesänge: beiden gemeinsam ist die Konvergenz im Tod. Seine Genese aber kann hier kein Privatissimum sein, schon weil – Shelley bemerkt das – ein Gedicht »die Schöpfung von Handlungen (ist) gemäß den unwandelbaren Formen menschlicher Natur, wie sie im Geist des Schöpfers existieren, der selbst ein Abbild aller anderen Geister ist.«(120) Der Geist, der – in Stellvertretung der Geister – uns aus diesem Gedicht anblickt, ist so wenig erquicklich wie der Anblick des erlöschenden Nietzsche im Haus seiner Mutter in Naumburg oder der Adrian Leverkühns in den Armen der Frau Schweigestill. Sich ihm zu stellen lohnt auf jeden Fall. Das Werk Mays lebt von Durchblicken; auch dieses Gedicht erfüllt eine Rahmen-


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funktion – point de vue auf die Angst vor dem Chaos. Man muß nur genau hinsehen und den Übermalungen gerecht werden; denn: »Was keines Wortes wert schien, hatte Konsequenz.«(121)



1 Karl May: Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May. Freiburg i. Br. o. J. (1900), S. 107

2 Peter von Matt: Der Traum an der Grenze. Rede zum Dies academicus der Universität Zürich (28. 4.1993). In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 111, 15./16. 5.1993, S. 63

3 So Hermann Cardauns in seinem Vortrag über ›Litterarische Kuriosa‹ laut Bericht in der ›Tremonia‹ vom 8. 11. 1901; dieser wiedergegeben in: Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze – Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 10. Ubstadt 1985, S. 82

4 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 208

5 Daß es May in betreff der ›Himmelsgedanken‹ vor allem auch um diese poetische Nobilitierung geht, belegt die apologetische Gereiztheit, mit der er das Thema in seiner Streitschrift ›»Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May« oder Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte‹ (Freiburg 1902, S. 46; Reprint: Karl May: Der dankbare Leser. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 1. Ubstadt 1974) zum Gegenstand der Polemik macht. Die Kritik nenne seine »Reiseerzählungen« ganz »eigenartige Schöpfungen«. Warum sucht sie nicht auch bei den Gedichten nach dieser Eigenart? Aber May durfte kein Dichter sein, und darum ist er keiner. Sie ist ja infallibel. Der Autor orientiert sich dabei ganz offensichtlich am Bilde des Dichters als Zeremonienmeisters eines Kults der Schwere und Strenge, dessen Anspruch die deutsche Literatur seit je dahingehend beherrscht, stets nach dem Höchsten zu greifen, weil nur der große Gegenstand vermag, den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen. (Vgl. Reinhold Wolff: »Ein Schreiber? O jazik, o wehe, und ich habe dich für einen tapfern Beduinen gehalten!« Karl Mays Umgang mit den Dichterstereotypen des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1993. Husum 1993, S. 116-134.) Wie denn in der Tat die Stoffe, die er behandelt, unbewußt Travestien jener erhabenen Entwürfe aus Mythos und Staatsaktion sind – Familientragödien im Gewand exotischer Kolportage-, die nach der herrschenden ›klassischen‹ Ideologie Dichtung qualifizieren.

6 May: Der dankbare Leser, S. 45

7 Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Gesammelte Werke. Band 4. Wiesbaden 1968, S. 1079

8 Ebd., S. 1061

9 Anke-Marie Lohmeier ». . . es ist ein wirkliches Lied.« Theodor Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹ als Selbstreflexion von Kunst und Kunstrezeption in der Gesellschaft der Gründerjahre. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 68. Jg., Heft 2, S. 246

10 Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt und Neuwied 1979, S. 11

11 Der entmündigte Philosoph. Briefe von Franziska Nietzsche an Adalbert Oehler aus den Jahren 1889–1897. Hrsg. von Gernot U. Gabel und Carl Helmuth Jagenberg. Hürth 1994, S. 16 und S. 19

12 Ebd., S. 39

13 Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Wiesbaden o. J., S. 826

14 Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. (Gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano.) Stuttgart o. J., S. 822

15 Hermann Bahr: Das Konzert. Stuttgart 1971, S. 93f.

16 Lou Andreas-Salomé: Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriß. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne). X. Jg. (1899), S. 226, 229, 228. Gleichzeitig spricht sie von der »großen Mutter allen Lebens«, als die das Weib dem Mann erscheint, »in deren Schoos er seinen Kopf bergen will, in deren Breite und Güte alle Gegensätze, Härten und Dissonanzen seines eigenen Lebens sich ausgleichen.«


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17 Arno Schmidt: Old Shatterhand und die Seinen. In: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in vier Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze. Bd. 4. Zürich 1988, S. 154 – das folgende Zitat: Arno Schmidt: Vom neuen Großmystiker. In: Ebd., S. 119

18 Robert Louis Stevenson: Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Stuttgart 1963, S. 70. In dieser berühmten Phantasie Stevensons fordert das Weibliche, wie es am Ende des neunzehnten Jahrhunderts als sogenannte New Woman Gestalt gewinnt, das Recht ein, die ihm gesetzten Rollengrenzen zu überschreiten. ›Schmächtig‹, ›behaart‹, zu Tränenausbrüchen neigend ist dieser Mr. Hyde. Und es fällt nicht schwer, auch Mays ›behaarte‹ Ussul, die zwei Jahrzehnte später die literarische Bühne betreten – Riesen gleichwohl –, haarige ›böcklinsche‹ Elementarwesen, als das weggeschlossene Weibliche in der Entwicklung der Gesellschaft zu deuten.

19 Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte. Frankfurt 1962, S. 313. Archaischer Torso Apollos – Gottfried Benn hat Rilkes Diktum jene »mutative Ananke«, jenen Zwang zur Wandlung, bescheinigt, der Kunst konstituiert (Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. 1. Band. Wiesbaden 1977, S. 286.)

20 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Band XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 69

21 Thomas Mann: Doktor Faustus. Frankfurt a. M. 1965, S. 670

22 Ebd., S. 667

23 Rachel Monika Herweg: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt 1995, S. IX

24 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Vers 6215f. – das folgende Zitat: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Vierundzwanzigster Band der Artemis-Gedenk-Ausgabe. Zürich 1948, S. 385

25 Richard Wagner: Über das Weibliche im Menschlichen. In: Dichtungen und Schriften. Bd. 10. Frankfurt a. M. 1983, S. 172

26 Ebd., S. 174

27 Ebd., S. 173

28 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909, S. 1. Die Suche nach der Mutter als Garantin für das Paradies, dieser buchstäblich regressive Vorgang, findet seinen sinnfälligen Ausdruck im Wiegenlied. Auffällig ist, daß das einzige Mal, da ein Wiegenlied in Mays Werk die Handlung in extenso koloriert, dies in Englisch geschieht. Das Paradies spricht offenbar für diesen Autor in fremder Zunge, hier als das alte, liebe Tennessee-Wiegenlied:

»My dearling, my dearling,
My love child much dear,
My joy and my smile,
My pain and my tear!«

. . .

»My heart-leaf, my heart-leaf,
My life and my star,
My hope and my delight,
My sorrow, my care!«

(Karl May: Der Geist des Llano Estacado. In: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 1: Der Sohn des Bärenjägers. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992, S. 645f. ) Wenngleich auch hier der Kommentar des Spottvogels die lädierte Idylle ironisiert: »Mikkehr-mikkehr-mikkehr,« ahmte der Spottvogel die beiden letzten Worte nach. Vollkommen kann sie nie sein; und das lyrische Plädoyer für die heile Welt gewährt Linderung der Schmerzen, die die Trennung von der Mutter verursacht hat, allenfalls dem Neger Bob. Ihm, dem so simplen wie beschränkten Naturmenschen, wird folgerichtig die Rückkehr in den paradiesischen Garten mütterlicher Liebe gewährt (Sie hielten sich umschlungen; ebd., S. 676), der irgendwo in den Territorien zu vermuten ist, die zur Weihnacht die Kolonialwaren liefern; dem Bloody-fox, wohl einer Identifikationsfigur Karl Mays, dagegen bleibt sein Betreten verweigert: »und ich werde nie erfahren, wer meine Eltern gewesen sind!« (ebd.).


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29 May: Ardistan und Dschinnistan I, wie Anm. 28, S. 1

30 Ebd., S. 2

31 Ebd., S. 4

32 (Percy Bysshe) Shelley's ausgewählte Dichtungen: Königin Mab. Aus dem Englischen von Adolf Strodtmann. Leipzig o. J., S. 24

33 Ebd., S. 20f.

34 ›Queen Mab‹ formuliert ein Programm, dem der gleiche gnostische Tonfall eigen ist, der auch das Spätwerk Mays bis hinein in die metaphorische Gestikulation inspiriert:

Auch ist es mir gestattet, zu zerreißen
Den Schleier sterblicher Gebrechlichkeit,
Auf daß der Geist, in wechsellose Reinheit
Gekleidet, lerne, wie am schnellsten er
Das große Ziel, das ihm bestimmt, erreiche,
Und jenen Frieden koste, den zuletzt
Alles, was lebt und athmet, theilen wird. (Shelley, ebd. S. 19)

»(. . .) and may taste / That peace, which in the end all life will share.« (Percy Bysshe Shelley: The Poetical Works. London/New York, o. J., S. 5)

35 Shelley: Ausgewählte Dichtungen, wie Anm. 32, S. 73, 79. Die Prophezeiung der Queen Mab, die mit der bisherigen Geschlechterordnung abrechnet und eine Friedensutopie ins Visier nimmt, die sich ›unisex‹ jeder Geschlechtertrennung enthält, lautet in extenso (S. 73):

Dann sprach die Feenkön›gin siegesfroh:
»Ich rufe nicht den Geist entschwundner Tage,
Daß seine Schreckensräthsel er enthülle;
Die Gegenwart ist jetzt verrauscht,
Und jene Thaten, die die Welt verheerten,
Erblaßten im Gedächtnisse der Zeit,
Die dem, was ich vernichtet wissen will,
Nicht Wirklichkeit verleihen darf. Die Wunder
Der Menschenwelt zu wahren, ist mein Amt,
In Raum und Stoff, in Zeit und Geist. Die Zukunft
Enthüllt jetzt ihre Schätze; laß den Anblick
Dein wankend Hoffen kräft›gen und erneun!
O Menschengeist, beflügle dich zum Ziel,
Wo Tugend aller Welt den Frieden gründet,
Und in der Ebb’ und Fluth der irdischen Dinge
Steh du, ein fester Punkt im Wechsel, da,
Ein Leuchtthurm ob dem finstern Wogenschwall.«

Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, inwieweit vielleicht der ›Menschengeist‹ Shelleys mit der Menschheitsseele Mays identisch ist, die ja in Marah Durimeh ihre Verkörperung findet (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXX: Und Friede auf Erden! Freiburg 1904, S. 552). Freilich ist auch dieser ›Menschengeist‹ als »Seele Janthe's« (Shelley, S. 18), der im Traum Queen Mab ihre nächtliche Eröffnungen macht, weiblich konnotiert. Gerade aber die Erweckungsszene Janthes macht deutlich, wie überraschend analog sich Shelley und May aus dem Bilderinventar eines kollektiven Unterbewußtseins bedienen. ›Queen Mab‹ entwirft ein kosmisches Traumszenarium, wie es in Platons ›Phaidros‹, vor allem aber in Ciceros ›Somnium Scipionis‹ sein Vorbild hat und in den visionären Jenseitsparabasen des Mayschen Spätwerkes ungemein originell nachgestellt wird, wobei die gnostische Spiritualitiät, mit der das geschieht, nicht überraschen kann (S. 18):

(. . .) – Seele Janthe's
Erwach! ersteh!
Plötzlich erhob
Sich Janthe's Seele.


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Sie stand in unverhüllter Reinheit da,
(. . .)
In angeborner Hoheit, und sie stand
Inmitten Tod und Graun unsterblich.

Der Leib lag auf dem Ruhebett,
Gehüllt in tiefen Schlummer;
Die Züge starr und regungslos,
Doch thierisch Leben war drin.
Und jeder Sinn versah den Dienst,
Den ihm die Natur bestimmt; – es war
Ein Wunder, Geist und Leib zu schaun,
Dieselben Züge waren dort,
Dieselbe äußerliche Form, -
Und wie verschieden doch! (. . .)

36 Ebd., S. 83

37 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1993, S. 52f. »In der Epoche vom 15. bis zum 18. Jahrhundert bildet sich die Emblematik aus, eine allegorische Form und zugleich ein Arsenal allegorischer Denkbilder. Der alte deutsche Name für Emblem, ›Gemälpoesie‹ (Holtzwart), charakterisiert das Emblem treffend als ein synthetisches Kunstwerk. Es verbindet ein Bild (pictura) mit einer Überschrift (inscriptio, Lemma) und einer oft epigrammatischen Auslegung (subscriptio).« Unschwer läßt sich entlang dieser Definition der emblematische Charakter des Gedichtes – sowohl als ganzem wie auch jeder Strophe – nachweisen: Lemma: ›Des Kindes Seligkeit‹ – pictura: der Refrain, der – ungewöhnlich genug – jede Strophe einleitet und dreimal das Bild des schlafenden Kindes und – variiert – der Mutter bietet; subscriptio: epigrammatisch: ich will wie die Mutter sein, ich will ihr alles Leid sagen – und dann in wohlkalkulierter Wendung die lyrische Distanz wie sachliche Geborgenheit vermittelnde dritte Person Singular: sie wird mein Engel sein. Das lyrische Ich artikuliert sich nur noch im possessiven Verhältnis, in dem aber doch subtil genug die Identität von Ich und Engel durch das Anagramm intendiert wird. O welche Wonne, welche selge Lust! = welche Engelslust! was heißen kann: Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust und genieße die Lust, die mir ein Engel (die Mutter) vermittelt (Wird sie mein Engel, o mein Engel sein!), oder weil ich selbst ein Engel bin. Aufschlußreich könnte überhaupt eine emblematische Betrachtung der gesamten Mayschen Gedichtsammlung sein.

38 von Matt, wie Anm. 2

39 Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin. In: Dietrich Fischer-Dieskau: Texte deutscher Lieder. Ein Handbuch. München 1968, S. 180

40 Robert Walser: An den Bruder. In: Das Gesamtwerk II. Zürich 1978, S. 172

41 Die weibliche Bedeutung des Pferdes ist weitgehend in Vergessenheit geraten: ursprünglich war es dem Mond zugehörig und damit zugleich ein Psychopompos, ein Seelenführer, wie auch die Walküren, die die gefallenen Helden hoch zu Roß ins Jenseits transportieren. Daneben symbolisiert das Pferd als Reittier aber auch die rasende Zeit, die über alles, was auf Erden kreucht und fleucht, hinweggaloppiert. Vgl. Marlene Baum: »Meine Arbeit ist autobiographisch«, zur Symbolik in Werk und Vita von Niki de Saint Phalle. In: Pantheon, Internationale Jahreszeitschrift für Kunst. München 1992

42 Müller, wie Anm. 39

43 Ebd.

44 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 4. München 1980, S. 285

45 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 125

46 Friedrich Nietzsche: Gedichte und Sprüche. Leipzig 1898, S. 124

47 Ludwig van Beethoven: Fidelio, 2. Akt, 1. Szene – Zu dieser ›Fidelio-Stimmung‹ bei May siehe auch: Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 60-86 (insbes. S. 66).

48 Karl Gerok: Auf einsamen Gängen. Palmblätter, Neue Folge. Stuttgart o. J., S. 107


//366//

49 Mann, wie Anm. 21, S. 671

50 Henrik Ibsen: Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht. In: Sämtliche Werke. Zweiter Band. Berlin 1910, S. 589f.

51 Müller, wie Anm. 39

52 Goethe: Faust. 2. Teil, wie Anm. 24, Vers 6221

53 von Matt, wie Anm. 2

54 Johanna Spyri: Heidis Lehr und Wanderjahre. Gotha 1881, S. 218; zitiert nach: von Matt, wie Anm. 2

55 Nietzsche: Gedichte, wie Anm. 46, S. 15

56 Beethoven: Fidelio, wie Anm. 47

57 Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Jonas Fränkel. Achtzehnter Band. Wien o. J., S. 140. Dort auch (S. 140f.): »(. . .) je künstlicher und beziehungsreicher seine Steingruppierungen und Steinchen sich darstellten, seine Stämme und Wurzeln, desto blasser waren sie, ohne Glanz und Tau (. . .)«

58 »(. . .) jene tiefe, wahre, innere Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, (. . .)« (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. Stuttgart 1984, S. 4)

59 Ebd., S. 15f.

60 Das wäre vor allem unter nomosyntaktischen Gesichtspunkten zu diskutieren.

61 Hofmannsthal, wie Anm. 58, S. 8

62 Ferdinand de Saussure zit. nach: Luzia Braun/Klaus Ruch: Das Würfeln mit den Wörtern. Geschichte und Bedeutung des Anagramms. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 42. Jg. (1988), Heft 3, S. 228

63 Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Frankfurt a. M. 1980. Zitiert in: Braun/Ruch, wie Anm. 62

64 Derartige fremdsprachliche Versatzstücke sind in der Technik des Anagramms durchaus üblich. Vgl. dazu etwa: Helga Glantschnig: Rose, die wütet. Anagramme nach Filmen. Graz 1994

65 Der Buchstabe in Klammern – eine kleine Mogelei – steht im Vers nur einmal zur Verfügung, bildet also gleichsam – was sich hier allerdings sehr sinnfällig erweist – eine Achse, um die die beiden Begriffe ›Woge‹ und ›Engel‹ rotieren.

66 1805, also nahezu hundert Jahre zuvor, lassen Josef Sonnleithner und Georg Friedrich Treitschke den im Kerker begrabenen Florestan sich das gleiche Itinerar imaginieren. Geadelt wurde diese buchstäblich ›himmlische Trivialität‹, wie Fontane seinen Willibald Schmidt sagen lassen würde, durch Beethovens Musik.

»Und spür’ ich nicht linde, sanft säuselnde Luft?
Und ist nicht mein Grab mir erhellet?
Ich, seh’, wie ein Engel im rosigen Duft
Sich tröstend zur Seite mir stellet,
Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich,
Der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.«

(›Fidelio‹ II,1) Die Repetition als synkopierende Stretta mit dem fabelhaften Oboensolo bitte mitdenken!

67 So zitiert Foucault in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France Samuel Becketts »Namenlosen«. Vgl. Diedier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1991

68

No giving no words
No sence no need
Through the scum
Down a little way
To whence one glimpse
Of that wellhead.

Samuel Beckett: Dramatische Dichtungen 2. Frankfurt a. M. 1981, S. 290f.

69 Shelley: Ausgewählte Dichtungen, wie Anm. 32, S.16f.

Wer das Gesicht geschaut,
(. . .)
Sah nur der Feen-Aufzug,


//367//

Vernahm nur Himmelsklänge
Am ödverlass’nen Ort
(. . .)
(. . .); doch jener schöne Stern,
Der in des Morgens schimmernder Krone blitzt,
Verstrahlt ein Licht so mild und mächtig nicht,
Wie jenes, das der Fee Gestalt entfloß,
Umhüllend Alles wie ein Heil’genschein,
Indeß mit wallender Bewegung
Es sie umwogte sanft und mild.

70 Die Unterstreichungen markieren Stellen von auffallender formaler und inhaltlicher Gleichheit.

71 Ibsen, wie Anm. 50

72 Justinus Kerner: Ausgewählte Werke. Stuttgart 1981, S. 41

73 Heinrich Wölfflin: Das Erklären von Kunstwerken. Leipzig 1921, S. 14

74 Wenn, so führt Wölfflin aus, es auch natürliches Verständnis gebe, sofern die eigenen »Anlagen« mit den Wesenheiten des Kunstwerks übereinstimmten; hier freilich droht Interpretation auf gefährliche Weise selbstreferentiell zu werden, indem Lektüre, sich der gleichschaltenden Tyrannis der Tautologie unterwerfend, den Leser in ein Gefängnis reiner syllogistischer Affirmation steuert, wo er im Gelesenen letzten Endes nur sich selbst findet und aus dem es für ihn kein Entrinnen gibt. Ein Großteil der maßstäblichen Literaturkritik sitzt in solchen ›Elfenbeintürmen‹.

75 Heinrich Wölfflin: Das Erklären. Berlin 1921, S. 24

76 Ebd.

77 Wolf-Dieter Bach: Muttergedichte Karl Mays und Hermann Hesses. In: Jb-KMG 1970. Hamburg 1970, S. 114-17

78 Johann Wolfgang Goethe: Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz. Frankfurt a. M. 1964, S. 362

79 Wörtliche Übersetzung des griechischen Nomens poih'mata.

80 Mann, wie Anm. 21, S. 660

81 Ebd., S. 671

82 Ebd., S. 670

83 Ebd., S. 661

84 Zitiert in Werner Ross: Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart 1994, S. 25

85 Ebd., S. 184: Franziska Nietzsche in ihrem Bericht an Overbeck vom 17 März 1896

86 Nietzsches Mutter briefllich an Overbeck am 30 März 1890. Zitiert in: Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. 3. Bd. München 1981, S. 116

87 Nietzsche: Gedichte, wie Anm 46, S. 15

88 Ebd., S. 81

89 May: Old Surehand I, wie Anm. 45, S. 407

90 Ebd., S. 406 und 408

91 Johann Jakob Bachofen: Mutterrecht und Urreligion. Stuttgart 1954, S. 88

92 D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber. Hamburg 1967, S. 69

93 Des Knaben Wunderhorn, wie Anm. 14, S. 822

94 Marcel Proust: À la recherche du temps perdu: Du côté de chez Swann. Paris 1974, S. 13ff. Dionysisches ist bei diesen Kußriten allemal auch im Spiel: subkutan; was oberflächenhaft beschäftigt, ist eher semiotischer Natur; es geht recht kommun um die Differenz dessen, was der Name als Zeichen zur Aussage setzt. »(. . .) und bekomme da immer einmal einen Handkuß und ein Zuflüstern: ›Ich bete dich an, mein liebes Mutterchen.‹« Soviel von der Mutter (brieflich an Overbeck in Basel) über den alternden Mann, der in Naumburg 1890 wieder zum Kind wird, dem kleinen Marcel so ähnlich, der etwa ein Dezennium zuvor den Umgang mit der Mutter auch per Kuß als eucharistische Zeremonie feiert: dann nämlich, »quand elle avait penché vers mon lit sa figure aimante, et me l›avait tendue comme une hostie pour une communion de paix où mes lèvres puiseraient la présence réelle et le pouvoir de m›endormir«. Das


//368//

Bild des Kindes und des alten Mannes koinzidieren im Topos von ›des Kindes Seligkeit‹: welche selge Lust! Auch Gerok psalmodiert davon (›Der letzte Kuß‹, wie Anm. 48, S. 97):

O selig, wenn den ersten Kuß entzückt
Die Mutter auf des Kindes Stirne drückt
(. . .).

und bedient sich unbekümmert effektvoll aus einem Bildrepertoire, dessen Requisiten über Correggio und Raffael hinaus beim Vater des Abendlandes, Vergil, in dessen vierter Ekloge zu finden sind:

incipe, parve puer, risu cognoscere matrem
(. . .)
incipe, parve puer, qui non risere parenti,
nec deus hunc mensa, dea nec dignata cubili est.

(in der Emendation Hirtzels der Oxford-Ausgabe 1900)

95 May: Old Surehand I, wie Anm. 45, S. 582

96 Gerok wie Anm. 48: Die Verse finden sich im Zyklus ›Heilige Bilder‹, dort als Nummer 7 der Folge ›Die Mutter Mosis‹ unter dem Titel ›Der Triumphzug‹.

97 Ludwig van Beethoven: Fidelio. Partitur. Budapest 1993, S. 197. Rocco: »Gelobt sei Gott! Wir kommen, ja wir kommen augenblicklich; und diese Leute mit Fackeln sollen heruntersteigen und den Herrn Gouverneur hinaufbegleiten.«

98 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 593

99 Eine der vielen Imagines seines Ichs, die May in seinem Werk liefert, die Figur des Old Wabble, veranschaulicht wie eine Kommentierung des Gedichtes aus den ›Himmelsgedanken‹ (sie ist so mild) diese Entwicklung (vgl. Hermann Wohlgschaft: Große Karl May Biographie. Paderborn 1994, S. 289):

Da schlug Old Wabble die Augen auf und richtete sie auf mich. Sein Blick war klar und mild, und seine Stimme klang zwar leise doch deutlich, als er sagte: »Ich schlief jetzt einen langen, langen, tiefen Schlaf und sah im Traum mein Vaterhaus und meine Mutter drin (Man beachte den rein jambischen Rhythmus; er und auch die Wortwahl evozieren in ihrem Tonfall deutlich den Beginn des Gedichtes: Ich schlafe ein. . .), die ich beide hier nie gesehen habe. Ich war bös, sehr bös gewesen und hatte sie betrübt, so träumte mir; ich bat sie um Verzeihung. Da zog sie mich an sich und küßte mich. Old Wabble ist nie im Leben geküßt worden, nur jetzt in seiner Todesstunde. War das vielleicht der Geist von meiner Mutter, Mr. Shatterhand?« »Ich möchte es Euch gönnen. Ihr werdet's bald erfahren,« antwortete ich. (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 499)

Und von dem Verstorbenen heißt es: Das Lächeln war in seinem Angesichte geblieben; es war so mild, als ob er wieder von seiner Mutter träume. (Ebd., S. 501)

100 Ernst Bloch: Geist der Utopie. Frankfurt a. M. 1977, S. 90

101 Des Knaben Wunderhorn, wie Anm. 14, S. 318

102 May: Old Surehand I, wie Anm. 45, S. 143

103 Shelley: Ausgewählte Dichtungen, wie Anm. 32, S.. 25

104 Lawrence, wie Anm. 92, S. 402f.

105 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909, S.92

106 Nietzsche: Gedichte, wie Anm. 46, S. 120, 124

107 Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin 1968, S. 110f.

108 Eduard Mörike: Auf eine Lampe. In: Sämtliche Werke. Erster Band. München o. J., S. 86

109 Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso, Vers 3433

110

        Suleika
Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn, zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.


//369//

(Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan) Das nahezu gleiche Versmaß nutzt Friedrich Rückert, wenn er sich diesem Anspruch verweigert. Vgl. Anm. 114.

111 Benn: Probleme der Lyrik, wie Anm. 7, S. 1074. Daß Banalität sich lyrisch kostümiert, mag solange verstimmen, als man sie nicht zum Anlaß nimmt, die fiktionalen Einklammerungen – ein foucaultscher Gedanke –, daß nur Wörter darüber bestimmen, was Wesen und Unwesen ist, zu öffnen. Dann wird klar, wie vollkommen gerade in diesem ›Wiegenlied‹ der »Übergang des Sachverhaltes in den Ausdruck« gelingt (Benn: Briefe, wie Anm. 19, 3. Band, S. 57), und es bestätigt sich Gottfried Benns Feststellung: »Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich« (wie Anm. 7, S. 1065f.), die die Lyrik als »anachoretische Kunst« (ebd., S. 1066) dahingehend beantwortet, ›daß der Lyriker die Probleme seiner Epoche ausdrückt, indem er sich ausdrückt‹ (vgl. Benn, wie Anm. 7, S. 1163, Nachwort von Dieter Wellershoff), und daß Lyrik »Wirklichkeit so (anordnet) und zum Ausdruck (bringt), dass sie phantastischer wird als sogen. Phantasie« (Benn, wie Anm. 19, S. 377). Vor diesem Hintergrund gesehen, gewinnt Mays Gedicht seinen beklemmenden Realitätsstatus.

112 Friedrich Rückert: Kindertotenlieder. Mit einer Einleitung neu herausgegeben von Hans Wollschläger. Nördlingen, 1988, S. 480:

Zu Verschwinden, zu verschweben
Ins glanzvolle Leere;
Ohne vor dem Tod zu beben,
Könnt’ ich mich darein ergeben,
Tropfen gleich im Meere.

113 Hans Wollschläger: »Dieser wunderlichen Erscheinung. . .« In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 165, 18./19. 7. 1992, S. 51

114 Rückert, wie Anm. 112

115 Karl May: Im Reiche des Silbernen Löwen IV, wie Anm. 20, S. 68f.

116 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. München 1977, S. 30

117 Ebd., S. 35, 38 und S. 44

118 Ebd., S. 44

119 Thomas Mann an Otto Forst-Battaglia: zitiert in: Otto Forst-Battaglia: Karl May – Traum eines Lebens – Leben eines Träumers. Bamberg 1966, S. 8

120 Percy Bysshe Shelley: Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa. Darin: Verteidigung der Poesie. Frankfurt a. M. 1990, S. 630

121 Karl Krolow, zitiert in: Dieter Fringeli: Dichten, um das Leben zu gewinnen. In: Der Landbote. 159. Jg. (1995), S. 29


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