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GÜNTER SCHOLDT

Selbstporträt à la Fehsenfeld
Karl Mays autobiographische Hinweise in den
›Gesammelten Reiseromanen‹

Der Aufsatz sei dem KMG-Mitglied Albert Knerr aus Saarbrücken gewidmet, der mir durch ausgiebige Textrecherchen sehr geholfen hat. Herr Knerr ist leider im August 1995 überraschend verstorben.



Was für ein Mensch ist dieser so spannend von fernen Ländern berichtende Autor Karl May nun tatsächlich? Woher stammt er? Welchen Beruf hatte er zuvor, welchen Sozial- oder Familienstatus? Was treibt ihn immer wieder in die Welt hinaus? – Fragen dieser Art seines zunehmend sich vergrößernden Lesepublikums waren spätestens seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts Legion; und es ist von einigem Reiz, zu ermitteln, mit welchen teils korrekten, teils halbrichtigen oder falschen Hinweisen, mit welchen Wahrheitspartikeln, Fiktionen oder biographischen Legenden der Autor solchen Informationsbedürfnissen nachkam.

   Es geht in diesem Aufsatz(1) also um gedruckte Angaben Mays über seine bürgerlich-deutsche Existenz jenseits der Stilisierungen als Kara Ben Nemsi bzw. Old Shatterhand, wobei deren Verhältnis zur realen Person des sächsischen Schriftstellers allerdings in die Problemstellung einbezogen ist. Es scheint nahezuliegen, sich dabei in erster Linie an die Selbstaussagen des Autors in ›Mein Leben und Streben‹, anderen (Streit-)Schriften oder Presseartikeln zu halten. Doch soll dies hier gerade nicht geschehen, sondern statt dessen die 33bändige Freiburger Werkausgabe als Gegenstand der Betrachtung dienen. Denn insbesondere die in ihr enthaltenen (in Ich-Form geschriebenen) Abenteuergeschichten wurden massenhaft rezipiert. Und es ist daher viel wahrscheinlicher, daß die Mehrzahl der May-Gemeinde sich Vorstellungen über den Verfasser vor allem anhand der Romane und Erzählungen gemacht hat, die ja weithin als zumindest halbdokumentarische Reiseberichte galten.

   Die Auswertung beginnt mit dem Jahr 1892, als Fehsenfeld das erste Buch seiner schnell berühmt gewordenen Karl-May-Ausgabe auf den Markt brachte, und endet 1910 mit dem Schlußband von ›Winnetou‹. Die Entscheidung für eine solche zeitliche und inhaltliche Beschrän-


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kung bedarf zusätzlicher Begründung. Gewiß erwiese sich auch ein früherer Beginn der Untersuchung unter Einschluß der Zeitschriftenfassungen als ertragreich. Doch die hier vorgenommene Zäsur bzw. der so begrenzte Textkomplex haben ihre eigene Plausibilität, insofern mit Beginn der Werkausgabe der Schriftsteller May in ein neues Stadium öffentlicher Bekanntheit und Verbreitung trat. Vom Standpunkt des Buchmarkts aus war er nun sozusagen hoffähig geworden, wurde eigentlich erst jetzt zu einer gesamtdeutschen literarischen Größe. Das im Zuge dieser umfassenden Freiburger Textedition bzw. -revision vermittelte Verfasserporträt stand von nun an im Dienst bewußter Imagepflege und bekam damit praktisch offiziösen Charakter.

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Bei der Bestandsaufnahme fällt auf, daß sich die lebensgeschichtlichen Angaben zunächst noch äußerst spärlich ausnehmen. Verglichen mit späteren längeren Auslassungen über seine bürgerliche deutsche Vergangenheit, kennzeichnet den Orient- wie den Winnetou-Zyklus der Jahre 1892/93 eine unverkennbare Abstinenz des Autors gegenüber genauen oder ausführlichen Schilderungen einer in Wahrheit so unrühmlichen Lebensphase. Die Anfänge bleiben bewußt in quasimythischem Dunkel, wodurch die zweite, exemplarische Identität als Karl der Deutsche oder Schmetterhand in noch hellerem Licht erstrahlt. Gleichwohl finden sich einige z. T. bezeichnende Angaben über die frühere Existenz, deren Mischung aus Dichtung und Wahrheit unser besonderes Interesse erregt. Dabei kehren manche biographische bzw. epische Muster immer wieder:

   Uns wird zunächst einmal eine weitgehend intakte  F a m i l i e n beziehung vorgegaukelt als emotional gefestigte hierarchische Idylle. Dem treusorgenden Vater steht dabei ein respektvoller und dankbarer Sohn gegenüber.(2) Er gedenkt seiner Eltern z. B. im Anblick von Gefahr (VIII/S. 532f., IX/S. 83), unterbricht seinen Amerika-Aufenthalt zum Besuch von Vater und Schwestern (IX/S. 156) oder leistet Eltern, Geschwistern und Verwandten finanzielle Unterstützung (VI/S. 508, VIII/S. 6). Auch die Großmutter findet ehrende Erwähnung:

Wie oft hatte ich lauschend und mit stockendem Atem auf dem Schoße meiner alten, guten, frommen Großmutter gesessen, wenn sie mir erzählte von der Erschaffung der Welt, dem Sündenfalle, dem Brudermorde, der Sündflut, von Sodom und Gomorrha, von der Gesetzgebung auf dem Sinai – – – sie hatte mir die kleinen Hände gefaltet, damit ich ihr mit der nötigen Andacht das zehnfache »du sollst« nachsprechen möge. Jetzt lag die irdische Hülle der Guten schon längst unter der Erde.(I/S. 172)


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F r a u e n außerhalb der Verwandtschaftssphäre spielen für den Helden keine wichtige persönliche Rolle. Allenfalls als Kind hat er seine Nachbarin einst auf Armen getragen (IX/S. 290f.); für den überwiegenden Teil seines Werkes hält er die Fiktion aufrecht, ledig zu sein (ebd., S. 281): Mein Lebensplan schloß, – man beachte die salvierende Einschränkung! – wie ich annahm, eine Verheiratung überhaupt aus. (VII/S. 451)

   Seinen B e r u f bezeichnet May lapidar als Schriftsteller (I/S. 234), respektive writer (ebd., S. 319); gelegentlich tituliert er sich auch einmal kokett als Federfüchserlein (III/S. 601). Er verfaßt Bücher und Zeitungsartikel (I/S. 510), muß möglicherweise deshalb einmal in einer geschäftliche(n) Angelegenheit nach Hamburg (IX/S. 356) und motiviert mit dem Schreiben zuweilen seine Reisetätigkeit (III/S. 357; vgl. V/S. 405ff). Solche Erklärungen konkurrieren allerdings mit der ethisch-missionarischen Begründung (II/S. 633) und massiv geäußerten literaturdidaktischen Absichten.(3)

   Reichtümer hat ihm die Schriftstellerei bislang nicht eingetragen. Ist er doch in seiner Heimat ein armer, unbekannter, einsamer Mann (ebd., 632f.), der dies jedoch, da nach anderen Werten strebend, leichten Herzens trägt (VI/S. 509). Als armer Litterat vermag er sich zu Hause kein Pferd zu halten (III/S. 541; vgl. IV/S. 34), gehört vielmehr zu denjenigen Menschen, die zufrieden heute verdienen, was sie morgen brauchen (IX/S. 302). Dazu paßt zwar seine spätere Behauptung nicht recht, er sei einmal Schützenkönig gewesen (ebd., S. 366), was bekanntlich auch nicht unerhebliche pekuniäre Anstrengungen erfordert. Doch nach solcher logischen Stringenz sei hier nicht weiter gefahndet.

   Wichtiger ist ein anderer von May mit Emphase vermittelter Eindruck, daß ihn Armut nicht an einer vorzüglichen  B i l d u n g  gehindert habe. Wo dem Jugendlichen das Taschengeld fehlte, verdiente er es sich z. B. als Klavierstimmer (III/S. 370), was zusätzlich seine musikalischen Fähigkeiten unterstreicht. Die bewies er auch als Mitglied eines Gesangvereins, für den er ein Ave Maria textete (IX/S. 415f.). Nach der Selbsteinschätzung war May ein guter Schüler, den selbst ein (üblicherweise eher schockhafter) Examenstraum noch in seiner besonderen Leistungsfähigkeit bestätigt (V/S. 561). Er hat studiert und nie vor einem Examen Angst gehabt (VII/S. 9, vgl. VIII/S. 22). Mathematik war eine seiner Lieblingswissenschaften, dazu Feldmesserei (VII/S. 15). Seine Freizeit nutzte er zu botanischen Exkursionen (V/S. 32). Als Bücherwurm, dessen dreißigjährige Gefräßigkeit ihm einen Zwicker eintrug (IX/S. 377f.), las er zahlreiche Klassiker, aus denen immer mal wieder zitiert wird, – übrigens auch James Fenimore Cooper (VIII/S. 200), dessen Lektüre keckerweise eingeräumt wird. Einen besonderen Stellenwert nehmen die Bibel (III/S. 316) oder Reisebücher ein, deren Informationen der Weltenbummler nun in der Praxis verwenden bzw. auf


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ihren pragmatischen Wert hin überprüfen kann (II/S. 614, IV/S. 426), darunter türkische und arabische (VII/S. 13) oder zahlreiche Werke über Indianer (ebd., S. 123). Seine Gelehrsamkeit wird schließlich durch den usurpierten Doktortitel bezeugt, mit dem der Verleger im Vorwort von Band I den Schriftsteller einführt. Band III enthält dann zusätzlich ein Autorenfoto mit der Unterschrift Dr. Karl May. Und da ein gesunder Geist vermeintlich nur in einem gesunden Körper ruht, wird auch dieser Ausbildung entsprechend gedacht. Sie umfaßt Turnen, Ringen, Fechten (VII/S. 14) und Reiten, letzteres sogar auf einem Pußtahengst (ebd., S. 23).

   Zu der frühen Bildungsvita gehören auch  R e i s e n, darunter ein Besuch im Wiener Prater (IV/S. 414) oder in Rom, wo er den Papst gesehen haben will (V/S. 398). Des weiteren werden Frankreich, England und Spanien genannt (I/S. 509). Der erste Amerika-Besuch erfolgte angeblich mit achtzehn Jahren (ebd., S. 510) gemäß der Globetrotter-Legende, die von Beginn an der Freiburger Ausgabe zugrunde lag. Fehsenfeld sprach im Vorwort zu Band I von »Reisewerken« und gebrauchte die doppeldeutige Formulierung, daß bei May »keine Zeile ohne Leben« sei. Ein wichtiger Bestandteil der Äußerungen Mays zu den eigenen Werken betrifft denn auch Versicherungen der grundsätzlichen  T a t s a c h e n t r e u e  in seinen Abenteuerbüchern (VII/S. 317), mehr noch sein Bekenntnis zum nichtfiktionalen Charakter seines Schreibens. Widersprüche, die solche Prätention in Frage stellen, lastet er als aufrichtiger Autor seinen Redakteuren an (IX/S. 628-31).

   Von Kind an stuft sich May als gläubiger Christ ein, der in seinen Büchern für die Ausbreitung dieser  R e l i g i o n  wirbt (ebd.). Er gesteht allenfalls Streiche gegen Eltern, Lehrer oder Nachbarn ein, übliche Prügeleien als Jugendlicher, nicht aber wirkliche Verbrechen bzw. strafbare Handlungen: Auf so etwas kann ich mich freilich nicht besinnen (VIII/S. 374), heißt es nicht ohne Hintersinn im zweiten Band des ›Winnetou‹. Von dieser Basis her läßt sich in den exotischen Abenteuerhandlungen denn auch fortgesetzt die Richter-Rolle beanspruchen, wobei allerdings auf epische Entsprechungen im Heimatmilieu verzichtet wird.

   Ziehen wir an dieser Stelle ein erstes Fazit: Einerseits bietet Mays Selbstporträt tatsächliche Momente seines Lebens, andererseits unverkennbare (genretypische) Stilisierungen, die mehr eine Wunschbiographie skizzieren oder auf Sympathiewerbung beim Leser abzielen, wie das charakteristische Lob der Armut. Sie belegen Hoffnungen der Zeit, Aufstiegsvisionen eines Verkannten, Kompensationen eines Zu-kurz-Gekommenen. Die ihn eigentlich bedrückenden Probleme (etwa das Verhältnis zu den Eltern, die schulische und berufliche Misere und schließlich die Kriminalität) bleiben fast völlig ausgeklammert oder werden nur in exotischer Literarisierung als dumpfe Antriebe für im-


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mer die gleichen Handlungs- und Gesprächsverläufe seiner Abenteuergeschichten diagnostizierbar. Insgesamt finden sich nur spärliche Angaben zur Verwandtschaft. Einzig die Großmutter erhält ein wenig Profil. Was von den Eltern oder den Geschwistern gesagt wird, entspricht ausnahmslos den tragenden Klischees des 19. Jahrhunderts über harmonische Familienbeziehungen. Im übrigen gelten folgende Muster:

– armer Poet
– lonely rider
– treuer Sohn
– Verkörperung der Bildung schlechthin
– religiöse Kindheitsprägung
– moralisch integer.

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Die nächsten 14 Bände vermitteln kein grundsätzlich neues Bild des Verfassers. Aber bestimmte Entwicklungstendenzen verschärfen sich, um später auch qualitative Sprünge auszulösen. Bewahrt wird zunächst noch das Muster vom armen Poeten; dies jedoch nicht ganz widerspruchsfrei, da der Ich-Erzähler bereits in dieser Phase als auch international erfolgreich geschildert wird (XI/S. 251f.). Seine Leserpost zählt nämlich nach Tausenden (XVIII/S. 568), und zumindest die übertriebene Mittellosigkeit wird ironisch karikiert (XX/S. 13f.). Von unfreiwilliger Pikanterie ist Mays Hinweis, er habe sich in Dresden kurzzeitig aus litterarischen Gründen als Redakteur anstellen lassen (XI/S. 334). Seinen gehobenen Sozialstatus betont er wiederum, wenn er von der Billard-Freundschaft mit einem russischen Offizier spricht (ebd., S. 343) oder davon, daß er mehrfach Bismarck und den Kaiser gesehen oder mit Moltke gespeist habe (XVI/S. 143).

   May ›präzisiert‹ in dieser Phase auch seine Angaben über den Bildungserwerb, vor allem im sprachlichen Bereich. Bereits in der Schülerzeit beschäftigten ihn danach arabische Fremdsprachen aus besonderer Liebhaberei (X/S. 5). Damals habe er einen guten philologischen Grund gelegt, so daß er nun vom Arabischen her leicht bestimmte malaiische Dialekte verstehen könne (XI/S. 10). Auch das Chinesische habe er in Deutschland lesen und verstehen gelernt (ebd., S. 279), was ihn offenbar dazu befähigt, den Erwerb eines chinesischen Gelehrtengrads in Angriff zu nehmen (ebd., S. 124ff.). Schon als Schüler lernte er angeblich hebräisch, aramäisch, griechisch, um die heilige Schrift im Urtexte zu lesen(XIV/S. 407), darüber hinaus beschäftigte er sich mit der Veda, Zarathustra und Konfuzius (ebd., S. 407f.). Koran-Studien trieb er bei dem berühmtesten Religionslehrer in Deutschland (XVII/S. 103). Seine fiktive Promotion untermauert er dadurch, daß er von zahlreicher Fanpost an den Hochgeehrte(n) Herr(n) Doktor berichtet (XVIII/


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S. 567) oder im Band XIX sein Foto mit Dr. Karl May untertiteln läßt. Ende 1896 ist dann auch im Text unmißverständlich von der Ich-Person als Dres›ner Doktor die Rede (XXI/S. 233, vgl. S. 239, 245). Auch seine musikalischen Fähigkeiten werden detailliert. So figuriert er als (Ehren-)Mitglied eines Dresdener Gesangvereins (ebd., S. 247), und die Orgel nennt er sein Lieblingsinstrument (XII/S. 38).

   Was die Familie betrifft, wird zunächst das Schema des einsamen Reiters weiter bestätigt. Old Shatterhand respektive Kara Ben Nemsi ist unverheiratet (X/S. 609, XI/S. 278) und hat noch nicht daran gedacht, (sich) ein Weib zu nehmen (XVI/S. 383). Gegenüber trügerischer Frauenliebe verweist er auf die unwandelbare Hingabe seiner Mutter, die allenfalls in Zukunft einmal durch die Zuneigung einer Frau ergänzt werden möge (XX/S. 543f.). Für den Moment zeigt er seine Familie als emotionales Refugium: seine Eltern, die er immer wieder gerne besucht (XXII/S. 542), die nach wie vor armen Schwestern (XVI/S. 383), darunter Paulinchen, an die er sich in liebevollem Zusammenhang erinnert (XIV/S. 407), und vor allem die Großmutter, die nun weiter als wichtige kindliche Bezugsperson konturiert wird: Ich war der Liebling meiner Großmutter, welche im Alter von sechsundneunzig Jahren starb; sie lebte in Gott, leitete mich zu ihm und hielt mich bei ihm fest (ebd., S. 406, vgl. XXIII/S. 504).

   In diesem Zusammenhang erfolgt auch ein erster ausführlicher Hinweis auf das Trauma seiner Jugend:

Ich wurde als ein krankes, schwaches Kind geboren, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können ... Ich bin dreimal blind gewesen und mußte dreimal operiert werden ... Ich habe als armer Schüler und später als Student wochenlang nur trockenes Brot und Salz gehabt ... Ich mußte mich durch Privatunterricht ernähren, und während andere Studenten das Geld ihrer Väter mit ihrer Gesundheit und dadurch oft auch ihre ganze Zukunft verjubelten, hielt ich im Winter mein Buch zum Dachfenster meines Bodenstübchens hinaus, um meine Lektion im Mondenschein zu absolvieren, weil ich kein Geld zu Licht und Feuerung hatte. (XIV/S. 411f.)

Der Wille, sich mit solchen Schilderungen (gerade in dem neugeschriebenen Band XIV) näher an die tatsächliche Autobiographie heranzutasten, ist unverkennbar. Dennoch kommen die eigentlichen Konflikte im Elternhaus in dieser Phase nur subkutan als literarisch chiffrierte Botschaften zum Ausdruck. Die Geschichte vom Dachdecker, der seinen Sohn vorsätzlich in die tödliche Tiefe stößt, weil er durch dessen verwirrten Zustand selbst gefährdet wird (ebd., S. 40-44), die Ausführungen über sadistische Rabenväter (XIX/S. 307) oder Old Wabbles Todesvision, in der er mütterliche Verzeihung erlangt (ebd., S. 499), sind Textbeispiele voll tiefenpsychologischer Substanz. In der angeblich realen Romanwelt jedoch versagt sich der Autor alles, was einer Überhöhung des Eltern-Sohn-Verhältnisses im Wege stünde. Selbst Straf-


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maßnahmen wie der Essensentzug für kindliches Fluchen (XXIII/ S. 503f.) legitimieren sich über die auch anderwärts bezeugte (XIV/S. 406) Gläubigkeit im Elternhaus. Eher noch wird die Beziehung zum Vater durch den Vergleich mit Gott jeglicher Kritik entzogen: Jedes Kind sagt dem Vater seine Wünsche; hat nicht auch das Erdenkind dem himmlischen Vater seine Liebe und sein Vertrauen dadurch zu beweisen, daß es von Herzen zu ihm spricht? Wird ein Vater seinem Sohne eine gerechte Bitte abschlagen, die er erfüllen kann? (XIX/S. 470)

   Ähnliche mehr oder weniger bewußte Verschlüsselungen bestimmen die Episoden, in denen das Thema  V e r b r e c h e n  zur Sprache kommt. Ich bin wohl ein noch größerer Sünder als Sie und kann mich an Stärke der Reue nicht mit Ihnen vergleichen (XIII/S. 334), gesteht Old Shatterhand einem vermeintlichen Totschläger. Doch eine nähere Erläuterung unterbleibt. Seinen Lesern gegenüber verwahrt sich der Autor vor dem Vorwurf, Kriminellen gegenüber zu große Milde walten zu lassen. Er besteht auf dem Unterschied von Rache und Strafe und darauf, daß nicht jeder zum Richter berufen, nicht jeder Verbrecher verwerflich sei. Es gelte, Vorgeschichte, Erziehung oder Umwelteinflüsse zu berücksichtigen (XIX/S. 1f.), und schließlich: Welche Menge, ja Masse von Sünden hat die millionenköpfige Hydra, welche wir Gesellschaft nennen, auf dem Gewissen! Und gerade diese Gesellschaft ist es, welche mit wahrer Wonne zu Gerichte sitzt, wenn der Krebs, an dem sie leidet, an einem einzelnen ihrer Glieder zum Ausbruche kommt! (ebd., S. 2)

   Insofern sind denn auch Zuchthäusler oder Falschmünzer nicht generell verdammenswert (ebd., S. 504f.). Wer Strafe verdient, der mag sie tragen, ist sie vorüber, so steht er wieder da wie zuvor (ebd., S. 505), lautet das Credo des Ich-Erzählers auch in eigener Sache: Ich bin überhaupt der Ansicht, daß wenigstens fünfzig Prozent der Bestraften nicht Verbrecher, sondern entweder kranke Menschen oder Opfer unglücklicher Verhältnisse sind (ebd.).

   Auf Wertungen dieser Art beschränkt sich der kryptische autobiographische Bezug der Erzählungen in dieser Phase generell. Das kann auch einmal humoristisch verpackt sein, wie etwa dort, wo seinem Roman-Ego attestiert wird: »Sennor, dann sind Sie ja ein ganz gefährlicher Mensch! Sie haben alles Talent zu einem Einbrecher.« (XII/S. 283)

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Solche chiffrierte oder spielerisch-experimentierende Aufdeckung tatsächlicher Lebensumstände korreliert paradoxerweise mit einer angestrengten Zementierung der neu fabulierten Identität. So erklärt er den Besitz der Winnetouschen Silberbüchse, die doch eigentlich in amerikanischer Erde hätte modern müssen, mit einer späteren Entnahme wegen der Gefahr indianischer Grabräuber (XIX/S. 328f.). Und mit


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der Chuzpe eines geborenen Hochstaplers kokettiert er sogar noch mit vermeintlichen ästhetischen Skrupeln angesichts dieser Erklärung – Dr. Karl May, die ›ehrliche Haut‹, dem schließlich Wahrheit und Authentizität über alles gehen:

Ich habe dieser Bemerkung hier mitten in meiner Erzählung eine Stelle gegeben, um einen scheinbaren Widerspruch schon jetzt aufzulösen. Meine Leser wissen, daß Winnetou mit der Silberbüchse begraben wurde; jetzt kaufen sie sich Bilder von mir, unter denen es welche mit der Bezeichnung »Old Shatterhand« mit »Winnetous Silberbüchse« giebt; oder die wißbegierigen Besucher, welche fast täglich mit oft wunderbarer Harmlosigkeit von »Villa Shatterhand« und meiner kostbaren Zeit Besitz ergreifen, sehen dieses Gewehr zwischen Sam Hawkens’ alter »Gun« und meinem Bärentöter hängen; da giebt es der brieflichen und mündlichen Fragen kein Ende. Man will nicht warten, bis ich in einem spätern Bande erzähle, wie die begrabene Silberbüchse wieder auferstanden ist, und so habe ich denn jetzt den schriftstellerischen Fehler begangen, eine hochgespannte Handlung durch eine nicht hineingehörige Auskunft zu unterbrechen. (ebd., S. 329)(4)

Tatsachenbezeugungen dieser Art dienen einer immer stärkeren Vermischung zweier Welten. Amerika und Deutschland nähern sich gemäß Autorintention einander an oder verschmelzen gar. So wird denn auch Winnetou nach Dresden verfrachtet, wo der Apache einer staunenden Leserschaft als (mäßig Bier trinkendes und Vereinssängern lauschendes) lebendes Inventarstück einer zunehmend zirkushaften Westernwelt präsentiert wird.(5) Fürwahr, manches lief damals auch vom Literarischen her schon auf die Katastrophe zu. Sie tritt in dem Moment ein, als die Rolle des sächsischen Schreibers mit Vergangenheit und die jetzige Heldenpose nicht mehr miteinander vereinbart werden können. Und das wiederum geschieht um so schneller, je rasanter Karl May sich in die neue weltmännische Identität einlebt.

   Spätestens seit 1894 existieren Privatbriefe, in denen der Autor vehement auf der Tatsächlichkeit seiner exotischen Räuberpistolen beharrt.(6) 1896 erscheint Mays erste autobiographische Schrift ›Freuden und Leiden eines Vielgelesenen‹ mit der ausdrücklichen Versicherung, in seinen Büchern meist Selbsterlebtes ... und Selbstgesehenes beschrieben zu haben.(7) Im Januar des gleichen Jahres hatten Mays die ›Villa Shatterhand‹ in Radebeul bezogen. Ihre Ausgestaltung mit zahlreichen Jagdtrophäen, darunter den im gleichen Jahr gefertigten Gewehren Silberbüchse und Bärentöter, unterstreicht solche Ansprüche. 1897/98 unternimmt er zwei triumphale Lesereisen durch Deutschland bzw. Österreich, die der Fiktion neue Nahrung geben, hier werde Authentisches berichtet. Im Band XVIII ändert sich der Reihentitel ›Karl May's gesammelte Reiseromane‹ – auffälligerweise mitten im ›Mahdi‹-Zyklus – in ›Karl May's gesammelte Reiseerzählungen‹, und die identifikatorischen Anspielungen werden von Band zu Band unabweisbarer.(8) Es lag also in der Konsequenz solcher Absichten, daß nun auch im literari-


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schen Werk erstmals der Verfasser und Handlungsträger namentlich als ›May‹ auftritt (XXIV/S. 7) und zudem die ausdrückliche Bestätigung erfolgt: »Ich habe nämlich die eigentümliche Gewohnheit, eigentlich ein deutscher Schriftsteller, nebenbei aber auch Old Shatterhand zu sein.« (ebd., S. 215)

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Das Werk, in dem mit solchen Aussagen ein vorläufiger Schlußstrich unter zahlreiche Annäherungsversuche an die neue Rolle gezogen wird, heißt ›»Weihnacht!«‹. Sein Erscheinen im Jahre 1897 markiert – wie die Forschung bereits betont hat(9) – einen Höhepunkt, der zugleich ein Wendepunkt in der Entwicklung des Erzählwerks darstellt. Weshalb es angesichts der Vorgeschichte mit einer gewissen psychologischen Zwangsläufigkeit dazu kommen mußte, daß May die ihm von seinen Lesern zugetraute Heldenrolle irgendwann auch einmal tatsächlich annehmen würde, haben Roxin, Stolte und andere überzeugend dargelegt. Warum er im Moment des Vollzugs aber zugleich seine frühe sächsische Vergangenheit ins Spiel bringt, ist damit noch nicht geklärt. Schließlich hätte er sich nun darauf beschränken können, als Globetrotter und Westmann in seinen Büchern aufzutreten und die früheren Jahre im Dunkel zu belassen. Offenbar drängte es ihn aber zunehmend, zumindest auch die Jugend zum Erzählgegenstand zu machen, wie das im 116seitigen Einleitungskapitel dann erstmals in den Reiseromanen geschieht. In diesem Text kulminiert jene schizophrene Doppelanstrengung des gleichzeitigen Aufdeckens und Verhüllens tatsächlicher Lebensumstände. Und wir müssen ein wenig bei ihm verweilen, um die vielfältigen Motive zu erfassen, die May zu solchem Schritt getrieben haben.

   Eine erste Begründung liegt darin, daß der soeben vor aller Augen inthronisierte heroische Weltenbummler nun auch für seine bürgerliche Existenz öffentlichen Respekt erheischt. Er ist stolz auf den Weg, den er zurückgelegt hat. Seine Lebensleistung kann sich sehen lassen als Aufstiegsgeschichte und moderner phantastischer Bildungsroman. Sein »erschriebenes Ich«(10) verlangt nun seinerseits gebieterisch danach, daß Mays Autorschaft gebührend gewürdigt werde, was den ausgesprochen literarisch akzentuierten Handlungsverlauf und Anspruch von ›»Weihnacht!«‹ erklärt. Hinzu kommt der unverkennbare Drang nach Aufarbeitung früherer Demütigungen, und so schreibt der erfolgreiche Romancier seine ärmliche Lebensgeschichte auf eine für ihn typische kompensatorische Weise um. Aus dem geprügelten, dem Direktor unterworfenen pädagogischen Subjekt wird nun ein preisgekrönter Vertreter der Musik und vor allem der Literatur, die darüber hinaus ihren (auch das praktische Leben einschließenden) Triumphzug sogar in den Wilden Westen hinein verlängert.


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Ich, der ärmste unter den Schülern meiner Klasse, liebte die Musik glühend und nahm außer dem gewöhnlichen Unterrichte noch Privatstunden in der Harmonielehre u. s. w., was mich auf trockenes Brot setzte, denn ich ernährte mich durch Unterrichtgeben à Stunde 50 Pfennige und mußte also die Stunde Harmonielehre zu einem Thaler mit sechs Stunden meiner Privatzeit bezahlen. Das that ich aber gern, und der Hunger von damals hat mir bis heute noch nichts geschadet. (XXIV/S. 3)

Im Gegenteil. Die Vorgesetzten (ebd., S. 7ff.) und möglicherweise auch Klassenkameraden, die ihn gehänselt haben mochten,(11) müssen staunend dem poetischen und musikalischen Schülergenie ihren Tribut zollen. Der Mittellose wird durch die Geldpreise jetzt selbst zum großzügigen Spender, der die Eltern und Notleidende unterstützt (ebd., S.17, 113). Die Intrige eines Mitschülers – man denke an die reale Kerzenepisode – scheitert kläglich, und May selbst gefällt sich in der Pose des Verzeihenden, der dem Sünder die Klassenkonferenz und damit die potentielle Relegation erspart (ebd., S. 14). Es dürfte für Mays psychische Befindlichkeit wichtig gewesen zu sein, daß er solche literarische ›Wiedergutmachung‹ nicht mehr nur im exotischen, sondern auch einmal konkret im heimatlichen Milieu verorten konnte, wo sich zudem tatsächliche Geschehnisse wie z. B. erste Trink- oder Rauch-, kleine Wechselkurs- oder Schmuggelerlebnisse im Grenzgebiet einbringen ließen (ebd., S. 21ff., 69ff.) und er versteckt auf den wirklichen Schauplatz seiner Weltreisen anspielen konnte:

Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden (ebd., S. 20).

Dazu paßt auch eine Carpio betreffende Textstelle, die in verschlüsselter Lesart Probleme der Fiktion aufzuwerfen scheint:

»Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will«

   »Bei dir wird eben alles zum Roman!« (ebd., S. 77f.)

oder:

»Er müßte falsche Papiere haben!«

»Falsche Papiere giebt's genug!«

»Und ein ungeheurer Lügner sein!«

»Lügner giebt's genug!«

»Er müßte auch dich und eure Verhältnisse kennen!«

»Solche Kenner giebt's genug! ...« (ebd., S. 79)


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Solches (mögliche) indirekte Herantasten an die eigene Biographie ist gerade für ›»Weihnacht!«‹ ausgesprochen bezeichnend, gipfelnd in den humoristischen Szenen von Carpios ›Mundraub‹ und entsprechenden Kommentaren: »Das ist es ja, was mich so sehr empört, nämlich, daß ich, der Unschuldige, bei der Entdeckung auch in die Gefahr käme, als Dieb betrachtet zu werden!« (ebd., S. 87f.) oder: »Solche Schande kann man erleben, wenn man einen Spitzbuben zum Busenfreund hat!« (ebd., S. 102)

   Und dann reitet May doch tatsächlich der Schalk, wenn er einen Studienabbrecher wie folgt charakterisiert:

»Es giebt derartige Menschen, wie der Gendarm den Franzl beschreibt – Schulmeister studirt! – sie besitzen keine akademische Bildung, denken aber vielleicht, noch mehr als das zu können. Wenn man sie bei dieser ihrer Meinung läßt, fließen sie vor lauter Freundschaft über« ... Dieses sein Latein machte mir riesigen Spaß. Da er nur Sprichwörter brachte, nahm ich ihn sehr stark in Verdacht, sie irgend einem alten Verzeichnisse entnommen und sich eingeprägt zu haben, um sie gelegentlich loszulassen und als Lateiner zu gelten. Den lateinischen Text hatte er sich gemerkt, aber nicht den Sinn desselben, und so durfte man sich nicht darüber wundern, daß er sie meist grad dann in Anwendung brachte, wenn ihr Gebrauch zum Unsinn wurde. Es giebt solche eigentümliche Menschen, und er ist nicht der einzige dieser Art, den ich kennen gelernt habe (ebd., S. 30, 36).

Daß May gerade in diesem Jugendkapitel die Anspielungen so zahlreich werden läßt, ist verräterisch. Natürlich distanziert der Humor. Natürlich weiß sich der Erzähler zunächst dadurch geschützt, daß er die Probleme anderen Personen aufbürdet. Warum aber tut er es überhaupt? Die Freude darüber, daß er jene kriminelle Phase nun überwunden hat, daß sein öffentliches Image ihn darüber hinaus (noch) über jeden Verdacht erhaben sein läßt, erklärt nicht alles. Es liegt in solchen immer wiederkehrenden Szenen auch ein bewußtes Spiel mit der Gefahr des Entdecktwerdens. Dabei mag eine Ahnung mitgespielt haben, daß er auf hohem Seil seine Zauberkunststückchen vollführe und der Absturz irgendwann einmal mit einer gewissen Zwangsläufigkeit erfolgen müsse.(12) Aber gerade dieses Risiko besaß offenbar seinen unwiderstehlichen Reiz.

   Schließlich ein letztes: Wenn es stimmt, wofür vieles spricht, daß das Streben nach Anerkennung der eigentliche psychische Motor seiner Handlungen war, so konnte es ihm auf Dauer nicht mehr genügen, nur in seiner fiktiven Rolle geliebt zu werden. Wie mancher Reiche oder Mächtige unter dem Verdacht leiden mag, daß ihm entgegengebrachte Ovationen nicht eigentlich seiner Person, sondern vielmehr dem Besitz oder der Stellung gelten, so dürfte sich in May mehr und mehr das Bedürfnis eingestellt haben, von seiner Lesergemeinde nun auch in Kenntnis der tatsächlichen Lebensumstände angenommen zu werden. Auch wollte er für tatsächliches früheres Verhalten wenigstens inkognito Ver-


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zeihung erlangen oder für seinen sittlichen Aufstieg bewundert werden. All dies legte es nahe, die Romanexistenz langsam an die bürgerliche Realität anzupassen.

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Daß die Verschmelzung von Bürger- und Phantasie-Ich in der Einheitsgestalt ›Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand‹ allerdings gerade von der Rezeption her seine Probleme barg, zeigen die nächsten drei Bände. Der Autor hatte nämlich, nachdem nun die sächsische Jugendphase in seinem Sinne ›aufgearbeitet‹ war, die Leser darüber hinaus noch mit dem Faktum seiner Eheschließung bekannt zu machen, und das war gewiß keine Bagatelle. Ein Held, ein Gott, ein Revolutionär oder Prophet ist nämlich dem kollektiven Wunsch seiner Anhänger gemäß möglichst ein zölibatäres Wesen, unbeschränkt handlungs- und entscheidungsfähig, einzig der Öffentlichkeit und dem Wirken für sie verpflichtet. Von der katholischen Kirche bis zu Hitler oder einzelnen Popstars wußte bzw. weiß man um diesen massenpsychologischen Grundsatz. Und der geborene Volksschriftsteller May war sich selbstverständlich auch darüber im klaren, was er mit diesem Heiratsgeständnis seiner Gemeinde zumutete.

   Das beweist die auffällige erzählerische Sorgfalt, mit der er bei der nun anstehenden Aufklärung zu Werke ging. Im 1898 erschienenen ersten Band des ›Silberlöwen‹ – die Bände XXVI/XXVII erschienen früher als ›Am Jenseits‹ – verkündete er erstmals die skandalöse Neuigkeit. Der ideelle Kontext war durch frühere Äußerungen über segensreiche weibliche Einflüsse (XXVI/S. 376f.) schon vorbereitet, die Nachricht selbst erfolgt jedoch mit kalkulierter Beiläufigkeit in Form einer Replik Kara Ben Nemsis auf Halefs Auslassung, jener könne als Unverheirateter sich kein Urteil über Frauen erlauben:

»Erst dann, wenn du auch ein Weib besitzen wirst, kannst du dich überzeugen, ob und daß – – -«

»Lieber Halef, ich habe eins!« unterbrach ich ihn wieder.

Er trat zwei Schritte zurück, bückte sich halb nieder, sah mir, der ich am Feuer saß, erstaunt in das Gesicht und fragte:

»Was – – was – – hast – – du?«

»Auch eins.«

»Ein Weib?«

»Ja.«

»Welch ein Scherz!«

»Es ist kein Scherz.«

Da ließ er vor Verwunderung die Peitsche aus der Hand fallen und fragte:

»Kein Scherz? Hättest – – hättest du denn das Geschick dazu, eine – eine – – Frau zu besitzen?«


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»Warum denn nicht?«

»Sihdi, erlaube, daß ich mich wieder niedersetze! Dein so ganz unerwartetes Weib ist mir in die Kniee gefahren; ich fühle, daß sie zittern!«

Er setzte sich, betrachtete mich kopfschüttelnd vom Kopfe bis zu den Füßen, zog das allerernsteste seiner Gesichter, lachte dann aber hell auf, schlug die Hände zusammen und rief:

»Allah bewahre mich! Es ist doch nur ein Spaß!«

»Lieber Hadschi, es ist wirklich Ernst. Sieh hier diesen Ring, welcher ohne Steine ist! Solche Ringe tragen nur diejenigen Christen, welche Frauen haben.« ...

»Sihdi, laß mich Atem holen! Sag mir, ob ich vielleicht schlafe – – ob ich träume! Ich möchte weinen, bitterlich weinen!«

»Warum? Ich denke vielmehr, du solltest dich freuen!«

»Freuen?! Hast du diese deine Frau denn lieb?«

»Von ganzem Herzen.«

»Aber, wie kannst du, wenn dein ganzes Herz diesem plötzlichen, unvermuteten Weibe gehört, denn noch mich lieb haben, mich, deinen Halef, den besten und treusten deiner Diener und Genossen!«

»Ich habe dich noch genau so lieb wie vorher.«

»Das ist unmöglich; das ist nicht wahr! Dein Herz ist weg, ist nicht mehr vorhanden. Du hast ja selbst gesagt, daß es dieser unerwünschten und ganz unwillkommenen Frau gehört! Ich mag sie nicht sehen; ich will nicht mit ihr reden; ich mag nichts von ihr hören! Ja, höre es: Ich will auch von dir nichts mehr wissen!«

Er stand wieder auf und entfernte sich. Am Flusse blieb er stehen und starrte halb zornig und halb traurig in das Wasser. Der gute Hadschi war eifersüchtig! Ich sagte kein Wort, denn ich kannte ihn. Und richtig: Er kam nach einer Weile langsamen Schrittes zurück, setzte sich mir gegenüber, seufzte tief und klagte:

»So, in dieser traurigen Weise bin ich von dir verlassen worden, von dir, für den ich mein Leben unbedenklich hingegeben hätte! Du hast der treusten Freundschaft den Todesstoß versetzt. Ich wollte sogar mit dir nach Persien reiten; nun aber kehre ich wieder um, unbedingt wieder um!«

Ich hätte lachen mögen und war doch tief gerührt.

»Lieber Halef,« sagte ich. »Warst du mein Freund, als du damals deine Hanneh zum Weibe nahmst?«

»Ja.«

»Hast du mich darum verlassen?«

»Nein.«

»Bist du mein Freund geblieben?«

»Ja.«

»So ist es auch bei mir.«

»Nein; das ist jetzt ganz, ganz anders, Sihdi!« ...

Nach einer Weile sagte er:

»Gestehe, daß du wegen dieser Frau ein böses Gewissen gehabt hast!«

»Ich weiß nichts davon.«

»Doch! Warum hast du im Duar davon geschwiegen? Warum sprichst du erst jetzt davon? Das ist nur das böse Gewissen!«

»Ich spreche erst jetzt davon, weil wir nun allein miteinander sind. Von seiner Frau darf man nur mit dem besten, verschwiegensten Freunde sprechen; das weißt du doch.«

»Ich weiß es. Verzeih, Sihdi, du hast recht!« (XXVI/S. 390-93)


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Es ist ganz wichtig – und dies kennzeichnet den wesentlichen Unterschied zur künftigen Reaktion auf spätere Enthüllungen –, daß der Autor hier noch die Gefühle seiner Leser ernsthaft mit einbezieht, ihrer wahrscheinlichen Überraschung und möglichen Bestürzung gebotenen Ausdruck verleiht und Befürchtungen anspricht, die gewiß und nicht ganz zu Unrecht verbreitet waren. Er taktiert äußerst geschickt, indem er versucht, das Provokatorische durch Komik aufzuheben oder doch wenigstens zu mildern. Und als Meistergriff erweist sich das Verfahren, Halef zum Sprecher einer vermuteten Leseropposition zu machen, eine Figur, die sich einerseits als Sympathieträger bewährt hat, andererseits von Beginn an als notorisches Demonstrationsobjekt höherer Mayscher Einsichten konzipiert war.

   Halefs Reaktionen und Karas Beschwichtigungen dienen letztlich der stellvertretenden Überzeugungsarbeit eines Autors, der sein Publikum auf neue Wege mitziehen will. Die dabei verwendete Argumentationsstrategie zeigt den Autor nochmals auf dem Höhepunkt seines Könnens. Gerade das Aussprechen von Ängsten oder Ärgernissen in Halefs ganz eigener Drastik erfüllt kathartische Funktion. Dessen Eifersucht ist eine natürliche Regung und charakterisiert zugleich das spezifische Autor-Leser-Verhältnis, das sich inzwischen herausgebildet hatte (man denke übrigens zur aktualisierenden Veranschaulichung der Problematik an bestimmte Teenagerreaktionen anläßlich der Hochzeit von Jugendidolen). May kalkuliert diese Gefühlslage ein und läßt seinen Halef dabei alle Stufen körperlich-seelischer Exzitation durchleben: Dem ungläubigen Schrecken folgen das Fallenlassen der Peitsche, das Kniezittern, das unüberlegte bloße Plappern, der erneute, durch Illusionen genährte Zweifel, die Atemlosigkeit, der Drang, zu weinen, die Verwünschung, die zornig-traurige Flucht, die zögernde Rückkehr, das Selbstmitleid, die Anklage und schließlich nach einigen Zwischenstufen – die Bekehrung. Solches Verhalten war gewiß für viele Leser nachvollziehbar. Zugleich erlaubte seine Karikierung aber auch, sich überlegen zu fühlen, und distanzierte somit von einem ›Helden der Dienerklasse‹, der sich so gehen ließ und dabei noch zusätzlich in Argumentationsnöte verstrickte.

   Das galt für so unbeholfene Einwände wie etwa: »... hättest du denn das Geschick dazu, eine ... Frau zu besitzen?« oder für manche drollige Wortwahl wie z. B.: »Dein so ganz unerwartetes Weib ist mir in die Kniee gefahren.« Auch befindet sich Halef – und mit ihm übrigens ein beachtlicher Teil der Leser – insofern in schlechter Verteidigungsposition, als er sich von Kara Ben Nemsi ›vorhalten‹ lassen muß, schließlich selbst geheiratet zu haben: »Warst du mein Freund, als du damals deine Hanneh zum Weibe nahmst?« Andererseits trifft er ins Schwarze, wenn er Kara alias May bezichtigt, daß dieser wegen dieser Frau ein böses Gewissen gehabt habe. Und die Frage »Warum sprichst du erst jetzt da-


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von?«, hat ihre gattungsspezifische, autoren- wie rezeptionspsychologische Dimension, der sich der Verfasser, indem er rein handlungsbezogen argumentiert, eher schlitzohrig entzieht.

   Schließlich regierte die Befürchtungen mancher Leserinnen und Leser ja nicht etwa irgendwelche Frauenfeindschaft, sondern vielmehr die Ahnung, daß nun die Zeit frischfröhlicher Abenteuergeschichten eines ungebunden Schweifenden vorbei sein könnte. Auf solche Besorgnisse gehen Textstellen ein, die nun versichern, daß auch eine Ehefrau kein Hemmnis für exotische Erlebnisse zu sein brauche,(13) oder Halefs elegischer Abgesang auf frühere frauenlose Zeiten, der dann aber plötzlich zu einem Hymnus aufs Eheleben umschlägt:

»Sihdi, es war doch immer wunderschön, wenn wir beide, auf unsern unvergleichlichen Pferden sitzend, so ganz allein, von keinem fremden Menschen begleitet, immer hinein in Allahs schöne Welt ritten, wohin es uns gefiel! Diese Welt gehörte uns, denn da wir keine Seele bei uns hatten, konnte niemand sie uns streitig machen. Wir thaten, was wir wollten, und unterließen, was uns nicht gefiel; wir waren unsere eigenen Herren, denn wenn es jemanden gab, dem wir zu gehorchen hatten, so bestand dieser Jemand aus zwei Personen, nämlich aus mir und aus dir. Ich bin mir da oft als der Gebieter des ganzen Erdkreises vorgekommen und habe die unersteigbaren Höhen meines Ruhmes aus den Tiefen meines Selbstbewußtseins hervorgeholt, um in andachtsvoller Bewunderung an ihnen emporzuklimmen und dann fröhlich wieder herabzusteigen. Das konnte ich, weil wir allein waren und es also keinen unwillkommenen Störenfried gab, dem es einfallen konnte, ohne meine Erlaubnis und hinter meinem Rücken mit hinauf- und hinunterzuklettern. Ja, das war eine sehr, sehr schöne Zeit, in welcher wir erlebten, was kein anderer Mensch erlebt, und zwar nur deshalb, weil wir eben so allein waren und uns nur nach uns selbst zu richten brauchten. Ich sage dir, Sihdi, alle diese Thaten und Begebenheiten sind rundum an den Wänden meiner innern Seele aufgeschrieben und mit unvergänglichen Pflöcken in den Boden meines Gedächtnisses eingeschlagen, wie man Pferde, Kamele und lebhafte Ziegen an Pflöcke bindet, wenn man befürchtet, daß sie über Nacht den ihnen angewiesenen Ort mit einem andern vertauschen wollen.«

   Er machte eine Pause, um nach diesem langen Satze einmal ausgiebig Atem zu holen. ...

   »Also ich denke noch mit Wonne an die Zeiten zurück, in denen wir uns nur nach uns selbst zu richten brauchten, denn da habe ich empfunden, daß der Mann der eigentliche und wirkliche Beherrscher seines Lebens und seines Daseins ist. Aber ebenso schön und in mancher Beziehung noch schöner ist es doch, wenn man einen Tachtirwan bei sich hat, in welchem die holdselige Gebieterin des Frauenzeltes sitzt. Meinst du, daß ich da recht habe?« (XXV/S. 1f.)

Solchem Aufgalopp im Band ›Am Jenseits‹ folgt nun die Einführung Emmas als Emmeh (ebd., S. 3ff., 8) unter erneuter humoristischer Kommentierung Halefs. In Mays üblicher Weise wird die – übrigens kinderlose (XXVI/S. 549) – Ehe verklärt (XXV/S. 168) bzw. Emma gezeichnet als treu bis in den Tod (ebd., S. 69), friedensgesinnt (ebd., S. 220; vgl. XXVII/S. 39f.), jung und makellos schön (ebd., S. 459). Nach dem Zer-


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würfnis mit seiner Gattin im realen Leben wurde in den Neuauflagen ab 1905 Emmeh dann durch Dschanneh ersetzt. Man sieht daran, welche Schwierigkeiten sich aus der Verquickung von Romanhandlungen mit Elementen einer vorgeblich authentischen Lebensgeschichte ergeben konnten.

*

Der Blitzschlag der Entlarvung, die durch Mamroths Frankfurter Stellungnahme ausgelöst und vom Donnergrollen der nun immer zahlreicheren Vergangenheitsbewältiger begleitet wurde, verleiht allen Selbstäußerungen seit Sommer 1899 eine grundsätzlich andere Qualität. Denn auch wo sich der eine oder andere seiner Anhänger noch wie bisher mit Zähigkeit an die Vorstellung klammern mochte, Romanheld und Verfasser seien weitgehend identisch, war durch die Pressekampagne ein Teil der Leser gewiß nachhaltig in seinem Glauben an den Meister erschüttert worden und las nun auch alles Autobiographische erstmals mit aufkeimendem Verdacht. Für May galt es somit in erster Linie, dem verheerenden Eindruck entgegenzuwirken, daß er sein Publikum über Jahre hinweg schlicht hinters Licht geführt, während er sich gleichzeitig in moralisierenden Auslassungen als Hohepriester christlicher Wahrheitsliebe geriert hatte.

   Er reagierte zunächst mit einer Flucht nach vorn und betonte nun ausschließlich neuere Werktendenzen, die in den letzten Bänden bereits angeklungen waren. In weiteren Schritten demontierte er dabei sein ursprüngliches Image. Der ›lonely rider‹ war ja bereits mit der Einführung Emmehs ansatzweise aufgegeben worden, eine Entwicklung, die in ›Winnetou IV‹ ihren Abschluß finden sollte, wo die Ehefrau gar zur Kampfgefährtin wird. Der ›arme Poet‹ hatte sich durch den spektakulären Verkaufserfolg der 90er Jahre und die Selbstdarstellung als prominenter Bewohner der ›Villa Shatterhand‹ ohnehin langsam verabschiedet. Als nächstes war das Familienidyll von Ernstthal ebenso zu korrigieren wie manche Bildungsrodomontade.(14) Und so liest man denn über Mays Vater dieses Mal schon ein wenig konkreter:

Er war ein einfacher Bürgersmann gewesen, schlicht und recht, wie arme Leute sind, vor deren Thür die Dürftigkeit am Tage wacht und auch des Nachts nicht schläft. Er hatte jenes Forschen und Suchen nicht begreifen können. Die materielle Not ist blind gegen Ideale. Er litt unter meinen äußeren Niederlagen; an den inneren Siegen aber, zu denen sie mich führten, konnte er nicht teilnehmen; sie brachten ihm keinen Gewinn. Und als ich endlich, endlich oben war, aus voller Brust tief Atem holend, weil ich in meinem Glauben an die Menschheit die Ueberzeugung in mir trug, daß mir vergeben sei, da legte er sich hin und starb, mich zwingend, meine schöne Hoffnung, alles, alles an ihm gut machen zu können, nach jenem Lande zu richten, in welchem ein jeder nachzusühnen hat, was hier auf Erden zu sühnen vergessen worden ist! (XXVIII/S. 624f., vgl. 625)


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Aufklärung über sein kriminelles Vorleben, seine Kolportageromane oder weitere (z. T. verkaufsfördernde) Fiktionen wie etwa das ›k.‹ im ›Kürschner‹ blieb er allerdings (jetzt noch) seinen Lesern schuldig, es sei denn, man wertete manche Traumepisode entsprechend (XXIX/S. 313ff.). Und in puncto puncti befolgte er in den Schlußbänden des ›Silberlöwen‹ durchweg die Strategie des Angriffs auf seine Kritiker als vermeintlich beste Form der Verteidigung. Ihr dienten ausführliche Gespräche zwischen Kara Ben Nemsi und dem Ustad sowie eine unspezifizierte Beichte vor allen seinen Lesern (XXVIII/S. 626), wobei er einer konkreten inhaltlichen Auseinandersetzung auswich und sich vielmehr – nach dem Phönix-aus-der-Asche-Modell – als geläuterter neuer Mensch und Autor präsentierte, der früheren unzulänglichen Strebungen längst entsagt habe.(15) Die Ehrentitel ›Kara Ben Nemsi Effendi‹ und ›Old Shatterhand‹ legte er nun feierlich ab, dabei beteuernd, sie seien ihm nichts als inzwischen entbehrliche literarische oder missionarische Zweckformeln gewesen:

»In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat ... Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte ›Ich‹ in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher ›unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten‹ schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen, sondern unglaublich, über alle Maßen unglaublich ist nur die Blindheit derer gewesen, die einen solchen Wahnsinn für möglich hielten, weil sie sich in den ihnen sehr erwünschten Irrtum hineinlogen, daß diese meine Bücher nur zur vagen Unterhaltung der unerwachsenen Jugend, nicht aber ganz im Gegenteile für die geistigen Augen klar und ruhig denkender Leser geschrieben seien.«(XXIX/S. 67f.)

Und weiter:

»Ich schrieb eine Menge Bücher. Ich ließ mein ›Ich‹ in ihnen sprechen. Ich wurde nicht verstanden. Ich gab das Köstlichste, was es auf Erden giebt, in irdenem Gefäße. Ich füllte diese Schalen mit einem Rätsel an und ließ die Menschheit trinken. Es tranken Hunderttausende daraus, doch allen war der Trank nichts als nur Wasser. Die Schale täuschte alle! Ich hatte es den Menschen zu bequem gemacht. Man trank gedankenlos und lachte mich dann aus. Das ist der große Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe, weiter nichts! Der Sterbliche trinkt lieber Sumpfwasser aus goldenen Gefäßen, als Himmelsnektar aus nur irdenen. Da stieg in mir ein heißes Wallen auf. Es griff ein heiliger, wenn auch stiller Zorn in meine Seele. Nicht daß ich diese irdenen Gefäße nun zertrümmerte, o nein! Ich nahm mir vor, nun goldene zu geben, doch mit demselben Trank, den man für Wasser hielt. Ich habe mir das Gold dazu auf diesem Ritt geholt, der mich zum geistigen Haupt der Dschamikun geführt ... Von heute an werde ich im ›hohen Hause‹ schreiben – – – ganz anders als bisher.« (ebd., S. 70f.)

Das war allerdings ein starker Tobak, waren leicht durchschaubare Taschenspielertricks, mit denen er Vorwürfe seiner Kritiker in Anklagen,


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Niederlagen in scheinbare geistige Siege umzuwandeln suchte (ebd., S. 158ff.). Er kaprizierte sich dabei vor allem auf die gewiß anfechtbare Selbstgerechtigkeit seiner Gegner, nahm sie darüber hinaus als Scheinindiz für weitgehende eigene Schuldlosigkeit und eines tapfer getragenen Verfolgerschicksals, dem man sich in erhabener Verachtung zu stellen habe. Sieht man ab von der erfahrungsgesättigten Passage über die dämonischen Versuchungen der Popularität (ebd., S. 72), bei der May sich jedoch wiederum vor allem als Opfer präsentiert, findet sich im ganzen Werk kein einziges befreiendes Wort eines tatsachenbezogenen Eingeständnisses, sondern nur pathetisch ummantelte Wehleidigkeit, mit der er sich – hart an der Grenze des ungewollt Blasphemischen – geradezu zur Nachfolgegestalt Christi hinaufstilisiert (ebd., S. 66, 176).

   Diese vorgebliche Beichte ist eine mitleidheischende Groteske, die auf die Dummheit und Vergeßlichkeit seiner Leser spekuliert, womit man allerdings zugegebenermaßen auch anderweitig nur selten fehlgeht. Kein Satz darüber, wie genußvoll er die fingierte Heldenpose früher ausgekostet, wie herrisch er auf diesem Status gegenüber Zweiflern bestanden hatte. Vergessen die zahllosen inner- wie außerliterarischen Beteuerungen,(16) die geradezu einschüchterne Rhetorik seiner Versicherungen, die kasperlehaften Demonstrationen heroischer Existenz mit aufgeknüpftem Hemde coram publico. Nach neuester Lesart also alles nur mehr selbstverschuldete Mißverständnisse törichter Leser, die seinen Geistesflügen nicht zu folgen vermochten, ihn in seinen lautersten Absichten verkannten oder zu Unrecht stigmatisierten. Aber einst werde kommen der Tag, an dem er strahlend gerechtfertigt vor der Welt erscheine, usw., usf.

   Hätte man sich nicht längst daran gewöhnt, den ›Fall May‹ vor allem von der skurrilen oder pseudologischen Seite her zu betrachten, und zudem beträchtlichen Spaß an dem, was aus pathologischen Denkprämissen an bizarren und durchaus einfallsreichen literarischen Blüten hervorquillt, man könnte ob solcher bigotter Insistenz und Verdrehung von Ursache und Wirkung ihm die Schwierigkeiten nachgerade an den Hals wünschen, in die May sich durch seine Art von verbohrter Verteidigung immer mehr verstrickte. Oder anders gesagt: dieser Hochstapler hat in der Entlarvungsphase so gar nichts Erheiterndes, das Gestalten wie Felix Krull oder Gert Postel auszeichnet, so gar nichts Überlegenes und damit Amüsant-Didaktisches, das uns eingängig exemplifizierte, wie Betrüger und Betrogene sich häufig gegenseitig bedingen. Doch vermutlich sind ästhetische Kategorien zur Beurteilung dieses Lebens ohnehin nicht besonders geeignet.

   Bleibt noch zu ergänzen, daß May auch mit der von ihm gewählten Reaktion Gefahr lief, zumindest Teile seiner Lesergemeinde zu verprellen. Wer schließlich seiner Durchschnittsleser akzeptierte tatsäch-


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lich, daß mit dem Verzicht auf Old Shatterhand und seine Insignien der Macht in Form der berühmten Gewehre (ebd., S. 69f.) – ein Entschluß übrigens, der schon sehr bald verwässert wurde,(17) – zugleich auch die entsprechende Erzählweise aufgegeben wurde? »Aber weißt du, was du thust?!«, heißt es dazu in bemerkenswert korrekter Selbstdiagnose: »Du kannst nie wieder solche Bücher schreiben, wie du geschrieben hast!« (ebd., S. 69), »Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar, gar nicht mehr von dir sprechen!« (ebd., S. 70) Das war nun ein wenig übertrieben und verlieh Mays erklärtem Aufbruch zu neuen ideellen Ufern etwas demonstrativ Heroisches. Doch zeigt es konkrete Befürchtungen, die gewiß nicht unbegründet waren und von nachfolgendem Zweckoptimismus eher bestätigt als ausgeräumt werden. Denn daß die realen Dschamikun tatsächlich so unwandelbar treu zu ihrem Ustad standen, wie uns ›Silberlöwe III/IV‹ allegorisch glauben machen wollen (ebd., S. 180), entsprang wohl eher einer Wunschvorstellung des Verfassers.

*

Die Probe aufs Exempel war als nächstem May-Roman ›Und Friede auf Erden!‹ auferlegt, der eine bemerkenswerte Umorientierung im Selbstverständnis der Ich-Figur zum Ausdruck bringt. Das Prestige des Westmanns und Orienthelden geht darin unübersehbar auf den Schriftsteller über. Mehr noch: die Literatur ersetzt das Abenteuer, wobei stets gesagt werden muß, daß Literatur für den May jener Zeit fast immer die Predigerfunktion einschließt.(18) Der Band von 1904 führt dabei quantitativ wie qualitativ eine Entwicklung zum Höhepunkt, die bereits in früheren Romanen angelegt war, allen voran in ›»Weihnacht!«‹. Wie in diesem Buch wirkt ein von May verfaßtes Gedicht als handlungsförderndes, ja -strukturierendes Leitmotiv. Darüber hinaus ist es das erste Buch, bei dem Umstände, Funktionen und Leistungen des Schreibens zu einem Handlungsschwerpunkt, wenn nicht zur Hauptidee werden.

   So kommt der Autor mit der erklärten Absicht nach Ägypten, an seinen ›Himmelsgedanken‹ zu dichten (XXX/S. 8f.). Er belauscht ein Gespräch, in dem seinen Werken ein Übermaß an Phantasie und weichlicher Frömmigkeit zugeschrieben wird (ebd., S. 14ff), ein Urteil, das im Lauf der Handlung durch Wallers Kapitulation vor der Wirkung Mayscher Werke sich selbst aufhebt (ebd., S. 452, 602f.) und von anderen ohnehin nicht geteilt wurde (ebd., S. 364). Der Autor vermittelt seinem arabischen Diener den Wert des von ihm Geschriebenen (ebd., S. 52), kommentiert (indirekt) frühere Texte wie ›Im Lande des Mahdi‹ (ebd., S. 14f.) oder ›Am Jenseits‹ (ebd., S. 293f., 405f., 452, 602f.), erinnert sich an Jugendreimereien für die Eltern und dichtet auch jetzt im Kreis seiner Edelmenschen (ebd., S. 387f.). Er äußert sich poetologisch, nennt


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z. B. alle früheren Reiseerzählungen nur Vorstudien, Uebungen und Skizzen (ebd., S. 597), und verwahrt sich in einem Bonmot gegen Kürschners Ansinnen, ihm einen militaristischen Beitrag zur China-Kampagne abzuverlangen: Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun! (ebd., S. 491)

   Bezeichnend für den Perspektivenwechsel, den dieses Buch in Steigerung von Tendenzen aus ›»Weihnacht!«‹ aufweist, ist eine typische Inkognitoszene, bekannt aus unzähligen Varianten der Orient- und Indianerbücher. Das Schema, wonach mit der heimlichen Prominenz des Ich-Helden gespielt wird, bleibt dabei gewahrt, doch die bewundernde Aufmerksamkeit gilt jetzt nicht mehr dem Westmann, sondern dem Schriftsteller (ebd., S. 292f.). Dessen übermächtige Wirksamkeit zeigt sich vollends dadurch, daß seine Verse die Handlung regeln und die entscheidenden Haltungsänderungen veranlassen (ebd., S. 57f., 413f., 445-49, 469ff., 643-48 u. a.). Der Ich-Erzähler schildert also – wie er selbst eingesteht – in diesem Werk keine Reiseabenteuer mehr, an welchen – wie es jetzt abwertend heißt – sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt. Vielmehr präsentiert er sich jetzt als Autor, dessen Operationsfeld die menschliche Psyche darstellt: ... wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt. (ebd., S. 451)

   Nun hatte auch in den klassischen Reiseromanen das Amt des Schriftstellers seinen Stellen- wie Prestigewert und manche literarische Reflexion ihren Raum. Doch mustern wir entsprechende frühere Einlassungen, so erkennen wir neben Kontinuitäten auch deutliche Unterschiede. Wo z. B. im Orient- oder Winnetou-Zyklus die Autorenrolle zur Sprache kommt, geschieht dies im Grunde aus einer eher defensiven Position heraus. Versichert wird vielfach mittels einschlägiger Szenen, daß ein book-maker keine lebensuntüchtige, schwächliche Figur oder kein Greenhorn zu sein brauche, wie die Taten Karas oder Charleys nachdrücklich beweisen (IX/S. 10ff., 364f.). Zudem besitze er über seine Leserschaft, die ihn mit Hunderten von Briefen überschütte (ebd., S. 628), eine beachtliche Macht, könne unsterblich machen oder vor aller Welt blamieren (I/S. 510, 514, IX/S. 10f., vgl. XI/S. 256). Kurz: May legitimiert den Autor nicht aus sich selbst heraus, aus dem kulturellen Wert des Geschriebenen, sondern sozusagen hilfsweise über seine gleichzeitig beanspruchten heldischen Leistungen oder frappanten Wirkungen.

   Mitte der 90er Jahre treten andere poetologische Einlassungen stärker in den Vordergrund: so etwa die – paradoxe – Distanzierung von ei-


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ner Literatur, die große Worte macht oder künstlerische Effekte der lauteren, tatsächlich erlebten Wahrheit vorzieht.(19) Darüber hinaus unterwirft May – gipfelnd in ›Old Surehand III‹ – seine literarische Produktion nun der erklärtermaßen alleinigen Absicht, ein Prediger der ewigen Liebe zu sein und das Ebenbild Gottes im Menschen nachzuweisen (XIX/S. 308; ergänzend: S. 156f., 342). In diesem Sinn erfolgt Mays Glaubensbekenntnis, das seinem Schreiben eine göttliche Zweckbestimmung unterlegt:

Mag man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es ruhig hinzunehmen; aber indem ich hier an meinem Tische sitze und diese Zeilen niederschreibe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Unsichtbaren mich umschweben und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen. Und wenn, was sehr häufig der Fall ist, ein Leser, der in der Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las. Das sage ich nicht etwa in selbstgefälliger Ueberhebung, o nein! Wer da weiß, daß er sein Werk nur zum geringsten Teile sich selbst verdankt, der kann nicht anders als demütig und bescheiden sein, und ich trete mit dieser meiner Anschauung nur deshalb vor die Oeffentlichkeit, weil in unserer materiellen Zeit, in unserer ideals- und glaubenslosen fin de siècle nur selten jemand wagt, zu sagen, daß er mit diesem Leugnen und Verneinen nichts zu schaffen habe. (ebd., S. 151f.)

Ähnliche Tendenzen finden sich verstärkt im Alterswerk, wo dem Sensationellen und Blutigen als schriftstellerischen Erfolgsmitteln abgeschworen wird (XXXIII/S. 356) und der Autor seine Reisebeschreibungen nun als Predigten der Gottes- und der Nächstenliebe definiert (XXVIII/S. 32). Unter dieser Prämisse läßt sich allmählich ein neues Selbstbewußtsein entwickeln, das seinen Kern in der Überzeugung von der dichterischen Wirksamkeit und ihren unmittelbaren Einflußmöglichkeiten besitzt. Literatur selbst wird nun verstärkt zum Gegenstand des Erzählens. Was sich in ersten Ansätzen im ›Winnetou‹ zeigte, wo Charleys Ave-Maria-Text (IX/S. 414f.) den Apachenhäuptling rührte, dann in ›»Weihnacht!«‹ zum Zentralmotiv aufschießt, wird nun in ›Und Friede auf Erden!‹ zum durchgängigen Gestaltungselement. Das ›erschriebene Ich‹ ist damit auch offiziell vor allem ein schreibendes.

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Die weitere Analyse der Alterswerke sei auf die Hervorhebung weniger Grundzüge beschränkt: May gibt noch einige persönliche Eigenheiten der Art preis, daß er eine gewöhnliche Baritonstimme besitze (XXXII/S. 172), niemals wette (XXX/S. 287), was Essen und Trinken betrifft, zu asketischen Einschränkungen fähig,(20) hingegen ein leidenschaftlicher Raucher sei (ebd., S. 288, XXXIII/S. 273) usw. Seine Erziehung betreffend, erläutert er, Rassentoleranz sei ihm durch die


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Großmutter vermittelt worden (XXX/S. 203f.). Daneben finden sich einige merkwürdige Wiederbelebungen früherer Stereotypen. So werden Prügeleien des Vaters, eines blutarmen, deutschen Leinewebers (XXXI/S. 437), nun abermals verklärt zu berechtigten Maßnahmen im Sinne der Friedenserziehung (ebd., S. 418). Und auch die Vorstellung vom ›armen Poeten‹, die für die Zeit nach der Jahrhundertwende gewiß nicht mehr paßte, wirkt zumindest insofern nach, als May seinen Lesern gegenüber nicht als wohlhabend gelten will: Ich habe ja bereits gesagt, daß ich keineswegs reich bin, sondern nur so grad mein Auskommen habe.(XXXIII/S. 48)(21)

   Im übrigen verflüchtigen sich lebensgeschichtliche Einlassungen zunehmend in dem Maße, wie das erzählende Ich in allegorischen Zusammenhängen aufgeht, welche (besonders in den Bänden ›Ardistan und Dschinnistan‹) die gesamte Menschheit betreffen sollen. Allerdings gibt es gleichzeitig Tendenzen, die dem entgegenlaufen in einem unverkennbaren Bemühen um quasidokumentarische Beglaubigung der Geschehnisse. ›Und Friede auf Erden!‹ wie ›Winnetou IV‹ sind solche Werke, die mit großer Anstrengung um tatsächliche Reiserouten und -erlebnisse herum arrangiert wurden. Insofern enthalten diese Romane jetzt selbst Details wie Mays Postkartensendungen nach Deutschland (XXX/S. 157; vgl. S. 44) – handlungsmäßige Lappalien, die man im ›Winnetou‹-Zyklus vergeblich sucht. Vor dem Hintergrund einer generellen Glaubwürdigkeitskrise gewinnen sie jedoch für den Autor auch im realen Leben größte persönliche Bedeutung. In diesem Sinne enthält Mays letzter Roman ausgiebige Schilderungen Radebeuler Häuslichkeit (XXXIII/S. 1f.), wobei Klara Mays Stellenwert im Leben des alternden Schriftstellers (ebd., S. 65), ihr Charakter (ebd., S. 23, 55, 195, 237) und ihre Funktion als Mitarbeiterin (ebd., S. 242) der Öffentlichkeit umfassend mitgeteilt werden. Der Leser erhält sogar Einblick in geschäftsmäßige Details, insofern Gespräche mit amerikanischen Verlegern auf dem Reiseplan stehen, bei denen Fotos von Sascha Schneiders Illustrationen eine Rolle spielen (ebd., S. 24). Der Band schließt bezeichnenderweise mit einem ›Dokument‹, einem New Yorker Zeitungsartikel, der zu Mays Indianererlebnissen in Parallele gesetzt wird (ebd., S. 622).

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Fassen wir die Ergebnisse kurz zusammen: Mays Preisgabe der eigenen Identität an die Öffentlichkeit vollzieht sich in drei großen Phasen, wobei die Einschnitte keine absoluten Zäsuren darstellen, sondern manche Tendenz ansatzweise schon in früheren Entwicklungsstufen auftritt oder manche spätere Einlassung hinter dem jeweils erreichten Status zurückbleibt. In der ersten Phase erfolgt eine Auslöschung von Mays


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unrühmlicher Vergangenheit, eine Verwandlung von realer Biographie in Elemente einer quasimythischen Vorgeschichte, die tatsächliche Geschehnisse nur noch in groben Zügen als emotionale Reflexe wiedergibt. Gleichzeitig wird eine strahlende zweite Identität phantasiert, die bloß noch in lockerer, eher tiefenpsychologisch zu erhellender Beziehung zur eigentlichen steht. Die große öffentliche Resonanz, die der Autor mit seinem erschriebenen Ich findet, bestärkt ihn zunächst darin, die eigentlichen Lebensumstände außer acht zu lassen.

   In der zweiten Phase kommt die eigentliche Identität allmählich wieder zum Vorschein. Jetzt, wo der öffentliche Ruhm des Westmanns und Orientheldens sich mit dem einer beispiellosen schriftstellerischen Karriere verbindet, genügt es dem Autor offenbar nicht mehr, allein in seiner Hochstapler-Heldenrolle verehrt zu werden. Schritt für Schritt offenbaren sich Relikte der tatsächlichen Person, die zunehmend ihren Anteil am Leserinteresse verlangt. Dabei erlaubt der äußerlich sichtbare Erfolg in literarischer wie finanzieller Hinsicht jetzt auch eine stärkere Preisgabe von Details seiner kümmerlichen und demütigenden Vergangenheit, wenngleich in mehr oder weniger chiffrierter Form.

   Da der schriftstellerische Aufstieg eine für alle sichtbare Leistung darstellt, die ähnlich wie die fiktiven Abenteuer Bewunderung ermöglicht, wird von hier aus der Aufbau einer neuen Identität versucht, die stärker bürgerlich und wirklichkeitsorientiert ist. Insofern gewinnen nun literarische Reflexionen und missionarische Ansprüche breiteren Raum im Werk. Darüber hinaus beschäftigt sich der Autor erstmals in größerem Umfang mit der Konstruktion seiner deutsch-bürgerlichen Biographie für die Leser. Daß dieses Unterfangen an enge Grenzen stößt und schließlich scheitern muß, ist dadurch bedingt, daß May auf seine Helden-Fiktion nicht verzichten will. Im Gegenteil: der Genuß, den ihm dieser Prestigegewinn einträgt, drängt ihn sogar gleichzeitig zur immer opulenteren Ausgestaltung dieser Rolle, und es liegt in der Konsequenz der Sache, daß er schließlich die Übereinstimmung von bürgerlicher Person mit literarisch phantasiertem Idol öffentlich beglaubigt.

   Die dritte Phase beginnt in dem Augenblick, als sein Hochstapler-Ich öffentlich zerstört wird. Aus aller Herrlichkeit schlagartig erweckt und verstoßen, bleibt dem Autor damit nur noch der Rückzug auf eine genuin literarische Position. Er selbst verknüpft nun die Rolle des Dichters noch stärker mit der des Predigers und definiert retrospektiv entsprechende Wirkungsabsichten als angeblich einzige Intentionen seiner früheren Werke. Das bürgerlich-reale Ich verschwimmt in den Romanen jetzt wieder völlig zugunsten unterschiedlicher allegorischer Figuren bzw. Sprachrohre. Wo dennoch greifbare biographische Details angeführt werden, geschieht dies im Sinne eines Postkartendokumentarismus, der die verschiedentlich versuchte bläßliche Wiederbelebung früherer Heldenimagines beglaubigen soll.


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   Keineswegs bläßlich ist dabei jedoch, was der Autor nun phasenweise an literarischen Sublimationsleistungen erbringt, jenseits der inzwischen weitgehend abgelebten und im ideellen Kontext deplacierten Romanschemata. Denn die realbiographischen Krisen förderten einen unverkennbaren Kreativitätsschub. May wird zu einem Märchen- und Mythenproduzenten von beachtlichem Format, dessen Schreibschwung nun auch eine versifizierte Prosadichtung trägt. Befremdlich ist nur der Nachdruck, mit dem er immer wieder betont, wie nebensächlich ihm eigentlich künstlerische Belange gegenüber den von ihm gewünschten moralischen und religiösen Zwecken erschienen. Natürlich spielt auch Rhetorik in solche Aussagen hinein, Salvationsklauseln, captationes benevolentiae oder der Topos der affektierten Bescheidenheit. Doch will mir scheinen, daß der Autor im Reise- wie im Alterswerk der eigentlichen Quelle seiner Kreativität nie diejenige Wertschätzung angedeihen ließ, die ihr zukam.

   Indem poetologische Selbstkommentare fast immer nur auf Stilisierung der eigenen Person, Wahrheitsbeglaubigung oder Predigt hinauslaufen, Schreibprobleme und -techniken ihn meist nur insofern kümmerten, als sie Anlaß gaben, die Authentizität oder Sittlichkeit des Verfaßten zu beteuern, übergingen sie ausgerechnet den Bereich, in dem der Schriftsteller May am natürlichsten Höchstleistungen erbrachte: seine Phantasie nämlich, einschließlich der Blüten, die sie in Form autobiographischer Fiktionen trieb. Nicht deren Zerstörung bezeichnet – aus literarischer Warte – die Tragik im Leben dieses Mannes. Eher liegt sie darin, daß gerade ein solcher Fabulist die dichterische Eigenwelt gegenüber scheinbar prestigeträchtigeren Werten der Zeit so niedrig taxierte,(22) auch in Unkenntnis über sein eigentliches schöpferisches Potential.



1 Zur Basisinformation bzw. Ergänzung verweise ich auf Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1974. Hamburg 1973, S. 15-73, sowie Helmut Schmiedt: Karl May, Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 94ff.

Die Belegstellen aus der Fehsenfeldausgabe werden mit Bandnummer und Seite in Klammern angegeben. Folgende Ausgaben werden angeführt:

I Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892

II Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892

III Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892

IV Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892

V Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. V: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892

VI Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892

VII Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893


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VIII Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VIII: Winnetou der Rote Gentleman II. Freiburg 1893

IX Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893

X Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894

XI Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XI: Am Stillen Ocean. Freiburg 1894

XII Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894

XIII Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIII: In den Cordilleren. Freiburg 1894

XIV Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894

XVI Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896

XVII Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVII: Im Lande des Mahdi II. Freiburg 1896

XVIII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XVIII: Im Lande des Mahdi III. Freiburg 1896

XIX Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896

XX Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897

XXI Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897

XXII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897

XXIII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIII: Auf fremden Pfaden. Freiburg 1897

XXIV Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht !«. Freiburg 1897

XXV Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXV: Am Jenseits. Freiburg 1899

XXVI Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898

XXVII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd XXVII: Im Reiche der silbernen Löwen II. Freiburg 1898

XXVIII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902

XXIX Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903

XXX Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXX: Und Friede auf Erden!. Freiburg 1904

XXXI Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909

XXXII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909

XXXIII Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910

2 Ein Vaterherz ist eine heilige Sache; ich hatte ja auch einen Vater daheim, der oft für mich der Sorgen und Entbehrungen genug getragen hatte. (May: Durchs wilde Kurdistan, wie Anm. 1, S. 294, vgl. May: In den Schluchten des Balkan, wie Anm. 1, S. 108f)

3 Vgl. May: Winnetou I, wie Anm. 1, S. 152f; als Grund zum Schreiben gibt er an: »Um


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der Lehrer meiner Leser zu sein und mir nebenbei Geld zu verdienen«, denn: »Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!« (ebd., S. 153).

4 Vgl. May: Old Surehand II, wie Anm. 1, S. 79ff., und May: Im Lande des Mahdi I, wie Anm. 1, S. 560, May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 150, 157, später: May: Am Jenseits, wie Anm. 1, S. 7, sowie: Mancher meiner geneigten Leser wird am Schlusse des vorigen Kapitels gedacht haben: »Jetzt sollte der Verfasser eigentlich schließen, denn nach schriftstellerischen Regeln ist die Erzählung nun zu Ende, da die sämtlichen Konflikte gelöst worden sind und der Gerechtigkeit Genüge geschehen ist.« Dem habe ich zu entgegnen, daß ich nicht eigentlich schriftstellere, sondern Erlebnisse niederschreibe und es unmöglich hindern kann, wenn sich das Leben und die Wirklichkeit nicht nach schriftstellerischen Regeln richten und sich selbst vom scharfsinnigsten Kritikus nicht den Gang der Ereignisse vorschreiben lassen. Es giebt ewige Gesetze, welche hoch über allen tausend Regeln der Kunst erhaben sind. (May: Im Lande des Mahdi III, wie Anm. 1, S. 153).

5 May: Satan und Ischariot II, wie Anm. 1, S. 248ff. Die kuriose Formulierung, daß Winnetou seinem Blutsbruder hier wie ein schwarzer Panther im Schafspelze (ebd., S. 250) vorkomme, ist unfreiwillig entlarvend.

6 Roxin, wie Anm. 1, S. 20ff.; vgl. auch Roxins weiteren Text.

7 Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: Deutscher Hausschatz. XXIII. Jg. (1896), S. 18; Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982; dort auch weitere Ausführungen in diesem Sinne, wie etwa: So habe ich es auch mit den fremden Sprachen gehalten. Zwar sind Fleischer und Wüstenfeld, die berühmten Orientalisten, meine Lehrer gewesen, aber den eigentlichen Fluß habe ich mir doch erst an Ort und Stelle geholt. Wirklich in den Geist einer Sprache eindringen kann man nur als Angehöriger des Volkes, von welchem sie gesprochen wird, und wer meine Erzählungen gelesen hat, der weiß, daß ich stets nach dieser, wenn auch der innern, Angehörigkeit getrachtet habe.(ebd.)

8 Höhepunkt dieser Annäherung stellt der dritte Band ›Satan und Ischariot‹ dar, in dem Mays Familienname als einer der zwölf Monate erinnert und dann zur Erheiterung der Leser als März (May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 1, S. 34f.) enträtselt wird.

9 Stellvertretend: Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹ In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 12; Rainer Jeglin: Werkartikel ›»Weihnacht!«‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 277

10 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 69-100

11 So liest sich möglicherweise die Sappho-Anrede als realbiographischer Reflex (May: Weihnacht, wie Anm. 1, S. 30). Dazu paßt auch eine spätere Bemerkung, der Erzähler sei kein Freund des vertraulichen Du und habe nie mit irgend jemandem Brüderschaft gemacht (May: Silberlöwe I, wie Anm. 1, S. 139).

12 Vgl. zum Grundmotiv Stolte, wie Anm. 9, S. 12.

13 »Maschallah! Hat sie denn keine andere Meinung gehabt, als du ihr sagtest, daß du nach Persien willst?« »Sie bat mich allerdings, bei ihr zu bleiben; als ich ihr aber meine Gründe in liebevoller Ruhe erklärte –« »... Sihdi, daß deine Emmeh dir die Erlaubnis gegeben hat, zu mir zu reiten, das söhnt mich mit deinem Harem aus ...« (May: Silberlöwe I, wie Anm. 1, S. 397)

14 Als rudimentärer Reflex darf möglicherweise der Hinweis gelten, er wollte nie gelehrt sein (May: Silberlöwe III, wie Anm. 1, S. 297), in Kontrast zu früheren Stellen, z. B. May: Im Lande des Mahdi I, wie Anm. 1, S. 144.

15 So auch Halefs Maden-Traum, wonach das alte Ich sterben mußte (May: Silberlöwe III, wie Anm. 1, S. 487-91, 632f.).

16 Selbst ›Silberlöwe III‹ enthält im früher geschriebenen Kapitel ›In Basra‹ noch einen kaum anders zu deutenden Hinweis, wenn Kara behauptet, nur das zu erzählen, was ich selbst erlebt, geprüft und gesehen habe (ebd., S. 32).

17 May: Silberlöwe IV, wie Anm. 1, S. 153, 186; mit den zurückgegebenen Waffen werden übrigens vereinzelt wieder Kampfszenen geboten, die auch in den künftigen Romanen aus den unterschiedlichsten Motiven dann doch nicht als entbehrlich gelten.


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18 Vgl. Mays Formulierung vom Dichter, der zugleich auch Priester ist (May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 1, S. 389).

19 Vgl. Anm. 4.

20 May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 1, S. 216f; seine körperlichen Vorzüge werden hinfort eher passiv beschworen, etwa als angebliche Fitneß des Sechzigjährigen durch gesunde Ernährung (May: Silberlöwe III, wie Anm. 1, S. 345).

21 Vgl. auch: »... ich setze meine Gewohnheit, Bücher zu schreiben. Sie ist mehr als nur eine Gewohnheit, sie ist mein Beruf, der mich ernährt. Verliere ich, so bin ich ein armer Mann.« (May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 1, S.288)

22 Noch in ›Ardistan und Dschinnistan‹ findet sich eine bezeichnende pseudoauthentische Rückversicherung: ... wenn meine Reiseerzählungen wirklich nur aus der »reinen Phantasie« geschöpft wären, wie zuweilen behauptet wird, so käme ich jetzt ganz gewiß mit großen wunderbaren Reiterkünsten ... Aber ich erzähle bekanntlich nur Wahrhaftiges und innerlich wirklich Geschehenes und Erwiesenes. Meine Erzählungen enthalten psychologische Untersuchungen und Feststellungen. (May: Ardistan und Dschinnistan I, wie Anm. 1, S. 111)


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