//266//

CHRISTOPH F. LORENZ

Von Ziegen und Böcken, »Alten Knastern«
und jungen Studenten
›Leitmotive‹ des frühen Karl May*



1

»Hier sitz ich am Herd / Und setze mein Haupt / Der Wissenswette zum Pfand: / Mein Kopf ist dein ,/ Du hast ihn erkiest, / Erfrägst du dir nicht, / Was dir frommt / Lös’ ich's mit Lehren nicht ein.«(1) Hier spricht einer, der Herberge sucht und einen recht unbarmherzigen Wirt vorfindet, der ihm weder Rast noch Obdach gewähren will, ein Mann, der sich selber nur den ›Wanderer‹ nennt. Freilich weiß der Kenner Richard Wagnerscher Kunst, daß es sich bei diesem ›Wanderer‹ aus ›Siegfried‹, dem zweiten Tag der ›Ring‹-Tetralogie, in Wahrheit um Göttervater Wotan höchstpersönlich handelt, und im Libretto hat Wagner einen Hinweis darauf hinzugefügt, der die Identität Wanderer = Wotan belegt, doch aus der Partitur, der maßgeblichen, könnte man es sich kaum erklären, zunächst jedenfalls nicht, denn der Wanderer wird mit einer feierlichen, seltsam modulierten Akkordkette eingeführt, die bisher im ›Ring‹-Zyklus noch keine Rolle spielte und die seit Hans von Wolzogen denn auch ›Wanderer-Motiv‹ heißt. Belassen wir es im Moment bei diesen vagen Andeutungen zur Wagnerschen Leitmotivtechnik, auf die wir später noch zurückkommen müssen: jedenfalls geht es hier, in der zweiten Szene des ersten Aufzugs ›Siegfried‹, um eine »Wissenswette«, wie Wagner selber sagt. Mime, der mürrische Zwerg und überforderte Schmied (der natürlich, so suggeriert es Wagner unterschwellig, ahnt, wer sein unheimlicher Gast ist), will den Wanderer so schnell wie möglich loswerden. Er bietet ihm keine Gastfreundschaft an, dieser aber zwingt Mime zur Wissenswette: Wenn der Wanderer drei Fragen Mimes beantworten kann, darf er sein Haupt behalten, wenn nicht, verliert der Wanderer das Leben. Mime, töricht genug, nimmt die Wette um Leib und Leben an – vielleicht, weil er meint, dabei nichts verlieren zu können. Seine Fragen zielen auf jene Geschlechter, mit denen die Welt des Vorspiels zum ›Ring‹, des ›Rheingold‹, bevölkert ist, die dort die Protagonisten bilden: Zwerge, Riesen und Götter, jeweils repräsentiert durch die jeweiligen Motive, die Wagner zur Charakterisierung der Ge-

* Vortrag, gehalten am 13. 10. 1995 auf der 13. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Bad Segeberg.


//267//

schlechter dieser Elementarwesen und Gottheiten ersonnen hat. Schon hier könnte man fragen: Warum sind Mimes Fragen nicht komplizierter, wo er doch schon ahnt, wen er vor sich hat? Die Antwort ergibt sich aus dem Zusammenhang: Mime fragt das, was im Kreis seines Wissens liegt, was er selbst beantworten könnte, er fragt also nicht über seinen Horizont hinaus. Deutlich wird, daß Mime ganz in der Vergangenheit lebt: Er weiß, was sich abgespielt hat vor dem Fluch des Nibelungen, er kennt die tragische Geschichte des Wälsungengeschlechts, das Wotan sich selber ›heranzüchtete‹ auf der Suche nach dem einen wahrhaft freien Helden, er weiß, daß das zertrümmerte Schwert Notung heißt, aber die Zukunft, die kann er weder ahnen noch sehen. So ist ja Mime auch tatsächlich unfähig, das Schwert Notung wieder zu schmieden, weil er sich fürchtet: vor den Folgen seines Tuns, vor dem, was in Zukunft passieren wird. Weil Mime also ein im wahrsten Sinne ›ewig Gestriger‹ ist, wendet sich die Wissenswette am Ende gegen ihn selbst: Wotan nämlich, weit entfernt davon, die Schmiede eilends zu verlassen, nachdem er ›seine‹ drei Fragen leicht beantwortet hat, nimmt nun umgekehrt Mimes Haupt zum Pfand für die Einlösung einer zweiten Wissenswette. Nun ist es Wotan alias Wanderer, der die Fragen stellt, und der ängstliche Mime, der beim Beantworten mehr und mehr ins Schwitzen gerät. Die ersten beiden Fragen kann Mime lösen: Es geht ja hier um jene Dinge, die Wagner in der ›Walküre‹ abgehandelt hat, um das Wälsungengeschlecht und um das Schwert Notung. Die letzte Frage aber zielt in jene Zukunft, die Mime nicht mehr erfassen und begreifen kann: »Wer wird aus den starken Stücken / Notung, das Schwert, wohl schweissen?«(2) Da verzweifelt Mime, seine List versagt; der Wanderer hat sein Haupt gewonnen, verzichtet aber großmütig darauf, es Mime abzuschlagen: »Verfallen lass ich es dem, / Der das Fürchten nicht gelernt.«(3) Damit verschwindet der Wanderer und läßt Mime in Sorge und Angst, den unkundigen Leser und Hörer aber mindestens ebenso rätselnd zurück ...

   Eine merkwürdige Szene. Gewiß denkt man hier an ein Motiv, das in Märchen und Mythos immer wieder auftaucht: die Rätselwette, die drei Fragen, die Leben und Tod bedeuten, und ähnliches. Wer kennte nicht die schöne Prinzessin Turandot, mit ihren für eine ganze Reihe von Freiern tödlichen Rätseln? Wer dächte nicht an die Sphinx der griechischen Mythologie, halb Löwe, Viertel Jungfrau und Viertel geflügeltes Himmelswesen, die dem Wanderer, so er nach Theben will, in den Weg springt und ihn erwürgt, wenn er ihre drei Rätsel nicht lösen kann? Immer scheint es in solchen Märchen-Rätseln und Wissensproben um Wesentliches zu gehen, buchstäblich um Leben und Tod. Oft muß der Name einer Person erraten werden; der Name gilt ja schon in der altjüdischen Weisheit als Chiffre für den Menschen, der dahintersteht; bekannt ist das Wort des Propheten Jesaja vom Namen, bei dem Gott den Menschen ruft: »Du bist mein!« Nicht zufällig wird das bei so vielen Be-


//268//

erdigungen als Schrifttext verlesen. ›Den Namen nennen‹, das heißt, erkennen, was den Menschen im Innersten bewegt, seine wahre Natur begreifen. In vielen Versionen des Turandot-Stoffes, so auch in dem Opernbuch, das die Librettisten Adami und Simoni 1924 für Giacomo Puccinis Oper schrieben, ist der Name ›Turandot‹ eine der Rätsellösungen und lautet die Aufgabe, die Kalaf dann der Turandot stellt, seinen Namen herauszufinden. Die Fragen der Sphinx nach dem Wesen, das am Morgen auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien geht, zielt auf die Natur und die Schicksale des Menschen, auf seinen Alterungsprozeß. Auch in der Volkspoesie vieler Länder begegnet uns die ewige Rätselfrage, die zugleich die Frage nach dem Sinn des Menschenlebens selber ist, so in einem jiddischen Gedicht, das Maurice Ravel 1914 in seinen ›Deux Mélodies Hébraïques‹ vertonte, überschrieben ›L›Enigme Eternelle‹, eben ›Das ewige Rätsel‹: »Frägt die velt die alte casche: Tralalala / Entfert men: Tralalala. / Und azmen kun velen tzagen: Tralalala.« (»Fragt die Welt die alte Frage: Tralalala. Man antwortet: Tralalala. Und da es niemand sagen [beantworten] kann: Tralalala.«)(4) Hier haben wir dann gleich eine mögliche Antwort auf die Frage, die einzige, die uns die Volksweisheit der alten Juden zu geben weiß: Das Lied, das Singen, das Sich-Verschweigen im Trällern einer in sich wieder rätselhaften Melodie, die Ravel in seiner unübertrefflichen Art eingefangen hat, wenige Monate, bevor die Menschheit in Mitteleuropa sich wieder einmal anschickte, die Sinnfragen des Lebens mit Waffengewalt zu beantworten.

   Kehren wir von dieser Exkursion zu unserem Anfangsthema zurück: der Wissenswette in Wagners ›Ring‹ und ihrer Bedeutung. Eines haben wir ja bereits angedeutet: Mimes Unfähigkeit, Notung zu schmieden. Seine schlauen Pläne, sich selber in den Besitz des Nibelungenhorts zu setzen, scheitern weder an seinem Verstand noch an seiner Entschlossenheit. Sie scheitern an der grundsätzlichen Unfähigkeit Mimes, in die Zukunft zu schauen, seiner völligen Fixierung auf vergangenes und totes Wissen. Nun fragt man sich freilich: Ist es nicht menschlich, die Zukunft nicht zu kennen? Und wer kann denn Zukünftiges schauen? Darauf gibt Wagner eine Antwort, aber nur verdeckt durch seine Kompositionstechnik. Seit Hans von Wolzogen ist der Begriff ›Leitmotiv‹ zum Standardwort jedes Wagnerianers geworden. Wagner selber drückte sich sehr vorsichtig aus, er sprach lieber von »thematischen Keimen« oder ähnlichem.(5) Jedenfalls ist die Musik Wagners spätestens seit ›Lohengrin‹ durchzogen von einem Netz wiederkehrender Motive, die in enger Verbindung stehen zu bestimmten Elementen der Handlung. Wenn also ›Siegfried‹ beginnt, so erklingt, noch bevor der Vorhang sich geöffnet hat, das Fafner-Motiv im Fagott: d. h., der kundige Zuhörer, der in Wagners Sprache eingeweiht ist, weiß nun, daß es im zweiten Tag der Tetralogie um den Nibelungenhort gehen wird und um den Versuch,


//269//

ihn dem Drachen Fafner abzuluchsen. Und so geht es weiter, Schlag auf Schlag: Vom Beginn des ›Siegfried‹ an gibt es nur noch weniges wirklich neues musikalisches Material: Das meiste ist bekannt aus den früheren beiden Teilen, und indem Wagner damit spielt, testet er gleichzeitig das Erinnerungsvermögen des Hörers.

   Nun könnte man einwenden: Diese Leitmotivtechnik zielt doch im Grunde genommen immer wieder auf Vergangenes ab: Ein Motiv erschließt sich bei seinem ersten Hören nur in den wenigsten Fällen in seiner wahren Bedeutung dem Hörer, erkennbar und verständlich wird es eigentlich erst, wenn es mehrfach auftaucht, und dann in bestimmten Sinnzusammenhängen. Richard Wagner, so scheint es, ist demselben Laster verfallen wie sein Mime, er lebt als Komponist (auf die Dauer eines zusammenhängenden Stücks gesehen) immer in der Vergangenheit, in der Wiederholung bekannter Motive. Scheinbar, müssen wir betonen. Wäre dem nämlich so, so könnte man Wagner wohl kaum als Erfinder dieser musikalisch-textbezogenen Motivtechnik bezeichnen. Wiederkehrende Motive zur Charakterisierung bestimmter Personen und Vorgänge gibt es nämlich schon in Carl Maria von Webers ›Freischütz‹ von 1821, bei Heinrich Marschner und sogar in Robert Schumanns dramaturgisch wenig glücklicher ›Genoveva‹-Oper, nach Tieck aus dem Jahre 1848, dort als ›Erinnerungsmotive‹ bezeichnet. Hätte Wagner also nichts anderes getan, als diese ›erinnerungsartige‹ Motivtechnik seiner Vorläufer schematisch zu übernehmen, man könnte ihn bestenfalls einen geschickten Musik-Schmied und einen tüchtigen Handwerker nennen (wie das Herr Mime ja auch ist), aber eben kaum das große, revolutionäre Genie einer neuen Ära des Musik-Dramas im wahrsten Sinne des Wortes. Aber: Wagners ›Leitmotive‹ sind eben nicht Motive, die einfach unverändert wiederholt und auf Stichwort des Textes aneinandergereiht werden: Schon von der ›Walküre‹ an bemerkt man, wie der Komponist die Motive verändert, rhythmisch und melodisch erst kaum, aber vor allem durch Transposition in neue Tonarten und später durch ganz neue, kühne harmonische Variationen. ›Siegfried‹ ist nicht nur ein Musterbeispiel für die Verwendung und Wiederholung von Altbekanntem und Bewährtem (und spätestens seit Hans von Wolzogen ist es ja ein beliebtes Wagnerianer-Spiel geworden, sich gegenseitig im Auffinden und Benennen der kompliziertesten Motivfragmente zu übertreffen), sondern vor allem ein Eldorado für Komponisten, die lernen wollen, wie man aus vorgegebenen motivischen Strukturen Neues schafft, wie man bekannte Motive miteinander verwebt und sie variiert, so daß eine ganz innovative und bisher unbekannte musikalische Struktur entsteht. Das heißt kurzgefaßt und damit natürlich auch ein bißchen vereinfacht: Die Wagnersche Leitmotivstruktur arbeitet nicht primär in der Vergangenheit, sie ist (in der Weiterverarbeitung und Umstrukturierung der Motive) vornehmlich auf


//270//

›Zukunft‹ ausgerichtet, und so ist es denn auch kein Zufall, wenn neue Motive im ›Siegfried‹ und in der ›Götterdämmerung‹ sich meist als Varianten aus den alten ableiten lassen.

   Im Terminus der Wissenswette gesprochen: Wer das Fürchten nicht kennt, sprich: nicht beim Altbewährten stehenbleibt, sondern aus dem vorgegebenen Motivmaterial das größtmögliche Potential für die Zukunft herausholen kann, der schmiedet das Schwert und der gewinnt die Wissenswette. Hinter der Gestalt des Wanderers, der in tragischer Allwissenheit sein Geschick bereits kennt und es nicht verändern kann, sondern lediglich dafür wirkt, daß es sich ›wie vorbestimmt‹ verwirklicht, verbirgt sich auch der allwissende Komponist, der – anders als Mime – im ersten Aufzug des ›Siegfried‹ bereits weiß, was sich im letzten dieses Musikdramas ereignen wird (und daß Wagner gerade vor diesem letzten Aufzug eine schöpferische Kompositionspause von acht Jahren einlegen mußte, klingt in diesem Zusammenhang vielleicht eher wie die Ironie des Schicksals). Aber: Anders als Wotan/Wanderer ist der Komponist Wagner ein freier Mensch, der selber über das Schicksal seiner Motive entscheiden kann und nicht – wie sein ›freier Held‹ Siegfried – anfällig ist für Tränke des Vergessens und der Vernebelung.


2

Verlassen wir hier das Gebiet der Rätsel- und Schicksalsfragen in Märchen und Mythos und die rätselhafte Kompositionswelt des Richard Wagner und begeben uns auf den sicheren Boden des gewiß weit weniger rätselhaften und überschaubareren Frühwerks von Karl May. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß uns die sichere Hand einiger May-Kenner und der erfreuliche Detektiv Zufall im Laufe von acht Jahren die Kenntnis zweier bis dato unbekannter May-Texte verschafft hat, und zwar handelt es sich hier um das Fragment um den Prinzen Otto Victor von Schönberg-Wildauen, vielleicht aus Mays frühester Schaffenszeit, höchstwahrscheinlich aber 1874/75 vor Beginn seiner Redakteurstätigkeit bei Münchmeyer entstanden und durch die Vermittlung des Karl-May-Verlegers Roland Schmid 1986 von Herbert Meier im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1986 erstveröffentlicht,(6) und die Humoreske ›Ziege oder Bock‹, im Jahrgang 1879 des ›Neuen deutschen Reichsboten‹ (tatsächlich im September 1878 erschienen, da die Jahrgänge des ›Reichsboten‹ sich immer auf das jeweils nächste Jahr beziehen) publiziert und durch die Findigkeit Jürgen Wehnerts und Peter Richters nun der Öffentlichkeit wiedergeschenkt.(7) Schaut man die in diesen beiden Texten verarbeiteten Motive etwas genauer an, so fällt zweifellos auf, daß ›Ziege oder Bock‹ die Anregungen und Hinweise des frühen Fragments recht genau aufnimmt, so daß man wohl vermuten kann, daß May


//271//

bei der Abfassung der Humoreske in die alte Skizze mehr als nur einmal geschaut hat.

   Darüber hinaus gibt es aber noch einige andere frühe May-Texte, die mit dem ›Otto-Victor-Fragment‹ einiges gemeinsam haben, als da wären die Dessauer-Anekdote ›Die drei Feldmarschalls‹, der Anfang des Romans ›Auf der See gefangen‹ und die Humoreske ›Die verwünschte Ziege‹. Stellt man die Daten dieser Texte nebeneinander, so verwundern solche Motivparallelen keineswegs:

– Otto-Victor-Fragment (entstanden vielleicht 1874/75)(8)
– Die drei Feldmarschalls (erschienen April 1878)(9)
– Auf der See gefangen (Abdruck begann Mai 1878)(10)
– Die verwünschte Ziege (erschienen Juni 1878)(11)
– Ziege oder Bock (erschienen September 1878).(12)

Dies besagt nun freilich nicht unbedingt, daß diese kurzen Erzählungen bzw. die Anfangsteile des umfangreichen Romans ›Auf der See gefangen‹ wirklich in dieser Reihenfolge entstanden sind. Vielmehr legt der mehr oder weniger enge Zusammenhang zwischen den Motiven dieser Texte nahe, daß May sie – mit Ausnahme des frühen Fragments, das man mit Fug und Recht als Urzelle des ganzen Komplexes bezeichnen dürfte – mehr oder weniger parallel oder jedenfalls kurz hintereinander verfaßt und niedergeschrieben hat.

   Werfen wir dazu also einmal einen Blick auf die erwähnten motivischen Zusammenhänge. Im frühen Fragment sind es vor allem drei Motive, die auffallen:

   1. Die wiederholte Frage nach der Bedeutung des ›heutigen Tages‹, oder, wie es im Fragment heißt, von wegen heut.(13) (Beim dritten Mal wird diese Frage dann endlich geklärt, nämlich durch die Ankunft der Haushälterin Krakehlinchen: Der rätselhafte und wunderbare Tag ist der Geburtstag des Prinzen.)

   2. Die Geschichte von der Witwe in Frankreich, die der Diener Heinz während eines Feldzugs mit dem Prinzen getroffen und die ihn offenbar sehr beeindruckt hat. Diese Geschichte kann er bereits im Fragment nicht zu Ende erzählen.

   3. Das kuriose Dreiecksverhältnis zwischen dem manchmal knurrigen Prinzen, einem seltsamen ›Original‹, seinem vertrauten Leibdiener, der im Krieg ein Bein verloren hat und seinen Herren trotz ihrer häufigen Streitigkeiten liebt, und der umständlichen und ›krakeelenden‹ Haushälterin.

   Machen wir uns einmal den Spaß, diese Motive als ›Leitmotive‹ zu bezeichnen, wobei wir von allem Anfang an Richard Wagner und noch mehr Hans von Wolzogen um Verzeihung bitten wollen. Die Frage nach dem ›heutigen Tag‹ ist vom frühen Fragment offenbar relativ nahtlos in den Anfangsteil des Romans ›Auf der See gefangen‹ übergegangen.


//272//

Zweimal spricht der ›alte Knaster‹ den heutigen Tag an, und jedesmal weiß der Leibdiener nicht, was damit gemeint ist; erst beim dritten Mal, auf den Hinweis, dieser Tag sei für den Prinzen »der böseste im ganzen Jahre, und wenn er kommt, so wünsche ich stets, ich möchte gestorben sein«,(14) errät Heinz, was gemeint ist: nämlich der Tag, an dem der Sohn des Prinzen wegen angeblichen Doppelmordes verhaftet wurde.

   May hat das Motiv, und wir wollen es einmal in Anlehnung an die einleitenden Ausführungen als das der ›Rätselfrage‹ bezeichnen, im frühen Fragment durch die dreimalige Wiederholung besonders betont, aber in einer wenig befriedigenden Weise aufgelöst. Daß alle die gewundenen Fragen des Prinzen am Ende nur darauf abzielen, daß ›heute‹ der Geburtstag des alten Herren sei, hat May wohl selber an seinem frühen Versuch so wenig gefallen, daß er das Fragment prompt an dieser Stelle enttäuscht abbrach (es sei denn, der Rest des Textes ist aus irgendwelchen Gründen verlorengegangen; doch Duktus und Charakter dieses Fragments wie auch der vergleichbaren Texte ›Offene Briefe eines Gefangenen‹, ›Hinter den Mauern‹ und des noch unveröffentlichten Fragments ›Der verlorene Sohn‹(15) deuten eher darauf hin, daß May wirklich nie mehr als diese Textanfänge schrieb und die Arbeit daran dann abbrach). Interessant ist es nun, daß Herbert Meiers Vermutung, das ›Prinz-Otto-Victor-Fragment‹ sei so etwas wie ein Programm des frühen Karl May,(16) durch die Evidenz des Fundes von ›Ziege oder Bock‹ bestärkt wird. Möglich immerhin, daß May das ›Otto-Victor-Fragment‹ noch ein Weilchen fortsetzte, wie Herbert Meier annimmt, der es für unwahrscheinlich hält, daß May einen Text mitten im Satz abgebrochen habe,(17) aber dennoch ist offenkundig, daß May hier, was das Motiv der Rätselfrage und des besonderen Tages angeht, in eine Sackgasse geraten war.

   Als May den Anfangsteil von ›Auf der See gefangen‹ schrieb, mag er sich an diese Ausgangssituation seines Fragments erinnert haben; nun aber gab er dem heutigen Tag eine besondere, sinngebende Betonung, indem er ihn zum Schicksalstag machte und dann geschickt die folgende Kriminalgeschichte anknüpfte. An anderer Stelle ist gezeigt worden, daß die Rahmenhandlung der ›Auf der See gefangen‹-Romankonstruktion, also das an das Otto-Victor-Thema anknüpfende erste Kapitel und das letzte Romankapitel mit den deutlichen burlesken und humoristischen Akzenten, im Ganzen des Romans nicht überzeugt.(18) Wie May aber das Motiv des besonderen Tags in ›Auf der See gefangen‹ zum Auftaktmotiv und gleichzeitig zur Verknüpfung von Rahmenhandlung und Krimininalgeschichte verwendete, das zeugt von seiner deutlichen Entwicklung, was die erzählerischen Fähigkeiten angeht. Auch das Motiv des übermäßigen Tabakgenusses (dargestellt im Bild der Tabakswolke, die den ›alten Knaster‹ im ›Otto-Victor-Fragment‹, in ›Auf der See gefangen‹ und in ›Ziege oder Bock‹ stets einhüllt) hat sich in ›Auf


//273//

der See gefangen‹ in sinnvoller Weise gewandelt: Jetzt symbolisiert die Tabakswolke auf höherer Ebene die Sphäre der düsteren Gedanken, der Gespenster der Vergangenheit, die den Prinzen bedrängen: Der Prinz war an das Fenster getreten. Die trüben Erinnerungen stiegen alle wieder in ihm auf; die Tabakswolke, welche um seinen Kopf wirbelte, wurde immer größer und dichter, und von Zeit zu Zeit ließ sich ein kurzes Räuspern und Knurren vernehmen, wie es der Fall zu sein pflegte, wenn er unangenehme Gedanken hegte ... »Herr Lieutenant, finstre Geister sind, wenn sie im Herzen alt werden durften, nicht mit einem einzigen Anlauf zu besiegen ...« (Sce 386). Daß dies Gleichnis ›Tabakswolken = finstere Geister‹ hier zutrifft, belegt übrigens auch die Haltung von Fräulein Wanda, dem Mündel des Prinzen und belebenden weiblichen Element des Hauses, die die Raucherei des ›alten Knasters‹ ablehnt und bemerkt, »... Deine Pfeifen sind am häßlichsten ...« (Sce 323), eben weil sie offenbar die bösen Geister der Vergangenheit nicht durch Rauchopfer besänftigen, sondern sie geradezu herbeirufen möchte.

   Daß diese Wandlung des schönen Geburtstages in einen düsteren Schicksalstag nicht ein Zufall oder eine Laune Mays, sondern bewußte Weiterentwicklung eines Leitmotivs durch den Dichter ist, zeigt ›Die verwünschte Ziege‹. In dieser gibt es sonst keine weiteren Anknüpfungen an das ›Otto-Victor-Fragment‹, sondern nur die eine Motivparallele des Unglückstages, hier allerdings wieder gewandelt. Jetzt ist es der groteske Glauben des Stadtrates Hampel an Geister, Gespenster, Unglückstage, schlechte Vorzeichen und verhexte Kreaturen, der ein wesentliches komisches ›movens‹ der Handlung ist. Jürgen Wehnert und Peter Richter meinten, daß dieses Motiv des Unglückstages sowohl in ›Auf der See gefangen‹ als auch in der ›Verwünschten Ziege‹ eine so wesentliche Rolle spiele, sei ein Indiz dafür, daß ›Auf der See gefangen‹ und ›Die verwünschte Ziege‹ in engem Zusammenhang niedergeschrieben worden seien.(19) Dabei übersehen sie allerdings, daß das Motiv des ›besonderen Tages‹ auch schon im ›Otto-Victor-Fragment‹ vorkommt; May scheint es nach diesem frühen Ansatz zum Schicksals- oder Unglückstag umgearbeitet zu haben, und in dieser Form tritt es in ›Auf der See gefangen‹, in ›Die verwünschte Ziege‹ und in ›Ziege oder Bock‹ gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung auf (in ›Ziege oder Bock‹ nicht mehr in der Form einer Wissensfrage, sondern nur als Bestandteil des lebhaften Aberglaubens des Krakehlinchens und des Leibdieners Heinz). Auch der Zusammenhang zwischen Rätsel- und Wissensfrage und dem besonderen resp. unheilvollen Tag ist wichtig. Die Frage taucht – mechanisch wiederholt in der rituellen Dreierzahl – sowohl im Fragment als auch in dem Anfang des ›Criminalromans‹ auf, in ›Die verwünschte Ziege‹ oder ›Ziege oder Bock‹ sogar als Hauptmotiv der Handlung, denn in beiden Geschichten geht es um eine ›Wissenswette‹: Im Vertrauen auf seine bürgerliche Stellung


//274//

und seine sagenhaften Lateinkenntnisse wettet Hampel im felsenfesten Glauben daran, als ›officer and gentleman‹ könne man ihm nichts vormachen, und wettet der Prinz, man lasse sich nicht an der Nase herumführen, schon gar nicht von einem elenden Mehlkleister (›Verwünschte Ziege‹(20)) resp. armen Studenten (›Ziege oder Bock‹(21)). In beiden Fällen erweist sich das Vertrauen auf Stand, Rang und Bildung als ebenso unbegründet wie Mimes Behauptung, »Mime, der kühne / Mime ist König, / Fürst der Alben, / Walter des Alls!«(22) – am Ende des ersten Aktes liegt er verschreckt am Boden, im zweiten Akt verliert er dann endgültig das »weise Haupt«. »Nach eitlen Fernen forschtest Du«,(23) wirft der Wanderer Mime vor – Gleiches könnte man zumindest von Hampels Lateinsprüchen und seinem vertrackten Aberglauben behaupten.

   Wenden wir uns dem zweiten Leitmotiv der frühen Erzählungen und Humoresken, die wir heute betrachten, zu: der unterbrochenen bzw. wiederholten Geschichte. Dies ist ein im Werk Karl Mays späterhin noch sehr wichtiges und erstaunlich fruchtbares Motiv;(24) auch hier hat May aus den anfänglichen Andeutungen des Fragments im weiteren Verlauf der Motivgeschichte bedeutend mehr gemacht, als man zunächst vermuten könnte. Wenn der Confusionsheinrich im Fragment von der jungen Witwe erzählt, die er während der Befreiungskriege in Frankreich kennenlernte – Anno Vierzehn(25) –, so ist das im Fragment durchaus nicht mehr als ein blindes Motiv, eine konfuse Geschichte, erzählt von einem konfusen Gesellen und nicht zum großen Bedauern des Lesers rechtzeitig abgebrochen. In ›Die drei Feldmarschalls‹ begegnet man dem Motiv dann in seltsamer Verkleidung wieder. Zeit und Ort sind anders: Nun hat May das Herr-Diener-Verhältnis vom ›erfundenen‹ Paar ›Prinz Otto Victor‹ und ›Confusionsheinrich‹ (wobei der Prinz immerhin eine fiktive Gestalt mit historisch belegtem Namen ist(26)) auf den historischen Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau und seinen (allerdings ganz fiktiven) Leibhusaren Heinz übertragen. Dabei sind manche Züge bei beiden ›Paaren‹ vergleichbar: Die ebenso grimmige wie gutmütige Gestalt des Prinzen wie des Fürsten mit ihren jeweiligen Idiosynkrasien, aber auch die beiden Leibdiener, der konfuse Stelzfuß Heinz und der körperlich intakte, aber in seiner Lieblingsrolle als Erzähler permanent verhinderte Husar Heinz, erscheinen als Varianten ein- und desselben Figurentypus, wie ihn May im Fragment vorgeprägt hatte.

   Neben manchen Zügen übernahm May nun auch das Motiv der unterbrochenen (Liebes-)Geschichte mit in die ›Die drei Feldmarschalls‹ hinein, variierte es aber in einer Weise, die dem Thema nun plötzlich Bedeutung und Gehalt verleiht. Trotz der Transposition an die Donau, in das Bayern des Jahres 1704 und mitten in die Feldzüge Prinz Eugens, des ›Tapferen Ritters‹, hinein hat sich der Kern der Geschichte nicht verändert, wohl aber ihre Auslegung, denn für den Leibhusaren Heinz


//275//

ist die Liebe nur noch eine Dummheit (›Die drei Feldmarschalls‹(27)), über die er bei anderen, etwa dem Wachtmeister Bellheimer, lachen kann. Insgesamt aber hat die dreimal erzählte und immer unterbrochene Geschichte von der Begegnung mit der schönen Witwe traurig-melancholischen Charakter; es war die einzige Liebe in Heinz’ Leben, und daß sie durch das Eintreffen der Ordonnanz des Prinzen Eugenius offenbar – der Leser kann das ja nur erraten – nie ›erblüht‹ ist, diese Leidenschaft, erscheint als große Wunde im Leben des Leibhusaren, als schmerzliche Versagung, die gespiegelt wird im Fatum, nie diese Geschichte zu Ende erzählen zu können. Nicht zufällig finden sich in den ›Drei Feldmarschalls‹ auch Hinweise darauf, wie viel Unglück Heinz mit dieser seiner Lieblingsgeschichte(28) hat. Die wiederholte Geschichte von der schönen Witwe wird also bereits in der Dessauer-Anekdote zum ›running gag‹ mit tieferem Hintersinn. Das setzt sich in ›Auf der See gefangen‹ fort, wo die wiederholte Geschichte (nun wieder, wie billig, da es ja um den ›alten Knaster‹ geht und nicht um den ›alten Dessauer‹, anno Vierzehn (Sce 323) spielend) fünfmal erzählt und unterbrochen wird, viermal im ersten Kapitel und einmal im die Hauptgeschichte des Romans quasi umarmenden zehnten Kapitel, das die Rahmenhandlung und die Humoreske wieder aufnimmt. Auch hier macht May deutlich, daß die wiederholte Geschichte mehr ist als bloß ein schöner, zündender Gag. In der Tatsache, daß Heinrich immer wieder beim Erzählen der einzigen und selbst leider unvollendeten Liebesgeschichte seines Lebens unterbrochen und durch verschiedenste Zwischenfälle von ihrer Vollendung, zumindest im Erzählvorgang, abgehalten wird, spiegelt sich der Charakter der Figur wider: Die Liebesversagung (oder der Liebesverzicht) wird zum komischen Erzählabbruch verändert; wie Ifra an seiner fehlenden Nase lebenslang leidet und folglich immer wieder von ihr erzählen muß,(29) wie Pfotenhauers schicksalhaftes Osterexamen mit der nicht beantwortbaren Frage, ›warum die Vögel Federn haben‹, nahtlos in eine Karriere als Ornithologe mündet,(30) so ist auch hier der große Makel im Leben des Leibdieners gleichzeitig als seine schönste Erinnerung, seine liebste Geschichte verklärt worden. Daß auch Karl May aus seinem größten Makel, seinen frühen kriminellen Verfehlungen, sein größtes Kapital, seine unbezwingliche Fabulierkunst, zu schlagen vermochte, das sei hier in Parenthese nur angedeutet und keineswegs ausgeführt, stehen autobiographische Deutungen des Mayschen Werks doch zur Zeit nicht gerade hoch im Kurs.(31) Hier sei nur festgehalten, daß May das Motiv der wiederholten und unterbrochenen Geschichte schon in den ›Drei Feldmarschalls‹, aber stärker noch in ›Auf der See gefangen‹ weiterentwickelt und vertieft hat. In ›Die verwünschte Ziege‹ spielt dieses Motiv auch deshalb keine Rolle, weil May außer dem Grundmotiv der ›Wissenswette‹ und der ›Rätselfrage‹ hier keine weiteren Themen des ›Otto-Victor-Fragments‹ verar-


//276//

beitet hat. ›Ziege oder Bock‹ aber hat, wie übrigens auch die anderen Stränge der Handlung, soweit sie im Fragment erkennbar sind, dieses Motiv noch einmal gesteigert, indem die wiederholte Geschichte nun nicht mehr fünfmal, sondern neunmal erzählt wird und als fester Bestandteil durch beinahe alle Abschnitte der Geschichte läuft. Darüber mehr an späterer Stelle.

   Als drittes ›Leitmotiv‹ der frühen May-Geschichten wurde die seltsame ›Dreiecksbeziehung‹ zwischen Prinz, Leibdiener und Haushälterin bereits erwähnt. Wieder ist dieses Thema im Fragment nur angedeutet; in den ›Feldmarschalls‹ und in der ›Verwünschten Ziege‹ spielt es keine Rolle, weil diese das Fragment nur sehr verdeckt als Quelle benutzen. Um so wichtiger sind die Unterschiede zwischen den beiden späteren Fassungen des Fragments, dem Anfang von ›Auf der See gefangen‹ und der Humoreske ›Ziege oder Bock‹.

   In der Romanfassung hat May, weil er die Humoreske in den Rahmen einer gewagten, aber nicht ganz geglückten ›Gattungsmischung‹ einpassen wollte,(32) anpassen mußte, alle übertrieben grotesken und ausschließlich im Sinne einer mechanistischen Auffassung von Komik wirkenden Elemente des Fragments gestrichen. So ist das Verhältnis zwischen Prinz und Diener auch in ›Auf der See gefangen‹ immer noch herzlich, trotz eines rauhen Umgangstons. Die umständlichen und den ›Confusionsheinrich‹ bezeichnenden Redewendungen des Fragments wie in wiefern denn, worauf denn(33) sind in ›Auf der See gefangen‹ weggefallen, ebenso wurde die stereotype Anrede Dorchlaucht reduziert und der ebenso stereotype Hinweis »Heinz, Du bist ein Esel!«(34) ganz eliminiert. Dafür ist der Umgangston in der Eingangsszene zwischen Herr und Diener im Roman ganz soldatisch geworden, auch besteht der Prinz auf der Anrede Herr Oberst. Auch die komische Erscheinung der umständlich-widerborstigen Haushälterin erscheint in ›Auf der See gefangen‹ in manchen Zügen etwas konkretisiert. Ihr Leibesumfang wird im Fragment nur als kugelrunde Figur(35) charakterisiert, während es in ›Auf der See gefangen‹ schon etwas konkreter erwähnt wird, daß sie kaum durch die Türe hindurchpaßt.(36)

   Insgesamt hat May die humoristischen Ansätze der frühen Fragmentfassung in ›Auf der See gefangen‹, wohl im Interesse der Gattungsmischung, erheblich reduziert. Anders in ›Ziege oder Bock‹, wo auch der Untertitel schon verrät, daß es hier humoristisch zugehen soll. Es ist interessant zu beobachten, daß May in dieser Fassung die Andeutungen des frühen Fragments vor allem in Hinsicht auf groteske Komik peinlich genau ausgewertet hat. So fehlen die Hinweise des ›Otto-Victor-Fragments‹ auf den Confusionsheinrich, den Studentenkarl und das Wimmerlinchen(37) ebenso wenig wie der Versuch, durch den Gebrauch unsinniger Redewendungen die Gestalt des Confusionsheinrich deutlich zu charakterisieren, was im Fragment nur angedeutet war.


//277//

   Die ›Ziege oder Bock‹-Fassung hat darüber hinaus der May-Forschung zu einigen interessanten zusätzlichen Erkenntnissen über das Fragment verholfen. So darf, nachdem jetzt die Druckfassung vorliegt, die in vielen Punkten sich sehr viel deutlicher an dem frühen Fragment orientiert als die bisher bekannte Version in ›Auf der See gefangen‹, unter Umständen auch darüber spekuliert werden, ob es nicht vielleicht in irgendwelchen verschollenen Zeitschriften auch noch Zweitfassungen von ›Hinter den Mauern‹ mit beträchtlich größerem Umfang zu entdecken gäbe. Zum anderen erklärt die ›Ziege oder Bock‹-Humoreske, daß mit dem ›Wimmerlinchen‹ (im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1986, S. 89, bedauerlicherweise zum »Wiannerlinchen« verlesen) tatsächlich die Haushälterin gemeint ist, die der Prinz in ›Ziege oder Bock‹ so gern als Wimmerliese bezeichnet. May hat die Andeutungen des Fragments in der Humoreske erheblich konkretisiert. Einmal, indem er die Gestalt des Studentenkarl erfand, des jungen Herrn Schmidt, der hochbegabt ist und mit der vom ›alten Knaster‹ erhaltenen finanziellen Förderung nicht nur seine Eltern, einen blutarme(n) Zeug- und Leinweber und dessen Frau, sondern auch noch andere Bedürftige unterstützt, ein Teufelskerl mit einer Spielernatur, der sogar bereit ist, seinen Lebensunterhalt, die Subsidien des Prinzen, für ein zweifelhaftes Wettunternehmen einzusetzen. Wer sich hinter der Gestalt des liebenswürdigen Hasardeurs mit der hohen Begabung aus dem niedrigsten, tiefsten Ardistan(38) verbirgt, das herauszufinden, überlasse ich gern der Phantasie des mit Mays Biographie vertrauten Lesers. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß May das komische Verhältnis zwischen Prinz, Diener und Haushälterin in ›Ziege oder Bock‹ nicht nur humoristisch ausschlachtet, sondern auch psychologisch erklärt: Der Prinz und Heinrich sind durch langes Junggesellentum zu einem merkwürdigen Weiberhaß(39) verführt worden, der sich nun vor allem gegen die ebenfalls überaus seltsame, altjüngferlich-spießige Adeline mit ihrem ausgeprägten Geister- und Gespensterglauben richtet.

   Soviel zu den drei Hauptmotiven oder -motivkomplexen, die die drei direkt miteinander verwandten Texte ›Prinz-Otto-Victor-Fragment‹, ›Auf der See gefangen‹, Anfangskapitel, und ›Ziege oder Bock‹ einerseits miteinander verbinden und sie andererseits eine Brücke bilden lassen zu der ebenfalls frühen Dessauer-Humoreske und der ›Verwünschten Ziege‹. Daß May bei dieser Um- und Weiterverarbeitung alter ›Leitmotive‹ ebenso phantasievoll wie genau vorgegangen ist, belegen kleinste Details: So ist im Fragment davon die Rede, die Jungfer Adeline soll die blauen Zimmer in Stand setzen,(40) offenbar als Quartier für den zu erwartenden Geburtstagsbesuch, ein Motiv, das im Fragment blind bleibt und nicht weiter ausgeführt wird. Als May aber den Text für ›Auf der See gefangen‹ revidierte und neu wendete, fielen ihm offensichtlich


//278//

auch jene blauen Zimmer wieder ein; nun sollen sie als Quartier für den Polizeilieutenant von Treskow dienen.(41)

   Eine weitere subtile Übernahme eines kleinen, scheinbar nebensächlichen Details scheint May zur Hauptidee der ›Verwünschten Ziege‹ verholfen zu haben: Die Haushälterin verspätet sich in ›Auf der See gefangen‹ um fünf Minuten mit dem Kaffee, was ihr den strengen Tadel des ›alten Knasters‹ einbringt, und sie entschuldigt sich damit, Heinz habe die Milch verschüttet.(42) Von der verschütteten Frühstücksmilch ist es dann nur noch ein kleiner Schritt für die Phantasie Karl Mays zu der eigensinnigen Vorliebe des Stadtrats Hampel und des Prinzen in ›Ziege oder Bock‹ für Ziegenmilch und ihre strenge Ablehnung der Kuhmilch. Man sieht, wie gerade solche Kleinstmotive von May aufgegriffen, abgewandelt und in wahrhaft neuartiger Weise zu ganzen Handlungssträngen ausgearbeitet werden, und fühlt sich – zumindest mit dem bekannten Körnchen Salzes – an Wagners Leitmotivtechnik erinnert.


3

Kehren wir zu der Frage zurück, die schon einmal anklang: In welcher Reihenfolge hat May die Texte ›Ziege oder Bock‹ und ›Die verwünschte Ziege‹ geschrieben? Ein schlüssiger Beweis läßt sich hier nicht führen. Peter Richter und Jürgen Wehnert sind der Ansicht, ›Ziege oder Bock‹ und ›Auf der See gefangen‹ seien »kurz hintereinander niedergeschrieben worden«, und zwar »um die Jahreswende 1877/78«.(43) ›Ziege oder Bock‹, obwohl später erschienen als die ›Verwünschte Ziege‹, wäre demnach die erste Fassung der Humoreske und ›Die verwünschte Ziege‹ der zweite Versuch, erheblich variiert. Anders als bei einigen vergleichbaren Hypothesen der Karl-May-Forschung(44) hat diese Vermutung einiges für sich: Zum einen sagt die Erscheinungsweise bei Texten, die allesamt (die ›Feldmarschalls‹ eingerechnet) innerhalb weniger Monate, von April bis September 1878, gedruckt wurden, nichts über ihre tatsächliche Entstehung aus. Wirklich plausibel scheint die Annahme, ›Die verwünschte Ziege‹, die ein wesentlich geschlosseneres Bild bietet als die lange und ein wenig disparate Fassung ›Ziege oder Bock‹, sei Mays ›letztes Wort‹ zu diesem Stoff gewesen. Betrachtet man aber die Arbeitsweise des frühen May im ganzen, so wirkt diese Hypothese doch zweifelhaft. May begann in seinem Frühwerk mit kleineren Versuchen in unterschiedlichen Genres des Erzählens: Humoresken, exotischen Reiseerzählungen, einem historischen Roman. Danach unternahm er den Versuch, in ›Auf der See gefangen‹ diese verschiedenartigen Gattungen zu einem Ganzen zu bündeln, und experimentierte in diesem Buch auch in formaler Hinsicht mit dem Prinzip der ›Gattungsmischung‹. Dabei diente die frühe Otto-Victor-Geschichte


//279//

des Fragments, nun sinnvoll weiterentwickelt mit dem Motiv des Schicksalstages, als Aufhänger und Handlungseinstieg. Etwa gleichzeitig übernahm May das Motiv der Freundschaft zwischen Herr und Diener und der wiederholten Geschichte von der Witwe in Frankreich in ›Die drei Feldmarschalls‹, wobei er wiederum zwei literarische Formen miteinander verband, die Anekdote und die Episode. Will die Anekdote, das ›Nicht-Herausgegebene‹, wie es wörtlich übersetzt heißt, dem Leser den Eindruck vermitteln, hier würde eine wahre Begebenheit aus dem Leben einer prominenten Person erzählt, die zwar auf mündlicher Erzähltradition beruht, dennoch aber wesentliche und charakteristische Züge der betreffenden Persönlichkeit offenlegt, so ist die Episode ein ›Einschiebsel‹ (ursprünglich das Einschieben von dialogischen Partien in ein Chorlied der griechischen Tragödie), ein in sich abgeschlossener Teil eines größeren Prosawerks, der selbständig ist und dennoch mit dem Ganzen sinnvoll verbunden.(45) Bezogen auf Mays Humoresken heißt das, daß sowohl ›Die drei Feldmarschalls‹ als auch ›Ziege oder Bock‹ anekdotisch sind insofern, als eine scheinbar zufällige Begebenheit aus dem ›wirklichen Leben‹ einer historischen oder pseudo-historischen Persönlichkeit erzählt wird, und episodisch, weil anhand einer bestimmten Begebenheit aus dem Leben der betreffenden Person Charakteristisches und Typisches dieser fiktiven oder tatsächlichen Figur enthüllt werden soll. Die Fiktion, es handele sich um eine wirkliche Begebenheit, in den Untertiteln von ›Ziege oder Bock‹ und ›Die drei Feldmarschalls‹ recht explizit ausgeführt (Humoristische Episode aus dem Leben des ›alten Knasters‹ bzw. Bisher noch unbekannte Episode aus dem Leben des ›alten Dessauers‹), findet sich sogar in der Groteske ›Die verwünschte Ziege‹, wobei der Untertitel einen Schwank aus dem wirklichen Leben verheißt, was angesichts des kuriosen Inhalts und der recht deutlichen Kritik am Verhalten der ›Honoratioren‹ einer Kleinstadt nahezu satirisch wirkt. May hat also sowohl in ›Die drei Feldmarschalls‹ als auch in ›Die verwünschte Ziege‹ und in ›Ziege oder Bock‹ Anekdotisches und Episodisches mit dem Grundcharakter der Humoreske vermischt. Geht man nun von der These aus, May habe seine Themen zunächst im kleinen Rahmen ausprobiert, bevor er sie zu umfangreicheren Texten umwandelte, so hat die Vermutung einiges für sich, May habe zunächst die ›ernste‹ Variante des ›Otto-Victor-Fragments‹ für ›Auf der See gefangen‹ genutzt, um sie dann wiederum völlig umzuarbeiten zur Humoreske ›Die verwünschte Ziege‹, die immerhin mit dem Anfang von ›Auf der See gefangen‹ sowohl das Motiv der verhexten Tage oder Unglücksdaten als auch das der Frühstücksmilch gemeinsam hat. Danach versuchte sich May dann wiederum an einem ›Großentwurf‹: Wie er in ›Auf der See gefangen‹ unterschiedliche Romangattungen auf kürzestem Raum miteinander mischte (und damit letztlich scheiterte), so versuchte er in ›Ziege oder Bock‹, das Motiv der Frühstücksmilch,


//280//

der ›Ziege-und-Bock‹-Vertauschung und der Wissenswette miteinander im Rahmen einer komplizierten, vielfach verästelten und duplizierten Motivvariation zu verbinden.

   ›Ziege oder Bock‹ wirkt nämlich gar nicht wie der erste, noch unreife Versuch einer Geschichte, sondern umgekehrt wie das Produkt einer übertriebenen Anstrengung, aus einigen kleineren humoristischen Motiven ein kunstvolles Ganzes zu schaffen – ›artistisches Erzählen‹, diesmal aber eher bemüht und mißlungen. Das wird schon im äußeren Aufbau der Humoreske deutlich: May strapaziert seine Erzählrituale des Wiederholens und Variierens sozusagen bis zur Erschöpfung. Mystische Zahlen, auch in ›Die drei Feldmarschalls‹ und ›Auf der See gefangen‹ mehrfach präsentiert, werden für den ›plot‹ der Handlung von ›Ziege oder Bock‹ nicht nur ebenfalls herangezogen, sondern regelrecht ausgebeutet. Dreimal versucht der Leibhusar Heinz in ›Die drei Feldmarschalls‹, seine Geschichte von der französischen Witwe geschickt zu plazieren, dreimal wird er unterbrochen. Dies korrespondiert mit dem Motiv der drei Männer, die sich in der Dessauer-Anekdote jeweils als Wirt Fährmann ausgeben und für den Dessauer gehalten werden, nämlich der Dessauer selbst, sein ihm gefolgter treuer Heinz und der richtige Fährmann. Überhaupt liebt May die heilige Zahl Drei: Dreimal wird Peter Polter in ›Auf der See gefangen‹ in beinahe gleicher Weise beschrieben,(46) dreimal die Anekdote vom Schimmel in der Oper (das letzte Mal verstümmelt) in der ›Juweleninsel‹ erzählt. In ›Ziege oder Bock‹ hat May nun die Motivwiederholung so toll getrieben, daß die Geschichte von der Witwe in Frankreich nicht dreimal, sondern gleich drei mal drei Male erzählt wird. Auch die Zahl Fünf, schon in ›Auf der See gefangen‹ sowohl in der Grundanlage von 2 x 5 Kapiteln, die sich paarweise ergänzen, als auch in der fünfmaligen unterbrochenen Witwen-Geschichte bedeutsam, taucht in ›Ziege oder Bock‹ oft auf, sowohl in der mechanischen Repetition bestimmter Scherze (so wird das Wort Esel im Zusammenhang mit dem Diener Heinz nicht nur einmal, sondern an einer Stelle gar fünfmal in kurzer Folge benutzt(47)) als auch in der zentralen Ziege-oder-Bock-Vertauschungsgeschichte. In der ›Verwünschten Ziege‹ hatte sich May noch mit dreimaliger Vertauschung begnügt: Erst wird die Ziege vom findigen Buchbinder in den diabolischen Bock umgewandelt, dann unter Einwirkung des heiligen Vollrad in eine Ziege ›zurückverwandelt‹, dann aber wieder zum Bock ›gemacht‹.(48)

   In ›Ziege oder Bock‹ wollte sich May mit solchen schlichten Scherzen nicht begnügen: So wird die Ziege beim erstenmal auf dem Botengang der abergläubischen Adeline listig in den Bock vertauscht, beim zweitenmal – nun in Begleitung des nicht minder abergläubischen Heinz – erst wieder der Bock mit der Ziege und vice versa vertauscht, beim dritten Mal geschieht der Schelmenstreich wiederum doppelt (erst Bock zu Ziege, dann Ziege wieder zu Bock) und sogar unter den Augen des


//281//

mißtrauischen Prinzen! Jede Vertauschung ist also nicht nur eine Wiederholung, sondern jedesmal wird der Streich auch ein bißchen schwerer gemacht, erst durch Beiziehung eines Zeugen (Heinz), dann schließlich unter der Regie des Prinzen selbst. Mays Freude am rituellen Zahlenspiel hat sich auch in der Gesamtanlage der Erzählung ausgewirkt: Sieben Abschnitte, auch dies ja eine heilige Zahl, hat die Humoreske: erst die Exposition mit der Schilderung der unterschiedlichen Charaktere des Prinzen, seiner Haushälterin und des Leibdieners, mit der Einführung der bisher (im Fragment) nur angedeuteten Gestalt des Studentenkarl und mit der entscheidenden Wissenswette, die die Vertauschungsmechanismen in Gang setzt (S. 61-72 (in ›Ziege oder Bock‹)). Die Abschnitte 2, 4 und 6 der Humoreske sind jeweils der Vertauschung von Ziege und Bock gewidmet, wobei dies erst einmal der Adeline allein widerfährt (S. 72-74), beim zweiten Mal dann doppelt, und dazu in Beisein des ›Zeugen‹ Heinz (S. 78-80), und im sechsten Abschnitt der Geschichte sogar unter der Aufsicht des Prinzen (S. 83-86), wobei wiederum zweimal vertauscht wird. Sind die geraden Abschnitte der Humoreske also den Vertauschungen gewidmet, so beginnen alle ungeraden Abschnitte (1, 3, 4 und 7) mit demselben Bild: Der Prinz steht am geöffneten Fenster und raucht (S. 61, 74, 80 und 87), wobei May sich beim letzten Mal die Freude gemacht hat, das Motiv abzuwandeln: Nun steht der Prinz zwar wieder am Fenster, doch vor Kummer hat er sich noch nicht einmal das geliebte Pfeifchen angesteckt, bevor sich dann die Rätsel allesamt aufklären.

   May hat also beträchtlich viel Kunst und Artistik aufgewandt, um das harmlose Motiv von Ziege und Bock gleich fünfmal und das Bild des Prinzen am Fenster viermal dem Leser sozusagen als ›running gag‹ vorzuführen. Damit nicht genug, gibt es aber noch weitere rituelle Motivwiederholungen in der Humoreske. Die wichtigste unter ihnen ist zweifellos Heinz’ immerwährende und nie fertiggestellte Geschichte von der französischen Witwe, die neunmal erzählt wird, davon viermal im ersten Abschnitt der Geschichte (S. 62 zweimal, S. 67 und einmal indirekt als Hinweis des Studentenkarls, S. 66), in dem zweiten, ganz der Einführung des Ziegenmotivs gewidmeten Teil nicht, dafür aber dann durchlaufend in den Abschnitten 3-7 jeweils einmal (S. 76, 80, 82, 85 und 88). Und noch ein weiteres Motiv läuft durch die ganze Geschichte: die Erwähnung des ›wilden Jägers‹ namens Samiel, den Adeline auf dem Theater gesehen hat und der sich mit ihren Unglücksphantasien und abergläubischen Ritualen (alle dreihundertdreiunddreißig Schritte dreimal um die Ziege herumzugehen, damit sie nicht verhext wird, S. 72, 79) aufs beste verbindet. Fünfmal wie die erste Ziegenvertauschung findet sich auch das Samiel-Motiv, erstmals im zweiten Abschnitt (S. 72) und dann in den Abschnitten 4-7 jeweils einmal (S. 80, 81, 84 und 88), also auch dies ein echter ›running gag‹.


//282//

   Aus dem Gesagten ergeben sich zwei Folgerungen. Zum einen scheint es mir, als sei ›Ziege oder Bock‹ keine Frühfassung, sondern vielmehr eine erheblich erweiterte und durch literarische ›Taschenspielertricks‹ angereicherte Zweitfassung der scheinbar harmlosen Humoreske ›Die verwünschte Ziege‹. Dies wird besonders deutlich im Bemühen Mays, die bekannten Motive der Wissenswette, des Rätselspiels, des Unglückstages und der Ziege-Bock-Thematik nicht nur miteinander zu kombinieren, sondern auch noch durch Duplikationen und raffiniertes Spiel mit Wiederholungen und Verknüpfungen von Motiven zu steigern. Zum zweiten scheint es, daß May hier bei seiner ›Zukunftsentwicklung‹ der Leitmotive an einem toten Punkt angekommen war. Trotz des erheblichen Kunstaufwandes, durch den sich ›Ziege oder Bock‹ von der ›Verwünschten Ziege‹ unterscheidet, wirkt die Geschichte ja nicht stärker, im Gegenteil. Wie der berühmte »getretene Quark« in Goethes scharfzüngigem Aphorismus machen auch die kunstreiche Wiederholung des Motivs, die Zahlenspiele, das Ritual des Wiederholens und Verschachtelns die Kerngeschichte keineswegs schärfer, sondern nur breiter, nicht stark. In der ›Verwünschten Ziege‹ ist die Grundkonstellation klar und die Moral von der Geschicht’ auch: Ein borniert auf Wohlstand, Bildung und Ansehen pochender Kleinstadtfunktionär wird in seine Schranken verwiesen und durch Gelächter bestraft. Sein schlauer Gegenspieler, der nur aus Geldmangel keine akademische Bildungshöhe erklimmen durfte,(49) aber gewinnt nicht nur durch die Entlarvung des Anmaßenden, sondern wird durch die Liebe der Tochter des Gestraften belohnt. In ›Ziege oder Bock‹ fehlt nicht nur diese versöhnende Liebesgeschichte, so daß das Ganze trotz des erheblichen Aufwandes recht unbefriedigend ausgeht: Die drei Hagestolze bleiben einsam und unbeweibt auf ihrem Schloßberg, der Studentenkarl verliert zwar seine Subsidien nicht, gewinnt aber weder eine schöne Frau noch letztlich unsere Hochachtung (weil die Streiche nur durch die Wette, nicht aber, wie in der ›Verwünschten Ziege‹, durch eine Kränkung motiviert werden), und man fragt sich ohnehin, ob in Anbetracht des letztlich gutmütigen Charakters des ›alten Knasters‹ dieser die Drohung, dem Karl Schmidt seine finanzielle Unterstützung zu streichen, wenn er die Wissenswette verliert, wirklich wahrgemacht hätte. May hat gewiß an den verschiedenen Stufen vom einfachen Charakter des Fragments bis hin zur komplizierten Anlage der Humoreske viel hinzugelernt an erzählerischer Raffinesse, aber wirklich weiterentwickelt haben sich seine ›Leitmotive‹, zumindest in der ›Ziege oder Bock‹-Fassung, nicht. Es ist durchaus vorstellbar, daß May dies selber gespürt hat und sich darum mit den Anstrengungen der Humoreske endgültig von einer Motivkette verabschiedete, die ihn offenbar doch zumindest zeitweilig recht lebhaft beschäftigt hatte.


//283//

4

Bleibt die Frage: Was hat May denn an diesen Motiven, die wir im Vorstehenden etwas genauer betrachtet haben, so sehr fasziniert, daß er immer wieder leitmotivartig zu ihnen zurückkehrte? Und weiter: Was verbindet die etwas trivialen Humoresken des jungen May mit den mystischen Ideen des späten Werks? Darauf gibt es, wie immer, keine einfache Antwort, sondern gleich mehrere. In der ›Verwünschten Ziege‹ wie in ›Ziege oder Bock‹ geht es auch und sehr wesentlich um Aberglauben. Der Aber-Glaube aber ist, wie das Wort verrät, ein verkehrter Glaube, d. h., ist dem frommen, gottgläubigen Menschen die Natur, die Welt und ›was sie im Innersten zusammenhält‹ von Grund auf heilig, so wird für den abergläubischen Menschen alles, von der Zahl bis zur Ziege, vom angeblichen Unglückstag bis hin zu alltäglichen Geschehnissen, zum möglichen Tummelplatz für die Dämonen, ja, für Satan höchstpersönlich. Ganz natürlich schließen sich abergläubische Gedanken vor allem dort an, wo ursprünglich das Göttliche sich manifestiert; so gibt es zahllose Überlieferungen, daß sich in der Nacht vor einem wichtigen kirchlichen Fest die Dämonen tummeln und austoben, vom amerikanischen ›Halloween‹, dem Vorabend des Allerheiligenfestes (›All Hallows Eve‹), an dem sich allerlei Dämonen und Geister sowie die Seelen der Verstorbenen zum teuflischen Reigen treffen, über die bekannte Johannisnacht bis hin zur Bartholomäusnacht, der Nacht vor dem Fest des heiligen Apostels Bartholomäus (24. August), in der nach der Überlieferung die Dämonen umgehen. (Nicht zufällig hat die Blutnacht des Hinschlachtens der Hugenotten in der französischen Geschichte den Beinamen ›Bartholomäusnacht‹ bekommen, nicht nur weil es sich in der Nacht vor dem Fest des Heiligen ereignete, sondern weil sich die schrecklichen Ereignisse im Gedächtnis des Volkes mit bereits kursierenden abergläubischen Vorstellungen verbinden konnten.) Der scheinbar greuliche Unsinn, den Adeline und Heinz sich in ›Ziege oder Bock‹ über den Bartholomäustag zusammenspinnen, ist also durchaus keine abwegige Erfindung Mays. Wenn dem Ottendorfer Fleischer an Bartholomäi sich angeblich ein Kalb in eine sechsbeinige Katze(50) oder gar in eine zwölfbeinige Seeschlange(51) verwandelt, so muß man daran denken, daß der heilige Bartholomäus als Patron der Fleischer, Fischer und Handschuhmacher gilt. Was also dem gläubigen Menschen als Segen eines heiligen Mannes erscheint, das wird dem Abergläubischen zum Fluch der Dämonen. Wie genau May in den Heiligenkalendern Bescheid weiß, zeigt nicht nur der Hinweis auf den heiligen Ludwig, König von Frankreich, der in der Tat der Heilige des 25. Augusts, des Tags nach dem Bartholomäusfest, ist,(52) sondern auch der Hinweis auf den heiligen Vollrad in ›Die verwünschte Ziege‹. Vollrad war ein Einsiedler, der im Rheinland, unweit der Gemarkung Winkel, gelebt haben soll.


//284//

Aus der Klause bei Winkel, westlich von Mainz, nicht weit von dem berühmten Schloß der Metternichs, Schloß Johannisberg, wurde im Mittelalter der Überlieferung zufolge ein Nonnenkloster. Als das ursprünglich im Grauen Haus zu Winkel ansässige Geschlecht der Herren von Greiffenclau um 1300 durch Rodungen daran ging, das Waldgebiet, in dem Vollrad gelebt haben sollte, urbar zu machen, nannten sie das Schloß, dessen mächtiger Wohnturm im Jahre 1330 vollendet wurde, ›Schloß Vollrads‹, zu Ehren des Heiligen. Kurioserweise sollte das Geschlecht derer von Greiffenclau im Jahre 1930 sich mehr oder weniger zufällig, aber jedem Leser der ›grünen‹ Karl-May-Verlags-Ausgabe unvergeßlich, mit dem Namen Karl May verbinden. Als Dr. Euchar Albrecht Schmid nach einem Ersatz für den ihm unpassend erscheinenden Namen Königsau in der Bearbeitung der ›Liebe des Ulanen‹ suchte, fiel ihm der in seiner fränkischen Heimat wohlbekannte Name derer von Greifenklau ein. Zwei Mitglieder dieser Sippe, Johann Philipp und Karl Philipp, waren von 1699-1719 bzw. von 1749-54 Fürstbischöfe von Würzburg und Herzöge von Franken, und eine Bamberger Brauerei trägt noch heute den Greifenklauschen Namen. So kam es, daß 1930 der Band 59 der Gesammelten Werke Karl Mays in der Bearbeitung des Karl-May-Verlags den Titel ›Die Herren von Greifenklau‹ bekam.(53)

   Zurück zum heiligen Vollrad: Wenn Hampel in der ›Verwünschten Ziege‹(54) auf dem Kalender feststellt, daß der 2. Oktober der Tag des heiligen Vollrad ist, der durch seine Güte wieder ins Lot bringt, was am 1. Oktober, angeblich einem Unglückstag, an Bösem geschah, so muß man daran denken, daß der heilige Vollrad, der Legende nach, wie der heilige Antonius vom Teufel in seiner Klosterzelle besucht wurde, der Versuchung aber sieghaft widerstand.

   Der scheinbar abergläubische Unfug, den May in seinen Humoresken so breit ausführt, hat also durchaus seine tiefere Bedeutung. Auch die die ›Verwünschte Ziege‹ einleitende Reflexion darüber, daß die ersten Tage jedes Quartals angeblich schreckliche Unglückstage seien, also der 1. Januar, der 1. April, der 1. Juli und der 1. Oktober,(55) erweist sich als Verballhornung eines frommen Glaubens, wonach der Jahreslauf heilig ist und bestimmte Tage im Wechsel der Jahreszeiten als besonders fruchtbringend gelten. Immer aber hat der Aberglaube auch mit dem Gedanken an Schuld und Sünde zu tun; so verbindet sich in der ›Verwünschten Ziege‹ das Motiv des Unglückstages mit den biblischen Berichten und den frommen Legenden über die Erbsünde der Menschen, die Sintflut und die Vernichtung von Sodom und Gomorrah als Strafe für menschliche Verfehlungen und schließlich den Sturz Luzifers aus dem Himmel, als Strafe für seinen Hochmut.

   Letztlich ist der Aberglaube also die Angst vor der Rache der Götter, vor der Bestrafung von Sünde und Verstoß gegen heilige Gebote. Damit verbunden ist auch die in der germanischen Mythologie so wichtige


//285//

Geschichte von der ›Wilden Jagd‹ – Rudi Schweikert hat bereits Wichtiges zu ihrer Verwendung durch May gesagt.(56) Auch in ›Ziege oder Bock‹ spielt May auf die ›Wilde Jagd‹ an: Samiel, fünfmal dort erwähnt, ist der Name des Wilden Jägers im ›Gespensterbuch‹ von Apel und Laun, der Quelle für Webers ›Freischütz‹ (und auf dieses Stück spielt May ja an, wenn er in der Humoreske ›Ziege oder Bock‹ die Adeline davon faseln läßt, daß sich ihr der Samiel auf dem Theater gezeigt habe(57)). Samiel aber wird auch bei Weber mit dem Teufel gleichgesetzt.

   Nun hat Jacob Grimm in seiner ›Deutschen Mythologie‹ ausführlich das Motiv der Wilden Jagd behandelt. Seiner Ansicht nach steckt hinter der Bezeichnung ›Das wütende Heer‹, unter der die Wilde Jagd auch fungiert, »Wuotans Heer«(58) Dies ist ein Gedanke, den es nachzuvollziehen lohnt. Für den abergläubischen Menschen in der Zeit nach Einführung des Christentums zeigten sich in stürmischen Nächten die alten Götter, drohend und wütend über den Abfall der Menschen vom Glauben an Wuotan und seine göttlichen Freunde; das Wilde Heer treibt die typischen Beschäftigungen der heidnischen Götter: Krieg, Kegelspiel, Jagd.(59) Mit dieser Vorstellung verbanden sich dann auch christliche Ideen. Die Wilde Jagd wurde umgedeutet zur Strafe für einen Jägermeister, der gegen das Verbot verstoßen haben soll, am Sonntag zu jagen. Hier wirken auch mythologische Vorstellungen mit hinein, wie sie sich bei vielen Völkern finden: Die Jagd ist ein göttliches Privileg, denn die Haine und Wälder sind den Göttern geweiht. Wer in heiligen Hainen jagt oder die Götter in ihren Mysterien aufstöbert, wird getötet, wie Aktäon, der Diana im Bade erblickte. Die Wilde Jagd ist also auch als Strafe zu verstehen für den Ungehorsam der Menschen gegenüber den göttlichen Geboten, oder anders: Die Götter selbst rächen sich an den Menschen, indem sie unheilvoll und tobend in stürmischen Nächten am Himmel jagen.

   Wer oder was wird bestraft in ›Ziege oder Bock‹ und ›Die verwünschte Ziege‹? Die Antwort liegt auf der Hand: Hampel, der sich allwissend wähnt, und der ›alte Knaster‹, der meint, man könne ihm nichts vormachen, verstoßen gegen göttliche Gebote und gegen ein Privileg des Menschen: über seine eigene Unwissenheit zu lachen. »Tutto nel mondo è burla. / L›uom è nato burlone« lassen Arrigo Boito und Giuseppe Verdi am Ende ihrer geistreichen Vertonung des Shakespeareschen Stoffes von den ›Merry Wives of Windsor‹ den Hörer wissen: Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch ein geborener Tor. Weil Hampel und Prinz Otto Victor dies nicht einsehen, sich für unfehlbar und nicht zu täuschen und damit für gottähnlich erklären, weil sie in frevelnder Hybris göttliche Privilegien sich anmaßen, werden sie bestraft mit der Wilden Jagd und dem scheinbaren Wirken des Satans auf Erden (denn der Ziegenbock ist, alter Überlieferung zufolge, ein Symbol für Satan selbst). Auch Sir John Falstaff in Shakespeares Komödie und Verdis


//286//

Oper übrigens trifft dasselbe Schicksal. Weil er im Vertrauen auf seine Privilegien als ›officer und gentleman‹ meinte, die Tugend der Frauen anderer Männer nicht achten zu sollen, wird er mit der Wilden Jagd bestraft, um Mitternacht zur Eiche von »Herne the Hunter« im Park von Windsor bestellt (hinter dem Namen Herne steckt wahrscheinlich eine Verballhornung Dietrich von Berns alias Dideric de Berne, der nach weitverbreiteten deutschen Überlieferungen auch als ›Wilder Jäger‹ genannt wird(60)) und scheinbar von der Wilden Jagd überfallen: Es sind aber nur die lustigen Weiber mitsamt ihren Helfern, und so endet das Ganze, wie bei Karl May, nicht tödlich, sondern im Gelächter.

   Wir haben das Motiv, das ›Ziege oder Bock‹ und ›Die verwünschte Ziege‹ beherrscht, als ›Wissenswette‹ benannt. Hier geht es nicht um die Lösung von Rätselfragen, sondern um das menschliche Wissen, die menschliche Erkenntnis schlechthin und die ihnen von Gott gesetzten Grenzen. In seinem bemerkenswerten Vortrag für die Dresden-Radebeuler Tagung der Karl-May-Gesellschaft 1993 hat Ulrich Schmid das ›Zu-sich-selbst-Kommen‹ des Menschen als ein zentrales Anliegen des Pädagogen und Schriftstellers, des Seelenführers und Phantasten Karl May bezeichnet.(61) Der ›alte Knaster‹ und der Stadtrat Hampel, sie können nicht zu sich selbst kommen, weil sie die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreiten wollen. Folglich müssen sie durch Gelächter von ihrer Verblendung und ihrer Menschenfeindlichkeit geheilt werden. Dabei bedarf es jeweils eines Menschen, der die Wissensprobe mit ihnen wagt und ihnen die Grenzen ihres Wissens aufzeigt. Wir haben am Anfang gesehen, daß bei Wagner erst Mime als Rätselmeister auftritt, dann aber sich der Wanderer als der wahrhaft Wissende erweist und Mime die Grenzen seiner Weisheit schmerzlich klarmacht. Holfert und Karl Schmidt bei May sind nun die Rätselmeister, die die jeweils weit älteren Konkurrenten der Wissenswette von ihrer Hybris kurieren. Es scheint, daß es für May weniger darauf ankommt, die richtigen Antworten alle zu kennen, als die richtigen Fragen zu stellen. Darum war von je meine Lieblingsgestalt die Sphinx. Die sagte nichts; die ließ nur rathen. Darum wurde sie nicht gehaßt und nicht beneidet. Aber ich habe ihr leider nicht nachgestrebt, denn sie lag so still, und ich liebte die Bewegung. Darum gab ich nicht Räthsel auf, sondern ich plauderte. Pfui, wie dumm! bekennt May in einem Brief an Sascha Schneider vom 8. 7. 1904.(62) Die Sphinx, wir sagten es zu Beginn, zielt mit ihren Fragen auf die Existenz des Menschen, auf den Sinn seines Lebens. Auch Karl May, selbst wenn er scherzt, zielt auf jene Existenzfragen, auf die Lösung jener dunklen Rätsel, die sich um Kommen und Gehen des Menschen auf Erden bewegen. Auch wenn er selber nicht immer die Antwort wußte, in den Andeutungen seiner Leitmotive, in seinen oft versteckten Anspielungen auf Wilde Jagd und eifersüchtige Götter, auf Menschen, die nicht zu sich


//287//

selbst kommen können, weil sie in erster Linie die Erwartungen ihrer Mitmenschen an ihren Stand, ihre Bildung und ihre Stellung in der Welt befriedigen müssen, weil sie vor allem ihre eigenen, übertriebenen Vorstellungen von ›sich selbst‹ vor Augen haben und nicht das, was sie wirklich darstellen sollen, hat May tatsächlich einen kleinen Beitrag zur Lösung der großen Schicksalsfrage geleistet. Wenn er in ›Mein Leben und Streben‹ das Menschheitsproblem mit dem Karl May-Problem gleichsetzt,(63) scheint das maßlos übertrieben und eitel. Umgekehrt aber wird es wahr: In den Problemen des Menschen May auf dem Weg zu sich selber, in den Bildern seiner Werke wird auch ein wenig von den Rätseln und möglichen Antworten auf die Frage der Mitmenschen nach dem Sinn ihres Lebens und Strebens deutlich.

   So sei den vielen Rätseln und Märchen am Ende noch ein weiteres an die Seite gestellt: Jacob Grimm berichtet, daß es noch eine zweite Ausprägung des Aberglaubens von der Wilden Jagd gibt, nämlich die Wilde Jagd als »feierlichen Umzug weiblicher Gottheiten«,(64) angeführt von Frau Holda, die einerseits mit der antiken Venus, andererseits mit der germanischen Fricka, der Gattin Wuotans, Schützerin der Ehe und der Liebe, identifiziert wird. Diese erst schrecklichen, dann aber segenspendenden und freundlichen Gottheiten hat Goethe in der 1813 entstandenen Ballade vom ›Getreuen Eckart‹ als »wütiges Heer«, als »die unholdigen Schwestern« beschrieben, die aber durch das Trankopfer, die Libation in Gestalt des von den Kindern geholten Biers, beschwichtigt werden und sich diesen als »hold« erweisen.(65) Ist die Wilde Jagd Wuotans zunächst ein zorniges, rächendes Götterheer, so wandelt sich dieses Bild in der Umdeutung der Sage zum Zug freundlicher, segenspendender Frauen. Und merkwürdig: Hat Karl May davon etwas gewußt? In der ›Verwünschten Ziege‹ ist es Hampels Tochter Anna, in ›Auf der See gefangen‹ Fräulein Wanda, die liebend und freundlich den Fluch der schlechten Vorbedeutungen, der üblen Omen und der als Wilde Jagd dahintobenden, ob der Hybris der Sterblichen erzürnten Götter brechen und den Spuk wandeln in Liebe und Ehe (Wanda mit Treskow, der auch die Unschuld Max von Schönburg-Wildauens bewiesen hat und damit den düsteren ›Bannfluch‹ über dem Hause des alten Prinzen brach, Anna mit Holfert, der seinerseits die Gespenster, an die Hampel glaubt, durch Gelächter und List vertreibt). Nur in ›Ziege oder Bock‹ fehlt die Versöhnlichkeit eines solchen Liebes-Schlusses und Liebes-Bundes. Vielleicht liegt es daran, daß einen die Humoreske so wenig befriedigt; ihr fehlt ein wenig von der Weisheit des Märchens, die May programmatisch für sein ganzes Werk in Anspruch nehmen wollte: So, das ist das Märchen! Aber nicht das Kindermärchen, sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Märchen, trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm wohnenden Seele gemäß.(66) Den feinen Verästelungen solcher Märchenweis-


//288//

heit auch in manch scheinbar trivialem Frühwerk Karl Mays nachzuspüren – das sollte heute meine Aufgabe sein.

   Mag mancher vielleicht besonders die letzten Ausführungen für zu spekulativ halten, so nehme ich unbescheiden ein wenig Karl Mays eigene, stolze Behauptung auch für diese Interpretationsansätze in Anspruch: und was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben lernen.(67)

*

Aus gegebenem Anlaß erlaube ich mir, von der Regel abzuweichen, daß man einen Vortragstext nicht mit einer Widmung versehen soll. Hartmut Kühne, dem Freund und Kollegen, an dessen 60. Geburtstag am ›verhexten‹ 13. Oktober 1995, anläßlich der 13. Tagung der KMG, dieses Referat gehalten wurde, sei es in Dankbarkeit für langjährige Freundschaft und guten Rat gewidmet.

*


1 Richard Wagner: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Julius Kapp. Bd. 4. Leipzig o. J., S. 155

2 Ebd., S. 160

3 Ebd., S. 161

4 Vgl. dazu Christoph F. Lorenz: Artikel ›Leitmotiv‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von K. Weimar in Zusammenarbeit mit H. Fricke, K. Grubmüller und J.-D. Müler. Berlin (noch nicht erschienen).

5 Ebd.

6 Karl May: Das Otto-Victor-Fragment. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1986. Husum 1986, S. 89-95

7 Karl May: Ziege oder Bock. In: Neuer deutscher Reichsbote. Jg. 1879. In: Karl May: Ein wohlgemeintes Wort. Frühe Texte aus dem ›Neuen deutschen Reichsboten‹ 1872-1886. Mit einer Einleitung von Peter Richter und Jürgen Wehnert. Lütjenburg 1994, S. 61-88 (Veröffentlichung aus dem Karl-May-Archiv. Bd. 2); etwa zeitgleich mit Richter/Wehnert konnte Lothar Schmid (Karl-May-Verlag, Bamberg) ein Exemplar des ›Neuen deutschen Reichsboten 1879‹ erwerben. Er stellte mir freundlicherweise schon längere Zeit vor Erscheinen des Reprints Kopien der May-Erzählung für Forschungszwecke zur Verfügung.

8 Herbert Meier: »Prinz Otto Victor, der Confusionsheinrich, der Studentenkarl und das Wiannerlinchen ...«. Ein Programm? Anmerkungen zu einem frühen Fragment-Text Karl Mays. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 99

9 Karl May: Die drei Feldmarschalls. In: Weltspiegel. 2. Jg. (1878); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974. Karl May: Auf der See gefangen. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1878), S. 322f.; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1971 (zitiert im Text: Sce)

10 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6

11 Karl May: Die verwünschte Ziege. In: Weltspiegel. 2. Jg. (1878); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

12 Richter/Wehnert: Einleitung. In: May: Ein wohlgemeintes Wort, wie Anm. 7, S. 17

13 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6, S. 90

14 May: Auf der See gefangen, wie Anm. 10, S. 322f.

15 Vgl. dazu Meier, wie Anm. 8, S. 107, Anm. 19.

16 Ebd., S. 102-06

17 Ebd., S. 105

18 Vgl. dazu Christoph F. Lorenz: Die wiederholte Geschichte. Der Frühroman ›Auf der See gefangen‹ und seine Bedeutung im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 161-70.


//289//

19 Vgl. Richter/Wehnert, wie Anm. 12, S. 17, Anm. 52.

20 May: Die verwünschte Ziege, wie Anm. 11, S. 729

21 May: Ziege oder Bock, wie Anm. 7, S. 64

22 Wagner, wie Anm. 1, S. 173

23 Ebd., S. 161

24 Vgl. dazu Lorenz: Die wiederholte Geschichte, wie Anm. 18, S. 182-85.

25 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6, S. 90

26 Meier, wie Anm. 8, S. 103

27 May: Die drei Feldmarschalls, wie Anm. 9, S. 602

28 Ebd., S. 666

29 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892 – Ders.: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, vgl.

Lorenz: Die wiederholte Geschichte, wie Anm. 18, S. 183f.

30 Karl May: Die Sklavenkarawane. Suttgart 1893 – vgl. Lorenz: Die wiederholte Geschichte, wie Anm. 18, S. 184.

31 Gert Ueding: Eine fröhliche Koexistenz der Methoden und Lesarten. In: Arbitrium 2/1994; wieder abgedruckt in: KMG-Nachrichten 103/März 1995, S. 9ff.

32 Vgl. zur Problematik der ›Gattungsmischung‹ bei May Harald Fricke: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin. Paderborn 1991, S. 130ff.

33 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6, S. 89f.

34 Ebd., S. 90

35 Ebd., S. 91

36 May: Auf der See gefangen, wie Anm. 10, S. 322

37 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6, S. 92

38 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 8; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

39 May: Ziege oder Bock, wie Anm. 7, S. 64

40 May: Otto-Victor-Fragment, wie Anm. 6, S. 89

41 May: Auf der See gefangen, wie Anm. 10, S. 371

42 Ebd., S. 322

43 Richter/Wehnert, wie Anm. 12, S. 17

44 So vertritt Rudi Schweikert: Babieça, Befour, Bhowannie. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 100/1994, S. 30, die Auffassung, May habe der Göttin Bhowannie in Abweichung von der Tradition in ›Scepter und Hammer‹ in freier Phantasie schützende und bewahrende Züge verliehen und folglich könnten die entsprechenden Passagen der ›Juweleninsel‹, in denen Bhowannie als Rächerin und Todesgöttin ohne positive Aspekte erscheint, früher entstanden sein als die von Schweikert herangezogenen Sätze aus ›Scepter und Hammer‹. Diese Annahme, wonach der später erschienene Roman zumindest partienweise früher entstanden sein könnte als sein Vorgänger, basiert allerdings auf einem Irrtum des Verfassers. ›Bhowannie‹ leitet sich von der angloindischen Schreibung ›Bhowanee‹ ab, und dieser Göttername entspricht dem Sanskritnamen ›Bhawânî‹. Die Göttin Bhawânî aber hat traditionell ein Tages- und ein Nachtgesicht (vgl. dazu Christoph F. Lorenz: Verwehte Spuren. Zur Handlungsführung und Motivverarbeitung in Karl Mays Roman ›Die Juweleninsel‹: In Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 278). Mays Phantasie hat also nicht die Gestalt der indischen Göttin »zu einer ambivalenten, auch mütterlich-bewahrenden Gottheit« umgeschmolzen, wie Schweikert: Von Befour nach Sitara – in Begleitung der Wilden Jagd. Über ein mythisches Muster, die Wissensprobe als artistisches Prinzip bei Karl May sowie etwas über sein Lesen, Denken und Schreiben. Ein Fantasiestück in philologischer Manier. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 130, behauptet. Seine Hypothese ignoriert die Tatsachen der indischen Mythologie.

45 Vgl. dazu Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 71989, Artikel ›Anekdote‹ und ›Episode‹.

46 Lorenz: Die wiederholte Geschichte, wie Anm. 18, S. 171

47 May: Ziege oder Bock, wie Anm. 7, S. 62-63

48 May: Die verwünschte Ziege, wie Anm. 11, S. 745f.


//290//

49 Ebd., S. 730

50 May: Ziege oder Bock, wie Anm. 7, S. 72

51 Ebd., S. 75

52 Ebd., S. 79

53 Für die freundlichen Auskünfte zur Familienhistorie der Familie von Greiffenclau und der Geschichte von Schloß Vollrads bin ich Herrn Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau, Schloß Vollrads, Oestrich-Winkel, zu großem Dank verpflichtet.

54 May: Verwünschte Ziege, wie Anm. 11, S. 745

55 Ebd., S. 667

56 Schweikert: Von Befour nach Sitara, wie Anm. 44, S. 116- 21

57 Vgl. May: Ziege oder Bock, wie Anm. 7, S. 72, und anderswo.

58 Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Bd. 2. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981, S. 766

59 Ebd., S. 790

60 Ebd., S. 781

61 Ulrich Schmid: Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer. Nachdenken über Willy E. und Wiltrud von B. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 30-50

62 Empor zum Licht! Zur Entstehungsgeschichte der Sascha-Schneider-Titelbilder für die Gesammelten Reiseerzählungen Karl Mays. Hrsg. von Lothar Schmid. Bamberg 1991, S. 30

63 May: Leben und Streben, wie Anm. 38, S. 300

64 Grimm, wie Anm. 55, S. 790

65 Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte in zeitlicher Folge. Frankfurt a. M. 1982, S. 663ff.

66 May: Leben und Streben, wie Anm. 38, S. 141

67 Ebd.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz