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PETRA KÜPPERS

Karl Mays Indianerbild und die Tradition
der Fremdendarstellung
Eine kulturgeschichtliche Analyse



Eine Frage, die immer wieder im Bereich der Karl-May-Forschung anklingt, ist, ob denn nun May eher ein Rassist oder ein wahrer Menschenfreund war. Der wohldokumentierte Umgang Mays gerade mit nordamerikanischen Indianern liefert einige Aufschlüsse, und Arbeiten, die entweder die eine oder die andere Seite beleuchten, sind in Fülle erschienen. Dieser Aufsatz versucht sich dem Problem auf eine neue, aus dem kulturwissenschaftlichen Umfeld kommende Weise zu nähern. Er untersucht das Werk Karl Mays im Hinblick auf die kulturgeschichtlichen Traditionen des Umgangs mit dem Fremden und bringt so literaturspezifische Ansätze in Verbindung mit anthropologischen und kunstgeschichtlichen Aspekten.

   Den Mayschen Romanen ist im Laufe ihrer wechselvollen akademischen Rezeption Verfälschung, Ungenauigkeit oder Lügenhaftigkeit im Umgang mit der realen Welt Amerika und deren Einwohnern vorgeworfen worden. Ethnographisch genaue, psychologisch durchdacht erlebte Kulturkontakt-Situationen wurden zum Vergleich herangezogen, um die Trivialliteratur eines Schriftstellers, der erklärtermaßen ›die Jugend bilden solle‹, zu bewerten. Dabei ist oft übersehen worden, daß die Dienstbarmachung des Fremdenbildes als Eigenreflexion, d. h. als Aussage über das Eigene und nicht das Fremde, ein fester Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte ist. Die Darstellung der Indianer durch Karl May wird oft – je nach Blickrichtung – als »historisch falsch«, »progressiv« oder »abwertend« eingestuft.(1) Die Realität der nordamerikanischen Indianer mischt sich in die Literaturanalyse und macht Kritiker zu Moralaposteln oder Murmelzählern. Diese Studie wird den real existierenden nordamerikanischen Ureinwohner außer acht lassen, genauso wie die gerade in der May-Forschung in Literaturanalysen wohl durchleuchtete historische Position deutschen Bürgertums / Arbeiterwesens gegenüber der Neuen Welt im l9. und frühen 20. Jahrhundert. Mich interessieren archetypische Erzählfiguren der modernen Mythologie, die Konstituenten einer bürgerlich-westlichen Geisteswelt, auf die May sich in seiner Darstellung des Fremden berufen kann.

   Ein kurzer Überblick über die Nutzung des Fremdenbildes in den


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Traditionen europäischen Denkens wird die historischen Wurzeln des Mayschen Indianerbildes aufzeigen, und in zwei folgenden Teilen werden die Spuren dieser Traditionen im Winnetou-Bild und in einem allgemeineren Überblick über die gesamtindianische Kultur als exotische Kultur erhellt. Ausgewählte Szenen aus den nordamerikanischen Reiseromanen(2) liefern dabei das Untersuchungsmaterial. Als Methode dient die ›kulturelle Semiotik‹, eine Arbeitsweise, die die kulturellen Inhalte der Darstellungsweise entschlüsselt.(3) Es werden Textsegmente als Indikatoren kulturell geprägter Konnotationen, als ›Stimmungsträger‹ mit assoziativ zu erfassendem Inhalt gewertet und analysiert. Indem so die verschiedenen Isotopieebenen oder Bedeutungsfelder, die ein Begriff oder eine Wendung heraufbeschwören kann, benannt werden, können die Darstellungen auf die ihnen zugrunde liegenden, auch durchaus widersprüchlichen, kulturellen Traditionen zurückgeführt werden.


Die Kategorien des Anderen

Die Beschäftigung mit dem Fremden: Dies ist die große Geschichte, die ›Metanarrative‹, der Kultur. Als notwendige Voraussetzung zur Beschäftigung mit dem Eigenen, zur Gruppenbildung, zur Ausbildung eines Gruppenbewußtseins setzt die Beschäftigung mit dem Anderen früh in der Geschichte der Zivilisation ein. Märchen, Sagen, Gedichte trugen schon vor der konkret politisch-ökonomischen Marginalisierung von Juden, Frauen, sozialen Gruppen etc. den Stempel der Abgrenzung: Die schillernde Grenze zwischen ›Leben‹/›Tod‹, ›fremdartiger Wald‹/›sicheres Dorf‹ ist ein Thema all dieser Formen.

   Das erste Beispiel von Gruppenabgrenzung führt zurück zu einer Schnittstelle zwischen Märchen und Reisebericht; lange vor Kolumbus’ Zeiten unterliegt die Berichterstattung anderen Gesetzen als der wissenschaftlich objektiven Darstellung von Fakten. Die ersten Informationen von den ›Anderen‹, deren Spuren sich in Karl Mays Imagination aufzeigen lassen, finden sich in der Antike. Die Antike kannte eine reiche Tradition an Reiseberichten und baute sich ein festes Vokabular im Umgang mit den dabei entdeckten ›Anderen‹ auf. Außer Herodot und seinen Fabelwesen ist besonders ein römischer Enzyklopädist für die mittelalterliche Beschäftigung mit den Anderen wichtig: Plinius der Ältere ist der Schreiber einer großen Naturgeschichte (77 n. Chr.), die den Wissensstand der damaligen Epoche in allen Disziplinen zu vereinen suchte. Durch beständiges Abschreiben, kompilative Erfassungsmethoden verfestigte sich diese Enzyklopädie zu Gemeingut: Durch immerwährendes Wiederholen des Alten in allen neueren Texten gewannen die alten Texte eine außerordentliche Autorität.


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   Plinius berichtete von dem ›ganz Anderen‹, von Tiermenschen und Fabelwesen, von Kopfständern und Einfüßern. Gleich neben seinen Hundskopfwesen stehen Informationen zu den wirtschaftlich interessanten Punkten des fremden Landes: zu Gewürzen und Farben. Der kolonialistisch-ökonomische Aspekt des Fremdenbildes tritt schon hier in Erscheinung.

   Die Information über die ›ganz Anderen‹, die Antipoden, wurde weiterverbreitet, war die naturalisierte, die normale Sicht auf die Außenwelt. Der Osten wurde systematisch exotisiert, eine Gegenwelt wurde geschaffen, die das Bekannte konzentrierte, die ›Welt‹ als ›Menschenwelt‹ im überschaubaren Rahmen hielt und sie konzentrisch auf eine Mitte hin zu organisieren half: »In both writers [Plinius und Herodot], the monstrous human races are a part of a system of roughly concentric circles with their centre in the region of Italy or Greece. The further one progresses from the centre, the wilder the inhabitants become. At the same time, regional specificity becomes relatively unimportant. It is the similarity between extremes of wildness in Ethiopia, Skythia or India which links them together, rather than their situation to other, less wild peoples of their own region.«(4)

   Sir John Mandevilles ›Travels‹, ca. 1356, und Sebastian Münsters ›Cosmographia‹, ca. 1544 im deutschsprachigen Raum, sind zwei neuzeitliche Vertreter der plinischen Tradition. Die Plinischen Rassen sind die Prototypen der ›ganz Anderen‹, derer, die kaum Menschen sind, der Tiermenschen (Fischmenschen, Hundeköpfer), der Kannibalen (die berühmten Anthropophagi), der körperlich (Einäuger, Brustaugen, Riesenohren) oder sozial (Weib-Geber – die, die jedem Gast ihre Frau anbieten, oder die Tauben) Deformierten und Grotesken.

   Die Entdecker der Neuen Welt brachten dieses Vokabular des Umgangs mit den weit entfernten Gestaden aufgrund ihrer mittelalterlichen Erziehung und Sozialisation mit sich und fanden so – ›man sieht, was man kennt‹ – auch ihre Bestätigungen. Die Indianer als Un-Menschen im Sinne von ›keine Menschen‹, als Tiere, als biologisch anders und als Objekte des Exotismus sind bekannte Stereotypen, die wir in der May-Analyse vereinzelt noch wiederfinden werden.

   Ein zweites Bild vom Fremden, genauso wichtig für die Tradition des Umgangs mit Indianern in den westlichen Kulturformen, ist das Bild des Barbaren. Wieder führt uns dieser Begriff zurück zur Antike.(5) ›Barbar‹ ist ein griechischer onomatopoetischer Begriff (hergeleitet vom ›Gebrabbel‹ der fremden Sprache) mit dem Bedeutungsgehalt ›der Fremde‹. Der Inhalt von ›Fremdsein‹ war bei den Griechen gefüllt mit: Menschen, die nicht die Polis kannten, sich nicht der griechischen Sprache und der griechischen Ideale bedienten. Als Beispielsethnie dienten die Skythen, mit denen sich die Griechen Fehden lieferten und die sie als Bedroher ihrer Kultur verstanden. Mit der Schaffung des Konzepts


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vom ›Barbaren‹ trat auch gleich ein zweiter Umgang mit dem Konzept ein: Schon von den Griechen an gibt es Gruppen, die den Barbaren – ähnlich wie es Montaigne und Rousseau später wieder taten – die verlorene Unschuld der Zivilisation in ihrer Dekadenz zusprachen und sie idealisierten. Meistens jedoch wurden die rein negativen semantischen Felder ›barbarisch = wild, bedrohlich und gegen die Zivilisation gerichtet‹ als eigentliche Bedeutung erkannt. Damit rechtfertigte die Qualifizierung einen Freibrief für moralische Abwertung und Aggression unter dem Mantel des Eigenschutzes oder Bekehrungsversuche im Auftrag der Zivilisation.

   Die Idee des Barbarischen als nicht-griechisch bzw. später nicht-römisch blieb erhalten bis zur Machtübernahme durch die germanischen Eroberer. Dann kam im frühen Mittelalter eine Bedeutungsänderung auf: Barbaren waren die, die nicht christlich waren. Die semantischen Felder ›Grausamkeit‹, ›Einfachheit‹ wurden beibehalten. Die erfolgte Bedeutungsänderung war wichtig für das Bild eines geographischen Christentums, das die Kreuzzüge um Jerusalem rechtfertigen mußte. Nachdem sich dann aber in Europa bzw. in dessen Einzugsbereich kaum noch Nicht-Christen befanden, zumindestens auf dem Papier, änderte sich die Bedeutung des Wortes ›Barbar‹ wieder: Als Bedeutungsgehalt tritt nun die Unmenschlichkeit auf, die in abgeschwächter Form auch heute noch den Hauptinhalt des Wortes kennzeichnet.

   Die wichtigste Aussage, die im Bild des Barbaren gemacht wird, ist die einer wie auch immer bedrohenden Andersheit. Diese Bedrohung kann auf unterschiedlichen Ebenen wirksam sein, abhängig von der Auslegung des Systems, das mit einem Fremden fertig werden muß. Je nach Eigendefinition wird so eine kulturelle Bedrohung in einer Gesellschaft, die sich als kulturelle Insel, als isoliert und gefährdet versteht, definiert oder eine religiöse in einer Kultur, die sich in erster Linie über religiöse Zusammenhänge und Hierarchien definiert.

   Die andere, entgegengesetzte Art der Bewertung der ›Anderen‹ ist das bekannte Stereotyp des ›edlen Wilden‹. Als Begriffsschöpfung Christoph Kolumbus in den Mund gelegt, geistert der ›edle Wilde‹ durch die Literatur der Aufklärung. Wir sehen seinen Vorläufer bei Tacitus und all den anderen Zivilisationskritikern und heute in der Walt-Disney-Neuverfilmung der Pocahontas-Mythe.

   Für die Untersuchung der Einflüsse, die sich in literarischen Werken wie Mays Reiseromanen niederschlagen, sind besonders die Diskussionen der Aufklärer wichtig. Bedeutung für die gesamte geisteswissenschaftliche Welt erlangte dieses Konzept zunächst durch Michel de Montaigne in seinem Essay ›Von den Menschenfressern‹, später durch Jean-Jacques Rousseau. Die ›Edler-Wilde-Debatte‹ als ideologische Grundsatzfrage ist oft ins politische Kreuzfeuer ihrer Zeit geraten, so als Diskussion über die Sklaverei oder die amerikanischen Völkermor-


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de. Gerade in den Jahren der ›Feier‹ des 500 Jahre alten westlichen Blicks auf die Neue Welt gibt es genug Literatur zu diesen Entwicklungen.(6) Gerd Stein stellt den Zusammenhang zwischen dem ›edlen Wilden‹ und der Machtausübung dar: »Die europäische Vorstellung vom edlen Wilden ist ein Wiedergutmachungsversuch, der die Verunglimpfung und Greueltaten begleitete, denen die Indianer, Neger und Südseeinsulaner ausgesetzt waren, seit die Weißen sie entdeckt hatten (...) Das Bild vom edlen Wilden (hat) eine fatale Funktion, denn unaufkündbar ist es der ungeheuren Arroganz der Weißen gegenüber den Wilden verbunden (...) Trotz aller Gutmütigkeit verliert die eigens zugestandene Menschlichkeit nicht ihren gönnerhaften und damit herrschaftlichen Charakter (...) Der edle Wilde ist eine Funktion des Kolonialismus.«(7)

   Hier sollen nur einige wenige, im Rahmen der späteren Literaturanalyse wichtige Merkmale dieses ›edlen Wilden‹ besprochen werden:

   Nach Rousseau ist der ›edle Wilde‹ dem Urzustand, dem sogenannten Naturzustand der Menschheit, viel näher als der zivilisierte Mensch, er stellt die hehren und unverdorbenen Anfänge der menschlichen Gesellschaft dar. Der Naturzustand wurde hier im Gegensatz zu der Theorienbildung um Thomas Hobbes’ ›Leviathan‹ und dessen Grundthese, dem Kampf aller gegen alle, positiv bewertet. Montaigne beschreibt den guten Wilden als nicht überfeinert, nicht sich und der Welt entfremdet: Er kennt keine Kunst. Weder Theater noch Literatur oder Malerei sind hier Ausdruck für die Trübung des Blickes des Menschen, für seinen Versuch, Entfremdung von seinen Körpervorgängen zu kompensieren und so ›gesellschaftsfähig‹ zu sein.(8) Kunst im modernen Sinne findet nur als Feier der Gemeinschaft statt: im Volksfest. Die Einigkeit und Brüderlichkeit werden zur Feier, durch Freude geprägt. Der Mensch ist durch keine Konzepte, auch nicht durch das der Sexualmoral, geknechtet. Die Aufsplitterung der Gesellschaft durch Machtkonzentrationen, die Ausbildung von autoritären Strukturen hat hier noch nicht stattgefunden. Keine weiten Verzweigungen innerhalb des Systems machen Spezialisierung und dadurch Differenzierung notwendig.(9)

   Die Entdeckung der Tahitianer in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts fand schnell Interpreten, die hier in einer neuen, in ihrer Ausprägung offensichtlich völlig anderen Fremdheit als der der schon entdeckten fremden Länder den verheißenen Naturzustand fanden: eine Welt ohne Autorität, ohne Arbeit, ohne Knechtschaft, naturverbundene, gesunde und schöne Menschen, neugierig, frei von Angst. Die Fremden wurden zu ›Kindern‹, und dieses Bild der jungen Menschheit prägte auch in der Kunst die Darstellungsweisen. Neben dem barbarischen Wilden, der eher den frühen Menschheitszustand nach Hobbes präsentierte, trat nun also der edle Wilde auf: in den Ausprägungen des Edel-


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manns, der Einfachheit oder des Kindes. Hier fand der Westen im Versuch der Interpretation aus dem Eigenen eine Welt, die einen neuen, utopischen Anfang darstellen konnte.

   In einer Zeit, in der Gesellschaftskritik mit Verzweiflung über die Misere des neuen modernen Menschen und Zukunftsängste in einer säkularisierten Welt mit dem Glauben an die Allmacht der menschlichen Vernunft aufeinanderprallten, sind diese unterschiedlichen Projektionen auf die neuen und anderen Menschen – ›edel‹, ›barbarisch‹, ›tierisch‹, ›kindlich‹ – in ihren Nebeneinander denkbar. Sie mischen sich noch viel später, in den auf traditionellen Darstellungsweisen beruhenden Zeichnungen Mays, zu einem Cocktail der Gegensätze, in dem die Rasse ›Indianer‹ zum Träger der verschiedensten Erzählstrategien werden kann.

   Während die bisher dargestellten Bildkomplexe um die Gestalt des Fremden – Nicht-Mensch, Barbar und ›edler Wilder‹ – die gängigsten Register der Repräsentation des Anderen in Philosophie und Kunst sind, finden sich noch andere, kleinere Symbolfelder. Eines davon ist die Figur des seiner Macht beraubten Objekts des Blickes. Viele Fremde wurden nicht nur als märchenhafte Gestalten oder Protagonisten von Erzählungen in die westlichen Welt importiert, viele wurden persönlich nach Europa geschafft. Sie waren Beweis und Ausstellungsstück, ihre Fremdartigkeit erregte neben Abscheu auch ästhetische und sexuelle Erregung. Als Schmuckstücke oder als Monstrositäten wurden sie ausgestellt, entweder in den berüchtigten Tierschauen der Hagenbeck-Vorläufer oder in den Salons der Reichen. Der Mechanismus der Entmachtung durch die Sanktionierung des Blickes wurde installiert: Die fremden Menschen wurden zu Schaustücken reduziert, als andersartig waren sie interessant, nicht in ihren menschlichen Qualitäten. Kein Blick-›Kontakt‹ fand statt, keine Annäherung, kein Verstehen. Diese Einstellung der Gesellschaft gegenüber Fremden fand gleichfalls Eingang in die Malerei der Zeit, besonders in das Genre der Salonmalerei. Hier wurde der Wilde als Versatzstück benutzt, er bekam den Wert einer Schmucktasse, einer chinesischen Vase, schwang sich höchstens noch zum Statusobjekt auf, z. B. in Form einer indischen Kinderfrau im Hintergrund kolonialistischer Offiziersfamilienportraits.

   Auch in den spezifischen Strukturen des literarischen Genres finden wir diese Art des Exotismus. Der Einheimische wird lediglich als Stilmittel, als Staffage benutzt, ist ohne Handlungsbedeutung, dient als Hintergrund der europäischen Helden.

   Die moderne Psychoanalyse nach Lacan und besonders die Anwendung dieser Theorien auf die moderne feministische Filmtheorie liefern das Material, das eine weitere Form der Domestizierung des Fremden erkennen läßt: Der Fremde wird kastriert, indem er die Position der Frau einnimmt. Die Position des Objekts des männlich/patriarchalen


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Blickes ist im westlichen Diskurs mit der Frau besetzt, aber jede Randgruppe kann diesen Platz einnehmen.(10)

   Der ethnisch Andere kann also zum Betrachtungsobjekt werden, der Subjektivität des Blickes beraubt: wie die Frau im Pin-up, so der Schwarze im Zoo, hinter Gittern. Das gängige Beispiel ist der steppende Neger oder das schwarze männliche Pin-up, das die Funktion des Spektakels, das normalerweise die weiße, beleuchtete Frau einnehmen würde, übernommen hat.(11)

   Sein Äußeres wird zum Reiz – er ist fremd, weil er anders aussieht, so wie die Frau, die durch ihre äußeren sekundären und primären Geschlechtsmerkmale, also Äußerlichkeiten, erregend wirkt. Die Kraft des Anderen, seine Bedrohung als ›das Andere‹, erschüttert die Festigkeit des Ichs, indem eine Alternative zum Zentralbild des Weißen/Männlichen in den Blick rückt. Durch die Fortnahme der Individualität, durch die Reduktion auf Oberfläche wird diese Kraft zerstört.

   Bis zum Zeitalter der Aufklärung waren Fiktion und Forschungsbericht über ›Wilde‹ oft ein und dasselbe. Fiktionales und Nicht-Fiktionales wurden nicht sauber getrennt, die Literatur als Massenkultur war noch nicht vorhanden. Objektivität kam als Wertmaßstab einer Berichterstattung kaum Bedeutung zu. Erst mit der Entwicklung des bürgerlichen Romans trat der Wilde, z. B. in ›Robinson Crusoe‹ oder ›Gullivers Reisen‹, in das Licht der bewußten Fiktion (wenn auch der bürgerliche Roman die Fiktionalität seines Inhalts problematisierte, genau wie May selbst seine Romane ab 1896 als Reiseerzählungen bezeichnen ließ(12)).

   In der Wissenschaft sah man sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert genötigt, Modelle zu entwickeln, die eine Integration von Fremden auf einer neuen Basis, nicht auf der bis dahin vorherrschenden christlichen Weltinterpretation, ermöglichten. Die Aufklärung als der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) löste die christlich bestimmte Weltsicht ab; sie erklärte alles und ermutigte weiterführende Fragen. Nun war es der Wissenschaft erlaubt, auf den Spuren eines Francis Bacon zu wandeln, gleichzeitig aber war sie auch gezwungen, für die Welt und ihr So-Sein eine neue Erklärung zu finden: Die neugewonnene Freiheit beinhaltete gleichzeitig den Zwang, alles zu sehen, alles zu verstehen. Das Vorhandensein von fremden Völkern war ein Faktum, das in die Weltsicht eingebaut und erklärt werden mußte. Die Fremden wurden (z. B. in der physischen Anthropologie) auf ihre Andersartigkeit hin untersucht. Ein Bemühen um objektive Feststellung von Daten über den Fremden als andere, eigenständige Kultur fand selten statt. Die Interessen der Forscher waren vielfältig: Sie reichten von der Legitimation von Herrschaftsansprüchen (z. B. im Kolonialisations- oder Sklavereizusammenhang)


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und damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen bis hin zu dem Versuch, eine Ordnung der Welt gemäß einer hierarchisch-theologischen Weltsicht zu erstellen. So stand ein unausgesprochenes Forschungsinteresse hinter der Suche nach Fakten, Bewertung wurde zum Ziel der Untersuchung.

   Im folgenden sollen nun einige der wissenschaftlichen Diskurse über die ›Anderen‹ dargestellt werden. Aus der Fülle von pseudowissenschaftlichen Herangehensweisen an das Anderssein des Anderen wurden solche ausgewählt, die für ein ›geistiges Bild‹ des Fremden von Bedeutung waren, d. h., die auch in die darstellende Kunst eingingen oder sonst für individuelle Charakterisierungen (wie wir sie bei May finden werden) wichtig wurden. Ausgangspunkt der beiden vorgestellten Ansätze ist die physische Realität des Anderen, das Erscheinungsbild. Es wird zum Instrument der Kategorisierung und Bewertung.

   Die Physiognomie-Forschung geht von der These aus, daß alles Innerliche sich äußerlich widerspiegelt und daß Einzelcharaktere und Rassenmerkmale in der äußeren Form zu erkennen sind. Der griechisch-klassische Körperbau und das ebenmäßige, westeuropäische Gesicht wurden gleichgesetzt mit perfektem Charakter: Außen ist Innen. Kleinste Abweichungen von diesem abendländischen Idealbild konnten in bezug auf den Charakter gedeutet werden.

   Diese europäischen Ideale mit all ihrer Fragwürdigkeit wurden auch für außereuropäische Kulturen und Rassetypen als Wertmaßstab verwendet. So konnte man nun nicht nur Individuen, sondern ganzen Rassen charakterliche Merkmale zuordnen, in der Mehrzahl negative, das System der weißen Unterdrückung affirmierende. Eine in sich schlüssige Kategorisierung aller Menschen war gefunden, ein ›wissenschaftliches‹ Bewertungssystem geschaffen.(13) Dieses System, Kulturen und Fremde in Beziehung zu sich selbst zu setzen und so leitende Maßstäbe zu finden, verlor aufgrund seiner Breitenwirksamkeit und Visualität seine Wirkung auf die europäische Kultur nie ganz, wie z. B. die Rassenkataloge der Nationalsozialisten zeigen.

   Ein weiterer naturwissenschaftlicher Ansatz der Einordnung des Anderen, besonders des Schwarzen, entsprang der Biologie. Die Evolutionstheorie entwickelte sich langsam, immer neue Erklärungen für die Entstehung der Arten wurden gefunden. Zu Beginn dieser Forschungsrichtung stand das Bestreben, den Weißen in seiner theologisch fest gegründeten Position als Krone der Schöpfung zu belassen.(14) In einer Hierarchie der Zoologie rangierten Neger als Tiere oder zumindest als unterentwickelte Menschen. Im Zusammenhang mit diesen Bestrebungen stand die Suche nach dem fehlenden Glied zwischen Mensch und Affe.

   Die Frage stellte sich nicht so sehr nach dem Ursprung der Gesellschaft, sondern nach der Gliederung und Einordnung der unterschied-


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lichen Phänomene von Menschheit in ein Gesamtbild. In der physischen Anthropologie wurden Erkenntnisse über Schädelformen (Prognathieuntersuchungen), Gehirnvolumen, Knochenbau etc. entwickelt,

die die Forscher so auslegten, daß sie den Neger in die Entwicklungsreihe vom Affen bis zur Krone der Schöpfung, dem Weißen, stellten, wie besonders in Zeichnungen drastisch deutlich gemacht wurde. So konnten fremde Rassen in ein neues Bewertungssystem, ein biologisches im Gegensatz zu dem ästhetisch-moralischen der Physiognomieforschung, gestellt werden.

   Die verschiedenen Vorstellungswelten, die der Umgang mit der Möglichkeit von Andersartigkeit in der Entwicklung des europäischen Geistes hervorbrachte, sollen im folgenden in der Welt Karl Mays aufgespürt werden.


Ein Konglomerat von Bildern: Ein Bündel namens Winnetou

Untersuchungsobjekt ist die zentrale Stelle der deutschen Indianerimagination, der erste Auftritt von Held Winnetou. Die Auswertung der Darstellung Winnetous und seines Vaters Intschu tschuna wird dabei nicht auf ihre Eigenschaften, ihre Handlungsbedeutung, ihre Psychologie(15) eingehen, sondern auf das äußere Bild, das von ihnen gezeichnet wird, die körperliche Erscheinung und die Assoziationen, die damit verbunden sind.(16)

   Die beiden betreten die Szene des Romans, als sie von Klekih-petra gerufen werden, mit einem Indianerwort(17), welches unser Erzähler nicht verstand(18) – das Fremde zeigt sich sofort auf linguistischer Ebene, eine Gemeinschaft anders als die der Vermesser wird heraufbeschworen, zwei Gruppen sind gebildet. Die Spannung steigt: Aus dem Wald, dem romantisch/unheimlichen Ort des Geheimnisses, erscheinen zwei außerordentlich interessante Gestalten,(19) langsam und würdevoll – zwei Vertreter einer anderen Welt stehen damit im krassen Gegensatz zu der bewegten Szene und den würdelosen Beleidigungen, die dieser Szene im Lager der Vermesser vorangingen.

   Dem Verlangen des Genres nach Einbrüchen des Abenteuerlichen und Geheimnisvollen in das Bekannte, Alltägliche wird hier Genüge getan. Die Machtposition, die das mächtige Andere gegenüber dem Eigenen erhalten könnte, wird aber sofort zurückgenommen; die Wesen werden sofort bezeichnet, gefaßt, kategorisiert: Es waren Indianer(20) – die Kategorisierung fällt leicht – die Situation ist anders als bei Klekih-petra (einem Weißen, der bei Roten lebt), bei dem man die Rassenzugehörigkeit nicht gleich erkennen konnte.

   Gleichfalls leicht fällt eine weitere Kategorisierung; neben der Kategorie der Rasse ist die zweite, die der biologischen, d. h. genealogischen


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Verhältnisse, leicht vom Äußeren abzulesen, d. h. natürlich, naturalisiert: Indianer und zwar Vater und Sohn, wie man gleich auf den ersten Blicke erkennen mußte.(21)

   Die Öffnung der Komplexe ›Geheimnis‹, ›würdevoll‹, sofort verbunden mit den Konnotationen ›biologisch determiniert‹, ›rassisch‹ (d. h. durch den Rassenamen festlegbar) – dies alles vollzieht sich gleich im ersten Absatz. Im folgenden sollen nun die nächsten zwei längeren Abschnitte betrachtet werden. Der erste beschreibt Intschu tschunas Äußeres, der zweite Winnetous.

   Die erste Isotopieebene, die ich betrachten möchte, ist die des Tieres in der Darstellung der beiden Charaktere. Konnotationen des Tierischen als ein konstituierender Komplex in der Definition ›Wilder‹ finden sich bei Vater und Sohn. In Anklängen finden sich Tier-Metaphern bei der Beschreibung des Körperbaus Intschu tschunas: Er ist sehr kräftig gebaut ... aus seinen Bewegungen konnte man auf große körperliche Gewandtheit schließen(22), und in den Attributen, die den beiden zugeordnet sind: Adlerfeder, Stachelschweinsborsten.(23)

   Die Körperlichkeit, die in den ersten beiden Ausdrücken angesprochen wird, ist von einer anderen Qualität als die Sensualität oder erarbeitete Körperbeherrschung, die wir in späteren Besprechungen von Indianern in dieser Arbeit finden werden. Obwohl an sich neutral, erhalten diese Ausdrücke in Verbindung mit dem Motivkomplex ›Indianer‹ eine Spannung, einen Wertinhalt, sie verbinden sich mit Bildern von natürlicher Notwendigkeit, Primitivität, wo Kraft und Massigkeit, aber auch Gewandtheit Überlebenswert haben. Daß diese Körperlichkeit am Anfang der Beschreibung Intschu tschunas steht, verweist auf den Rang des Körpers im angenommenen Weltbild des ›Naturkinds‹ oder – krasser – Tieres.

   Von größerer Bedeutung für das Evozieren von Tiernähe als diese körperlichen Attribute ist meiner Meinung nach aber die Erwähnung von Adler und Stachelschwein in Verbindung mit der Kleidung. Leder bedeutet zwar Tierhaut, hat aber als Zivilisationsprodukt, als etwas von Menschen Fabriziertes, nicht die Konnotationen, die naturbelassene, nur verarbeitete Materialien wie Borsten und Federn haben. Als nichtdomestizierte Tiere stehen Adler und Stachelschwein vollständig außerhalb der kulturellen Tätigkeit des europäischen Menschen, haben sogar eine Assoziation von Freiheit: der Adler als eines der wichtigsten Freiheitssymbole der westlichen Kultur, das Stachelschwein in seiner Abschottung, seinem Widerstand und in seinem Exotismus. Die Adlerfeder und die Stachelschweinsborsten öffnen neben der Verbindung des Körpers mit dem Bereich des Tierhaften noch einen weiteren Bereich. Die Adlerfeder wird erwähnt mit dem Zusatz das Zeichen der Häuptlingswürde,(24) die Stachelschweinsborsten werden im Zusammenhang mit der Beschreibung der Kleidung Winne-


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tous als Schmuck beschrieben.(25) Die Tiermaterialien verbinden so nicht nur den konkreten individuellen Körper des Indianers mit der Tierwelt, sondern auch die Kultur der Indianer mit den Kategorien des Tierischen. Hierarchie und Ordnungsschemata, also die Machtstruktur einer Gesellschaft, werden mit der Feder verbunden, der künstlerische Bereich mit der Funktion der Borsten als Verzierung. Diese Verbindung von Kultur und Körper taucht auch anderweitig auf: dunkle(s) Haar ... in einen helmartigen Schopf aufgebunden(26) – der Begriff ›Helm‹, aus dem militärischen Sprachgebrauch stammend, ist hier kein äußerliches Accessoire, sondern Teil des Körpers. So werden zwei Aussagen deutlich:

   1) Es existiert eine indianische Kultur, d. h. die Fähigkeit zur Ordnung und zu Selbstbestimmung: sonst gäbe es keine Insignien von Macht. Und es gibt ästhetischen Willen: Der Trieb zum Spiel und zum ›Unnötigen‹ wurde lange als Attribut des Menschlichen und des Verstandes gesehen;

   2) Diese Kultur wird als eng verknüpft mit Symbolen aus der Natur und mit der körperlichen Präsenz der Angehörigen dieser Kultur dargestellt, ist also eine sinnliche Kultur (im Gegensatz zum keine Insignien tragenden Kongreßabgeordneten oder zu Kunstformen wie Literatur).

   Der Bereich Hierarchie und ihre äußeren Zeichen in den Attributen der Kleidung wurden bereits besprochen, aber die noch vor der Kleidung bestehende Verbindung von Hierarchie mit antidemokratischen Prinzipien und Determinanz im Sinne der Physiognomieforschung findet sich ebenfalls: Sein ernstes Gesicht war ein echt indianisches, doch nicht so scharf und eckig, wie es bei den meisten Roten ist. Sein Auge besaß einen ruhigen, beinahe milden Ausdruck, den Ausdruck einer stillen, innern Sammlung, die ihn seinen gewöhnlichen Stammesgenossen gegenüber überlegen machen mußte.(27)

   Die folgenden Stereotypen, Darstellungstraditionen des ›Anderen‹, finden sich also in der untersuchten Textstelle:

– Rassenfestlegung durch äußerlich körperliche Merkmale
– Abwertung der Gesichtsbildung dieser Rasse
– Abweichung von dieser Norm bedeutet/erlaubt positive Bewertung (d. h., wer weniger rassisch geprägt ist, hat bessere Erfolgschancen – dies wird sich besonders in dem Vergleich einer späteren Winnetou-Schilderung zeigen)
– Äußerer Ausdruck ist verbunden mit innerer Einstellung
– ›normale‹ Indianer haben den Zustand ›innerer Sammlung‹ nicht, sind also unterlegen, sind nicht ruhig und still (d. h. ›sie sind eine laute Horde, die nicht lange überlegt‹).


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   Aufgrund dieser ideologischen Hintergründe der Textstelle ist also festzuhalten, daß die Kultur der Indianer als ›eigene‹, in ihrer eigenen Ausprägung nicht als gleichberechtigt empfunden wird; es wird ein eurozentristischer Maßstab angelegt, wenn Intschu tschuna gerade durch sein Abweichen von der vermeinten rassischen Norm herrschaftsberechtigt ist.

   In der bekanntesten, oft wiederholten Schilderung des Äußeren Winnetous, die in ›Winnetou I‹ nur unvollständig ist, wird dieser Punkt der eurozentristischen Beurteilung noch deutlicher. Winnetous Beschreibung wird in ›Old Surehand I‹ erweitert: Die Züge seines ernsten, männlich schönen Gesichtes waren fast römisch zu nennen, nur daß die Backenknochen kaum merklich hervorstanden. Die Farbe seiner Haut war ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauche.(28)

   Der herrlichste der Indianer(29) ist also schon fast weiß. Römisch(30) wirkt als Inbegriff des Weißen, als Gegensatz zum Barbar. ›Rot‹ als die dem Indianer typischerweise zugeschriebene Gesichtsfarbe wird hier euphemistisch zum matten Hellbraun (mit Konnotationen von zurückhaltend, zivilisiert, eben nicht ›wild‹) mit einem Bronzehauch (Bronze ist das erste vollständig domestizierte Metall, ein Kunstprodukt, nur von der Zivilisation geschaffen, nicht natürlich vorkommend – somit mit Assoziationen von Geformtheit und Künstlichkeit).

   Die Tradition des zivilisationskritischen Gegenbildes zur Dekadenz des Westens hinterläßt Spuren in der Beschreibung Intschu tschunas und Winnetous.

   Die vorherigen Abschnitte zeigten die Möglichkeit auf, eine Rasse oder ganze Kultur in zwei individuellen Körpern herabsetzend abzubilden. Nun sollen die positiven Konnotationen dieser Möglichkeit untersucht werden. Diese beziehen sich auf die ›Einfachheits‹-Utopie, auf das Ideal der autarken Lebensweise, ein Ideal, welches der bürgerliche May – als Stellvertreter für die bürgerliche wilhelminische Kultur – in seinen Romanen durchschimmern läßt. Sein Kopf war unbedeckt ... Der Anzug bestand aus Mokassins, ausgefransten Leggins und einem ledernen Jagdrocke, dies alles sehr einfach und dauerhaft gefertigt. Im Gürtel steckte ein Messer, und an demselben hingen mehrere Beutel, in denen alle die Kleinigkeiten steckten, welche einem Westmanne nötig sind.(31)

   Ein Gegensatz wird hier geschaffen zu den Schilderungen eleganter Toiletten, sowohl der weiblichen als auch der männlichen Bourgeoisie. ›Satan und Ischariot II‹ enthält eine Textstelle, die das Unbequeme und Unnatürliche der westeuropäisch-bürgerlichen Kleidung gerade an der Figur Winnetou vorführt: Und wie sah der gewaltige Krieger aus! Eine dunkle Hose, eine ebensolche Weste, um welche ein Gürtel geschnallt war, einen kurzen Saccorock; in der Hand einen starken Stock und auf dem Kopfe einen hohen Cylinderhut, den er nicht abgenommen hatte! ...


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Die Gestalt, in welcher er seinen Shatterhand vor sich sah, war gar so zahm, und die Figur, welche der tapferste Krieger der Apatschen bildete, war so friedlich und so drollig ... Ich ahnte, weshalb er den Hut nicht abnahm; er hatte die Fülle seines reichen, dunkeln Haares unter denselben verborgen.(32)

   Die Restriktion, der Winnetou als Naturkind unterworfen wird, kommt gerade in dem (gesellschaftlichen) Zwang, seinen Hut aufzubehalten, zum Ausdruck. Neben ihm – verkleidet als etwas ganz anderes – wird auch Old Shatterhand zur ›zahmen‹ Figur; das Natürliche, das sich des Zwanges noch bewußt ist, entlarvt die Konvention des ›naturalisierten‹ Bürgerlichen.

   Die zitierte Passage aus ›Winnetou I‹ gibt über das einfach Zweckmäßige der Kleidung hinaus auch Auskunft über die Lebensführung. Als besser als die westlich-bürgerliche wird sie z. B. in einer weiteren Passage aus der Deutschland-Episode in ›Satan und Ischariot II‹ anhand der ›Überlegenheit‹ Old Shatterhands, der sich die Gewohnheiten seiner Freunde zu eigen gemacht hat, dargestellt: ... umfangreicher Reisevorbereitungen bedurfte es nicht, da ich alles, was dazu gehört, stets für den augenblicklichen Gebrauch beisammen habe:(33) Die Abhängigkeiten des bürgerlichen Lebens treffen den Westläufer nicht. Und ein Greenhorn ist einer, der der Reinlichkeit wegen einen Waschschwamm von der Größe eines Riesenkürbis und zehn Pfund Seife mit in die Prairie (schleppt) und ... sich dazu einen Kompaß bei(steckt), welcher schon am dritten oder vierten Tage nach allen möglichen andern Richtungen, aber nie mehr nach Norden zeigt.(34)

   Die wenigen Habseligkeiten der Indianer, ihre Lebensweise in Leder- oder Birkenhütten, je nach Jahreszeit, wirken wie das Elysium der Unabhängigkeit von den Produkten der kapitalistisch-industriellen Produktion der Herren- und Maschinenhierarchie.

   Selbst die Religionsausübung ruht auf dem Prinzip einer erdverbundenen Einfachheit, wo komplizierte metaphysische Zusammenhänge zugunsten einer zwar durch den Manitou-Begriff dem Christenmenschen nahegebrachten, in der Ausübung aber pantheistischen Naturverehrung verschwinden. Die Körper- und Erdverbundenheit der Religion läßt sich in den Beschreibungen unserer ersten Apachen finden: Der Medizinbeutel hing an seinem Halse, daneben die Friedenspfeife mit dem aus heiligem Thone geschnittenen Kopfe ... Auch er trug den Medizinbeutel am Halse und das Calummet dazu.(35)

   Wie auch das christliche Kreuz befinden sich die Attribute der Religion nahe am Körper (Hals und, wenn auch im anderen Wortgebrauch, dennoch aus dem ›Körperregister‹: Kopfe). Die drei Ausdrücke Medizinbeutel, Friedenspfeife oder Calummet sind aus der Literatur um den Wilden Westen bekannt, ihre Verbindung zu Religion, aus den Begriffen selber ja nicht zu entnehmen, also dem Leser vermutlich klar.


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Dem Nicht-Eingeweihten wird May noch später in seinem Roman Aufklärung geben.

   Die zweite Verbindung neben dem Körperlichen, die May mit dem zitierten Satz schafft, ist die zur Erde: heilige(r) Thon. Hier wird das Wort ›heilig‹ aus dem Vokabular des Religiösen verwendet und in Zusammenhang gebracht mit dem Naturstoff Ton. Für den christlich gebildeten Leser evoziert der heilige Thon die paradiesischen Menschenkinder vor dem Sündenfall, die vorhistorisch edlen Wilden, deren säkularisierte Beschreibung Rousseau lieferte: Adam und Eva, von Gottes Hand aus Erde geschaffen und zunächst edel und wild.

   ›Beutel‹ und ›Pfeife‹ signalisieren darüber hinaus auch noch einmal die Praxisbezogenheit der Wilden, ihre nichts verschwendende Einfachheit: Anders als das christliche Kreuz sind hier Gebrauchsgegenstände mit religiösem Wert behaftet. Dagegen wirkt die Bezeichnung ›Calummet‹ als semantisch sinnloses Wort, wenn der Zusammenhang der einschlägigen Western-Literatur nicht bekannt ist, als Exotismus, und unterstreicht so die Fremdartigkeit der anderen Kultur.

   Ein weiteres kulturelles Phänomen, welches wir aus der Darstellung der beiden Indianer in Erfahrung bringen können, ist die Einstellung zur Historizität. Eine Kulturäußerung eines Volkes ist das bewußte Fortschreiben seiner eigenen Geschichte, als Stärkung des Selbstgefühls, der Gruppenidentität. Die Wichtigkeit dieser kulturellen Äußerung für die europäische Kulturentwicklung läßt sich beispielsweise am Stellenwert der griechischen Poeten (als Geschichtsschreiber) oder der Minnesänger als Boten der Vergangenheit messen. Ein Medium: Gesang, Erzählung (Phänomene oraler Historie) oder Literatur (fiktional und nicht-fiktional), dient als Übermittler und Träger. Diese Medien werden gepflegt, gehortet (in den Klosterschreibwerkstätten, in Büchereien) und bleiben zugänglich.

   In der Hand hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren. Dies war das Gewehr, welches sein Sohn Winnetou später unter dem Namen Silberbüchse zu so großer Berühmtheit bringen sollte.(36) Wenn auch nicht sofort sichtbar, versteckt sich hier doch ein Stück Geschichte. Aus anderen Passagen des Mayschen Werkes erfahren wir von dem Brauch, beim Töten eines Feindes Kerben in den Gewehrlauf zu schnitzen (Sans-ear, Fred Walker). Wir finden also ein Trägermedium, welches eine Geschichte erzählt, ein Stück Vergangenheit niedergeschrieben auf seiner Haut enthält. Dieses Medium ist hier ein Gewehr – trotz aller Zivilisationskritik wird die Errungenschaft der schriftlichen Niederlegung des Geschehens nicht als unwert angetastet, diese ›primitive‹ Art des Geschichtsbewußtseins, das sich nur an persönlicher Geschichte (des Waffenträgers) orientiert, muß so also abwertend wirken.

   Ein weiteres Medium der Geschichtlichkeit ist ›der Sohn‹, Mittel der


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Fortsetzung des Ichs in die Zukunft in einfachster, biologischer Form. ›Winnetou‹ wird zum Medium, er erbt die Waffe seines Vaters.

   In der Darstellung Winnetous, von seinen ersten Schilderungen bis zum späten Roman ›»Weihnacht!«‹, ist noch ein weiteres Register geöffnet. Etwas wird ausgesprochen, das normalerweise in der Literatur nur metaphorisch oder in vergleichender Analyse herausgearbeitet werden kann: die Weiblichkeit des Fremden:(37)

Gewiß hätte ihn manche Dame um dieses herrliche, blauschimmernde schwarze Haar beneidet.(38)

   Aber sein Auge vergrößerte sich und ein leuchtender Glanz inniger Liebe strahlte mir aus demselben entgegen.(39)

   Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen ... seine Augen (waren) fromme Madonnen –, wenn er freundlich zusprach, liebevolle Frauen –, wenn er aber zürnte, drohende Odins-Augen.(40)

Ob homoerotische Züge die Schilderung Winnetous prägen oder nicht, soll nicht Gegenstand dieser Betrachtung sein,(41) sondern das Register der Weiblichkeit und die damit verbundenen Machtstrukturmöglichkeiten.(42)

   In der ersten der oben zitierten Passagen wird Winnetous Haar mit dem von Damen verglichen und seine Erscheinung in einen Wertungszusammenhang mit Frauen gestellt – seine Haare sind schöner als die von manchen Frauen. So wird sein Körper aus dem männlichen Bewertungskanon (kräftig, ausdauernd ...) herausgeholt und in einen anderes System gestellt. Früher in der Passage wird seine Kleidung als zierlicher gefertigt(43) gekennzeichnet – auch kein Attribut, welches man ›strotzender‹ Männlichkeit traditionell zuordnen würde: Winnetou läuft außer Konkurrenz – mit der Einordnung seiner Haare in das weibliche Bewertungsschema durch einen Mann, Old Shatterhand, wird er, der ethnisch ›Andere‹, das ›Neue‹ im europäischen Zusammenhang, vergleichbar mit dem bekannten ›Anderen‹ der westlichen Gesellschaft: der Frau.

   Auch die zweite Stelle benutzt Formulierungen, die aus dem Bereich ›Weiblichkeit‹ entstammen, um Winnetou zu charakterisieren. Die großen Augen sind ein Stereotyp der Frauendarstellung. Diese Augen sehen selber nicht, nehmen nicht auf, sind nicht Instrumente, die Welt einzunehmen, d. h. zu unterwerfen, sondern ihre Funktion ist anders definiert: Sie vergrößern sich (geben also noch mehr Aufprallfläche für den besitzergreifenden Blick auf sie) und strahlen aus, d. h. geben etwas ab, was durch den aufnehmenden Blick verarbeitet wird. Statt ›Fenster zur Welt‹, d. h. Mittel, die Welt in sich hineinzuholen und zu beherrschen, sind sie reduziert auf die Funktion ›Fenster der Seele‹, d. h., sie entblößen auch die innere Disposition des Beschriebenen dem Blick des Betrachters.


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   Die dritte Passage nimmt diese Bedeutungen wieder auf und ergänzt sie: Allen Indianern wird ein Teil der äußeren Bestimmung von Männlichkeit abgesprochen: Sie sind ohne Bart. So ist der Indianer bereits herabgesetzt in der abendländisch-sexuellen Hierarchie. May zeigt den Effekt: Winnetous Mund ist den Blicken frei ausgesetzt, kann betrachtet werden; der männliche Bart als Schutz gegen den Blick der anderen und als Symbol der phallischen Kraft fehlt. Die ultimative Überwindung der Subjektivität des Anderen, von reiner Unterwerfung durch den Blick bis zu körperlicher Beherrschung, treibt ins Blickfeld durch die Qualifizierung der Lippen als küßliche – die Penetration als letzte Machtgebärde. Ein Kuß als Penetration der Intimsphäre eines Individuums wird so stellvertretend zur Vergewaltigung einer Rasse – mit der Sanktion des freien Blicks auf sexuell gewertete Körperlichkeit fällt die Barriere des Persönlichkeitsrechts.

   Der Fremde Winnetou wird domestiziert: Die Frau Winnetou, leuchtend schön als Objekt, aber der Sprengkraft der Herausforderung beraubt, tritt auf.

   Diese detaillierte Analyse der Motivkomplexe und Traditionen der Darstellung des Fremden in der Beschreibung von Intschu tschuna und Winnetou zeigt die Verflechtung der (unterschiedlich bewerteten) Komplexe

– Fremder = Tier / negativer Primitivismus
– Fremder = ›edler Wilder‹ / positiver Primitivismus
– Fremder = Frau.

Die Analyse der Beschreibung zweier bedeutender Indianer bei Karl May erbrachte eine vielfältige Ausbildung von traditionellen Motiven, die eine eindeutige Festlegung des Indianerbildes selbst in der normalerweise durchgehend positiv gesehenen Figur Winnetou(44) unmöglich macht. Der Maysche Mythos des edlen Helden und wahren Menschen Winnetou, (nahezu(45)) auf gleicher Stufe mit seinem Bruder Old Shatterhand stehend, wird so bereits in der ersten Einführung, der ersten visuellen Wirkung dieses Charakters – in seiner Körperlichkeit – als ein kompliziertes Konglomerat entlarvt.

   Die Figurenentwicklung bleibt gefangen in den alten Topoi der Fremdendarstellung und -regulierung. Eine erzählerisch positive Bewertung (durch die Assoziation mit der überragenden Positiv-Gestalt Old Shatterhand) kann Winnetou nicht aus dem Gemenge der Feind-/Fremdenbilder heben, es bedarf dieser genauen textuellen Analyse, bevor man die Stellung der Figur im Binnenmythos der Romane mit Gewinn betrachten kann.(46)


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Die Indianer als exotische Rasse

Im folgenden soll das Gesamtbild der Indianer als Exoten untersucht werden. Die Spuren der von der westlichen Welt erstellten Kategorien von ›Anders-Sein‹ in Mays Indianerbild sind das Untersuchungsobjekt. Untersuchungsregister sind die exotischen Elemente der Fremdendarstellung, die Elemente also, die die Gruppierungen der Indianer zu Fremden machen, die nicht in die Kategorien der ›Normalität‹, des Eigenen fallen.

   Der methodische Ansatz wird umgekehrt: Wurde bisher durch Detail-Analyse eine Liste der vorhandenen Konnotationen einer Textstelle erstellt, so werden nun ausgewählte Textbeispiele in Kategorien eingeordnet. Dieses Vorgehen bietet sich wegen der breiten Streuung der Textstellen zur indianischen Kultur sowie der wiederholten Darstellung einiger ihrer spektakulären Elemente (z. B. Martergewohnheiten, Medizintragen) bei May an.

   Die Untersuchung schaut zwischen die Ritzen dieser nur scheinbar einheitlichen Charakterisierung der Indianer: Die Raster der Welt, die jeder Leser, jeder Schreiber als Erbe westlicher Zivilisation und Sozialisation mit sich trägt, schimmern in den rezipierten oder gewählten Elementen der Figurendarstellung durch. Unser Vokabular für die Darstellung der Welt ist von den Gedankenschranken, die unser Zivilisationsprozeß errichtete, determiniert.

   Die semantischen Felder von ›Teufel‹ und ›Barbar‹ aus der Frühzeit der Beschäftigung mit dem Fremden tauchen gerade in der Gruppendarstellung der ›Anderen‹, der verschiedenen Indianerstämme, immer wieder auf: darauf folgte ein Geheul, welches so schrecklich klang, als ob es von tausend Teufeln ausgestoßen würde.(47)

   Der Name des Widersachers Gottes, des pferdefüßigen Luzifers, in Verbindung mit den Fremden Amerikas findet sich an vielen Stellen im Mayschen Werk, besonders dann, wenn ein Stamm bei Angriffen als Mob (also als nichtindividuelle, nichtmenschliche Masse) auftritt und mit einem Prädikat charakterisiert werden soll. Wenn das Ich der Mensch ist, so ist der Andere das Andere – die Ausgrenzung greift sein Menschsein an, verdammt ihn aus dem Kreis der Menschen in die Bannkreise der Hölle. Er ist kein Mensch mehr, auch kein Tier, er nimmt die christliche Gegenposition zum Menschen ein.(48)

   Die Kategorie von Grausamkeit, die wir ebenfalls in der antiken Tradition der Fremdenerfassung vorgefunden haben, findet sich auch in der Mayschen Charakterisierung der ›Roten‹: Diese Umarmung auf dem Scheiterhaufen hatten sich die raffinierten Roten ausgesonnen, um die Todesqual der Opfer zu erhöhen.(49) Dies ist nur ein Beispiel für die teuflische Grausamkeit mit ihrem Erfindungsreichtum, die die indianische Rasse in Mays Romanen auszeichnet. Der ›Gruseleffekt‹ der


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Fremdendarstellung zur Befriedigung der trivialen Unterhaltungsansprüche als Aufgabe der Sensationsliteratur seit Mandevilles viel aufgelegten Reisebeschreibungen wird hier erneuert.

   Gefühllose, antihumanistische, vorneuzeitliche, nicht von den Idealen des Christentums geleitete Wesen können die Indianer sein – also Barbaren im humanistischen Sinne. Old Shatterhand berichtet über die Kiowas: Indem ich eines der roten Gesichter nach dem andern betrachtete, sah ich keines, welches ich einem Feinde gegenüber einer mitleidigen Regung für fähig gehalten hätte.(50) Die milde Haltung des Helden Old Shatterhand Feinden gegenüber aus seiner christlich-humanistischen Gesinnung heraus ist den Barbaren neu, und selbst Winnetou muß lernen, sich darin einzufühlen.

   Die Verbindung zwischen Indianer und Dämonie kann auch über subtilere Kanäle als die direkte Benennung ›teuflisch‹ und ›grausam‹ laufen. Auch die Charakterisierung durch Tiereigenschaften wird für die Stammesdarstellungen gebraucht, wie es ja auch schon bei der Einzelcharakterisierung Winnetous und Intschu tschunas im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Sprache ist hier ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Der Sprachgebrauch der Indianer, ihre Metaphorik und Bildersprache, die Lutz als gehobene Indianersprache dem Rassismusdeutsch, der ›verstümmelten Sprechweise‹ der bösen Stämme, gegenüberstellt,(51) kann im Lichte der Kataloge von Konzeptualisierungen des Fremden im ersten Kapitel auch anders gedeutet werden: »Das ist Intschu tschuna, der oberste der Apachenhunde! Ich muß sein Fell, seinen Skalp haben!«(52) / »... deine Zunge ist nicht eine Zunge, sondern ein Schlangenzahn, welcher Gift ausspritzt.«(53) Solche Metaphern stehen in der Tradition der Fremdensicht, die ich in dem Kapitel über das ›Ganz Andere‹ darstellte: Sie weisen assoziativ zurück auf die Hundeköpfer und Tiermenschen in der Tradition des Plinius.(54) Diese Indianer konzeptualisieren in der Mayschen Welt ihre Umgebung in den Kategorien der plinischen Gestade, voll von ›ganz Anderen‹: So ist der Comanche vom Apachen und der Utah vom Kiowa meilenweit entfernt.

   Weitere Assoziationsfelder des Bereichs Tier/Indianer neben den bereits in der Winnetou-Analyse genannten (Körperdarstellung, Bekleidung) lassen sich finden: Eine enge Verbindung besteht zwischen den Indianern und den (bei den Weißen domestizierten – mit Hufeisen versehenen, ihres Instinktes verlustig gegangenen –, bei den Roten ›wilden‹) Pferden. Diese erkennen Indianer am Geruch, der anders ist als der der Weißen. Die Möglichkeit der engen Verbindung von Indianern und Pferden bis zur Körpersymbiose zeigt sich in dem Kunststück, hinter der Flanke des Pferdes zu verschwinden,(55) und dadurch, daß Westmänner sehen können, ob sich Indianer vor ihnen befinden: Indianer kann man gewöhnlich durch die Spuren ihrer Pferde identifizieren (denn diese gehen ja bekanntlich ›barfuß‹, unbeschlagen).


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   Indianer gehen nicht nur Einheiten mit Tieren ein, sie haben auch Fähigkeiten wie Tiere:(56) »Ein Roter hat den untrüglichen Ortssinn des Vogels, der meilenweit gerade nach seinem Neste fliegt ...«(57) Oft werden ihre Bewegungsfähigkeiten mit Panthern, mit Raubtieren, Rehen etc. verglichen: Winnetou ... mit seiner schlangenglatten Geschmeidigkeit(58) oder Ich sah den Häuptling auf dem Wasser liegen wie ein Raubtier.(59)

Auch die Verbindung Indianer/Büffel zeigt die Nähe der Kultur der Indianer zu der sie umgebenden Tierwelt: Der Rote wußte nur zu gut, daß er ohne diese Herden nicht leben könne, sondern zu Grunde gehen müsse, und hütete sich infolgedessen stets, mehr Fleisch zu machen, als er brauchte.(60) Die Nähe Indianer/Tier ist eine Nähe, die einschränkt, die unbeweglich macht. Indianer brauchen Büffel und haben keine Ausweichmöglichkeit: Ohne sie sterben sie unweigerlich aus. Auch die Pferde-Verbindung schränkt ein bzw. macht den Weißen in seiner Anpassungsfähigkeit überlegen: So reibt sich Old Shatterhand mit Mugwartpflanzen ein (verbindet sich also intensiv mit einem Teil der Indianernatur), so daß ein Indianerpferd nicht merkt, daß er ein Weißer ist, und hüllt sich zusätzlich in Indianerdecken, um das Pferd auch optisch zu täuschen.(61) Der Weiße kann demnach in die Naturwelt der Indianer eindringen, wenn gewissen Äußerlichkeiten Genüge getan wird. Dagegen können Indianer den Weißen nicht täuschen, ihre biologische Natur nicht verstecken: Old Surehand wird schließlich in seiner Identität als Halbindianer ›entlarvt‹.

   Ein letzter Tieraspekt der Indianerdarstellung bezieht sich auf ein Körperattribut – das allgegenwärtige Fett: und der Geruch des Fettes, welches ein so wichtiger indianischer Toilettenartikel ist, sagte mir, daß es Rothäute seien.(62) Das körpereigene Sekret Fett wird von den Indianern verstärkt durch Hinzufügen von außen; sie machen sich also biologischer als biologisch, sie betonen ihre Körperlichkeit, die Nähe zu Wasservogel und Biber. Diese Tierkörperlichkeit, etwas, was den menschlichen Körper mit seiner natürlich schwachen Fettsekretion mit dem des Tieres verbindet, stellt May in der zitierten Textstelle als ein Gesamtmerkmal der indianischen Rasse dar.

   Die Kulturäußerungen der Indianer sind wie die körperlich-individuellen Merkmale ebenfalls häufig mit Tierassoziationen verbunden, so z. B. die Kommunikation: Er war in seiner Rede durch den dreimaligen Schrei eines Adlers unterbrochen worden. »Das sind die Späher der Kiowas,« sagte er. »Sie sitzen da oben auf den Bäumen.«(63) Adler, Ochsenfrosch, Kojote, Eule, Spottvogel – alle diese Tierlaute dienen zur Verständigung, sind anerkannte Kommunikationsmittel der Roten, tauchen in allen Romanen immer wieder auf.

   Auch die Darstellung von Lagerstätten und Gerichtsbarkeit der Indianer gehört in diesen Zusammenhang. Die Kiowas ›sitzen auf den Bäumen‹ (wie die Affen: eine unübersehbare Konnotation, die an die post-


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darwinistischen Stammbaum-Illustrationen der Ordnung der menschlichen Rasse in die Abstammungsreihe vom Affen erinnert). Auch die errichteten, d. h. kulturell geschaffenen Lagerstätten der Stämme bzw. die Orte sozialer Handlungen, wie z. B. der Gerichtsbarkeit – beides Kulturmerkmale –, werden mit Tieren in Zusammenhang gebracht: Die Naiini-Comanchen aus ›Old Surehand I‹ lagern im Hasental; die Capote-Utahs benutzen das Bärental als Stätte eines Gottesgerichts: Sie schicken Old Surehand in dieses Tal, damit er sich den Bären stelle und so sein Leben freikaufe oder verliere.(64)

   Die Liste der Assoziationen Indianer/Tierwelt könnte beliebig fortgesetzt werden (z. B. im Bereich der Wertebildung oder der Herrschaftsstruktur), da dies sicher die reichste Metaphern-Quelle Mays darstellt. Ich wende mich aber jetzt weiteren Konnotationsfeldern zu, zunächst dem des Kannibalismus.

   Gefangene werden vor ihrem Tode ausreichend und gut mit Nahrung versorgt – siehe das Aufpäppeln Old Shatterhands in ›Winnetou I‹ oder:

»Die Roten fütterten uns und gaben uns zu trinken, doch nicht etwa aus Menschenfreundlichkeit, sondern um uns für einen schlimmern Tod zu stärken.(65) Die Konnotation des Hänsel, der von der bösen Hexe im Käfig gemästet wird, ist offensichtlich. Auch das Knöchelchen als Täuschungsmanöver existiert bei May: Old Shatterhand täuscht Schwäche vor und übt seine Muskeln mit den Sitzsteinen seines Wigwams (›Winnetou I‹).

   Foltermethoden wie das Rösten/Verbrennen der Gefangenen bzw. das Zerschneiden des Fleisches in Riemen tauchen in einigen Indianerdarstellungen Mays auf, und zwar in den Beschreibungen der Martern, denen die Indianer ihre Gefangenen aussetzen. Beide Vorgänge sind mit den Ritualen der Essenszubereitung assoziativ verbunden: In den Berichten des ›Fleischmachens‹ der Indianer wird deren Angewohnheit, das Fleisch in Riemen zu trocknen, um so einen Trockenvorrat zu erhalten, beschrieben. So wird der alte Plinische Topos der Anthropophagi weitergetragen, und zwar u. a. in den Bereich des Gastmahls, in dem erkennbare Akte aus der eigenen Kultur, nämlich das Ritual der Gastfreundschaft (Essen wird gereicht), pervertiert und in sein Gegenteil verkehrt werden (der Gast wird nur für seinen Tod gestärkt). So (und nicht nur in dem Motiv der Gefangenentötung, eine immerhin ja auch in der europäischen Geschichte bekannte Handlungsweise) wird eine größtmögliche Distanz zwischen Rot und Weiß geschaffen.

   Nacktheit ist ein weiteres wichtiges Motiv in der Darstellung des Anderen. Das Motiv der tierischen Nacktheit aus der frühen Fremdendarstellung findet sich bei May in den Darstellungen der jeweils ›bösen‹ Indianerstämme, mit besonderer Beliebtheit in den Beschreibungen von Zweikampfgegnern: Aus der Reihe der Roten trat ein Krieger von wahrhaft herkulischen Körperformen ... Dann entkleidete er die obere Hälfte


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seines Körpers. Wer diese nun enthüllten Muskeln sah ...(66) / [Peteh] setzte sich gar nicht erst nieder, sondern warf den Jagdrock und das Jagdhemde ab, so daß sein Oberkörper und die Arme vollständig entblößt waren ... wenn man diese kolossale Brust und diese massigen Arme sah ...(67)

   Im Gegensatz dazu betont die Beschreibung der Entkleidung Intschu tschunas für den Schwimmwettkampf (wo doch Nacktheit viel angemessener wäre) die ›Angezogenheit‹ – wie bei Old Shatterhand, der seine abgelegten Kleidungsstücke eher aufzählt als seine entblößten Körperteile, ist dies auch beim ›guten‹ Indianer der Fall: Intschu tschuna entkleidete sich bis auf die leichte, indianische Hose, steckte den Tomahawk in den Gürtel, nachdem er die andern in demselben befindlichen Gegenstände entfernt hatte.(68)

   Nacktheit ist bei May ein Zeichen der Inferiorität gegenüber den Weißen und gegenüber den jeweils ›guten‹ Indianern (so sind z. B. Winnetou oder Schiba-bigk meistens angezogen). Old Surehand als halber Roter kann mit dem Vokabular der Nacktheit beschrieben werden: Seine mächtigen Glieder waren ganz in Leder gekleidet, doch so, daß die von der Sonne gebräunte Brust unbedeckt blieb.(69) Auch kann er in dieser Szene, da er schläft, betrachtet werden, ohne selbst zu sehen – die Funktion der Bereiche ›Objekt des Blickes = Machtverlust‹ wurden bereits in der Besprechung der ideologischen Konnotation Fremder/Weiblichkeit dargestellt.

   In der Nacktheit zeigt sich auch wieder die Reduktion auf das Körperliche. Die Bedeckung der Blöße in der Weise Petehs, des Blutindianers, erfüllt genau diesen Zweck: Sein Schopf war mit Skalpen geschmückt; seine Brust hing voller Skalpe; aus lauter Skalpen bestand sein Gürtel; auf seinen Schultern und Achseln waren Skalpe gleich Epauletten angebracht, und um die Unterschenkel schlossen sich Skalpe in Form von Gamaschen.(70) Hier wird der Körper Petehs mit Körperteilen bedeckt, die inhärente Nacktheit wird dadurch nur gesteigert – zwar ist er nicht mehr verwundbar den Blicken ausgesetzt, aber die Reduktion seiner Welt auf Körperlichkeit und mangelnde Reflexion (Skalpe sind keine Symbole, sondern reale Platzhalter für den getöteten Feind) erhöht.

   Exotismus kann nicht nur die Betrachtensweise des ›ganz Anderen‹ als Wesen oder Kultur sein, sondern oft auch des ›Fremden‹ der eigenen Kultur. So ist das Fremde (zum traditionellen Zentrum, dem weißen Mann) auch ›die Frau‹ oder ›das Kind‹. Die Kategorie ›Frau‹ und ›Weiblichkeit‹ in Verbindung mit dem Indianer wurde bereits in der Winnetou-Analyse intensiv besprochen. Die Kategorie ›Kind‹ verbindet sich mit dem Topos des ›edlen Wilden‹ und soll darum in diesem Lichte untersucht werden.

   Auf sympathisch anrührende Weise werden Indianer manchmal ironisch als ›kindlich‹ dargestellt(71) oder mit entsprechenden Redefloskeln als ›Kinder‹ patronisierend angesprochen: Die Söhne der Comanchen /


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diese Tochter der Racurroh(72). Apanatschka, sonst durchaus heroisch, bleibt in der Handlungsbewertung ein Kind, da er immer wieder durch das sich entfaltende Geheimnis in die Kategorie der Familie und des verlassenen Kindes gerückt wird.

   Der Aspekt des Kinderspiels zeigt sich im Umgang mit Ritualen: Sie erscheinen wie die selbstgewählten Ritualhandlungen von Kindern, die jederzeit in den Bereich der Phantasie zurückgedrängt werden können, wenn sich die Situation ändert: Einer der Tänzer war infolge seiner allzu lebhaften Bewegungen dem Wasser zu nahe gekommen; der weiche Uferrand wich unter seinem Fuße, und er fiel in den Tümpel. Ein allgemeines Gelächter erscholl, und alle Augen richteten sich auf den triefenden Büffelimitator.(73) Die Rollen ›Zuschauer‹, ›Priester‹, ›Ausführende des Rituals‹ können durchbrochen werden, verschiedene Realitätsebenen sind nebeneinander offen: Man denke sich, was in der Kirche passierte, wenn der Priester den Kelch fallen ließe – nur Kinder würden lachen; sie können die Handlung auch als mißlungenes Spiel, ohne inneren Wert, sehen – die Erwachsenen wären peinlich berührt: Moral, Tradition und andere eherne Werte wurden verletzt.

   Der humorvolle Umgang mit einem Ritual wird durch die dargestellte Reaktion der Beteiligten legalisiert: Da sie selber es nicht zu ernst zu nehmen scheinen, ist ein Lächeln des Lesers über den Büffelimitator erlaubt.

   Die eigenen Maßstäbe der Indianer (Zurückhaltung, Würde, Schmerzunempfindlichkeit) werden immer wieder in konkreten Handlungen aufs heftigste durchbrochen, wie auch die Verhaltenskodizes von Kindergemeinschaften diesen Schwankungen, hervorgerufen durch die Kluft zwischen machbarer Wirklichkeit und Anspruch, unterliegen:

Jetzt hatten wir das Vergnügen, eine sich vor Erstaunen fast wie toll gebärdende Indianerschar zu sehen und zu hören.(74)

   ... alle sechshundert Indsmen drängten nach dem Lager, um mir zu folgen; jeder wollte vorwärts und keiner zurückbleiben. Das gab einen unbeschreiblichen Tumult, einen Wirrwarr, bei dem einer den andern hinderte. Viele Pferde wurden reiterlos; es gab einen förmlichen Kampf, bei dem es auch nicht ohne Verletzungen abging. Hütten wurden beschädigt oder gar niedergerissen; lose Teile der Kleidung, fliegender Federschmuck und ähnliche Dinge gingen verloren.(75)

Der Sinn für die Ordnung der Dinge kann verloren gehen, die Proportionen geraten außer Gefüge. Der Körper, die Behausungen, die Kleidung, die Herrschaftsmerkmale: Sie alle fallen einem kurzfristigen Chaos zum Opfer, einer Überraschung. Die feste Ordnung erweist sich als leicht erschütterbar. Diese Situation, eine Konfrontation mit nicht durch bestehende Verhaltensmaßregeln definierten Mächten, ergibt sich auch in ›Winnetou III‹: Die Häuptlinge saßen still am Boden, sichtlich nicht wissend, wie sie sich jetzt zu benehmen hätten.(76)


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   Die Indianer sind auf eine kindliche Weise psychologisch beeinflußbar: Man denke etwa an Old Shatterhands Auftreten Intschu tschuna gegenüber in der Marterpfahlszene in ›Winnetou I‹. Oder sie sind durch Düpierungen und Taschenspielertricks zu beeindrucken; Beispiele sind die Naivität der Kiowas, die den vermeintlichen, allesvernichtenden Sprengstoff in der Blechdose Old Shatterhands fürchten (›Winnetou I‹) oder das in den Gewehrlauf gesteckte Porträt der Häuptlinge, das die Seelen der Indianer aufs Papier bannt (›Winnetou III‹). Dies sind ebenfalls Konnotationen zum Aspekt ›Kind/Wilder‹, beide stehen staunend ergriffen vor der Wunderwelt der Erwachsenen.

   Die Überrumpelung durch Tricks und Kniffe der ›großen‹ Weißen befreit auch die sonst so sehr zurückgehaltene Emotionalität der Indianer: Schahko Matto, der Osagenhäuptling, erzählt, wie sein Stamm auf die Show eines Taschenspielers reagierte: »Er ließ alles, alles kommen und verschwinden, wie es ihm gefiel. Wir haben ihn für einen so großen Zauberer gehalten, wie bei den roten Männern keiner gefunden werden konnte. Alle Männer und Frauen, alle Knaben und Mädchen haben ihm mit Erstaunen, oft mit Entsetzen zugesehen.«(77) Der Häuptling zeigt auch noch nach vielen Jahren deutlich seine kindliche Bewunderung, und er verbindet selber die Erwachsenen der Indianer mit der Kinderwelt in seiner Aufzählung der Bewunderer.

   ›Wissensvergleich‹ ist ein weiterer Bereich, in dem eine Konnotation von ›Kindheit‹ aufgebaut wird. So haben die Indianer als Rasse dasselbe Problem, dem 7jährige Kinder der westlichen Zivilisation ausgesetzt wird (die Indianer aber determiniert permanent): Kein Naturindianer kann so wie wir bis hundert zählen.(78)

   Auch der Aspekt ›Lernen‹ steht in Konnation mit ›Kindheit‹. Die Minderwertigkeit der ›Anderen‹ kann zunächst einmal dadurch signalisiert werden, daß Lernfähigkeit abgesprochen wird: »Dumme Kerls, sie werden doch nie klug!« »Sie dürfen sich nicht darüber beschweren, daß sie keine Gelegenheit gehabt hätten, gescheit zu werden. Ihr [Old Shatterhand] habt ihnen genug gute Lehren erteilt.«(79) Aber auch die Darstellung des Lernens als ›kinderspielartig‹ – eben nicht wissenschaftlich-analytisch, wie im Abendland üblich – ist herabsetzend: Wir krochen in den Wäldern herum, wobei ich vortrefflich Unterricht im Anschleichen erhielt.(80)

   Mit dem Kinderspiel sind wir auch bei einem weiteren Aspekt der Indianerdarstellung: der Lust an der Maskerade. Mays Indianer bemalen sich gern. Sie reiben sich die Gesichter mit Fett ein, bemalen sie (oder sich gegenseitig) mit Kriegsfarben: Gruppenzugehörigkeit und innere Disposition werden in taktilsensuelle Signale umgesetzt. Primärfarben ermöglichen Gruppenbildung und Gruppenidentifikation: Das Räuber-Gendarm-Spiel wird auf die reale Ebene umgesetzt. Mays Indianer spielen. Die abenteuerromanhafte Schwarz-Weiß-Zeichnung der Welt


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und die Überschaubarkeit des Spielbrettes, der Romanwelt Mays, sind nur zwei Indizien der Kindlichkeit aller Beteiligten.

   Der Spaß am Verkleiden, am ›etwas werden‹ durch das Aufsetzen, Hinzufügen,(81) ist eine kindhafte Beschäftigung, die vor der Eigendefinition, der festgeprägten Persönlichkeit steht. Zusammen mit der ›Matsch-Qualität‹ der Farben wird diese Maskerade zum Nachspiel von Kindlichkeit.

   Der Aspekt der Farbigkeit des Bemalens öffnet einen weiteren interessanten Konnotations-Bereich: das Vorhandensein von Färbung, die damit im Gegensatz zum nicht gefärbten Bleichgesicht steht.(82) Der Rote – wie der Schwarze also schon im Namen als ›anders‹ bezeichnet – erhöht den Aspekt des Andersseins noch künstlich durch weiteres Auftragen von Farbe auf sein Gesicht.

   Diese Untersuchung zeigte einige der traditionellen Entfremdungsmechanismen, die im Mayschen Indianerbild mitwirken, auf. Auf vielen Ebenen fanden sich Verweise zum Nicht-Menschlichen (Teufel, Barbar, Tier), Nicht-Zivilisierten (Nacktheit), Nicht-Herrschenden (Nacktheit und Kinder), Nicht-Weißen (Farben). Die Sprache der Indianer ist von Verweisen zum Anderen, zum Tier, durchsetzt, der Körper und die Kulturäußerungen bleiben diesem Rahmen verhaftet.

   Die Kategorie des Kannibalismus als einer angstbesetzten Vorstellung Europas wird in ihren Konnotationen gerade von dem zentralen (da für den Fortgang der Abenteuerhandlung so wichtigen, weil spektakulären) Aspekt der Gefangenschaft und Folterung aufgenommen.

   Der Unterschied zum ›Wir‹, zum zivilisierten Europäer, bleibt in der kindlich-körperlichen Nacktheit gewahrt. Ein weiterer entfremdender Effekt der Nacktheit liegt in der Konnotation von Objekthaftigkeit, Ent-Individualisierung, die den betrachtenden Blick erlaubt.

   Körperhaftigkeit bestimmt auch das nächste Bild vom Anderen: Das Zivilisations-Kind im Indianer hat den Reflexionsschritt weg vom eigenen Körper noch nicht vollzogen, noch ist es Gefangener des eigenen Körpers. Hier laufen auch die Kategorien von ›edler Wilder‹ und ›primitiver Barbar‹ zusammen: Die Sehnsucht nach der Kindheit bestimmt das Bild.


Schlußbetrachtung: Das Gefängnis des Körpers

Diese Arbeit beleuchtete den Umgang Karl Mays mit den Indianern. Dabei wurden die traditionellen Darstellungsregister des Fremden zu Hilfe genommen, um in genauer Textanalyse Isotopiefelder ausmachen und diesen Traditionen zuordnen zu können. Die vielschichtige Auseinandersetzung des Westens mit der übrigen Welt zeigte so Spuren in der fiktiven Welt Mays.


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   Die Historie des Genres – der Abenteurerliteratur oder des fiktiven Reiseberichts – setzt ihre Regeln für die Entfaltung der Handlung, und die Schranken im Kopf des Schriftstellers und des Lesers, die eine westliche Sozialisation errichtete, bestimmen sogar die narrativ positive Indianerdarstellung.

   Verschiedene, in ihrer Wertung sogar konträre ›Fassungen‹ für die Bedrohung von außen, für den, der die Einheit der eigenen Gruppe zu sprengen droht, wurden zum Einsatz gebracht: Die Skala reicht vom ›edlen Wilden‹ bis zum Tier.(83)

   Allein die Feststellung und Aufzählung der Einflüsse auf Karl May würde diese Arbeit nicht rechtfertigen, interessanter ist das Ergebnis der genauen Textanalyse: Es zeigt auf, wo der Ort des Fremden ist, wie die verschiedenen Bewertungskategorien am Objekt Indianer festgemacht werden.

   In der Beschreibung Winnetous und Intschu tschunas, außerdem in den untersuchten Textstellen zur Indianerkultur, kristallisierte sich eine Kategorie heraus, die allen Registern der Fremdendarstellung zu eigen war und nur jeweils unterschiedlich bewertet wurde: der Aspekt der Körperlichkeit.

   Beim ›edlen Wilden‹ ist diese Körperlichkeit die ›Nicht-Entfremdung‹, die ›Direktheit‹; beim Tier/Teufel/Barbar = Nicht-Mensch ist die Körperlichkeit nicht positiver Ausdruck der Nähe zur Natur, sondern Indiz der Primitivität im negativen Sinne. Ebenfalls in die Felder der Minderwertigkeit wurde der Fremde als Frau oder Kind gedrängt: Wieder bestimmt der Körperzustand, also die biologische Determination, die Zuordnung. Die Mechanik der Geschlechterbeziehung z. B. wird als Schablone verwendet für die Art und Weise, wie das anziehend Andere bearbeitet werden kann. Dies folgt den Kategorien der Weiblichkeit, für dessen ›Benutzung‹ es Mechanismen und Machtstrukturen gibt.

   In allen dargestellten Fällen – Tier, Teufel, Barbar, edler Wilder, Frau, Kind – findet eine Reduktion auf das determinierende Körperliche statt; und das Einschränkend-Begrenzende dieses Attributs wird in vielfältigen Kontexten – z. B. Geschichte und Religion – deutlich gemacht.

   Wie die Wissenschaft – beispielsweise die Physiognomieforschung – den ›Anderen‹ auf den Körper reduziert, auf etwas Greifbares, Vergewaltigbares, etwas, das nicht die Fähigkeit zur Transzendenz und Erhebung hat, so bleibt auch der Indianer Mays das Gegenüber, das durch seine betonte Körperlichkeit Objekt der Untersuchung und damit anders als man selbst werden kann. Das ›Ich‹ steht hinter der ethnologischen Kamera, sitzt hinter der Feder oder beim abendlichen TV-Konsum im Wohnzimmer.

   Die Metapher des Körpers ist also der Brennpunkt, durch den bei Karl May der indianische Andere die alten Kategorien der Fremden-


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darstellung reaktiviert. Der nackte Körper des riesige(n) Patient(en) der rote(n) Nation(84) als determinierende Hülle, als Barriere und Grenzstein ist es, der (auf der assoziativen, bildlichen Ebene) das verhindert, was May auf der Ebene des Autorkommentars bedauert: Der Rote hat sich nicht entwickeln können.

   Das Todesjahr Karl Mays liegt zum Zeitpunkt dieser Untersuchung über 80 Jahre zurück, aber die Beschäftigung mit den ›Anderen‹ ist eine Geschichte, die weitergeschrieben wird. Die Indianer der westlichen Welt wurden von anderen ›Roten‹ abgelöst, und gerade jetzt ist diese lange Saga wieder im Umbruch – arabische und östliche Feindbilder werden umgewertet, und Asylanten-Abwehr und ›White Supremacy‹-Vokabular zeigen aufs neue die Brüchigkeit des Eigenen. Wenn sich auch die Bezeichnungen des Anderen wandeln, die Faszination, die das Exotische auf uns ausübt, wie auch unsere Kategorien der Abwehr/Verarbeitung/Inkorporation des Anderen bleiben.

   Diese Arbeit, zusammen mit vielen anderen in der modernen Kulturwissenschaft – Fachgebiet Alteritätsforschung –, soll das Bewußtsein für die Mechanik unserer Weltsicht schärfen. Unsere Welt ist nicht natürlich, sondern ein Koordinatennetz der Gedankenkonstrukte, in das unser Geist mit den spitzen Nadeln der Analyse Löcher bohren kann.



1 Eine interessante Studie der ethnologischen Wertigkeit von Karl Mays Indianerdarstellung findet sich in: Brigitte Fleischmann: Pueblo, Tomahawk und Pemmikan. Karl Mays ›Archäologie‹ der Welt der Apache. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1994. Husum 1994, S. 285-98.

2 Dieser Studie liegen die Romane ›Winnetou I-III‹, ›Old Surehand I-III‹, ›Satan und Ischariot I-III‹ und ›»Weihnacht!«‹ zugrunde.

3 Vgl. die Darstellung von Semantik als Hilfsmittel der Literaturanalyse, die Definition von Sem, Isotopie und Konnotation in der kurzen Einführung von Jochen Schulte-Sasse und Renate Werner in: Jochen Schulte-Sasse/Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft. München 1977, Kapitel 5-7. Grundlegende Autoren dieser Richtung sind Roland Barthes oder Umberto Eco. In der Filmwissenschaft wird die dargestellte Methode in einem ähnlichen Kontext wie in meiner Arbeit z. B. von Richard Dyer in seinen Analysen der Konnotationen der Darstellung von ›Weiß‹ als Rassebegriff verwendet (Richard Dyer: Marilyn Monroe, Heavenly Bodies. Film Stars and Society. New York 1986).

4 Peter Mason: Deconstructing America. Representations of the other. London-New York 1990, S. 79 [Übersetzung P. K.: Sowohl Plinius als auch Herodot gruppieren die monströsen menschlichen Rassen innerhalb eines Ringsystems mit dem Zentrum in der Region um Italien und Griechenland. Je weiter vom Zentrum entfernt lebend, desto wilder werden die Bewohner. Gleichzeitig wird regionale Spezifität relativ unbedeutend. Die Ähnlichkeit der extremen ›Wildheit‹ von Äthiopien, Skythien und Indien bindet diese Länder zusammen; das Verhältnis dieser Einwohner zu anderen, weniger fremdartigen Bewohnern in ihrer eigenen Umgebung ist nicht ausschlaggebend.]

5 Die folgende Darstellung orientiert sich im wesentlichen an W. R. Jones: The Image of the Barbarian in Medieval Europe. In: Comparative Studies in Society and History. Bd. 13 (1971), S. 376-407.

6 Vgl. z. B.: Lust an der Geschichte: Amerika. Die Entdeckung und Entstehung einer neuen Welt. Hrsg. von Wolfgang Behringer. München-Zürich 1992, oder die deutsche


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Neuauflage des modernen Klassikers der Alteritätsforschung: Tvatan Todorov: The Conquest of America. The Question of the other. New York 1982 (Ders.: Die Eroberung Amerikas. Frankfurt a. M. 1985).

7 Gerd Stein: Die edlen Wilden. Frankfurt a. M. 1984, S.9f.

8 Vgl. Nobert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Bern-München 1969 (Erstausgabe 1936).

9 Zur Entwicklung des Mythos des guten Wilden vor Montaigne und zwischen ihm und Rousseau siehe das Kapitel ›Edle Wilde – Rohe Barbaren. Vorgeschichte eines Mythos‹. In: Ingrid Heermann: Mythos Tahiti: Südsee und Realität. Stuttgart 1987, S. 10-13.

10 Diskussionen über die Feminisierung des Orients finden sich z. B. in Edward Said: Orientalism. London 1978; im germanistischen literaturwissenschaftlichen Bereich untersucht die Arbeit von Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek 1990, im Kapitel ›Zum Verhältnis von Wilden und Frauen im Diskurs der Aufklärung‹ die wechselseitige Beeinflussung der Darstellungstraditionen.

11 Über die Machtstrukturen hinter der Darstellung von schwarz/weiß, männlich/weiblich schreibt Dyer in: Heavenly Bodies, wie Anm. 3. Er schreibt im Kapitel über den schwarzen Film-Star Robeson: »The visual treatment of Robeson suggests analogies with the visual treatment of women, in so far as it reproduces the feeling of subordination of the person looked at; but the classicism of the approach plays down and may even dispel altogether the eroticism of the images. What is produced is the idea of passive behaviour.« (S. 124) [Übersetzung Ulrike Müller-Haarmann: Die visuelle Darstellung Robesons legt insofern Parallelen zur visuellen Darstellung der Frau nahe, als sie das Gefühl der Unterordnung der dargestellten Person hervorruft; das Klassische des Ansatzes schwächt die erotische Dimension der Bilder oder löst sie sogar ganz auf. Das Ergebnis ist die Vorstellung von Passivität.]

12 Was ich in »Winnetou« erzählt habe, ist Alles erlebt; ich erfinde überhaupt nichts. Die Ueberschrift meiner Bücher »Reiseromane«, ist falsch; sie wird nächstens in »Reiseerlebnisse« umgeändert werden. (Brief Karl May an die Familie Wolff-Malm vom 13. 6. 1896. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992, S. 348) – Ab dem Band XVIII ›Im Lande des Mahdi III‹ (Freiburg 1896) lautete der Reihentitel nicht mehr ›Karl May's gesammelte Reiseromane‹, sondern ›Karl May's gesammelte Reiseerzählungen‹.

13 Daß auch viele Physiognomie-Schilderungen Karl Mays diesem Prinzip folgen, zeigt die Beschreibung Harry Meltons: Die Nase war leicht gebogen und nicht zu scharf; die zitternde Bewegung ihrer hellrosagefärbten Flügel ließ auf ein kräftiges Temperament schließen. Der Mund glich fast einem Frauenmunde, war aber doch nicht weibisch oder weichlich geformt; die etwas abwärtsgebogenen Spitzen desselben ließen vielmehr auf einen energischen Willen schließen. Das Kinn war zart und doch zugleich kräftig gebaut, wie man es nur bei Personen findet, deren Geist den tierischen Trieben überlegen ist. (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 24) Auch die Übertragung dieser Prinzipien auf eine ganze Nation ist bei May nicht selten: Die stark entwickelten Kauwerkzeuge und das breit vortretende Kinn ließen auf Egoismus, Rücksichtslosigkeit und überwiegend tierische Affekte schließen, während die obere Hälfte des Gesichtes eine bedeutende, absichtlich verborgene Verschlagenheit verriet. Wenn dieser Mann nicht ein Armenier war, so gab es überhaupt keine Armenier! (Karl May: Der Kys-Kaptschiji. In: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIII: Auf fremden Pfaden. Freiburg 1897, S. 394).

14 Mit Hilfe der biologischen Forschung das offenkundig Andere in eine Werteskala zu pressen, um so Hierarchien aufzubauen, ist eine Forschungsrichtung, die nicht auf den außereuropäisch Anderen beschränkt blieb: Auch das eigene Fremde, die Frau, wurde parallel zur Fremdendarstellung kategorisiert. Eine grundlegende Arbeit auf diesem Gebiet ist Gilman Sander: Difference and Pathology. Stereotypes of Sexuality, Race and Madness. London 1985.

Die verschiedenen Positionen im Kampf um die Rassenforschung und deren Wertungen werden in einem interessanten Aufsatz aus der ethnologischen Forschung zusam-


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mengefaßt: Anthony Synott/David Howes: From Measurement to Meaning. Anthropologies of the Body. In: Anthropos 87 (1992), S. 147-66.

15 Zahlreiche Aspekte der Winnetou-Figur werden in ihrer historischen Entwicklung vorgestellt in: Karl Mays ›Winnetou‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989.

16 Mit »ihre körperliche Erscheinung« ist immer die am häufigsten überlieferte, oft zitierte Darstellung gemeint, die die untersuchten Reiseerzählungen (bis auf gewisse auf frühere Stadien der Winnetou-Figur zurückgehende Eigenschaften des Apachen in ›Winnetou II/III‹) bestimmt. Ein historischer Überblick über die Entwicklung der Winnetou-Figur kann aus Platzgründen hier nicht gegeben werden; vgl. dazu Franz Kandolf: Der werdende Winnetou. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 15, S. 179-95, sowie Christoph F. Lorenz: Artikel ›Winnetou‹. In: Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991, S. 727-49.

In der wiederentdeckten Kurzgeschichte Karl May: Winnetou. Eine Reiseerinnerung. In: Omnibus. 17. Jg. (1878); abgedruckt in: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S.175-88, wird ein ganz anderes Bild unseres Lieblingsapachen gezeichnet: Er schien im Anfange der fünfziger Jahre zu stehen, seine nicht zu hohe Gestalt war von ungewöhnlich kräftigem und gedrungenem Bau ... aus dem Regentuche ... sah der verrostete Lauf einer Büchse hervor, die vielleicht schon manchem »Westmanne« das letzte Valet gegeben hatte. (S. 177)

17 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 108

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Ebd.; Indianer als Sammelbezeichnung ohne Eingehen auf geographische Unterschiede kennzeichnet den Großteil der Indianerliteratur. Hartmut Lutz: ›Indianer‹ und ›Native Americans‹. Zur sozial- und literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps. Hildesheim 1985, schreibt dazu: »Winnetous Äußere ist durch Charakteristika von Plains- und Prärieindianern geprägt (...) Die optischen Anregungen stammen hier, wie bei Wörishoffer, von Bodmer und Catlin und entsprechen dem romantischen Prärieindianerstereotyp. Mit dem Aussehen und der Kleidung der Apache hat Winnetou nichts gemein.« (S. 342)

21 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 108

22 Ebd., S. 109

23 Ebd.

24 Ebd.

25 Ebd.

26 Ebd.

27 Ebd.

28 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 320

29 Ebd.

30 Die Gesichtsbildung wird in allen Beschreibungen Winnetous als an den kaukasisch-klassischen Typ gemahnend dargestellt (römisch), und somit positiv hervorgehoben vom ›Rest‹ seiner Rasse.

31 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 109

32 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 248f.

33 Ebd., S. 263

34 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 8

35 Ebd., S. 109

36 Ebd.

37 Johanna Bossinade liest ›Winnetou‹ als Spiel mit der Weiblichkeit, allerdings im Spannungsfeld von Androgynität und Narzißmus, in der Nachfolge Lacans: Johanna Bossinade: Das zweite Geschlecht des Roten. Zur Inszenierung von Androgynität in der ›Winnetou‹-Trilogie Karl Mays. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 241-67.

38 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 110

39 May: Old Surehand I, wie Anm. 28, S. 321


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40 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 277ff.

41 Dies Unternehmen hat Arno Schmidt schon ausführlichst auf sich genommen, der mit seiner Arbeit ›Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays‹. (Frankfurt a. M. 1979 (Taschenbuchausgabe – Erstausgabe 1963)) ein frisches (weil homophobes) Lüftchen durch die May-Forschung hat wehen lassen. In diesem Unterkapitel zeige ich, wie man dieselben Zitate, die Schmidt bei seiner Sicht der Verweiblichung Winnetous untersucht, um sie dann zu kommentieren mit: »What a man! Aber ich will mir & dem Leser wohlfeile Ironie ersparen, und mich lediglich auf die Frage beschränken: wenn Ihnen ein Bekannter, oder Junge, von seinem ›Freunde‹ in Wendungen der obigen Art vorschwärmte, was würden Sie dann denken? – –: !?! – –: Sehr richtig; einverstanden.-« (S. 26f.), anders deuten kann, wenn man sie in die Darstellungstraditionen des Anderen und nicht (nur) in die Zusammenhänge biographischer Deutungsversuche Mays stellt.

42 Da ich nicht in die Tiefen der psychoanalytischen Sicht auf dieses Weiblichkeitsmotiv einsteigen möchte, bleibt ein Aspekt des Bildes unerwähnt: die Mütterlichkeit. Eine Besprechung dieses Bereichs des Motivs (wenn auch leider ohne feministische Analyse der Machtverteilung) findet sich bei Wolfram Ellwanger/Bernhard Kosciuszko: Winnetou – eine Mutterimago. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 15, S. 366-79.

43 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 109

44 Ein schönes Beispiel für diese Vielfalt der Einflüsse auf Karl Mays Winnetou und das (offensichtliche) Vergnügen, diese Einflüsse zurückzuverfolgen findet sich bei Werner Poppe: ›Winnetou‹. Ein Name und seine Quellen. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 15, S. 33-39; Poppe faßt die Überlegungen der May-Forschung über die Quellen des Namens ›Winnetou‹ zusammen und gelangt über Besprechungen von tatsächlichen Indianersprachen und ihre mögliche Rezeption durch May in Deutschland zu der Meinung, auch in der Namensgebung wäre der Indianermaler George Catlin Inspirationsquelle für May gewesen.

Die inzestuösen Verwicklungen der verschiedenen Kunstformen, die sich in diesen genealogischen Untersuchungen zeigen, stellen ein vergnügliches Puzzlespiel für den/die kulturgeschichtlich interessierte(n) Forscher(in) dar.

45 Das ›nahezu‹ ist darin begründet, daß Old Shatterhand in ›Winnetou I‹ Winnetou gegenüber stets dominant ist, vgl. dazu Lorenz, wie Anm. 16, S. 740.

46 Claus Roxin: »Winnetou« im Widerstreit von Ideologie und Ideologiekritik. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 15, S. 283-305, versucht, ein überwiegend positives Bild von Mays Indianerbild zu zeichnen, und will sich damit gegen Lutz’ Metapher des durch Übernahme der weißen Zivilisation hochgewerteten ›apple-indian (red outside, white inside)‹ absetzen. Er kommt zu dem Schluß, »daß der ›Winnetou‹ tendenziell kein kolonialistisches, obskurantistisches oder gar rassistisches, sondern ein humanes, der interkulturellen Verständigung dienliches Buch ist.« (S. 300) Als Argumente werden z. B. angeführt, daß europäische Schönheitsvorstellungen, die die ›guten‹ Indianer wie Winnetou prägen, keine eurozentrisch abwertende Sicht der Indianer darstellen, sondern diese aufwerten, »indem (...) ihre edelsten Vertreter einem für allgemeingültig gehaltenden klassischen ästhetischen Ideal entsprechen (...), das die Weißen in der Schilderung Mays durchweg nicht erreichen« (S. 296).

Ich möchte in die Debatte, ob ein eurozentrisches Modell ›besser‹ als das andere sei, weil eins auf-, eins abwerte, nicht eintreten und somit keine moralischen Urteile über einen Schriftsteller fällen, der als Kind seiner Zeit verstanden werden muß, sondern ich will gerade auf die Widersprüchlichkeiten und Brüche in der Indianerdarstellung, ausgelöst durch die unterschiedlichen Traditionen, aufmerksam machen.

47 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 238

48 Die moderne Version des Mensch/Teufel-Schemas, der Alterisierung durch Dämonisierung, ist der Vampir im London des 19. Jahrhunderts, Dracula; im 20. Jahrhundert wird diese Rolle auch von Außerirdischen, von Aliens, übernommen.

49 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897, S. 88

50 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 212


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51 Lutz, wie Anm. 20, S. 314

52 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 292

53 May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 49, S. 105

54 Wie übrigens auch einige der verwendeten Stammesnamen (Schwarzfüße oder Blutindianer) und die Selbstdarstellung der Shoshonen und Upsarokas mit Schlangenleibern bzw. in Vogelgestalt im ›sprechenden Leder‹-Brief in ›Weihnacht!‹ (May: Weihnacht, wie Anm. 40, S. 206ff.) in den Mischwesen der antiken Weltvorstellung ihre Ahnen haben könnten.

55 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 170f.

56 Meine Leseweise der Tiermetaphorik als negativ-primitive Konnotation der Indianerdarstellung wurde auch anders interpretiert: »In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Das freie, herrliche Raubtier muß erst aus ihren Augen blitzen.« So der, der May als einen Lieblingsautor vereinnahmte: Adolf Hitler, in: Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Wien-Zürich-New York 1940, S.237.

57 May: Old Surehand I, wie Anm. 28, S. 337

58 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 294

59 Ebd., S. 359

60 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 427

61 May: Old Surehand I, wie Anm. 28, S. 276f. – Vgl. zum Geruch der Indianer auch: »... Aber der Geruch, der Geruch! Ein Indianer riecht doch wie – – wie – – hm, wie sage ich doch nur gleich? Er riecht nach Schmutz, nach Herberge, nach – – nach – – na, mit e inem Worte , er riecht eben wild! Ein Weißer hat diese sonderbare Ausdünstung nicht.« »Der riecht wohl civilisiert anstatt wild?« fragte ich lachend. »Ja, civilisiert; so ist es.« (ebd., S. 279f.)

62 May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 49, S. 93

63 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 231

64 Die Indianer sind wie die Heiden des Alten Testaments; sie schicken Old Surehand ins Bärental wie die Perser Daniel in die Löwengrube.

65 May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 49, S. 86

66 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 280

67 May: Weihnacht, wie Anm. 40, S. 496

68 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 356f.

69 May: Old Surehand I, wie Anm. 28, S. 171

70 May: Weihnacht, wie Anm. 40, S. 403

71 Der Umgang der Kiowas mit den Zigarren in ›Winnetou I‹ (wie Anm. 17, S. 186f.) gemahnt an eine überzeichnet dargestellte erste Schmauchstunde.

72 May: Winnetou III, wie Anm. 55, S. 228 und S. 248

73 May: Old Surehand III, wie Anm. 60, S. 55

74 Ebd., S. 442

75 May: Weihnacht, wie Anm. 40, S. 437

76 May: Winnetou III, wie Anm. 55, S. 236

77 May: Old Surehand III, wie Anm. 60, S. 103

78 May: Satan und Ischariot I, wie Anm. 13, S. 162

79 May: Old Surehand I, wie Anm. 28, S. 303 – Vgl. aber die Passage über die Apachen, die allerdings in Winnetou einen exzellenten Lehrmeister hatten: Old Surehand freute sich über unsre Apatschen. Er bemerkte, daß sie fast militärisch geschult waren. Eines so vortrefflich eingerichteten Proviantwesens wie sie konnte sich wohl kein andrer Indianerstamm rühmen, und als ich ihm während des Rittes erzählte und erklärte, welche Mühe sich Winnetou gegeben und welche Umsicht er aufgewendet hatte, um aus seinen Mescaleros eine Elitetruppe zu machen, wuchs die Hochachtung, welche er bisher vor diesem Häuptlinge empfunden hatte, noch weit mehr. (ebd., S. 316)

80 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 432

81 Durch ein ›Hinzufügen‹ stolzer und mächtiger geworden ist z. B. ein Häuptling der Comanchen in ›Winnetou III‹, der auf seinem büffelledernen Jagdrocke als besondere


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Zierde zwei thalergroße Messingknöpfe (hatte). (May: Winnetou III, wie Anm. 55, S. 234)

82 Die Mechanismen von ›Weiß‹ als Leerzeichen in unserem kulturellen Weltbild werden untersucht von Richard Dyer: White. In: Screen. Bd. 29. Nr. 4 (1988), S. 44-65: »In the real of categories, black is always marked as a colour (as the term ›coloured‹ egregiously acknowledges), and is always particularising; whereas white is not anything really, not an identity, not a particularising quality, because it is everything – white is no colour because it is all colours. (S. 45) [Übersetzung Ulrike Müller-Haarmann: In der Welt der Kategorien ist ›schwarz‹ immer als Farbe gekennzeichnet (was auch der Begriff ›farbig‹ offenkundig verdeutlicht) und daher immer spezifiziert, während ›weiß‹ eigentlich nichts Bestimmtes bedeutet, keine Identität, keine signifikante Eigenschaft, da es alles ist: ›Weiß‹ ist keine Farbe – es ist alle Farben.]

83 Vgl. hierzu das neuere Urteil über die Anti-May-Kampagne: eine »Gesellschaft von Zylinder-, Säbel- und Korsetträgern machte mobil gegen einige Reste von Wildnis in ihrem Innern«. (Andreas Graf: Abenteuer und Sinnlichkeit. Ein Versuch. In: Jb-KMG 1993. Husum 1993, S. 340).

84 May: Winnetou I, wie Anm. 17, S. 1


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