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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Daß es im Umgang mit Karl May nichts gibt, was es nicht gibt: die Feststellung klingt klischeehaft, banal, wenn nicht gar albern, bestätigt sich im einzelnen aber immer wieder auf erstaunliche Weise. Vor dem Berichterstatter liegen drei neuere May-Editionen, die in beträchtlichem Maße kurios wirken: ein Reprint, der am Fuß des Buchrückens das Zeichen eines Verlags aufweist, der mit dieser Veröffentlichung offenbar nichts zu tun hat; der Neudruck eines als bisher ›verschollen‹ etikettierten Romans, den so mancher May-Sammler in Form eines Reprints von 1977 mühelos aus dem Bücherschrank ziehen kann; das ohne jede Detailkommentierung dargebotene Faksimile einer Handschrift, das sich als Teil einer historisch-kritischen Ausgabe anpreist.

   Indessen weist jeder dieser Fälle eine besondere Geschichte auf, und es wäre verfehlt, die gesamte Angelegenheit nur als Ärgernis zu verbuchen. Was die zuerst genannte Ausgabe betrifft, so muß man zum besseren Verständnis rund zwei Jahrzehnte zurückblicken: Damals, 1973-75, publizierten der Karl-May-Verlag und der Braunschweiger Verlag A. Graff ansehnliche Reprints der ersten, bei der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart erschienenen Buchausgaben jener Erzählungen Mays, die ursprünglich im ›Guten Kameraden‹ veröffentlicht worden waren (Reprints der Zeitschriftenversionen bot später die Karl-May-Gesellschaft). Der als letzter vorgesehene Band der Reihe, ›Der Sohn des Bärenjägers‹, ließ aus unerfindlichen Gründen bis 1995 auf sich warten.(1) Zwar ist der Graff-Verlag an dem Unternehmen nun augenscheinlich nicht mehr beteiligt, aber Büchersammler lieben bekanntlich die Trefflichkeit auch der äußeren Eindrücke, und so wird es die meisten freuen, daß der Buchrücken des ›Bärenjäger‹ analog zu den früheren Bänden gearbeitet ist und auf den Karl-May- wie auf den Graff-Verlag verweist. Es wäre allerdings wohl ratsam gewesen, die eigenartige Konstellation für Nicht-Eingeweihte gleich auf den vorderen Blättern zu erläutern.

   Der Inhalt des Bandes ist hochwillkommen. Das Buch enthält die Texte des ›Bärenjäger‹ und des ›Geist des Llano estakado‹ – seinerzeit zusammengefaßt unter dem Reihentitel ›Die Helden des Westens‹ – und im Anhang, wie schon der entsprechende Reprint der ›Sklavenkarawane‹, eine Reihe kürzerer Beiträge Mays für den ›Guten Kameraden‹. Ein Nachwort, das eine bessere Strukturierung verdient hätte, informiert über verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit diesen Ar-


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beiten Mays, insbesondere über ökonomische und vertragliche Hintergründe, die auch mit Hilfe einiger Briefe und anderer Dokumente erhellt werden. Den Abschluß bildet die Wiedergabe von zwei größeren Textstellen der ›Kamerad‹-Fassung des ›Bärenjäger‹, die für die Buchausgabe gestrichen wurden; zwar wird die Placierung dieser Passagen im ersten ›Kamerad‹-Jahrgang genau nachgewiesen, aber eine Erklärung, an welcher Stelle der hier präsentierten Textversion sie zu denken wären, fehlt leider. Alles in allem mag man den Reprint als einen Nachzügler, auf dessen Erscheinen vielleicht schon nicht mehr zu hoffen war, freudig begrüßen und ihn dennoch mit einem gewissen Kopfschütteln in die Reihe der Vorgänger stellen.

   Vorgänger weist auch ›Winnetou und der Scout‹ auf, das schon auf dem Umschlag als erster Buchdruck eines zuvor angeblich verschollenen May-Romans etikettierte Projekt:(2) Unter den Titeln ›Winnetou und der Schwarze Hirsch‹ bzw. ›Winnetou und der Detektiv‹ haben S. C. Augustin und Walter Hansen bereits zu Beginn der 80er Jahre ›unbekannte Geschichten aus dem Wilden Westen‹ und einen ›wiederentdeckten Kriminalroman von Karl May‹ (so die damaligen Anpreisungen) bearbeitet und herausgegeben (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1983, S. 260; Jb-KMG 1984, S. 263). Verschollen im üblichen Sinne ist jemand bzw. etwas, wenn er/es für tot bzw. verloren gehalten wird. Davon kann in diesem Fall keine Rede sein. Selbst wenn man außer Betracht läßt, daß May später höchstpersönlich die Geschichte um den alten Haudegen Old Death leicht verändert in ›Winnetou II‹ integrierte, ist die Apostrophierung fragwürdig, denn erst vor zwei Jahrzehnten hat die Karl-May-Gesellschaft die Erzählung im Rahmen ihrer ›Hausschatz‹-Reprints wieder zugänglich gemacht.

   Der Text als solcher läßt sich ertragreich und mit Vergnügen lesen. Mays Ich-Erzähler verkörpert hier zumindest partiell noch tatsächlich jenes Greenhorn im Wilden Westen, das er in der ›Winnetou II‹-Version mehr oder weniger überzeugend simulieren muß, und so beobachtet man ihn bei allerlei ärgerlichen Mißgeschicken, die später stets nur mit doppeltem Boden daherkommen. Wer autobiographische Implikationen sucht, wird mit der Gestalt eines am Rande des Wahnsinns dahintaumelnden Dichters sowie mit Old Death und seiner dunklen Vergangenheit gut bedient, und die Realhistorie Nordamerikas hat May hier so konkret wie sonst kaum je einbezogen. Leider haben die Herausgeber Mays Text in siebenunddreißig (!) kleine Kapitel unterteilt – eine Analogie zum ästhetischen fast food etwa der Zwei-Sekunden-Szenen in Videoclips, die hoffentlich nicht Schule machen wird. Und wo ist in dieser Ausgabe eigentlich der Ku-Klux-Klan geblieben?

   Freude – darüber, daß ein gewichtiger May-Text in immerhin einigermaßen authentischer Gestalt einem breiten Publikum angeboten wird – und Ärger – ob der erwähnten Unerquicklichkeiten – dürften sich vor


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dieser Edition halbwegs die Waage halten, und ähnlich konträre Reaktionen kann, nein: muß der zweite Supplement-Band der historisch-kritischen May-Ausgabe auf sich ziehen:(3) Kein früherer Band der Reihe sollte mit Recht so viel Aufmerksamkeit erlangen wie dieser, und zugleich ist noch keiner den Ansprüchen einer historisch-kritischen Edition so wenig gerecht geworden.

   Karl May hat 1903 und 1905 die Bücher seiner Bibliothek mit Schildchen versehen, numeriert und zugleich den Bestand in einem von ihm selbst handschriftlich angefertigten Verzeichnis in siebzehn Hauptgruppen unterteilt und registriert; die einzelnen Titel werden darin nicht bibliographisch exakt erfaßt, sondern nur mit Stichworten und Autornamen versehen: eine Lösung, die den pragmatischen Zwecken des von May selbst so genannten ›Katalogs‹ vollkommen entsprach. Passend zur Neueröffnung der ›Villa Shatterhand‹ am 30. März 1995 – dort kann ja nun erstmals auch Mays Bibliothekszimmer in Augenschein genommen werden – wurde das Verzeichnis publiziert. »Das Faksimile gibt Karl Mays Bibliotheks-Katalog in getreuer Reproduktion der Handschrift wieder; Format und Papier entsprechen dem Original« (S. 135), heißt es in den Erläuterungen: Das Unternehmen atmet also so weit wie möglich den Hauch des Authentischen; selbst eine große Zahl von Blättern, die May schon mit Seitenzahlen versehen, dann aber nicht weiter beschriftet hat, wird in dieser Form verfügbar gemacht. Es leuchtet unmittelbar ein, welche Attraktivität diese Edition für May-Freunde besitzt.

   Für jene Interessenten, die der Sache auf den Grund gehen möchten, bietet sie jedoch zu wenig, denn die Stichworte, mit denen May gearbeitet hat, verraten in vielen Fällen nicht, um welche Bücher oder Texte es sich handelt, und auf jede zusätzliche Erläuterung wurde ebenso verzichtet wie auf eine Transkription der – heute sicher nicht mehr für jedermann lesbaren – Handschrift. Wer beispielsweise in der Abteilung ›Philosophie‹ stöbert, stößt zwar bei »Schopenhauer« wenigstens auf die Titelangabe »Parerga und Paralipomena«, unmittelbar davor aber muß er sich mit den Namen »Giordano Bruno«, »Richard Wagner«, »Nietzsche« (S. 57) und den Registerzahlen begnügen – was mag sich dahinter verbergen? Man erfährt es nicht, und so kann man sich von den Bildungsschätzen, die May im eigenen Haus besaß, nur ein grobes Bild machen; zumindest ist die Heranziehung des – seinerseits nicht gerade über jeden Zweifel erhabenen und hier auch nicht genannten – Verzeichnisses erforderlich, das sich im Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1931 (Radebeul), S. 212ff., findet. Kurz und gut: der Band ist im wesentlichen eher was fürs Herz als legitimes Teilstück einer historisch-kritischen Ausgabe. Da hilft auch nicht das umsichtige Nachwort, das Hans Wollschläger über ›Karl May als Leser‹ beigesteuert und mit einigen allgemeinen Hinweisen zu Bibliothek und Katalog versehen hat, oder die


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weit in die Zukunft blickende Ankündigung, ein »annotiertes Gesamt-Verzeichnis« des Bibliotheksbestands einschließlich der von May nicht registrierten Titel sei »für den Band IX.1 der Historisch-kritischen Werkausgabe vorgesehen« (135), oder der Umstand, daß der Band nur (?) als ›Supplement‹ daherkommt. Gerade weil man dem Unternehmen einer historisch-kritischen May-Ausgabe allen Erfolg wünschen und den Herausgebern für ihren Mut und ihr Engagement höchsten Respekt zollen muß, ist es erforderlich, auf derartige Unzuträglichkeiten deutlich hinzuweisen.

   Erfreulicher steht es um die Fortschritte der Ausgabe im nicht-supplementären Bereich: ›Der verlorne Sohn‹ ist da, jener ›Roman aus der Criminal-Geschichte‹, dessen Handlung unverkennbar in Dresden und der näheren Umgebung zu denken ist.(4) In keinem anderen seiner Werke hat May empirisch-reale Eindrücke und weit ausgreifendes Phantasieren derart unmittelbar verbunden und auf seine Heimat projiziert, nie sonst kam er dem, was man einen Schlüsselroman nennt, so nahe. Aber nicht nur unter diesem Aspekt ist das Werk von Belang, auch zahlreiche andere Gesichtspunkte – von der schon im Titel sich ankündigenden Prägung durch das biblische Motiv über die krasse Darstellung ökonomisch-gesellschaftlicher Mißstände bis zur Adaptation einiger von Sue und Dumas bezogener Muster (vgl. Hans-Jörg Neuschäfers Beitrag in diesem Jahrbuch) – verdienen Aufmerksamkeit und sind zum großen Teil auch schon gründlich kommentiert worden. Um so erstaunlicher ist es, daß gerade dieses Werk in der Fassung der Erstveröffentlichung seit dem Olms-Reprint der frühen siebziger Jahre nicht mehr bzw. nur im Auszug (vgl. Jb-KMG 1994, S. 347 f.) zugänglich war. Die historisch-kritische Edition bietet nun den gesamten Text der Erstausgabe in sechs Bänden, wie üblich ergänzt um einen – diesmal besonder weit ausgreifenden – Editorischen Bericht im Anhang des letzten Bandes.

   Der Karl-May-Verlag hat auch die Reihe der ›Gesammelten Werke‹ fortgesetzt. Nachdem zuletzt aus dem Fundus des ›Verlornen Sohns‹ geschöpft wurde, ist jetzt auf die bisher unveröffentlichten Teile des ›Waldröschen‹ zurückgegriffen worden: ›Die Kinder des Herzogs‹ bieten – in bearbeiteter Form – jene Episode um den Herzog Eusebio von Olsunna, der sich die Existenz des nachmaligen Dr. Sternau sowie die Feindschaft der Brüder Cortejo gegenüber den Grafen von Rodriganda verdanken, ferner einige weitere Passagen, deren Handlungsorte die Pariser Unterwelt und Rheinswalden bei Mainz sind.(5) Das Ganze erscheint – darin dem Original nicht in jeder Hinsicht unähnlich – wie ein notdürftig zusammengesetzter Flickenteppich, der mit manchen Einzelteilen durchaus reizvoll wirkt, sei es in den fulminanten Liebesszenen (S. 406: »ihre vollen Lippen schwollen ihm gewährend entgegen«), sei es mit seinen unfreiwillig grotesken Zügen, wie etwa in jener Szene,


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da »Doktor Karl Sternau« (so die Überschrift des 13. Kapitels, S. 334) über Dutzende von Seiten hinweg ein aristokratisches Publikum in Deutschland mit Wildwest-Kunststücken unterhält, ohne daß sich daraus irgendeine Konsequenz für den Fortgang der Handlung ergäbe. Anerkennung verdient, daß die Bearbeiter einen beträchtlichen Teil der von May verwendeten Fremdwörter beibehalten und in Fußnoten erläutert haben; so kann der geneigte Leser mit Hilfe dieses Bandes z. B. lernen, was »Sylphiden« und »Grisetten« (S. 172) sind.

   Zu den ›Abenteuerschriftstellern‹ des 19. Jahrhunderts, die Karl May in hohem Maße beeinflußt haben, gehört Balduin Möllhausen; Andreas Graf hat darüber ausführlich berichtet (vgl. Jb-KMG 1991, S. 324ff.). Wer aber ein eigenes Bild von diesem einstmals so populären Autor gewinnen will, hatte in den letzten Jahren kaum Möglichkeiten, sich mit Hilfe des aktuellen Buchangebots zu informieren, denn Möllhausen spielte darin keine Rolle. Um so erfreulicher ist es, daß jetzt ein von Graf herausgegebenes Taschenbuch erschienen ist, das zehn Wildwesterzählungen Möllhausens enthält, dazu ein Nachwort, eine Zeittafel, Textanmerkungen und einige alte Illustrationen, die z. T. von Möllhausen selbst stammen.(6) Ob der ›deutsche Cooper‹, wie man ihn genannt hat, noch einmal ein größeres Publikum finden wird, steht dahin; sicher aber ist ein solcher Band für alle von Belang, die wissen möchten, auf welches literarische Terrain sich May mit seinen Geschichten aus den ›dark and bloody grounds‹ begab.

   Die bibliographischen Bemühungen um May-Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren vor allem dank der Arbeiten von Hainer Plaul (vgl. Jb-KMG 1990, S. 332ff.) und Uwe Kahl (vgl. Jb-KMG 1995, S. 382) große Fortschritte gemacht; die beiden Werke decken den Zeitraum bis 1945 ab. Noch etwas weiter greift nun das Verzeichnis aus, das Aiga Klotz im Rahmen ihrer mehrbändigen Bibliographie zur ›Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland 1840 – 1950‹ vorlegt; es werden darin, trotz des Titels, teilweise auch noch Editionen aus der Zeit nach 1950 aufgeführt.(7) Erscheinungsjahre und -orte, Neuauflagen, Auflagenhöhen, Herausgeber, Bearbeiter, Illustratoren: über diese und weitere Dinge gibt die Bibliographie so weit wie möglich Auskunft. Das Ganze ist alphabetisch geordnet, konzentriert sich im Gegensatz zu Plaul und Kahl auf selbständig erschienene Titel – von May werden 450 genannt, dazu Klara Mays ›Mit Karl May durch Amerika‹ – und bietet ergänzend einige Übersichtstabellen, die beispielsweise die Erfolgsgeschichte der vier ›Winnetou‹-Bände und eine synoptische Liste der ›Gesammelten Werke‹ von Freiburg über Radebeul bis Bamberg präsentieren. Wenn man bedenkt, daß May nur einer von vielen hundert Autoren ist, mit denen sich Klotz in ihrem voluminösen Unternehmen beschäftigt, wirkt die Fehlerquote, auf die man mit Hilfe von Stichproben schließen kann, erstaunlich gering; z. B. werden der


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Bamberger Edition ›Schacht und Hütte‹ einmal »Gesammelte Erzählungen« (S. 171) zugeschrieben, ein anderes Mal erscheint sie als »Sammelband kleinerer Artikel« (S. 173), was beides falsch bzw., für sich allein genommen, unvollständig ist. Insgesamt wirkt das Verzeichnis imponierend und außerordentlich instruktiv; es spricht Bände, wenn selbst der stets gestrenge Kritiker Rudi Schweikert das Urteil »akzeptabel, ja respektabel« fällt (Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 102/1994, S. 52).

   Auch das Genre der romanhaften Darstellungen zu Karl May ist im Berichtszeitraum weiter gepflegt worden: Walter Püschel widmet sich den Berliner Prozessen um Karl May und Rudolf Lebius (1910/11).(8) Der Autor ist aber nicht nur an einer literarischen Rekonstruktion und Deutung empirischer Vorgänge interessiert, sondern verwickelt seinen Helden darüber hinaus in eine Reihe merkwürdiger Abenteuer, bei denen ein gestohlenes Rentier, der Zirkus Sarrasani, die Sozialdemokratie, der Berliner ›Wintergarten‹ – mit Auftritten von Henry Houdini und Otto Reutter, ohne Auftritt der Nackttänzerin Olga Desmond – sowie Egon Erwin Kisch und ein gewisser Bronstein, dessen Kriegsname Leo Trotzki lautet, mehr oder weniger wichtige Rollen spielen. May wird ohne überschwengliche Verehrung, aber mit deutlicher Sympathie gezeichnet; manchmal, z. B. wenn er über die edelmenschlichen Belange eines Kellners spricht (vgl. 107f.), darf man spekulieren, ob sich der Autor Püschel über May oder May über sich selbst lustig macht. Das Ganze ist gewiß weniger subtil geraten als Peter Henischs Schilderung der Begegnung zwischen May und Kafka (vgl. Jb-KMG 1995, S. 371ff.), bietet aber ein insgesamt recht vergnügliches Leseerlebnis.

   Als der Berichterstatter in den frühen 80er Jahren daranging, einen Sammelband zur May-Forschung zusammenzustellen, tat er das mit dem stolzen Bewußtsein, in dieser Hinsicht – wenn man von den verschiedenen Jahrbuch-Reihen absieht – so ziemlich als erster aktiv werden zu können. Mittlerweile gibt es ähnliche Bände in großer Zahl, und im Jahr 1995 sind gleich zwei weitere erschienen.

   Zunächst sei verwiesen auf das May-Heft der ›horen‹, das noch von dem 1994 verstorbenen Gründer und Herausgeber dieser Zeitschrift, Kurt Morawietz, »auf den Weg gebracht« (S. 7) worden und ihm nun auch gewidmet ist; die einzelnen May-Artikel in früheren ›horen‹-Ausgaben haben eine imponierende Ergänzung gefunden.(9) Gesammelt wurden Abhandlungen sowohl zur Lebensgeschichte als auch zu Werk und Wirkung, wobei der letztgenannte Aspekt und dabei wiederum die May-Rezeption in der DDR dominieren. Im folgenden konzentriere ich mich auf die umfangreicheren Beiträge; der Band bietet darüber hinaus einer Reihe kleiner, z. T. künstlerischer Arbeiten und zahlreiche Zitate prominenter Persönlichkeiten.


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   Zur Einführung gibt Heiko Postma (S. 13ff.), anknüpfend an ›»Weihnacht!«‹, einen Überblick zur Vita Mays. Walther Ilmer (S. 21ff.) folgt mit Darlegungen zu den empirischen Reisen, die May unternommen hat, und verbindet dies mit Ausblicken auf die seelische Beschaffenheit des Autors, die psychische Funktion, die – wie am Beispiel des ›Kutb‹ erläutert wird – seine Werke für ihn besaßen, und auf die märchenhaften Züge seines Erzählens. Martin Lowsky (S. 37ff.) skizziert, welche Rolle die Mathematik in Mays literarischem Kosmos spielt, indem er sich durch geometrische Figuren anregen ließ und sie zu gewichtigen Textelementen verwandelte: »Keimzellen seines Phantasierens sind eben auch die abstrakten Dreiecke und Vielecke, die sich rasch auf dem Papier entwerfen lassen« (S. 40) und dann beispielsweise in markanten Landschaftsformationen wiederkehren. Rudi Schweikert (S. 45ff.) schildert eine weitere Auswertung des ›Pierer‹: May hat aus diesem Lexikon Zahlen und das Vaterunser in fremden Sprachen bezogen und, zur Verstärkung der Authentizitätssuggestion, in seine Texte integriert. Peter Krauskopf (S. 55ff.) informiert über Türme in Mays Werk und deren autobiographische Implikationen sowie darüber, wie May Bauwerke als Kontrafakturen zu den steingewordenen Zeugnissen wilhelminischer National-Mythologie einsetzt, insbesondere zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal der alten Kaiserburg Kyffhäuser. Ralf Schönbach (S. 81ff.) stellt die May-Romanbiographien von Dworczak bis Henisch vor und konzentriert sich dabei, sehr zu Recht, vor allem auf Loest und Kreiner. Ein Beitrag von Hans Wollschläger (S. 104ff.) – der auch in dem weiter unten noch zu erwähnenden Wollschläger-Sammelband auftaucht – protokolliert die Fortsetzung des fiktiven Gesprächs zwischen dem famosen Gunter A. Ösler und den beiden Herausgebern der historisch-kritischen Werkausgabe, wobei es um die sachlichen und ökonomischen Perspektiven dieser Edition geht, aber auch um manches andere, z. B. um »die Entwicklungshinderung der so raren Erscheinung ›Geist‹« (S. 106) und über Mays »Kitsch als Kritik an Geschichte und Realität« (S. 114).

   Die übrigen Beiträge widmen sich dem Thema ›Karl May in der DDR‹. Die ›horen‹ bieten dazu keine Bestandsaufnahme, die nur noch von historischem Interesse wäre; vielmehr fällt der Blick in die Vergangenheit nicht nur komplex, sondern auch derart widersprüchlich und provozierend aus, daß über die allgemeinen Aspekte des Themas wie auch über die Rolle einzelner Personen nun erst recht gestritten werden kann: eine Konsequenz, die sich wohl schon mit der Auswahl der Beiträger ankündigte, denn sie alle entstammen selbst der DDR und gehörten auf die eine oder andere Weise zur dortigen ›Karl-May-Szene‹.

   Gerhard Henniger (S. 135ff.) und Christian Heermann (S. 143ff.) beziehen sich zu beträchtlichen Teilen auf die gleichen, ins Grundsätzliche


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gehenden Auseinandersetzungen, die in der SBZ und DDR um Karl May geführt wurden, doch betrachten sie sie unter völlig gegensätzlichen Vorzeichen: Was der erste, Henniger, als »erbittert geführte öffentliche Diskussionen« (S. 135) rubriziert, also als Beleg für eine halbwegs funktionierende demokratische Streitkultur, rechnet der zweite, Heermann, »zahllosen Unsäglichkeiten« (S. 168) zu, hinter denen alles andere als der Wille zur aufrichtigen Auseinandersetzung gestanden habe. Anschließend kommt Erich Loest (S. 171ff.) zu Wort, der über den speziellen Aspekt der Vorgeschichte seines May-Romans berichtet und dabei ausgerechnet Henniger in wenig freundlicher Weise erwähnt. Den allgemeineren Zusammenhängen wiederum widmet sich Klaus Hoffmann (S. 175ff.), und er hebt dabei sein eigenes mutiges und z. T. erfolgreiches Eintreten für eine Rehabilitierung Mays hervor. Just Hoffmann ist dann aber auch der große Bösewicht in Hainer Plauls Beitrag (S. 187ff.), dem umfangreichsten des Bandes: In diesem mit vielen Zitaten aus Dokumenten angereicherten Bericht über ›Die Szene um Karl May als Zielobjekt der Staatssicherheit‹ (Untertitel) fungiert er als mehrjähriger Stasi-Mitarbeiter, dem der eigene Vorteil über jede sonstige Rücksicht gegangen sei; andere Repräsentanten der ›Szene‹ tauchen ebenfalls auf, und der Karl-May-Gesellschaft werden Fehleinschätzungen und ein gravierendes Desinteresse an der Aufhellung des gesamten Komplexes nachgesagt.

   Christian Heermann hat kurz nach dem Erscheinen der ›horen‹ gleich auch noch ein ganzes Buch über May und die DDR vorgelegt.(10) Vieles von dem, was die Beiträge der Zeitschrift bringen, kehrt darin notwendig wieder, aber auch noch etliches mehr. Insgesamt ergibt sich – von den Auseinandersetzungen der Frühzeit über die Versuche, den bundesdeutschen Karl-May-Filmen der 60er Jahre ein DDR-spezifisches Genre des ›Indianerfilms‹ gegenüberzustellen, bis zur erstaunlichen Rehabilitierung Mays um 1980 – ein buntes, teilweise groteskes Panorama, das nicht zuletzt auf die kulturgeschichtliche Bedeutung des Faktors Zufall verweist. Die gewaltige Fülle des Materials belegt auch, daß die Forschung im Bereich der DDR bzw. Ostdeutschlands bis heute mit wenigen Ausnahmen streng positivistisch orientiert gewesen ist, d. h. auf die Rekonstruktion von Daten und Fakten, auf biographische und bibliographische Recherchen weit eher setzte als auf die Analyse und Interpretation der Texte Mays; so muß dann Plauls auf ihrem Gebiet in der Tat herausragende Bibliographie »als bedeutendstes Werk der Karl-May-Forschung« (S. 145) gelten. Diese Ausrichtung ist unter den gegebenen Umständen – denkt man an Mays Lebensgeschichte und deren Örtlichkeiten – naheliegend, in ihrer Zuspitzung aber gewiß nicht zwingend.

   Im Zusammenhang mit dem Stasi-Thema druckt Heermann einen langen Artikel aus den ›Dresdner Neuesten Nachrichten‹ vom 8. Juli


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1993 ab (S. 157ff.), in dem die Angelegenheit erstmals in größerem Rahmen öffentlich behandelt wurde; anschließend führt er eine ähnliche Klage über ›westliche‹ Reaktionen wie Plaul in den ›horen‹ und mahnt eindringlich »ehrliches Aufklären« (S. 168) an. In der Tat mag der Umgang mit dem Stasi-Komplex kein Ruhmesblatt für die Karl-May-Gesellschaft sein (aber wo, gerade im kulturellen Bereich, ist man schon vorbildlich mit diesem Thema umgegangen?). Heermann macht es sich jedoch zu leicht in der Darstellung einer pauschal unzulänglichen Aufarbeitung. Er verschweigt beispielsweise, daß der genannte, anonym veröffentlichte Zeitungsartikel seinerzeit ebenso anonym diversen Mitarbeitern der KMG zugestellt wurde; daß er unter solchen Umständen nicht die intendierte Wirkung erzielte, scheint mir auch heute noch ähnlich plausibel zu sein wie die mutmaßliche Vorstellung der Verfasser und Absender, es müsse rasch etwas geschehen. – Die unangenehme Ahnung, daß ein westlicher Leser die vielfältigen Implikationen all dieser Beiträge erst einmal nur begrenzt verstehen und nachvollziehen kann, wäre hier wie dort vielleicht die grundlegende Voraussetzung zu einem kompetenten Umgang mit dem Thema.

   Ähnliche Irritationen weckt ›Karl Mays »Old Surehand«‹ nicht, der neueste Materialienband aus der Werkstatt von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer.(11) Wie schon in den entsprechenden früheren Unternehmungen zu ›Winnetou‹, zum Orientzyklus und zum ›Silbernen Löwen‹ haben die Herausgeber ältere, aber auch eigens für dieses Buch verfaßte Aufsätze zusammengestellt, auf daß sich eine Dokumentation der Forschungsgeschichte mit Anregungen für die weitere Arbeit verbinde. ›Old Surehand‹ wirkt auf den ersten Blick als ein besonders lohnenswertes Beobachtungsobjekt, denn der Roman verknüpft das traditionelle abenteuerliche Genre mit Tendenzen, die – zumal im dritten Teil – schon recht deutlich auf das Spätwerk verweisen; im Vorwort der Herausgeber wird dieser Aspekt zu Recht hervorgehoben, aber auch betont, daß ›Old Surehand‹ dennoch, wie fast alle Reiseerzählungen Mays, bisher kaum Spezialuntersuchungen auf sich gezogen hat.

   Es sind denn auch gerade nur drei früher schon erschienene Aufsätze, die Eingang in den Band fanden: Lorenz Krapps Darlegungen (S. 27ff.) aus dem KMJB 1933, die mit Hilfe der Begriffe »Ritterlichkeit, Ehrfurcht, Gerechtigkeit« (S. 27) das ›sittliche Ideal bei Karl May‹ fixieren und seine Bewährung anhand eines Kriegserlebnisses schildern; Harald Frickes Untersuchung (S. 115ff.) über ›Karl May und die literarische Romantik‹, die – obwohl es wie ein »Treppenwitz der Literaturgeschichte« anmute – zu der These gelangt, May habe mit ›Old Surehand‹ den »großrahmige(n) Roman« geschrieben, den die Romantiker selbst nur »b e s c h r e i b e n, aber nicht  s c h r e i b e n  (konnten)« (S. 136); Hartmut Vollmers Studie (S. 210ff.) über Old Wabble, vielleicht so etwas wie die heimliche Hauptfigur des ›Surehand‹, als »Por-


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trät des leidenden May auf seinem Weg von der Verirrung zur Erlösung« (S. 213). Zwei weitere Autoren knüpfen mit neuen Beiträgen unmittelbar an eigene frühere Arbeiten an: Hansotto Hatzig (S. 49ff.), indem er ethische Ideale und Erlösungsvorstellungen bei May und Albert Schweitzer vergleicht, und Walther Ilmer (S. 87ff.), der die Unzulänglichkeiten und Fehler in der ›Surehand‹-Fabel – von der Degradierung der Titelfigur zum Stichwortgeber für den Helden bis zu etlichen schwerwiegenden Verstößen gegen die Handlungslogik – mit der psychischen Dynamik konfrontiert, die der Roman entfaltet.

   Fünf weitere Aufsätze kommen hinzu. Eckehard Koch (S. 63ff.) vergleicht die geographischen und völkerkundlichen Darlegungen des Romans mit den damaligen realen Gegebenheiten. Jürgen Hahn (S. 140ff.) liest die Landschaftsschilderungen als allegorische Zeichen im Spannungsfeld zwischen der Suche nach »dem ›rechten Wege‹ zur Klarheit« (S. 151) und »reaktionäre(m), ja antidemokratische(m) Charakter« (S. 172). Christoph F. Lorenz (S. 186ff.) prüft, was May an den in ›Surehand II‹ eingelegten, zuvor separat oder in anderem Kontext veröffentlichten Erzählungen verändert hat, und abstrahiert daraus eine Reihe von Bearbeitungsprinzipien. Joachim Biermann (S. 243ff.) legt – unter intensiver Berücksichtigung der autobiographischen Dimension – dar, wie die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Figuren zum zentralen, einheitsstiftenden Grundelement des Romans wird, und der thematisch benachbarte Beitrag von Walter Olma (S. 277ff.) zeichnet nach, wie sich die Schicksale zahlreicher Romanfiguren im Spannungsfeld von Schuld und Sühne vollziehen.

   Selbstverständlich kann man, wie im Fall der ›horen‹, über viele Einzelheiten der hier ausgebreiteten Argumentationen trefflich streiten, über Frickes These vom ›Surehand‹ als romantischem Roman etwa. Dominierend ist aber der Eindruck einer ausgeprägten Solidität: Die meisten der Problemkomplexe, die bei der Erinnerung an die Romanlektüre mobilisiert werden, finden eine umsichtige und kenntnisreiche Bearbeitung. Erstaunlich ist das nicht, denn wenn man die jüngere wissenschaftliche May-Rezeption überschaut, erkennt man schon am Inhaltsverzeichnis, daß in vielen Fällen ausgewiesene Experten auf ihren Spezialgebieten tätig geworden sind. Wer, zum Beispiel, vermag die historische Realität hinter Mays Phantasien so gründlich zu beleuchten wie Eckehard Koch, wer besitzt einen so scharfen Blick für Inkonsequenzen und Folgewidrigkeiten einer Romanhandlung wie Walther Ilmer?

   Bei der Lektüre – wie auch bei der der ›horen‹ – fällt freilich ebenfalls auf, daß neuere Konzepte und Reflexionen der Literaturwissenschaft in der Karl-May-Forschung derzeit keine nennenswerte Rolle spielen; analytische Modelle, die sich mit Begriffen wie Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Diskursanalyse andeuten lassen, tauchen selbst in


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den Arbeiten jüngerer Autoren kaum auf, und so werden Phänomene wie die Schilderung von Old Wabbles Marter und Erlösung traditionsgemäß immer wieder nur hinsichtlich der Instanz des Autors traktiert, von der man in jenen neueren Überlegungen nicht viel wissen will. Man könnte dazu freundlich anmerken, es sei gerade ein Vorzug der May-Forschung, daß sie nicht angestrengt den jeweils neuesten Moden in Feuilleton und Germanistik hinterherhechelt; man kann es aber auch für bedenklich halten, daß die Diskussionen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten um den adäquaten Umgang mit Texten geführt werden und die gewiß nicht in jeder Hinsicht ausschließlich töricht sind, zum beträchtlichen Teil keinen Eingang in die Beschäftigung mit May gefunden haben (genauer gesagt: daß sich diejenigen, die den neueren Tendenzen zuneigen, für Karl May offenbar nicht interessieren und daß an den meisten derjenigen, die sich für Karl May interessieren, die Diskussion der letzten Zeit weitgehend spurlos vorübergegangen ist). Wie im Sinne jener Trends sinnvoll und ertragreich zu arbeiten ist, ohne daß der Eindruck modischer Effekthascherei aufkommen kann, zeigt am ehesten Lowskys ›horen‹-Beitrag: Er deutet an, wie der strenge mathematische Diskurs den des ins Freie strebenden Phantasierens und Fabulierens konterkariert und untermustert, und verzichtet dabei auf alle Anbiederungen an den Jargon der literaturwissenschaftlichen Insider. Aber er bildet in dieser Hinsicht eine rare Ausnahme.

   Ein Sammelband im weitesten Sinne des Wortes ist auch ›Das Begleitbuch zu den Ausstellungen‹ des Karl-May-Hauses in Hohenstein-Ernstthal.(12) Die Titulierung ›Begleitbuch‹ signalisiert, daß es sich nicht um einen Museumsführer im begrenzten Sinne handelt: Es werden nicht die verschiedenen Räume und Exponate so vorgestellt, wie sie der Besucher beim Gang durch das Haus vorfindet; statt dessen versammelt die Broschüre Beiträge mit übergreifender Konzeption, aus denen sich ergibt, was das Museum im einzelnen zu bieten hat. Im ersten Teil wird über die Geschichte der Geburtsstätte Mays berichtet. Der zweite enthält unter dem Titel ›Die Ausstellung‹ eine Übersicht zu Mays Leben und Werk, über May-Bücher in fremden Sprachen und über die bisherigen Sonderausstellungen des Hauses. Im dritten schließlich werden ältere Karl-May-Forscher des Ortes Hohenstein-Ernstthal, der Wissenschaftliche Beirat Karl-May-Haus und die ›Karl-May-Haus-Informationen‹ vorgestellt. Zahlreiche Abbildungen und eine kurze englische Zusammenfassung des biographischen Teils runden die Publikation ab, die zwar notgedrungen auf die eine oder andere fragwürdige Verkürzung komplexer Sachverhalte zurückgreift – etwa in der Etikettierung von Mays Werken als »Gefühlsliteratur« (S. 32) –, insgesamt aber einen ausgezeichneten Eindruck macht und ihren Absichten in hohem Maße gerecht werden dürfte.

   Nicht nur in Karl-May-Sammelbänden sind Karl-May-Beiträge er-


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schienen. Christoph F. Lorenz kommt in einer Zusammenstellung von Aufsätzen zu Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts, die ins Genre des phantastisch-utopischen Romans hinüberspielen, auf ›Scepter und Hammer‹/›Die Juweleninsel‹ zu sprechen, ein Werk, dessen Handlung bekanntlich auf einem gänzlich fiktiven Schauplatz abläuft, »einer Sonderwelt, der May den Namen Norland und Süderland gegeben hat.« (S. 26f.)(13) Diese Begriffe lassen sich ohne weiteres »als Chiffre für Preußen und (...) Bayern deuten« (S. 28), und mit einem solchen Befund verweist Lorenz bereits auf den Umstand, der für seine Überlegungen von zentraler Bedeutung ist: Hinter dem Fernen und Irrealen steckt oft das Einheimische und Bekannte. Bestätigt wird diese These durch Beobachtungen, die die – »durch märchenhafte Endlösungen verklärt(e) und relativiert(e)« (S. 32) – Kritik des Romans an sozialen und politischen Mißständen betreffen, und durch Hinweise zur recht diffusen Schilderung amouröser Beziehungen, von denen kaum eine so »glückhaft und wunderschön verläuft, wie sich das die Leser wohl gewünscht hätten.« (S. 39) Am Ende erscheint der Roman als ein »kühner, utopischer Weltentwurf mit phantastischen Zügen« (S. 43), dem allerdings die Eindringlichkeit und Konsequenz des in diesem Punkt verwandten Spätwerks ›Ardistan und Dschinnistan‹ fehlen.

   In den Jahren 1993 und 1994 wurde an der Universität Köln eine Ringvorlesung über ›Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur‹ angeboten und in diesem Zusammenhang auch Mays ›Winnetou‹ vorgestellt; die Beiträge liegen nun in einem Sammelband vor.(14) Die Konzeption der Veranstaltungsreihe war verständlicherweise nicht auf die Erarbeitung pointiert-origineller, wissenschaftlich weiterführender Textanalysen angelegt, sondern auf die Vermittlung eines soliden Überblicks, und so ist dann auch der ›Winnetou‹-Beitrag aufgebaut: Otto Brunken informiert über die Wandlungen vom rüden Wilden zur philosophisch-friedlichen Idealgestalt, die die Winnetou-Figur über Jahrzehnte hinweg in diversen May-Texten erfährt, über den Weg Winnetous und Old Shatterhands in ›Winnetou I – III‹, über einige autobiographisch-psychologische Implikationen und über May als Jugendschriftsteller. Das alles wird knapp, verläßlich und unter gründlicher Benutzung der ›Winnetou‹-Materialien von Sudhoff/Vollmer dargeboten.

   In einem Sammelband, der aus Anlaß des 60. Geburtstags von Hans Wollschläger erschienen ist, muß selbstverständlich immer wieder von Karl May die Rede sein; ein Aufsatz von Martin Lowsky ist darüber hinaus speziell den May-Arbeiten Wollschlägers gewidmet.(15) In seinen Anmerkungen zu der mittlerweile fast schon legendären Rowohlt-Monographie und einigen thematisch verwandten Essays geht es dem Verfasser insbesondere darum, was Wollschläger – der ja bei manchen Kritikern im Ruf steht, unangenehm ›elitär‹ zu sein – letztlich an May, dem ›Volksschriftsteller‹, interessiert. Nicht um Mays Stellung in der Litera-


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turgeschichte oder um die Orientierung an germanistischen »Einordnungskriterien« (S. 101) gehe es ihm, so lautet der Befund, sondern um das Problem der Kreativität und ihrer künstlerischen Entfaltung und dabei zumal um die Rolle der Dimension Zeit, wobei sich das »Rückwärtsschreiten in die Vergangenheit (...) zugleich als ein überzeitliches Suchen nach der Utopie« (S. 104 und 106) erweise. Des weiteren finden sich einige Informationen über Sachverhalte, die nicht jedem May-Kenner geläufig sein werden, etwa zu dem aus heutiger Sicht unverständlichen Umgang des Rowohlt-Verlags mit Wollschlägers bahnbrechender Monographie.

   Auf einen speziellen Aspekt der Verbreitungsgeschichte des Mayschen Werkes konzentriert sich ein weiterer Aufsatz von Andreas Graf: auf Mays Beziehungen zu dem Stuttgarter Verleger Hermann Schönlein bzw. insbesondere auf dessen ›Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt‹ und die Erzählung ›Der Dukatenhof‹.(16) Das ›Unterhaltungs-Blatt‹ erschien als Wochenend- oder Sonntagsbeilage zu diversen lokalen Tages- und Wochenblättern; Graf hat anderthalb Dutzend Parallelausgaben entdeckt. Wenn man mit guten Gründen unterstellt, Schönleins Blatt sei auch noch vielen anderen lokalen Zeitungen beigegeben worden, und die in der Forschung üblichen Leserzahlen je Exemplar zugrunde legt, gelangt man für den darin abgedruckten ›Dukatenhof‹ zu einer Leserzahl »zwischen 225 000 und 1 800 000« (S. B 107) – May hat auf wenig spektakuläre Weise offenbar auch schon mit seinem Frühwerk ein Massenpublikum erreicht.

   Ein vielbeachtetes Thema bleibt die Beziehung Arno Schmidts zu Karl May. In einem Aufsatz für den ›Zettelkasten‹ untersucht Rudi Schweikert an Beispielen, mit welchen »Taktiken und Praktiken« (S. 134) der ›Sitara‹-Autor seine Leser von Anfang an zu lenken versucht: Schmidts Argumentation sei nicht »rational auslegend«, sondern »nur emotional und irrational-assoziierend« (S. 139) und schrecke auch vor groben Manipulationen nicht zurück.(17) In einem Beitrag für den ›Bargfelder Boten‹ befaßt sich derselbe Autor mit der – von Schmidt zwar grundsätzlich anerkannten, aber heruntergespielten – Rolle, die Paul Elbogen bei der Entwicklung der These von Mays Homosexualität gespielt hat.(18) Elbogens einschlägiger kurzer Aufsatz von 1936 wird hier erstmals wieder vorgelegt; in ihm ist eher von bi- als von homosexuellen Reizen in Mays Werk die Rede. Just demselben Thema in demselben Heft widmet auch Guido Graf Aufmerksamkeit.(19) Die besondere Akzentuierung dieses Beitrags ergibt sich daraus, daß der Verfasser den Briefwechsel zwischen Schmidt und Wollschläger auswertet, soweit er Elbogen und die ›Sitara‹-Thesen betrifft.

   Nachdem sich in früheren Jahren vor allem May-Verehrer ablehnend mit Arno Schmidts eigenwilliger ›Sitara‹-Studie auseinandergesetzt haben, verstärkt sich nun offenbar auch bei Kommentatoren, die alles an-


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dere als Verächter Schmidts sind, eine Tendenz, die elementaren Schwächen des Buches und auch die unsympathischen Züge seines Autors deutlich zu betonen; Schweikert etwa sinnt im ›Zettelkasten‹ nicht nur beiläufig darüber nach, was Schmidt zu den wenig erfreulichen Seiten seines Arbeitens über May veranlaßt haben könnte. Über alldem wird man freilich nicht vergessen dürfen, was mittlerweile viele Kommentatoren bestätigt haben: daß ›Sitara‹ – entgegen den Äußerungen seines Verfassers – eher als literarisches Werk, als poetisch-poetologische Selbstreflexion denn als wissenschaftlich orientierte Analyse zu lesen ist. Mag das alles zunächst einmal eher ein Thema für die Schmidt-Forscher sein, so fällt doch auch immer etwas in bezug auf den Komplex May im engeren Sinne ab, wiederum im ›Zettelkasten‹ z. B. die These, bei May sei eine deutliche »Affinität zu Phänomenen aus dem Bereich des Schamanentums« (S. 175) festzustellen.

   Abgesehen von Christian Heermanns Buch sind umfassend angelegte Mono- oder Biographien diesmal nicht zu verzeichnen, wohl aber noch zwei selbständig erschienene Publikationen von geringem Umfang. An vornehmer Stelle, in der von der Deutschen Schillergesellschaft verantworteten Reihe ›Spuren‹, hat Martin Lowsky einen mit ansehnlichen Bildbeigaben ausgestatteten Aufsatz über Mays vierzehntägigen Aufenthalt in Kirchheim unter Teck (1898) veröffentlicht.(20) Der Besuch von Emma und Karl May galt dem Ehepaar Weise, alten Bekannten aus der sächsischen Heimat, die inzwischen in jenem württembergischen Ort wohnten; Max Weise »war einer der angesehensten Unternehmer der Stadt.« (S. 6) Lowsky informiert über die biographischen Zusammenhänge und darüber, daß May während des Aufenthalts an ›Am Jenseits‹ arbeitete; er skizziert die Bedeutung des Romans in Mays Gesamtwerk und weist auf einige literarische Spuren der Erfahrungen in Kirchheim hin.

   Des weiteren ist eine kleine Schrift über Sascha Schneider erschienen.(21) Daß ausgerechnet der Karl-May-Verlag sie vorlegt, ist bezeichnend, denn der Maler ist heute wohl in erster Linie ob seiner Beziehungen zu May bekannt. Röders Abhandlung, die durch zahlreiche Reproduktionen von Werken Schneiders ergänzt wird, macht allerdings auch sichtbar, daß man ihn nicht auf den ›Maler für Karl May‹ reduzieren kann, von dem der Untertitel spricht; der Umgang mit dem Schriftsteller bildete nicht mehr als eine – wenn auch herausragende – Episode in seinem Leben, seiner Arbeit und seiner Karriere. Für die May-Forschung bleibt Schneider, wie immer man seine Werke heute beurteilen mag, die bedeutendste Persönlichkeit aus dem Bereich der Kunst, mit der May je enger zu tun hatte.

   Der Vollständigkeit halber, aber aus naheliegenden Gründen ohne jegliche Kommentierung seien noch vier weitere Publikationen genannt:


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– ein Reprint von vierzehn Streitschriften pro und contra May aus den Jahren 1898-1912.(22) Der Band stellt eine umfassend erweiterte Neuauflage des seit langem vergriffenen Materialienbandes ›Schriften zu Karl May‹ dar, der lediglich die apologetischen Arbeiten von Max Dittrich (1904), Heinrich Wagner (1907) und Franz Weigl (1908) enthielt. Hervorzuheben ist, daß jetzt in zwei Fällen Reprintvorlagen benutzt werden konnten, die Anmerkungen und Anstreichungen von der Hand Karl Mays aufweisen;

– ein Zusammendruck der Namens- und Begriffsregister zu Mays Reiseerzählungen, die Hansotto Hatzig erarbeitet hat.(23) Was einst nur in mehreren Sonderheften vorlag, findet sich nun also auch in einem einzigen, 420 Seiten starken Band;

– das erste Heft der ›Karl-May-Autographika‹.(24) Die Reihe dient dazu, die erhalten gebliebenen handschriftlichen Dokumente Mays (und bis 1912 auch die seiner Ehefrauen) in Kopien der Originale und Transkriptionen zugänglich zu machen. –

In all diesen Fällen handelt es sich um Veröffentlichungen der Karl-May-Gesellschaft –;

– ein Buch des Berichterstatters über Beziehungen zwischen der populären Kultur und der ›Hochliteratur‹, in dem May eine bedeutende Rolle spielt.(25)



1 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. Reprint der ersten Buchausgabe Stuttgart 1890. Hrsg. von Lothar Schmid. Bamberg 1995

2 Karl May: Winnetou und der Scout. Hrsg. und bearbeitet von S. C. Augustin und Walter Hansen. München 1995

3 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Supplemente Bd. 2: Katalog der Bibliothek. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1995

4 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 14-19: Der verlorne Sohn. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1995f.

5 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 77: Die Kinder des Herzogs. Bamberg 1995

6 Balduin Möllhausen: Geschichten aus dem Wilden Westen. Hrsg. von Andreas Graf. München 1995

7 Aiga Klotz: May, Karl. In: Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland 1840-1950. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen in deutscher Sprache. Bd. III (L-Q). Stuttgart/Weimar 1994, S. 155-81

8 Walter Püschel: Old Shatterhand in Moabit. Ein Karl-May-Roman. Berlin 1994

9 die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. 40. Jg. (1995)

10 Christian Heermann: Old Shatterhand ritt nicht im Auftrag der Arbeiterklasse. Warum war Karl May in SBZ und DDR »verboten«? Dessau 1995

11 Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1995

12 Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal. Das Begleitbuch zu den Ausstellungen. o. O. o. J. (Hohenstein-Ernstthal 1995)

13 Christoph F. Lorenz: Die Kunst des Abenteuers. Karl Mays abenteuerliche Planspiele in ›Scepter und Hammer‹/›Die Juweleninsel‹ (1879-1882). In: Kunst-Stücke. Kritische Wanderungen durch die abenteuerlich-phantastische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Essen 1994, S. 23-46

14 Otto Brunken: Der rote Edelmensch. Karl Mays ›Winnetou‹. In: Klassiker der


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Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Bettina Hurrelmann. Frankfurt a. M. 1995, S. 293-318

15 Martin Lowsky: Der Dichter und die Kreativität. Hans Wollschlägers Arbeiten über Karl May. In: Hans Wollschläger. Hrsg. von Rudi Schweikert. Eggingen 1995, S. 97-111

16 Andreas Graf: Hermann Schönleins ›Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt‹ und Karl Mays ›Dukatenhof‹. In: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens 1995/3. Hrsg. von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (1995), S. B100-B107

17 Rudi Schweikert: Was schmiedst du, Schmidt? Persuasive Strategien zu Beginn des ersten Teils von Arno Schmidts ›Sitara und der Weg dorthin‹, zu ihrem sowie zum Hintergrund von Karl Mays ›Geisterschmiede‹- und Sitara-Schilderungen. In: Zettelkasten 13. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts. Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser 1994. Hrsg. von Rolf Lettner-Zimsäckerl. Frankfurt a. M./Wiesenbach 1994, S. 133-77

18 Rudi Schweikert: Aus Arno Schmidts Bildergalerie (V): Den El(l)bogen einsetzen. Wie sich Arno Schmidts »inneres Bild« von Karl May veränderte. In: Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts, Lieferung 194-196 (1995), S. 3-20

19 Guido Graf: Elbogen/Schmidt. Ein Brief, sein Schreiber und ›Sitara‹. In: ebd. S. 20-39

20 Martin Lowsky: » ...nach dem einsamen Orte geflohen ...« Karl May zu Besuch in Kirchheim unter Teck (Spuren 32). Hrsg. von Ulrich Ott, Friedrich Pfäfflin und Thomas Scheuffelen. Marbach 1995

21 Hans-Gerd Röder: Sascha Schneider. Ein Maler für Karl May. Jubiläumsausgabe zum 125. Geburtstag des Malers. Bamberg 1995

22 Siegfried Augustin [Hrsg.] Für und wider Karl May. Aus des Dichters schwersten Jahren. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 16. Ubstadt 1995

23 Hansotto Hatzig: Register zu Karl Mays Reiseerzählungen. Mit Anmerkungen und Zitaten. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 17. Ubstadt 1995

24 Karl-May-Autographika, Heft 1 (1995). Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Volker Griese.

25 Helmut Schmiedt: Ringo in Weimar. Begegnungen zwischen Hochliteratur und Popularkultur. Würzburg 1996


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