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HELMUT SCHMIEDT

Das sechsundzwanzigste Jahrbuch



Publikationen bewirken Reaktionen, und so hat denn auch die Veröffentlichung von mittlerweile fünfundzwanzig Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft zu einer Vielzahl von Überlegungen geführt, was darin in Zukunft noch anders und besser zu machen wäre. Zu den Anregungen, die immer wieder an die Herausgeber und Redakteure herangetragen werden, gehört der Gedanke, die Bände sollten streng themengebunden zusammengstellt werden; die konzentrierte, von verschiedenen Autoren verantwortete Beschäftigung mit einem einzigen, mehr oder weniger genau umrissenen Gegenstand aus dem Gesamtbereich des Phänomens Karl May – sei es nun ein bestimmtes Werk, eine Werkgruppe oder ein spezielles Forschungsproblem – könne sinnvoller sein als die übliche Ansammlung inhaltich weit divergierender Beiträge.

   Wenn wir dem, allen unleugbaren Vorzügen einer solchen Ausrichtung zum Trotz, bisher nicht gefolgt sind, so hat das zwei Gründe. Zum einen ist die May-Forschung mit kompetenden Autoren nicht derart im Übermaß gesegnet, daß sich thematisch gebundene Jahrbücher auch nur mit einiger Regelmäßigkeit realisieren ließen; die Vorgabe, über bestimmte Sachverhalte zu schreiben, würde ja von vornherein stets eine beträchliche Anzahl möglicher Verfasser ausschließen, und ob die verbleibenden jeweils im wünschenswerten Umfang ertragreich arbeiten könnten, erscheint höchst zweifelhaft. Zum anderen ist zu bedenken, daß sich selbstverständlich nicht jeder Leser für jeden denkbaren Komplex interessiert; das würde dazu führen, daß manche Bände schon wegen ihres Inhaltsverzeichnisses einen großen Teil ihrer Besitzer gar nicht erst zur Lektüre animieren, ein auf das Spätwerk konzentriertes etwa den Liebhaber der Kolportageromane nicht und ein biographisch ausgerichtetes den nicht, der möglichst viel über Mays Wirkungsgeschichte erfahren möchte. Die Mischung unterschiedlicher Beiträge ist demgegenüber fast ein Garant dafür, daß jeder Leser zumindest das eine oder andere findet, was ihn in Zusammenhang mit Karl May beschäftigt.

   Manchmal allerdings ergibt es sich, daß mehr oder weniger zufällig eine thematische Schwerpunktbildung entsteht. Im Fall des vorliegenden Jahrbuchs ist das gleich zweimal geschehen, doch stellen sich die Themenkomplexe so offen dar, daß das Prinzip der Vielfalt trotzdem gewahrt bleibt. Erstens bieten wir neue Arbeiten zu Mays Quellen, ein


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Forschungsgebiet, das seit einigen Jahren eine Hausse erlebt: Wolfgang Hammer liest Karls Mays Novelle »Leilet« unter diesem Aspekt, und Helmut Lieblang prüft – in einer besonders weit ausgreifenden, ungewöhnlich detaillierten Abhandlung – die Spuren, die ein französischer Reisender in Mays Nordafrika-Erzählungen hinterlassen hat. Rund hundert Seiten des Jahrbuchs sind diesem Thema gewidmet.

   Offen, im Sinne interner Vielfalt, wirkt vor allem der zweite Komplex. In ihm geht es um diverse literatur- und vor allem auch kulturgeschichtliche Zusammenhänge, in die Mays Werk einzufügen ist, wobei der Schwerpunkt teils retrospektiv – auf welche Tradition greift es zurück? In welche Kontexte stellt es sich? –, teils zukunftsgerichtet ist – welchen Entwicklungen arbeitet es zu? Wo finden sich spätere Anknüpfungen und Analogien? –, aber natürlich auch die damalige Gegenwart betrachtet wird; manchmal berühren sich solche Abhandlungen mit Quellenstudien im engeren Sinne. Ob Hartmut Kühne über die Musik ins Mays Leben und Werk berichtet, Hans-Jörg Neuschäfer auf Karl May und den französischen Feuilletonroman (Sue, Dumas) blickt, Gudrun Keindort »Formen und Funktionen des Reisens bei Karl May« nachzeichnet, Petra Küppers althergebrachte Topoi der Darstellung des bzw. der Fremden im Indianerbild rekonstruiert, Rainer Jeglin Verbindungen zwischen May und Hans Fallada erkennt, Peter Krauskopf ein Kapitel deutsche Filmgeschichte aufblättert oder Anatoli N. Batalow und Jokübas Kliutauskas über die May-Rezeption in Rußland bzw. Litauen berichten: stets wird sichtbar, daß die analytische Beschäftigung mit Karl May den Ausgriff in ein weit gefächertes Umfeld nicht nur zuläßt, sondern an manchen Stellen geradezu verlangt. Auch Untersuchungen, die ihrem Titel und ihrer Intention nach vorrangig anderen, eher »werkimmanenten« Zielen folgen – Günter Scholdts Resümee der autobiographischen Suggestionen in den Fehsenfeld-Bänden, Walther Ilmers Abhandlung über das Motiv des verlorenen Sohnes, Gert Uedings Studie zu Mays Rhetorik, Helmut Schmiedts Blick auf ein einheitstiftendes Moiv in »Satan und Ischariot« sowie Christoph F. Lorenz’ Darstellung zur Leitmotiv-Technik in Mays Frühwerk – bestätigen diesen Gedanken an vielen Stellen durch besondere Wendungen in ihrer Argumentation.

   Ein beträchtlicher Teil der genannten Arbeiten entspricht den Vorträgen, die auf der Bad Segeberger Tagung der Karl-May-Gesellschaft im Herbst 1995 gehalten wurden. Über sie und andere bedeutende Ereignisse um Karl May informiert ausführlich Erich Heinemann, dessen einschlägige Beiträge mittlerweile ebenso zur Institution geworden sind wie der Literaturbericht. Aber nicht nur  ü b e r  Karl May wird in diesem Jahrbuch gesprochen: Auch May selbst kommt mit


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einem bisher unbekannten Text zu Wort, der zwar – dem Genre des Widmungsgedichts gemäß – nur wenige Zeilen umfaßt, aber in der Chronologie seiner Werke vermutlich eine einzigartige Stellung einnimmt.


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