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WALTHER ILMER

Die innere Werkstatt des verlorenen Sohns
Karl May
Versuch zur Erhellung zweier Phänomene*



Anläßlich der Tagung der Karl-May-Gesellschaft (KMG) in Wien im November 1987 gewährte mir der Verleger Roland Schmid vom Karl-May-Verlag in Bamberg Einblick in eine Fotokopie sowie eine wort- und zeichengetreue typographische Kopie des von Karl May hinterlassenen, aus der Frühzeit seines Schaffens stammenden Textfragments ›Der verlorene Sohn‹ und gestattete mir, Notizen über dessen Inhalt zu fertigen. Deren Verwendung in einem zur Veröffentlichung bestimmten Beitrag sollte zwischen ihm und mir abgestimmt werden. Verschiedene Umstände verhinderten meine Beschäftigung mit dem Stoff. Während der Tagung der KMG in Augsburg im Oktober 1989 vereinbarten Roland Schmid und ich, im Laufe der ersten Monate des Jahres 1990 die Thematik ›Verlorene Söhne bei Karl May‹ eingehend zu erörtern; er stellte mir über die Notizen vom November 1987 hinaus eine vollständige Kopie des erwähnten Textfragments in Aussicht. Völlig unerwartet verstarb Roland Schmid am 5. Januar 1990.

   Im Rahmen der Tagung der KMG in Wiesbaden im September 1991 sprach Prof. Dr. Heinz Stolte über das Thema ›Karl May und alle seine verlorenen Söhne‹.(1) Im persönlichen Gespräch mit mir bezeichnete er die von ihm gewählte Überschrift humorvoll als ›Etikettenschwindel‹, denn im Werke Karl Mays gebe es sehr viel mehr ›verlorene Söhne‹ als nur in dem ›Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends‹ betitelten Roman, den allein er, Heinz Stolte, ja behandelt habe. Er regte an, ich möge das Thema gelegentlich aufgreifen. Dabei stellte sich heraus, daß er das frühe Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ nicht kannte. Heinz Stoltes allzu früher Tod am 2. März 1992 verwehrte die Erörterung einer seinerzeitigen ersten Fassung meiner Überlegungen zur Gesamtthematik.

   Dank liebenswürdigem Entgegenkommen der Verlegerfamilie Schmid vom Karl-May-Verlag, die die bislang unveröffentlichten Texte Karl Mays verwaltet, kann ich meine Notizen über das Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ öffentlich verwenden. Nach Jahren des Auf und Ab der Vorbereitung möchte ich daher nun an Heinz Stoltes letzten Vortrag anknüpfen.

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* Vortrag, gehalten am 15. 10. 1995 auf der 13. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Bad Segeberg.


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Heinz Stolte, dessen Dissertation ›Der Volksschriftsteller Karl May‹ im Jahre 1935(2) den Grundstein legte für die in unseren Tagen blühende wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Autor und dessen Essay-Sammlung ›Der schwierige Karl May‹(3) ein ungewöhnlich breites Spektrum umfaßt, hat seine Befunde einmal wie folgt zusammengefaßt:

Es fehlt den (namentlich marxistischen) Soziologen das zwischen Ökonomie und Dichtung vermittelnde Menschliche, das Schöpferische-Personale, das voll der irrationalen Unberechenbarkeiten steckt. Mich interessiert aber vornehmlich  d i e s e s. Ja, ich möchte sagen, ich betrachte Literatur jeweils überhaupt nur als die mir etwas zusprechende Stimme eines Menschen (...), und ganz allein dieser Mensch (also um bei unserer Sache zu bleiben: dieser Mensch Karl May) hat meine ganze Faszination. Es kann natürlich auch Hebbel sein, oder Hesse. Meine wissenschaftliche Methode fußt auf der These Diltheys, es könne nichts, aber auch gar nichts in der schöpferischen Phantasie eines Dichters sein, was nicht in seinen Grundelementen zunächst einmal sein  E r l e b n i s  gewesen sein muß. Dabei schließt der Begriff des Erlebens natürlich auch die Begegnung mit geistigen Phänomenen, also Bildungserlebnisse ein. Betrachten Sie daraufhin alle meine May-Essays, die ich im Jahrbuch veröffentlicht habe, so finden Sie in allen diese Methode zugrunde liegen. Es gibt für mich in der Literaturwissenschaft nichts Aufregenderes, als einen Einblick in die innere Werkstatt eines Erzählers wie Karl May zu gewinnen. Wir verstehen alles, was man an einem schöpferischen Vorgang überhaupt rational verstehen kann, wenn man begreift, wie aus einem  E r l e b n i s k o m p l e x  durch eine spezifische Verarbeitung, Verfremdung u. ä. ein  l i t e r a r i s c h e s  M o t i v  geworden ist.(4)

Das ist mein Berührungspunkt mit Heinz Stolte. Der Mensch Karl May ist auch mein Anliegen; die von Fehlern behaftete, mit diesen Fehlern ringende Kreatur, das geschundene Menschlein, das sich bäumt – und das gegen alle Wahrscheinlichkeiten in jedem Kampf letztlich obsiegt; der Elende und der Fürst des Elends; der begnadete Träumer, dessen Träume und dessen Leben niedergelegt worden sind in seinem Werk. Der liebeshungrige Karl May, der die Liebe, die er den Menschen predigte, suchte und suchte – und der sie privatim leidvoll in den Staub treten mußte, um zum Zenit des Leidens und damit zum Sieg über sich selbst zu gelangen.

   Den Einblick in seine innere Werkstatt hat er uns häufig gewährt. Und wenn wir jetzt versuchen, zur Thematik ›Verlorener Sohn‹ derartigen Einblick zu gewinnen, so unter der Leitvorstellung, dies könne uns die Ursache der seelischen Not des Autors offenbaren. Einer Not mit Januskopf – denn das Opfer wurde zum Täter und litt in beiden Fällen Qualen. Die Behauptung, unser Befund umschließe die objektive Wahrheit, wagen wir nicht. Rein wissenschaftlich stellen wir diesen Befund unter den erforderlichen Vorbehalt. Vom rein Menschlichen her jedoch fällt es uns schwer, Zweifel zu hegen.

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Das oben erwähnte Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ ist nach unserem Erkenntnisstand Karl Mays allererster Versuch, das Thema in einer ihm gemäßen Form zu behandeln. Erwähnt wird es von Herbert Meier im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1986 unter Berufung auf Roland Schmid.(5) Es umfaßt, umgerechnet auf den Satzspiegel der Freiburger Buchausgabe des Autors, etwa 20-22 Seiten und enthält ein erstes Kapitel sowie den Anfang eines zweiten Kapitels; der Text bricht mitten im Satz ab. Anlage und Tenor, Schauplatz und Personal gleichen völlig denen in Karl Mays ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹, die von Verbrechen, Schuld und Sühne handeln; und der Text zeigt im gesamten Duktus, in der Wortwahl, im Satzbau, in den liebevollen Beschreibungen von Menschen und von Eigentümlichkeiten der Topographie eine Geläufigkeit und eine Beherrschung der Stilmittel, die gegen eine Niederschrift vor der Redakteurzeit Karl Mays sprechen.(6) Die Unterschiede z. B. zu ›Wanda‹(7) oder auch zur kurzen Dorfgeschichte ›Der Samiel‹,(8) die 1878 einmal veröffentlicht wurde, springen ebenso ins Auge wie die Ähnlichkeiten mit den erzählerischen Qualitäten in z. B. ›Der Herrgottsengel‹,(9) ›Der Teufelsbauer‹,(10) ›Der Waldkönig‹.(11) Als Indiz für eine Niederschrift in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bietet sich vor allem der auffallende Umstand an, daß der – im Fragment leider namenlos bleibende – Titelheld, ein gelehrter Herr, gleich beim ersten Anblick der ausdrücklich als Schönheit bezeichneten weiblichen Hauptgestalt dieser verfallen ist – und daß dies schöne Mädchen Emma heißt. Über den Titelhelden – dessen eine Gesichtshälfte durch ein Feuermal entstellt ist, woraufhin Emma ihn lauthals häßlich nennt – erfahren wir aus dem Munde des Köhlers Hoppe, eines anderen männlichen Mitspielers, »alle haben ihn verdammt, sein Vater, seine Mutter und die Andern alle, nur ich nicht. Nun sind fast zwanzig Jahre vergangen, seit er zum letzten Male hier war«. Beim Anblick der Heimat, vom Walde aus, gewahrt der Titelheld jenseits des Städtchens ein neues sauberes Haus neben zerfallenden und vom Rauch geschwärzten Mauertrümmern, jedenfalls Zeugen eines früheren Brandunglücks.(12)

   Auf rund zwanzig ›Fehsenfeld-Seiten‹ liefert Karl May ohne Umschweife die nahezu vollständige Disposition der gesamten Handlung – und zwar einer offenbar alles andere als etwa nur einsträngig angelegten Handlung –, mit Held, Heldin, Sekundärheld und unterjochter Sekundärheldin, mit schurkischem Gegenspieler, geheimnisvollem Zigeunergrab und anderen dem Leser vertrauten Zutaten, und doch läßt sich der Fortgang der Handlung nicht im geringsten voraussagen. Hier war ein Könner am Werk. Der Text bricht, wie gesagt, mitten im Satz ab – gerade als der Bösewicht einen Hund auf den Helden hetzt –, und es wird für immer rätselhaft bleiben, welche Ereignisse dem Leser im weiteren Fortgang der Erzählung begegnen sollten und warum und wann Karl May den Faden abriß.(13)


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   Gleichwohl: Bedeutsam erscheint uns, daß unser Autor schon in recht früher Zeit seines Schaffens eine ungewöhnlich spannend angelegte Geschichte um einen ›verlorenen Sohn‹ zu schreiben begann, daß dieser verlorene Sohn von Vater und Mutter ›verdammt‹ worden war – und daß er nach der Rückkehr in die Heimat, übrigens ein von Wald umgebenes, in Grenznähe gelegenes Städtchen namens Hohenberg, unerwartet einer Ortsschönen mit Namen Emma gegenübersteht, die ihn wegen seiner Entstellung abblitzen läßt.

   Selbstverständlich können aus alledem keine beweiskräftigen Überlegungen hergeleitet werden – doch immerhin bleibt zu bedenken, daß Karl May das Stigma des mehrfach Vorbestraften trug und daß diese ›Entstellung‹ ihn im Gefolge seiner wegen Emil Pollmers Tod in Niederwürschnitz 1878 angestellten Nachforschungen noch einmal traf, wodurch sein Verhältnis zu Emma sich damals merklich trübte.(14) Hatte er gerade an ›Der verlorene Sohn‹ geschrieben, als sie ihm vielleicht heftige Vorwürfe machte im Blick auf seine neuerliche Verfolgung durch Polizei- und Gerichtsbehörden? Und ergibt sich hieraus der vom Leser mit Erstaunen registrierte Mißton bei der Begegnung des Helden mit Emma in dem besagten Textfragment? Bricht deshalb schon kurz darauf der Text jählings ab – weil nämlich Karl May an einer inneren Erschütterung trug, die ihm das Weiterschreiben verdarb? Der gedankliche Hintergrund des Autors Karl May beim Ersinnen der (Fragment gebliebenen) Erzählung vom verlorenen Sohn könnte, und dies ist reines Gedankenspiel, geruht haben auf dem tatsächlichen beiderseitigen – oder zumindest von seiner Seite so gesehenen – innigen Verhältnis, das ihn und Emma aneinander band und das in seinen Augen stärker war als alle früheren Bindungen, auch die zur Familie (wie das bei wahrhaft Liebenden ja auch in der Tat zutrifft). In solchem Lichte hätte sich dann dank freier dichterischer Umsetzung das Bild der Eltern zu wandeln: Deren verzeihensbereite Haltung gegenüber dem straffällig gewordenen Sohn – mochte sie von der Mutter etwa nur unter dem harten Einfluß des Vaters mitgetragen werden – war gewiß untermischt, mit Recht untermischt, von Bitterkeit und Enttäuschung, und dieses galt es für die Zwecke der Erzählung hervorzuheben. Der ›Verdammung‹ durch die Eltern mußte erzähltechnisch – ähnlich wie in zahlreichen Märchen, die von Verkannten, von Verwunschenen, von unrechtmäßig Verfolgten handeln – die bedingungslose Zuneigung eines hochherzigen Mädchens gegenüberstehen, erklärlich eines Mädchens voller äußerer Vorzüge, dem viele Herzen zu Füßen liegen. Emmas ablehnende Haltung stellt diese Dramaturgie auf den Kopf. Es erscheint jedoch keineswegs sicher, daß der Textverlauf im Fragment, soweit er Emmas Reaktion auf den Anblick des Helden betrifft, wirklich Mays ursprünglichen Plänen und Intentionen entsprach; im kritisch-bewußten Leser, der mit des Autors Eigenarten vertraut ist, entsteht der Eindruck, ein


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unvermutetes reales Geschehen habe dem Text einen plötzlichen Schwenk versetzt. Sinnfällig steht uns doch sogleich vor Augen, wie es ihm während der Niederschrift von ›Scepter und Hammer‹(15) (1879/80), erging, als er jählings die flatterhafte Emma Vollmer auftreten und ihren Verlobten Karl Goldschmidt, einen Schriftsteller, sein Schicksal beklagen läßt – ein im Gesamtkonzept des Romans störendes und folgenloses, in sich isoliertes Intermezzo. Ein Bruch im Bau – wie er uns häufig im Erzählwerk Karl Mays vor Augen kommt (und, offen gestanden, uns insgeheim besonders an ihn bindet) und wie er ähnlich auch im Fragment ›Der verlorene Sohn‹ vorliegen mag.(16) So oder so aber blitzt Karl Mays Leben in dem Textfragment auf.

   Von nicht geringem Interesse ist auch des Lesers Reaktion auf das vom Autor so betont ins Spiel gebrachte Feuermal des Helden. Unwillkürlich schleichen sich sogleich Zweifel an dessen Echtheit ein. Wir denken an die zwielichtige, ebenso tüchtige wie gewissenlose Miß Admiral in ›Auf der See gefangen‹, einem 1878 bis 1879 veröffentlichten, vermutlich aber viel früher von Karl May hastig niedergeschriebenen Roman.(17) Diese Miß Admiral als Meisterin der Verstellung und Verkleidung wußte höchst geschickt ein entstellendes angebliches ›Feuermal‹ aufzuschminken. War auch das Feuermal des verlorenen Sohnes nur kunstvoll aufgemalt? Ließ es sich fortwischen? Symbolisierte es Karl Mays Überzeugung, das entstellende Stigma der Vorstrafen werde gegenstandslos unter den Beweisen steigender schriftstellerischer Leistungen, die er als nunmehr gelehrter Herr erbrachte? Wollte der verlorene Sohn in der Erzählung es triumphierend vor aller Augen ›auslöschen‹?

   Den in dem Fragment aufgezeigten Rätseln und aufschimmernden Untaten hat Karl May sich nie wieder zugewandt. Oder vielleicht doch – in anderem Erzählgewand, mit anderen Personen, anderen äußeren Begebenheiten? Verwandelt – und verborgen unter neuen Zutaten? Er hat das ihn bedrängende Thema vom verlorenen Sohn – der er ja selber war in seinen Augen – nicht bewältigt in jenem ersten Anlauf, dem er expressis verbis diesen Titel gab und den er aus eigener Entscheidung unvollendet ließ. Doch in seiner tiefsitzenden Not hat er es wieder und wieder aufgegriffen, in immer neuen genialen Varianten, und die Zahl der verlorenen Söhne im Gesamtwerk Karl Mays ist Legion ...

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Gehen wir davon aus, daß der Fragment gebliebene Text ›Der verlorene Sohn‹ 1878 entstand, so hat der darin namenlos auftauchende Held freilich einen Vorläufer im weitgefaßten Sinn: In dem schon erwähnten frühen Roman ›Auf der See gefangen‹ erscheint als ein verlorener Sohn der zu Unrecht des Mordes beschuldigte Prinz Max von Schönburg-


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Wildauen, der nach Amerika flieht und durch günstige Umstände schließlich rehabilitiert wird. Er, von aller Schuld reingewaschen – wie Karl May das für sich erträumte –, führt die Reihe jener Max genannten edlen jungen Herren an, auf die Karl May, der Mensch mit dem seelischen K-na-cks, seine Ängste und Sehnsüchte projizierte. Der Prinz Max von Schönburg-Wildauen ist auch das romanhafte Abbild jenes imaginierten ›natürlichen Sohnes des Prinzen von Waldenburg‹, als den Karl May sich ausgegeben hatte, bevor er Anfang 1870 in Böhmen als Pflanzerssohn Albin Wadenbach imponieren wollte.(18) Und diesem ersten hartgeprüften Prinzen Max, von dem Karl May sich dann fast lustlos verabschiedet, folgt in einer neuen, fast ebenso verworrenen Geschichte voller verschlungener Handlungsstränge der zweite Prinz Max: Dr. Max Brandauer, angeblicher Schmiedesohn und in Wahrheit geraubter und vertauschter Königssohn – symbolträchtig eingefangen unter dem Titel ›Scepter und Hammer‹. Und dem Doktor Max zur Seite läuft der tapfere Arthur von Sternburg, der seinerseits in Wirklichkeit der vertauschte Sohn des Schmiedes ist.(19) Oft noch werden wir Sekundärhelden begegnen, deren Name mit A beginnt, dem markigen, unüberhörbaren Vokal im Eigennamen Karl. Der Problematik des mit dem Knacks in der Seele verbundenen Namens Max aber wird der Autor gerecht, indem er in ›Scepter und Hammer‹ auch die Negativ-Figur des in innerer Leere verlorenen Königs von Süderland Max nennt – Max Joseph, vom Vorbild Joseph II., dem Sohn Maria Theresias, durch Gräben getrennt. Karl May scheut sich in seiner Selbstqual auch nicht, ein Jahr später, im Sommer 1880, in ›Der Brodnik‹,(20) einen abgefeimten Schurken als Assessor Max Lannerfeld vorzustellen – einen in unverbesserlicher Schlechtigkeit Verlorenen, das Schreckensbild des Sünders Karl May.

   Und noch einen Max ruft er Jahre darauf ins Leben, einen kühnen, literarisch hochbegabten Schullehrer, Max Walther, der als Säugling verlorenging und dem Schicksal trotzt wie kaum ein zweiter. Er begegnet uns in dem zu Unrecht scheel angesehenen Älpler-und-Bauern-und-Künstler-Roman ›Der Weg zum Glück‹(21) (1886/87) – und mit Max Walthers Einzug in die Geschichte in Hohenwald wiederholt sich erstaunlich vieles, vieles – obschon nicht alles – von dem, was in den wenigen Textseiten des alten Fragments ›Der verlorene Sohn‹ bereits knapp, präzise und anschaulich geschildert wurde mit Blick auf Hohenberg. Bewußt oder unbewußt hat Karl May hier intensiv auf die unvollendete Rhapsodie von 1878 (?) zurückgegriffen.

   Bemerkenswert rückt er im Spiegelbild des Max Walther und dessen problematischer Beziehung zur eitlen Silbermartha die eigene konfliktbehäufte Beziehung zu Emma Pollmer ausführlich ins Licht – aber wie anders, wie ganz anders als in jenem isolierten Fremdkörper um Karl Goldschmidt und dessen Emma in ›Scepter und Hammer‹. Voll durch-


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komponiert, voll in die Handlung des Romans ›Der Weg zum Glück‹ integriert ist das Auf und Ab zwischen Max und Martha, die wie Emma Pollmer ohne Mutter aufwuchs. In der Wahl des Namens Martha für die Partnerin des Max aber klingt schon 1887 an, was fünf Jahre darauf das dominierende Element im Hintergrund der spannenden Reiseerzählung, die später den Titel ›Satan und Ischariot‹ trägt, abgibt(22) (1891/92): Die Reminiszenz des Ich-Erzählers Karl May an eine gleichfalls problematische und dabei unerfüllte Romanze mit einem als ›Martha‹ (Martha Vogel) in die Werkgeschichte eingegangenen Sehnsuchtsbild, einer jungen Frau, deren Identität innerhalb der Biographie Karl Mays wohl nie eindeutig aufzuhellen sein wird. Auch in ›Der Weg zum Glück‹ fehlt jeder Fingerzeig, wessen Image neben dem Emma Pollmers sich in Martha verbirgt. Ebenso erlaubt die Entwicklung der Handlung um Max Walther keine Rückschlüsse auf die ehemaligen und nie schriftlich fixierten Planungen Karl Mays hinsichtlich der Fortführung des Textes ›Der verlorene Sohn‹.

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Wir haben in der Chronologie ein wenig vorgegriffen – denn nicht nur im letzten der fünf großen Kolportage-Romane Karl Mays gibt es mit Max Walther sowie mit dem für Dienste niedrigster Art mißbrauchten Fex alias Baron Curty von Gulijan und dem Sohn des Kronenbauern, Fritz (also Friedrich, wie Karl May mit zweitem Vornamen hieß), gleich mehrere verlorene Söhne unterschiedlichsten Schicksals.(23) ›Scepter und Hammer‹ bietet neben Max Brandauer und Arthur von Sternburg noch den angeblichen Zigeuner Katombo, einen geraubten Herzogssohn, und ›Die Juweleninsel‹(24) (1880/81) präsentiert die verlorenen Söhne des Grafen von Walmy. In ›Das Waldröschen‹(25) (1882-84) erleben wir im überragenden Helden, dem Arzt Dr. Karl Sternau, der nicht nur den Vornamen des Autors trägt, sondern auch dessen Traumberuf voller unerschütterlicher Überlegenheit ausübt, ebenfalls den verlorenen Sohn im klassischen Sinne; auch er ist ein Herzogssproß, ohne es zu wissen, und der weinende Vater rechnet es sich zur Ehre an, den ruhmbedeckten Sohn anzuerkennen. Eng verbunden mit dem Geschick dieses Superhelden ist das seines späteren Schwagers, des unverdorbenen jungen spanischen Räubers Mariano alias Leutnant Alfred de Lautreville, in dem wir einen ganz ähnlichen klassischen Fall vor uns haben, denn Mariano (hören wir nicht aus dem M-a-i den Autor heraus?) ist der geraubte und verbrecherisch vertauschte Grafensohn Alfonzo de Rodriganda.(26) Im wahren Namen wie im französischen Pseudonym führt er das A – das auf höchst glanzvolle A-delsabkunft weisende Sekundär-Merkmal in den Träumen des Karl May. Dann ist da noch Anton Helmers, als Westmann dem ›Fürst des Felsens‹ Dr. Karl Sternau


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beinahe ebenbürtig, der gleichsam verloren, ohne Brücken zur deutschen Heimat, durch die Wildnis irrt und durch den Wunderarzt zum Glück und zum Bruder findet. Und ausdrücklich als ›Der verlorene Sohn‹ wird in einer Kapitelüberschrift Otto von Rodenstein bezeichnet, der am Sinn des Daseins zu zweifeln begonnen hat und nach vielerlei Irrungen (auf beiden Seiten) dem geläuterten Vater zugeführt wird.

   Fast wie unter manischer Besessenheit erzählt Karl May nun unaufhörlich von verlorenen Söhnen aller Art. In ›Die Liebe des Ulanen‹(27) (1883-85) sind es die dem Offizier Kunz von Goldberg geraubten Zwillinge, ist es der im Haß vom Vater geschiedene Baron Gaston de Bas-Montagne, ist es der die Familienehre verteidigende unglückliche Gebhardt von Königsau. Im nächsten Roman, der nun den einstmals beiseite geschobenen Titel ›Der verlorne Sohn‹ wieder aufgreift – diesmal mit dem werbewirksamen Zusatz ›oder Der Fürst des Elends‹(28) (1884-86) –, stoßen wir neben dem (wie einst Prinz Max von Schönburg-Wildauen) fälschlich des Mordes bezichtigten Titelhelden (Gustav Brandt) und dem um sein Erbe und seinen guten Namen gebrachten Robert von Helfenstein alias Robert Bertram auf rund ein halbes Dutzend weiterer in mancherlei Sinn verlorener Söhne unterschiedlichster Herkunft – und wir haben noch Heinz Stoltes modulationsreichen Ton im Ohr, wie er sie uns in Wiesbaden nacheinander so einprägsam vorstellte: Keiner von ihnen ist frei von Zügen der Autobiographie des emsig die Manuskriptseiten füllenden Autors. Karl May schwelgte geradezu im Ausmalen des Unglücks und im bitteren Taumeln durch die vielerlei Formen, die er dem eigenen Schicksal – so wie es ihm in den wirrsten Bildern erschien – abzugewinnen und zu verleihen wußte. Eine pikante Novität gegenüber dem sonstigen Schaffen bringt dabei das Verhalten der dem Titelhelden Gustav Brandt in Liebe verbundenen Alma von Helfenstein: Im Gegensatz zu Karl Mays übrigen Frauengestalten im Gesamtwerk, die komme was wolle unverbrüchlich zum geliebten Mann stehen, erlaubt Alma sich Zweifel an Gustavs Schuldlosigkeit – und leidet darunter. Ist das Emmas vorwurfsvolle Haltung während der polizeilichen und gerichtlichen Verfolgung Karl Mays 1878/79, als er sich heftig gegen einen schier existenzbedrohenden Verdacht wehrte und als einstiger Zuchthausinsasse sich der Staatsmacht ohnmächtig ausgeliefert vorkam?(29) Steckt in dem Mangel an bedingungsloser Zuwendung, wie er bei Alma von Helfenstein sichtbar wird, der gleiche ablehnende Vorbehalt jener Emma im Fragment ›Der verlorene Sohn‹, als sie sich von Äußerlichkeiten täuschen läßt?

   Eine andere Art der Auseinandersetzung fand er, als er in ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹(30) (1885-87) drei Brüder Adlerhorst verloren gehen ließ und sie über den Erdball hin verstreute. Der zu ihrer Rettung antretende nominelle Überheld – wiederum ein Prinz, aber nicht von der Art des Dr. Max Brandauer oder des Dr. Karl Sternau – mißlingt als


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Protagonist wie als Selbstporträt des Autors: Das ›k-a-r-(l)‹ in seinem Namen, Prinz Oskar, ist zu weit verrutscht, um Glanz herzugeben. Ein tüchtiger Sachse namens Sam Barth, eines der gelungensten und köstlichsten Spiegelbilder Karl Mays, führt alle Versprengten am Ende zusammen und stellt Prinz Oskar in den Schatten. Merkwürdig genug aber versagt zum Ende der Geschichte hin der schöpferische Impetus: Die Ursache für das an den Adlerhorsts begangene Verbrechen, die Art und Weise der Inszenierung durch die Schurken bleiben im Dunkel.

   Karl May zieht den Schleier über ein Geschehen, dessen Darstellung er plötzlich nicht gewachsen ist.

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Nehmen wir nun ›Der Weg zum Glück‹, der auf ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ folgte, noch hinzu, so haben wir mit der stattlichen Aufzählung all der vielen verlorenen Söhne bisher doch nicht alle erfaßt, die diese Kennzeichnung verdienen. Des Guten schon im Übermaß, möchte man meinen. Doch weit gefehlt: In den berühmten Reiseerzählungen, in den Jugenderzählungen, in den teils geschmähten, teils gelobten Marienkalender-Geschichten sind verlorene Söhne an der Tagesordnung:

   Allan Marshal in ›Deadly Dust‹(31) (1880) gehört dazu wie der als Hamsad al Dscherbaja im Orient lebende Flüchtling aus Jüterbogk, der Kara Ben Nemsi in Ägypten (›Giölgeda padiĘshanün‹,(32) 1881) und in Stambul (›Stambul‹,(33) Anfang 1883) begegnet. Bloody-Fox, genannt ›Der Geist der Llano estakata‹(34) (1888), ist im Wortsinne ein verlorener Sohn, der sich für das ihm angetane Unrecht dutzendfach blutig rächt, ohne von Gesetzes wegen dazu legitimiert zu sein. Er fällt aus dem Rahmen und gibt uns besonders zu denken. Als Kind erhält er eine lebensgefährliche Kopfverletzung; als junger Mann erhebt er sich zum Rächer in eigenem Auftrag: Eine Ich-Abspaltung des Autors, auf den die nicht gerechtfertigte erste Verurteilung 1862 – wegen angeblichen Uhrendiebstahls – wie ein Schlag über den Kopf(35) gewirkt hatte und der sich danach mit Plänen schrecklicher Rache trug.(36) Die Taten des Bloody-Fox entschuldigt Karl May damit, daß sie ausschließlich dem Ausmerzen von Verbrechern gelten. Indem er aber überhaupt einen ›Helden‹ ungestraft zahlreiche Bluttaten begehen läßt, verrät er den in ihm ungestillten Durst nach Vergeltung für einst erlittenes Unrecht. Im Vergleich zur üblichen Art und Form der Bewältigung seiner inneren Konflikte durch therapeutisches Schreiben zeigt Karl May in Bloody-Fox› Tun und Treiben bedenkliche Auswüchse. Die Qualität der Erzählung hat darunter stark gelitten – gerade in Aussagen und Passagen, die sich ausdrücklich auf den ›Helden‹ Bloody-Fox beziehen.(37)

   Im gleichen Jahr 1888 folgt in ›Der Scout‹(38) der Ich-Erzähler durch


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mannigfache Abenteuer der Spur des verlorenen Sohnes William Ohlert, in Begleitung des längst verlorenen Sohnes Old Death. Der vom Reich der Mitte, China, assimilierte Onkel Daniel des jugendlichen Helden Richard Stein in ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹(39) (1887-89) ähnelt mehr einem verlorenen Sohn als einem geschäftlich erfolgreichen Emigranten, und ›Die Sklavenkarawane‹(40) (1889) birgt in dem ›Sohn des Geheimnisses‹ einmal mehr einen wahrhaft verlorenen Sohn.

   Der lange Prahlhans Selim in der ›Mahdi‹-Erzählung(41) (1890) ist ein verlorener Sohn geradezu tragischer Note, und die keineswegs erheiternden Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Erfinder werden uns gleich noch beschäftigen. Verloren in der Ferne ist auch Jäger, der im Geiz befangene Schuhmacher und Heereslieferant und Onkel der Martha Vogel (›Die Felsenburg‹, ›Krüger-Bei‹, ›Die Jagd auf den Millionendieb‹), der seinen Namen in Hunter ändert, und noch mehr ist es sein gutgläubiger Sohn Small Hunter, den Winnetou und Kara Ben Nemsi in Tunis suchen. Ein Knabe geht dem bigott-uneinsichtigen Vater beinahe verloren in ›Christus oder Muhammed‹(42) (1890), und angstvoll jagt ein anderer Vater mit Kara Ben Nemsi in ›Der Kutb‹(43) (1893) durch das Land zwecks Wiederauffindung des in der Ferne verlorenen Buben. Unerwartet glücklich verläuft die Wiederbegegnung des verlorenen Sohnes mit dem Vater in ›Christ ist erstanden!‹(44) (1892 oder 1893) – aber untröstlich beklagt der alte Dozorca in Bagdad (›Im Reiche des silbernen Löwen‹,(45) 1897) das Schwinden seines Glücks, das ihm mit seinem Sohn Ikbal (eben: ›Glück‹) verlorenging. Jahrzehntelang verloren als Söhne sind in ›Old Surehand‹(46) (1894-96) die Titelfigur und deren Bruder, bis Old Shatterhand beide der Mutter zurückgibt. Der literarisch und autobiographisch bedeutendste verlorene Sohn ist wohl der Dschirbani, der angebliche Aussätzige in ›Der ‘Mir von Dschinnistan‹(47) (1907-09): Wegen seiner ›Entstellung‹, seines ›Andersseins‹ droht ihm ein fürchterliches Ende, doch das scheinbar unabwendbare Schicksal wandelt sich zur harmonischen Wiedervereinigung mit Vater und Mutter.

   Und immer noch nicht genug: Einen müssen wir noch heranholen, den letzten, der eben im letzten Werk Karl Mays auftritt, den der Autor wie beiläufig einführt und auf den doch alles zugelaufen ist in fünfunddreißig Jahren Schriftstellerleben: In ›Winnetou lV‹(48) (1909/10) erleben wir den ewigen Versager Max Pappermann, der seinen Vornamen nur gequetscht als Maksch aussprechen kann, dessen eine Gesichtshälfte entstellt ist durch eine unselige Explosion von Schießpulver – und der einer unerfüllten, auf immer verlorenen Liebe nachtrauert, einem Mädchen, dessen Vater Medizinmann war. Ist dies letztere nicht ein dichterischer Euphemismus für die prosaische Bezeichnung Bader, die Emma Pollmers Großvater, bei dem sie mutterlos aufwuchs, für sich in Anspruch nahm? Blieb nicht die schicksalhafte Bindung des Mannes


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Karl an das Mädchen Emma von früher Zeit an überschattet von Flecken und Entstellungen der beiderseitigen Gefühle? War nicht das gewaltsam herbeigeführte Auseinanderreißen der beiden, manifestiert durch die Ehescheidung, das Ende des Karl May, der vordem permanent gesiegt hatte? Ist nicht die Rückkehr zum Namen Max am Ende des Schaffens die Vollendung des Kreises, in dem der Autor Karl May sich bei allen Erfolgen doch immer unausweichlich bewegte? Ist nicht Max Pappermanns Unvermögen, den eigenen Vornamen richtig auszusprechen, des Autors endgültiges Eingeständnis des Knacks in seinem Inneren – und dessen Unheilbarkeit? Ist nicht die durch Schießpulver bewirkte Entstellung des Gesichts die ›verfärbte‹ Wiederkehr des Feuermals im Gesicht des frühen ›verlorenen Sohnes‹? Wie Maksch Pappermann erlag auch jener frühe Held vom Moment der ersten Begegnung an einer schicksalhaften Liebe, über die sich von Anbeginn der Schatten des Zweifels und der Tragik breitete. Nur die gedankliche Überhöhung, die die Erzählung ›Winnetou IV‹ trägt, die zum eigenen Schutz vorgenommene Verwischung der Konturen aus der Sicht des stark gealterten Max/May, tarnt den Sachverhalt ein wenig. Doch werden der verlorene Sohn im frühen Fragment und der Max Pappermann im späten Werk ohne Brille nebeneinander gesehen, so gleichen sich Anfang und Ende.

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Über dreieinhalb Jahrzehnte hin, so bemerken wir, ist das Liebestrauma die Pein, der der Autor Karl May nicht entrinnt. Zwanghaft kleidet er es immer wieder in die Fabel um irgendeinen Verlorenen – einen Sohn, einen Geliebten, vorzugsweise beides. Und so differenziert die Gründe für das Verlorensein auch sein mögen in den zahllosen Erzählungen und Einzelfällen, so münden sie doch immer in der Gedankenwelt und Gefühlswelt des Autors, in den Erfahrungen seiner Innenwelt. Da gibt es die Flucht vor falscher Anschuldigung, die letztendlich in glänzende Rehabilitierung mündet; oder Schuldbewußtsein wird zur Triebfeder des Abbruchs der Bindungen an daheim. Manchmal ist es der verbissene Wunsch des Helden, fernab von der Familie das eigene Ich zu entfalten und Ansehen zu erringen. Oft ist es eine Schurkentat, ein Racheakt zur Realisierung verbrecherischer Pläne – etwa Entführen und Vertauschen eines vornehmen Erben –, und darin wie im Obsiegen der Opfer über die Täter erkennen wir einerseits, wie Karl May ungestillte Rachegelüste sublimiert und befreiend kanalisiert, und andererseits die ewige Sehnsucht des ewigen Kindes Karl May nach möglichst hoher Abkunft des so vielseitig talentierten Vaters mit daraus erstehenden Strahlenkränzen für den einzigen Sohn Karl. Jede Variante und Sub-Variante führt geradewegs zum Erfinder der unglücksbeladenen


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Fabel zurück. Nur der Extremfall des Großsprechers Selim scheint davon ausgenommen – Selim, der von seinem Stamm regelrecht verstoßen wird und den die Frauen noch härter verurteilen als die Männer und für den sie auch später nur Hohn und Spott kennen. Er träumt von Heldentaten und wird zur lächerlichen Figur.

   Und läßt uns das nicht doch aufhorchen? Und innehalten? Können wir ihn wirklich übergehen? Frauen verjagen den aus dem Rahmen des Üblichen fallenden Selim – aber Frauen, Mütter zumal, begegnen uns doch kaum jemals im Zusammenhang mit verlorenen Söhnen; die Väter hingegen sind, im Hintergrund oder im Vordergrund, fast immer ins Geschehen verwickelt. Karl May und seine verlorenen Söhne haben stets den Blick auf die Väter gerichtet.

   Vom knorrigen, schimpfenden Vater des Prinzen Max von Schönburg-Wildauen über den schwachen König von Norland – den Vater des Dr. Max – und den Herzog von Olsunna – den Vater des Dr. Karl –, vom wackeren Rittmeister von Königsau und dem bösen Baron de Bas-Montagne über den Forstmeister Brandt und den schuftigen Erzeuger des Lehrers Max Walther, vom besorgten Bankier Ohlert und vom ruhelosen ›Elefantenjäger‹ – Vater des ›Sohn des Geheimnisses‹ – über den Handelsmann Girard in ›Der Kutb‹ und den Renegaten Dozorca – und wie sie alle heißen mögen – bis hin zum gottähnlichen Vater des Dschirbani setzte Karl May sich wieder und wieder mit der Rolle des gutartigen, des bösartigen, des energischen, des hilflosen, des würdigen oder des unwürdigen Vaters auseinander, gleichgültig, ob ein Vater-Sohn-Konflikt zugrunde liegt oder nicht. Die Väter dominieren im direkten Zusammenhang mit dem Schicksal der verlorenen Söhne – so wie das Bild des gleichermaßen verehrten wie gefürchteten Vaters Heinrich May im Inneren Karl Mays dominierte. Ernste oder vorgetäuschte Auseinandersetzung mit dem zu verteidigenden oder zu stürzenden Heldenbild des Vaters – dem natürlich das eigene Wunsch-Ich Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand oder Dr. Karl Sternau oder anders genannt stets überlegen war – fiel Karl May leicht, weil er und der Vater stets gegenseitig Zugang zur Seele des anderen besessen hatten. Die Mütter jedoch sind entweder nicht existent im erzählten Geschehen oder bleiben undeutlich, unwesentlich, ja wesenlos – bis zum Jahr 1885, wo wir eine scharfe Zäsur im Gesamtwerk Karl Mays erkennen: Nach dem 15. April 1885, sprich: nach dem von Karl May in Tränen durchlittenen Tod seiner Mutter, treten die Mütter der verlorenen Söhne aus dem Schatten heraus.

   Anna von Adlerhorst in ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ ist noch etwas schemenhaft, läßt Vitalität vermissen, verharrt in Passivität. Doch immerhin ragt sie auf im traurigen Werk, verrät des Autors ängstliches Bemühen, sich dem Problem Mutter anzunähern. In ›Der Weg zum Glück‹ ist die Schwelle bereits siegreich überschritten: Gleich zwei


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reuige Mütter, zerfließend im Schmerz über das Unrecht, das sie ihren jeweiligen Söhnen, den so ungewöhnlich begabten Söhnen, angetan haben, paradieren eindrucksvoll durchs Geschehen – die Mutter des Karl May so ähnlichen Lehrers Max Walther und die Frau des dem naturverbundenen Heinrich May nachempfundenen Finkenheiner, der seine von der Mutter verlassenen Kinder zu trösten wußte.(49) Und die Folgezeit weist weitere Beispiele der Hinwendung zur Mutter im Werk auf, und wir werden sie noch anleuchten. Doch zuvor eilt uns, zwischen ›Der Weg zum Glück‹ und dem (vom Hausschatz-Redakteur gestrichenen) Kapitel ›In der Heimath‹ in ›Krüger-Bei‹, der verstoßene Selim in ›Im Lande des Mahdi‹ entgegen, den Karl May als komische Figur verkleidet und in dem, wie in Bloody-Fox vor ihm, unerledigter seelischer Aufruhr besondere Gestalt annimmt. In diesem verstoßenen Selim wird ein tiefer Sturz zurück in vormaliges Erleiden mit spezifischer Eleganz und sogar distanzierter Ironie verarbeitet; und wir meinen, von seinem Extremfall aus die Spur zur Ursache der Not Karl Mays aufnehmen zu können – rückwärts gewandt hin zu jener Erniedrigung, da laut offizieller Begutachtung »die angeborene Kunst, den Leuten etwas vorzumachen und daraus Gewinn zu ziehen«,(50) ihm nichts Günstigeres einbrachte als »den Eindruck eines komischen Menschen«(51) – und noch weiter rückwärts bis zu jenem Schock in früher Zeit, der Heldenträume in Trümmer legte.

*

Rückwärts bedeutet hier zugleich auch vorwärts, verlangt einen Zeitsprung, denn das Zeugnis, dem wir uns zuwenden müssen, stammt aus dem Jahre 1910. Dieses Zeugnis führt uns zu den Lebenserinnerungen des Mannes, dessen innere Werkstatt wir in einem Ausschnitt erkunden wollen. Zur Jahreswende 1855/56 wohl muß es gewesen sein, wovon er auf Seite 79 in ›Mein Leben und Streben‹ berichtet:

Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel ›Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten.‹ Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett, schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: »Ihr sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich geh nach Spanien; ich hole Hilfe!« Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der Not. – – –(52)


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Ab Seite 92 erfahren wir den Fortgang:

In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den Tisch ... Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: »Mach so Etwas niemals wieder, niemals!« Dann ging er nach kurzem Ausruhen mit mir fort – – wieder heim ... Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich eigentlich hatte.(53)

Wir haben an der Wahrheit dieser Schilderung der Reise nach Spanien – die zugleich eine sehr frühe und eklatante Demonstration des in Karl May sehr lebendigen ›Geist des Aufbegehrens‹ ist – nie gezweifelt. Ähnliche Sätze finden sich einmal im Werk Balduin Möllhausens – Andreas Graf hat es nachgewiesen(54) –, doch dadurch wird Karl Mays Darstellung ja nicht zur Fiktion. Die Realität liefert hinreichend Beispiele für Koinzidenzen.(55) Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, daß wie Goethe auch Schopenhauer und Shelley zu der grundlegenden Erkenntnis fanden, allein der Wechsel sei beständig! Keinen der drei dürfen wir verdächtigen, den anderen plagiiert zu haben. Nein, fragen wir eher: Welchen Vorteil hätte es Karl May bringen sollen, im Rahmen seiner Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben‹ solcherlei wie eine Reise nach Spanien für die Leseöffentlichkeit zu erfinden? Es trug ihm keineswegs einen Glorienschein ein, zeigte ihn als unreifen, von unausgegorenen Phantasien überquellenden Burschen, trug ihm bei seinen Gegnern sicherlich keine Anteilnahme ein, sondern eher abfällige Bemerkungen. Er nahm es beim Schreiben in Kauf, konfrontierte das Innere des gequälten Endsechzigers mit dem Rauhreif, der damals in das Innere des Dreizehnjährigen gefallen war.

   Karl Mays Schilderung der Reaktion des Vaters erscheint uns glaubhaft: dessen Besorgnis und Umsicht mögen die Grundlage gebildet haben für das letztlich unbeirrbare Festhalten des ewigen Kindes Karl an diesem Vater. Der Nährboden für Groll aufeinander und für Konflikte war nicht stärker als die Zuneigung zueinander.

   Von der Reaktion der Mutter auf Karls Flucht und rasche Rückkehr erfahren wir nichts. Und dieses Vakuum verrät mehr, als geschriebene Worte vermocht hätten. Wir werden den Verdacht nicht los, daß das Kind in seiner natürlichen Erwartung, eine ihn zärtlich umarmende und Tränen der Erleichterung vergießende Mutter vorzufinden, schmählich enttäuscht wurde, daß eine herb-nüchterne, kühl-beherrschte Frau vielmehr sich mit seiner Heimkehr abfand. Zumindest muß der Empfang derart gewesen sein, daß er ihn noch im Alter mit Schweigen überging.


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Worin immer das Ausbleiben von Liebesbeweisen gegenüber dem danach dürstenden Knaben begründet gewesen sein mag – und sei es etwas so Triviales wie das bedachtsame Schüren des Herdfeuers als vordringlich scheinende Verrichtung –, es erzeugte den bleibenden Schock, warf den ohnehin all seiner Erretter-Träume beraubten Sohn ins Abseits, züchtete in ihm die Überzeugung, ein von den Quellen der entscheidenden, das heißt der mütterlichen Liebe Abgeschnittener, ein Verlorener zu sein. Als Held hatte er strahlen wollen. Jetzt konnte sein Tun ganz anders gesehen werden – als das eines Feiglings, der sich von den heimischen Pflichten unter lügnerischem Gehabe hatte davonstehlen wollen.

   Diese Argumentation ist nach unserem Dafürhalten in der Tat auch dann gültig, wenn etwa Karl May wider alle Wahrscheinlichkeit den Ausflug in Richtung Spanien reinweg erfunden haben sollte. Das Lehrreiche bei allem bleibt, daß ihm daran gelegen war, die innerste Einstellung des Vaters zu ihm und seine innerste Einstellung zum Vater festzulegen, und daß er die Mutter mit Schweigen übergeht. Damit verrät er die hemmende Distanz des Kindes Karl zu der Märtyrerin und Heilige(n), die ein Segen für uns, ihre Kinder(56) war. Die unleugbare Tüchtigkeit, der unermüdliche Fleiß, der bewundernswerte Ehrgeiz der Christiane May boten der Familie Halt und Nahrung. Doch mit dem zunächst blinden, dann endlich sehenden Kind zu spielen, es zu kosen, fehlte ihr die Zeit – und anderes. Vierzehn Schwangerschaften und der Verlust von zehn Kindern innerhalb kurzer Zeit nach der Geburt gehen an keiner Frau spurlos vorüber. Und ausgerechnet der von insgesamt sechs Söhnen einzig Überlebende bereitete von Anfang an Probleme und Lasten.(57)

   Die Schädigung im Verhältnis Mutter/Sohn konnte zumeist überdeckt werden, weil Karl es – wie sich denken läßt – aus Gefühl und Verstand heraus nie an Achtung und Demut gegenüber der Mutter fehlen ließ und weil der so leicht aufbrausende und von Stolz über die Begabungen des Sohnes erfüllte Vater stets bereit war, ihm alle nicht gegen ihn – Heinrich May – gerichteten Verfehlungen nachzusehen und die Schuld eher bei Dritten zu suchen. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Wesensart kennt vielerlei Formen und Stufen und Spielarten, und Katastrophen müssen nicht zwangsläufig eintreten. Im Falle Karl May jedoch brach sie herein – und wir neigen um so mehr dazu, die entsprechende Schilderung in der Selbstbiographie zu beachten, als der Autor damit das Tarngewebe um die Märtyrerin vollends zerreißt und, von unkontrolliertem Enthüllungsdrang über die vorher gesetzte Grenze hinausgetrieben, seine euphemistische Behauptung, Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört,(58) in Trümmer legt. Wir befinden uns mit Karl May in jener schlimmen Phase seines Lebens zwischen Osterstein und Waldheim, als seine Pläne zerschellen und er, statt festen Fuß zu fassen, in der Luft hängt und dahintreibt.


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Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus. Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein ... Als der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden ... Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf ... Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald. Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich ... starrte in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und der drang mir in die Seele ... Ich bin mir erst später, viel später klar über die Entstehung solcher innerer Schreckgebilde geworden.(59) ... Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich erloschen ... In mir war auch Alles erloschen ... Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel umhüllt ... Ich lief irr ...

   Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unsers Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der Wohnstube und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht. Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber leise:

   »Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?«

   »Nein,« antwortete ich.

   »Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!«

   »Fort? Warum?« fragte ich.

   »Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses Feuer!«

   »Was ist es mit dem Feuer?«

   »Man hat dich gesehen! Im Steinbruch – – im Walde – – auf dem Felde – – und gestern auch bei dem Haus, bevor es niederbrannte!«

   Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!

   »Mut – – ter! Mut – – ter!« stotterte ich. »Glaubst Du etwa, daß – – –«

   »Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater auch,« unterbrach sie mich. »Alle Leute sagen es!«

   Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:

   »Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!«

   Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu warten.(60)

Wir wissen, wie Hans Wollschläger die Szene gedeutet hat,(61) und wenn wir seinen Überlegungen hier die unseren an die Seite stellen, so des-


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wegen, weil Karl Mays Texte erweislich oft mehrere und mehrfarbige Deutungsmuster umschließen und weil wir, mit Blick auf Karl Mays Umgang mit sich selber, uns sehr wohl vorzustellen vermögen, daß die Szenerie tatsächlich Erinnerungen an schlimme Tage und Nächte im Frühjahr oder Sommer 1869 birgt und daß eine schicksalhafte Begegnung mit der Mutter stattfand.(62)

   Umherirren unter dichtbewachsenen Bäumen, Sonnenschein, der durchnäßte Kleidung trocknet, längeres Schlafen im Freien setzen Frühlingszeit oder Sommer voraus, und auch eßbare Rüben – Mohrrüben wie Kohlrüben – finden sich in diesen Monaten im Felde. Nach seinen spektakulären Auftritten als Polizeileutnant von Wolframsdorf und als Beamter der Geheimpolizei kehrte Karl May mehrmals heimlich ins Elternhaus oder in dessen Nähe zurück,(63) und selbst nach seiner Flucht aus Polizeigewahrsam am 26. Juli 1869 ist ein Versuch, sich den Eltern nochmals zu nähern, nicht auszuschließen. Ein Hausbrand zwar ist in den amtlichen Verlautbarungen der örtlichen Gendarmerie 1869, nach den bisherigen Ermittlungen, nicht erwähnt,(64) und eine polizeiliche Anschuldigung wegen Brandstiftung ist gegen Karl May nicht erhoben worden(65) – doch wir können des Autors Schilderung nicht einfach ins Land der Fabel verweisen, weil uns kein Zeitungsbericht greifbar vorliegt. Diese Schilderung ist so plastisch und kongruiert derart mit den ihm längst zugute gehaltenen Befindlichkeitsstörungen, daß es schwerfällt, sie als fiktional anzusehen. Die aus dem Anblick des Feuers erwachsenden Aussagen das Feuer war in mir und Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben zusammenfiel definieren nach unserem Verständnis seelische Auszehrung und das Zusammenbrechen der Persönlichkeit. Wie ein verängstigtes Kind – wie eine Puppe, die man am Faden zieht, spricht eine deutliche Sprache – sucht er instinktiv im Elternhaus(66) die Rettung aus der Not. Und wird verstoßen.

*

Wir müssen einige der eben zitierten Textstellen näher betrachten; sie geben hinreichend Aufschluß, daß hier, anders als von Karl May früher behauptet, manch ungutes Wort gefallen ist. Wir gehen bei unserer Analyse bewußt in extremis, denn es ist – bei aller Sympathie für Karl May – einleuchtend, daß im Sommer 1869 nicht nur er mit den Nerven am Ende war, sondern auch die Mutter.

   1) »Nach Amerika hinüber!« ist ein ebenso kaltherziger wie hohnvoller ›Ratschlag‹. In der letzten Dekade des April 1869 hatte Karl May vergebens versucht, mit Hilfe zweier Amerikaner namens Burton in die USA zu gelangen.(67) Die nicht in Illusionen befangene Mutter wußte gut genug, daß dem vorbestraften Sohn eine Flucht nach Amerika unmöglich war – und daß auch er dies wußte. Salz in die Wunde.(68)


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   2) »Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht.« Das ist eine förmlich erpresserische Drohung gegenüber einem keineswegs gesunden Menschen – und ist unwürdig einer Frau, die angeblich so stark im Tragen innerer Lasten war.

   3) »Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater auch«: Damit wird jeder Versuch einer schüchternen Annäherung des Sohnes kategorisch abgeschnitten, wird jede Unschuldsbeteuerung unterbunden. Mag das, was »Alle Leute sagen«, nämlich daß Karl ein Haus angezündet habe, auch unbewiesenes Gerücht sein, mag er dies eine konkrete Delikt auch nicht begangen haben, so liefert es doch den Anlaß, sich vom Sohn loszusagen – und diese kurze Zweisamkeit hastig dazu auszunutzen, das Vaterbild zu schwärzen. Ein Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn muß verhindert werden; sonst zieht die Mutter, wie bisher stets, den kürzeren.

   4) »Laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause!« Damit ist die Lossagung perfekt: Unerträglich wäre es, in den Verdacht zu geraten, die wohlangesehene Hebamme Christiane May gewähre dem Mißratenen Schutz und Zuflucht. Im Elternhaus ist kein Platz mehr für ihn. Und ohne mich berührt zu haben – also ohne auch nur die kleinste Geste des Mitgefühls und des Trostes –, wies sie ihn hinaus.

   Welche Kluft zu der Frau, die in gar nicht ferner Vergangenheit ein liebes, tröstendes Wort gefunden hatte(69) oder den Sohn so eigentümlich mitleidig betrachtete.(70)

   Es schält sich das Bild einer mit zu viel Kummer und Leid überfrachteten Frau heraus, die urplötzlich im Grauen eines Morgens – ihrem ganz persönlichen »Morgengrauen im Menscheninnern«(71) – einen unerwarteten Anlaß fand, sich von einer bis dahin mit größtem Widerstreben getragenen Last zu befreien. Wichtig war nicht mehr der seelisch kranke Sohn, war nicht dessen Labilität und Hilfsbedürftigkeit, wichtig war nur das störungsfreie Alltagsleben der Mutter. Dem Sohn innere Stütze sein – nein. Die Last mußte fort. Christiane May bedurfte ihrer Kräfte für andere Pflichten. Ein Ende mit Schrecken war einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen.

*

Ob subjektiv verzerrt oder überdramatisiert – völlig frei erfunden sein kann die Szene nicht, denn wieder, wie bei der Spanien-Reise, erhebt sich die Frage nach Sinn und Zweck einer solchen Erfindung, die mit keinerlei Nutzen für den Autor verbunden war. Warum hätte Karl May das vordem so sorgsam aufgebaute Bild der Mutter freiwillig zerstören sollen? Die Zwänge, das andere Mutterbild hervorzukehren, müssen übermächtig gewesen sein; noch mit achtundsechzig Jahren vermochte


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er nicht loszukommen von der Erinnerung, daß die sklavisch geliebte Mutter ihn einst fortjagte – und ihn glauben ließ, sein Vater habe die Hand von ihm gezogen.

   Der Stachel wirkte noch nach, als er über seine Heimkehr aus Waldheim schrieb, nahezu fünf Jahre nach der Vertreibung aus dem Elternhaus und inzwischen längst im klaren über des Vaters wahre Haltung.

Es war ausgestanden. Ich kehrte heim ... Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht ein, mir Vorwürfe zu machen ...

   Als wir oberhalb der Stadt angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, neugebautes Haus und fragte mich:

   »Kennst du das dort?«

   »Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?«

   »Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer es angezündet hat.       Es wurde mit dem Täter sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du. Mutter wird es dir erzählen.«

   »O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie, daß sie hierüber schweigen soll!«(72)

Wie aufschlußreich ist dieser Text! Selbst wenn wir unsere beiseite gelegten Zweifel wieder hervorholen und also annehmen wollen, es habe in jenem Umkreis innerhalb eines bestimmten Zeitraumes kein Haus gebrannt und folglich habe mit niemandem sehr rasch verfahren werden müssen, so verzeichnen wir doch eines – und darauf kommt es an: Die Mutter soll schweigen über Anlaß und Verlauf jenes unseligen Gesprächs, nach dessen Ende der Sohn, völlig verloren, das Haus verließ. Der Sohn will keine Erläuterungen, Entschuldigungen, Beschwichtigungen der Mutter vernehmen. Hier wird eine innere Konsequenz sichtbar, der wir uns nicht verschließen.

   Hat es jenes Unglück wirklich nie gegeben? Die Spuren tun sich uns nur allzu deutlich auf in jenem Fragment ›Der verlorene Sohn‹: Ihn, den Heimkehrenden, entstellt – wie bezeichnend! – ein Feuermal, und beim Anblick der Heimat hat er jenseits des Städtchens ein neues sauberes Haus vor sich, neben zerfallenden und vom Rauch geschwärzten Mauertrümmern, jedenfalls Zeugen eines früheren Brandunglücks. Auch anderes paßt bestürzend: Mit dem Eindruck, auch der Vater verstoße ihn, verließ Karl May damals das Haus. Wann er davon befreit wurde, steht natürlich nicht fest; wir lesen aber im Textfragment die Worte eines Mannes namens Hoppe, »Alle haben ihn verdammt, sein Vater, seine Mutter, und die Andern alle, nur ich nicht.« Und Johann Ferdinand Hoppe, der Bruder eines Schwagers Karl Mays, war der erste, der ihm beistand während seines heimlichen Aufenthaltes in der Hütte im Walde beim Dorfe Falken und in der nahegelegenen Höhle um die Monatswende Mai/Juni 1869 und sicherlich noch später. Wir dürfen vermuten, daß er Heinrich May benachrichtigte, um zu erfahren, ob der Vater den


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Sohn tatsächlich ›verdammte‹ – mit der Folge, daß dieser Vater dem Sohn Verpflegung und anderes herbeischaffte.(73) Das mag – wer will es bestimmen – de facto  v o r  der ›Verstoßungs-Szene‹ gewesen sein, doch bei einer dichterischen Umsetzung realen Geschehens sind Zeitverschiebungen und Überblendungen nichts Außergewöhnliches (in der Erzählung liegen ja auch z. B. zwanzig Jahre zwischen den Ereignissen; in der Realität, so wir sie zugrunde legen, waren es knapp fünf).

   Die Szenerie im Fragment ›Der verlorene Sohn‹ entspricht insgesamt so sehr den Bitterkeiten in ›Mein Leben und Streben‹, daß wir das nicht für Zufall halten mögen. Wie so viele ungezählte Male im Werk Karl Mays, so ist nach unserer Überzeugung auch in diesem so bedauerlich Fragment gebliebenen Text mit dem frappierenden Titel das Erzählte der Wirklichkeit nachgestaltet.

*

Wie die Mutter den Sohn im Mai 1874 empfing, welche Wandlung in ihr im Laufe der Zeit vielleicht vorgegangen war, welche Form des Miteinander Mutter und Sohn fürderhin fanden, wissen wir nicht. Jedenfalls wurde das Elternhaus ihm erneut Heimstatt, bis er es gegen ein Domizil in Dresden eintauschte. Irgendwann in dieser Zeit oder während des darauffolgenden Zusammenlebens mit Emma in Hohenstein, als der unmittelbare Einfluß des begehrten Mädchens stärker war als jeder mütterliche Einfluß, kam es dann zu jener ins Auge springenden Eruption negativer Regungen, die sich entluden im Bild der geradezu bösartigen Mutter in der Erzählung ›Des Kindes Ruf‹(74) (die genaue Entstehungszeit hat sich bisher nicht ermitteln lassen). Ihr Sohn heißt Paul – was wohl eher Karl heißen soll –, und in (seinen) Haaren hängt das Heu und Stroh,(75) was auffällig erinnert an jenen Satz in der Selbstbiographie: Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel umhüllt.(76) Im Gefolge der ›Stollberg-Affäre‹(77) kam es zur Entfremdung von Emma – und wieder wurde das Elternhaus ihm Zuflucht. Und diesmal bindet er – wir wollen es hervorheben – Vater und Mutter und Emma ein in den Vorstoß, das Thema Liebesentzug zu bewältigen in der so packend angelegten Erzählung ›Der verlorene Sohn‹. Etwas uns Unbekanntes ließ ihn abbrechen; die Erzählung blieb unvollendet; der ursprüngliche schöpferische Impetus zerrann.(78)

   Die für die Erzählung sicherlich geplant gewesene, wiewohl zunächst ausgeschlossen erscheinende Vereinigung des Helden mit der Heldin trat für das reale Paar Karl/Emma mit der Heirat am 17. August 1880 ein, bei der Heinrich May als Trauzeuge fungierte. Im Werk Karl Mays herrschte fortan eine bemerkenswerte Abstinenz in Sachen ›Mütter‹(79) – wie unter einem Zwang der Furcht –, bis nach jenem 15. April 1885 eine regelrechte ›Abrechnung‹ mit mütterlichem Fehlverhalten einsetzte,


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die dann aber schnell in Versöhnung der Beteiligten einmündet. Danach, in einer abermaligen Pause, beschäftigte der Sohn sich wieder mehr mit sich selber(80) – aber 1892, im ›Heimath‹-Kapitel(81) der Reiseerzählung ›Krüger-Bei‹, bekennt sich der Ich-Erzähler, der hier erstmals offen K. May heißt (fünf Jahre vor der Selbst-Identifizierung in ›»Weihnacht!«‹,(82) 1897), als Komponist und Textdichter eines Musikstücks mit dem Titel ›Gebet der Mutter für ihren verlorenen Sohn‹.(83) Gleichgültig, ob Christiane May ein solches Gebet je gesprochen hat oder nicht – ihr Sohn ist sieben Jahre nach ihrem Tode in der Lage des abgeklärten Helden, es ihr als vollzogen anzurechnen.

   Im Herbst 1893, in ›Der Kutb‹, gewissermaßen als Pendant zur spektakulären Wiedervereinigung des Sohnes mit dem Vater in ›Christ ist erstanden!‹, geht er noch einen Schritt weiter: Hier konstatiert er, nachdem der temperamentvolle Vater Girard den verlorenen Knaben glücklich gerettet und nach Hause gebracht hat, Das Entzücken der Mutter beim Wiedersehen ihres entführten Kindes ist nicht zu beschreiben!(84) Jener Vater Girard aber ist, wie die andere Vaterfigur in ›Der Kutb‹, Abu Gibrail, eine solch märchenhafte Glorifizierung Heinrich Mays, daß das Entzücken der Mutter auch nur als märchenhafte Verklärung anzusehen ist. Der Autor Karl May weist der Mutter die gleiche beglückende Überhöhung zu wie dem Vater, weil er sich in Sachen ›Heimkehr von Spanien‹ inzwischen als Verzeihenden sieht und dem Mutterbild statt kühler Augen weiche Züge zubilligt.

   In Tehua Bender alias Kolma Puschi in ›Old Surehand III‹ (Herbst 1896) wird Karl May der täglich neuen Bewährung im harten Kampf ums Dasein unter rauhesten Umständen gerecht, wie Christiane May ihn ableistete und bestand. Die Mutter dominiert als die vom Schicksal Ungebrochene, die nicht Ruhe findet, bevor sie den verlorenen Sohn – der obendrein Fred, d. h. Fritz oder Friedrich heißt und damit des Autors zweiten Vornamen trägt – endlich wieder in die Arme schließen kann.

   Und im April 1897 gar zeichnet er in der Marienkalender-Geschichte ›Mutterliebe‹(85) eine zu jedem Opfer bereite Frau – Inbegriff eines Wunschtraums.

   Zur Reife gebracht wird das Mutterbild in Hanneh, in der alle idealisierten Frauen zusammenfließen und die im Orient – in ›Am Jenseits‹(86) (Herbst 1898 bis März 1899) wie in ›Im Reiche des silbernen Löwen III/IV‹(l902/03)(87) – die Schlüsselrolle einnimmt. Sie leitet unmittelbar über zur Mutter aller Mütter, die höchstens noch von Marah Durimeh überstrahlt wird, zur makellosen Mutter des Retters der Menschheit, des Dschirbani, jenes Seelengefährten des Kara Ben Nemsi, dessen große Aufgabe mit der Hinführung der Mutter zum Sohn erfüllt ist.

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Dennoch blieb der Riß in der Seele virulent – und er wird sichtbar in ›Mein Leben und Streben‹, wo sorgsam gehütete Tabus endlich gebrochen werden, wenn auch mit jener Kunst der ›entblößenden Verhüllung‹ und ›tarnenden Nacktheit‹, die Karl May in Jahrzehnten des Schreibens, gelenkt von untrüglichem Unterbewußtsein, kultiviert und verfeinert hat. In den vorhin zitierten Passagen vom Fortgejagtwerden eines verstört heimwärts Irrenden meinen wir den »Erlebniskomplex«(88) zu erkennen, der zur immer neuen Verarbeitung des Motivs vom verlorenen Sohn geführt hat. Die Fäden, die aus der Frühzeit her vom Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ durch das umfangreiche Erzählwerk hindurch hinüberführen bis zur Selbstbiographie von 1910, sind nicht zu übersehen. Sie bilden kein loses Geflecht, sondern ein festes Gefüge, das die gesamte Struktur des Verlorenen-Sohn-Komplexes in dessen innerer Geschlossenheit trägt. Und wenn wir ihr Gewebe gegen das Licht des Nacherlebens halten, gewinnen wir jenen verblüffenden Einblick in die innere Werkstatt, von dem Heinz Stolte gesprochen und geschrieben hat, die innere Werkstatt eines Autors, der erkannt hatte: Oft ist es ein eigenartiges Halbdunkel, in welchem sich die Seele befindet(89) und der von sich selber so bewegend sagte: Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre. Und der fortfuhr: meine Seele soll zu den Lesern reden.(90)

   Unser Befund – wir räumen es unumwunden ein – ist abhängig von der Glaubwürdigkeit unseres einzigen Zeugen Karl May, dem Magier des Offenbarens und des Verschleierns. Aber wir sehen keinen Grund, ihm zu mißtrauen, weil er uns bei unzähligen anderen Gelegenheiten bewiesen hat, daß stets die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit in seinen Erzählungen steckt.

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Die rücksichtslose Schwärzung des Mutterbildes aber nach so vielen Jahren der Mühe, es leuchten zu lassen, und nach der Apostrophierung Heilige ist so frappierend, daß es uns geraten erscheint, von dieser Stelle aus noch weiteren Überlegungen Raum zu geben. Unwillkürlich vermuten wir einen Deckmantel für etwas ganz anderes und suchen nach dem dahinter Verborgenen. Haben wir doch gelernt, daß Karl Mays eigenartige Texte gerade dann, wenn sie unterhalb der Deckschicht etwas Gravierendes offenbaren, noch anderes Gravierendes einhüllen.(91) Wie oft wird im Erzählwerk im Wechselspiel der Darstellung und je nach dem Bedarf des Autors Karl May der Täter zum Opfer, das Opfer zum Täter. Wie oft wird eigene Schuld geschickt kaschiert durch wortreiche Beschuldigung anderer.(92) Welche eigene Schuld hätte den Autor um diese Zeit drücken können?

   Wir meinen, eine ebenso einfache wie furchtbare Antwort gefunden


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zu haben: Ihn drückte die gleiche Schuld, die er der Mutter vorwarf. Das Bewußtsein dieser Schuld wollte er vor sich selber verbergen – es war die eine Wahrheit, die er nicht einzugestehen wagte, weil er sonst den Rest an Achtung verspielt hätte, den wohlgesinnte Zeitgenossen ihm noch entgegenbrachten. Nach unserem Verständnis erwuchs aus der Tragödie des Verstoßenwerdens 1869, der Tragödie des Opfers Karl May, eine zweite Tragödie, eine, in der er vom Opfer zum Täter wurde:

   Als er während des zweiten Teils der unheilvollen Orientreise, im Frühjahr und Sommer 1900, seinen Verdacht bestätigt fand, daß seine Ehefrau Emma nicht nur körperlich zunehmend kränkelte, sondern darüber hinaus einer Gemütserkrankung anheimgefallen war, sah er in ihr nur noch die Last, die Christiane May in ihrem verstörten Sohn gesehen hatte, – und wie einst die Mutter, so war er nicht bereit, diese Last zu tragen. Wohl hätte das ihm von der Mutter angetane Unrecht des Liebesentzuges ihn hindern müssen, einmal ähnlich zu handeln. Doch nicht nur der Vater hatte ihm Eigenschaften und Gaben vererbt; auch Charakterzüge der Mutter – ihre Energie, ihre Willensstärke, ihr Fleiß, ihre Entschiedenheit – waren ihm mitgegeben worden.(93) Wie die Mutter entschied er sich für das Ende mit Schrecken statt des Schreckens ohne Ende. Eigennützig verschloß er sich der Notwendigkeit, fürsorgliche Stütze zu sein für den Menschen, der ihn liebte und seiner Zuwendung mehr denn je bedurfte. Er stieß Emma aus seinem Leben.

   Die Schuld rührte unentwegt an seinem Gewissen – während er die Mutter im schriftstellerischen Werk mehr und mehr entlastete – und ließ ihn schließlich zurückfallen in den gebrochenen ›Maksch‹ mit dem Brandmal, der der verlorenen Liebe nachtrauerte.(94) Und als er in seinem kunstreichen Rechenschaftsbericht ›Mein Leben und Streben‹ im Schwenk der ihn schüttelnden Emotionen das Mutterbild verdunkelt, wird aus Emma das arme, unglückliche Weib.(95)

*

So hätten wir denn die Quelle seiner »ihm sonst fremden Rücksichtslosigkeit«,(96) die Claus Roxin ihm einst in Sachen seiner Ehescheidung treffend bescheinigte, aufgedeckt. Und hätten den Grund für das plötzliche Auftauchen, im letzten Reisewerk, einer bis dahin unbekannten Ich-Abspaltung mit Namen Max Pappermann, dessen Tragik und Stigma den Bogen schließt hin zum unvollendeten Versuch eines vom Liebesentzug Gebrandmarkten, im frühen Stadium seiner bemerkenswerten Karriere das Trauma abzuschütteln.

   Das Opfer Karl May, der Täter Karl May, der immer verlorene Sohn Karl May gewährt, wenn auch zögernd, uns Wohlmeinenden Einblick in seine innere Werkstatt – in seine Leistungen, seine Verstrickungen, sein immer von Unruhe, Ängsten und doch auch Mut erfülltes Ich. Gehen


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wir dabei behutsam vor, wenn er uns hineinschauen läßt. Verletzen wir ihn nicht noch mehr, als er zu Lebzeiten bereits verletzt wurde – durch andere und sich selbst. Und tragen wir ein Beunruhigendes stets in unserem Bewußtsein mit: Nie wird sich uns der Blick öffnen in die Werkstatt, die er nie betrat, nämlich die jener Werke, welche er geschaffen hätte, wäre ihm die Vollendung der so früh in Angriff genommenen Erzählung ›Der verlorene Sohn‹ und damit bereits vor 1880 die Befreiung gelungen. Vielleicht wären wir dann gar nicht hier versammelt.

*

Das Bild Karl Mays wird dank der Rührigkeit der nach ihm benannten Gesellschaft wahrscheinlich nie verblassen. Ebensowenig verblassen soll das Bild Heinz Stoltes, der diesen Versuch zur Erhellung einer Werkstatt im Menscheninneren inspirierte und dem wir immer Dank schulden. Dank schulden wie Karl May – und so schließt sich der Kreis –, weil wir dank ihm, dem verlorenen Sohn, nie verloren sind.



1 Heinz Stolte: Karl May und alle seine verlorenen Söhne. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1992. Husum 1992, S. 10-33

2 Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Ein Beitrag zur literarischen Volkskunde. Radebeul 1936; Bamberg 21979

3 Heinz Stolte: Der schwierige Karl May. Zwölf Aspekte zur Transparenz eines Schriftstellers. Husum 1989

4 Heinz Stolte: Brief an Martin Lowsky zum Thema ›Literatur und Psychoanalyse‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 40/1979, S. 3f. (3)

5 Herbert Meier: »Prinz Otto Victor, der Confusionsheinrich, der Studentenkarl und das Wiannerlinchen ...«. Ein Programm? Anmerkungen zu einem frühen Fragment-Text Karl Mays. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 96-109 (107, Anm. 19)

6 Eine zuverlässige Datierung verschiedener von Karl May hinterlassener Fragmente ist nicht möglich; auch der Schriftcharakter und das Format des von May verwendeten Papiers liefern keine klaren Belege. Anhaltspunkte bieten am ehesten noch Ausdruck, Stil, Geläufigkeit.

7 Karl May: Wanda. In: Der Beobachter an der Elbe. 2. Jg. (1875); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

8 Karl May: Der Samiel. In: Das Buch für Alle. 13. Jg. (1878); Faksimile in: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 43: Aus dunklem Tann. Bamberg 124. Tsd.

9 Karl May: Der Herrgottsengel. In: Weltspiegel. 3. Jg. (1879); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

10 Karl May: Der Teufelsbauer. In: Weltspiegel. 2. Jg. (1878); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

11 Karl May: Der Waldkönig. In: All-Deutschland/Für alle Welt. 3. Jg. (1879); Reprint in: Karl May: Der Waldkönig. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg 1980

12 Der Karl-May-Verlag, Bamberg, hat eine Veröffentlichung des Textfragments in Aussicht gestellt. Die Zitate hier folgen meinen seinerzeitigen handschriftlichen Notizen.

13 Mit Blick auf die Personen der Handlung und deren Konstellation zueinander sowie der zu erwartenden dramatischen Lösung der Konflikte und der Aufklärung der angedeuteten Geheimnisse (›Verlorener Sohn‹; Zigeunergrab; Wirt Fichtner als Schmuggler usw.) läßt sich vermuten, daß – umgerechnet auf den Satzspiegel der Freiburger Buchausgabe – etwa fünf Kapitel gleicher Länge bei einem Gesamtumfang von rund 80-90 Seiten vorgesehen waren.


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14 Siehe die ausführliche Schilderung der Ereignisse bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973, S. 13-23 – ebd. auch die Abhandlung des Juristen Erich Schwinge: Karl Mays Bestrafung wegen Amtsanmaßung, S. 130-36 – ebd. auch Abdruck der vollständigen »Untersuchungs-Acten des Königlichen Gerichts-Amtes Stollberg wider Carl Friedrich May (...)«, S. 137-210.

15 Karl May: Scepter und Hammer. In: All-Deutschland/Für alle Welt. 4. Jg. (1880); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1978 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 1: Scepter und Hammer. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987

Jahreszahlen bei den Titeln im Text (ggf. in Klammern) verweisen auf die Entstehungszeit des betreffenden Werkes. Vgl. Roland Schmid: Anhang (zu ›Auf fremden Pfaden‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984.

16 Sollte der fragmentarische Text (ungeachtet der erzählerischen Gewandtheit des Autors) v o r Karl Mays Bekanntschaft mit Emma Pollmer entstanden sein, so wäre der Vorname der Heldin ein sehr merkwürdiger Zufall; bisher belegbar hat May den Namen erst aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu Emma Pollmer in seinen Werken verwendet. Zudem wäre dann die Ablehnung des Helden durch das schöne Mädchen – ohne jegliche Beziehung zur Biographie des Autors – ein rein schriftstellerischer Kniff. Mit Blick auf die Handlungsdramaturgie (glaubwürdige Wandlung der Gefühle der Heldin) erscheint es zweifelhaft, ob Karl May als schriftstellerischer Anfänger entsprechenden handwerklichen und psychologischen Anforderungen gewachsen gewesen wäre (insbesondere weil er noch in späteren Zeiten seinen Frauengestalten ähnliches erspart hat).

17 Karl May: Auf der See gefangen. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1878); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1971

Werner Poppe vertritt die Ansicht, daß ›Auf der See gefangen‹ »vor ›Old Firehand‹ (1875/76) verfaßt worden« sei (Werner Poppe: ›Winnetou‹. Ein Name und seine Quellen. In: Karl Mays ›Winnetou‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989, S. 33-39 (33)). Vgl. dagegen Roland Schmid: »Nicht zu entscheiden ist die Frage nach der Entstehungszeit dieser Karl-May-Beiträge für ›Frohe Stunden‹.« (Roland Schmid: Anhang (zu ›Auf fremden Pfaden‹), wie Anm. 15, A 4).

18 Vgl. hierzu Albert Hellwig: Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems. In: Karl-May-Jahrbuch 1920. Radebeul 1919, S. 187-250 (198ff.); ferner Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 215-47 (236ff.) – Ders.: Zeitgenössisches über »Ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 110-21 (118ff.).

Karl May erlebte bei Gelegenheit seiner Sistierung in Böhmen einen ›Liebesentzug‹ besonderer Art: Er benannte seine einstige Geliebte Malwine Wadenbach als seine ›Tante‹ und als Zeugin für seine Identität als Albin Wadenbach in der Hoffnung, sie werde mit Verve zu seiner völligen Entlastung antreten. Die Illusion zerbrach jedoch, da Malwine Wadenbach ihn fallenließ (vgl. Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann«, S. 238, 240).

19 Der Ernstthaler Schmiedemeister Christian Friedrich Weißpflog, erzählgewandter Taufpate Karl Mays und ein für damalige Verhältnisse weitgereister Mann, könnte Teile der Handlung des Romans ›Scepter und Hammer‹ beeinflußt haben. Weißpflogs gefühlsmäßige Bindung an sein Patenkind hatte auch während Mays Straftäterzeit nicht gelitten (vgl. Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann«, wie Anm. 18, S. 226f.). Karl May bezeichnete seinen Paten (ebenso wie seine Großmutter väterlicherseits) als Inspirator seines Schaffens, als er unter dem Namen seines Freundes Richard Plöhn und unter dem Titel ›Karl May und seine Gegner‹ Ende September 1899 in der Dortmunder Zeitung ›Tremonia‹ Stellung bezog gegen die vom Redakteur Fedor Mamroth in der ›Frankfurter Zeitung‹ erhobenen Vorwürfe. Neuabdruck unter dem Titel ›May gegen Mamroth‹ in: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 131-52 (132f.).


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20 Karl May: Der Brodnik. In: Deutscher Hausschatz. XI. Jg. (1879/80); Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982

21 Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886-88; Reprint Hildesheim-New York 1971

22 Karl May: Die Felsenburg. In: Deutscher Hausschatz. XX. Jg. (1894); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1980 – Ders.: Krüger-Bei. In: Deutscher Hausschatz. XXI. Jg. (1895); ebd. – Ders.: Die Jagd auf den Millionendieb. In: Deutscher Hausschatz. XXII. Jg. (1896); ebd.

23 ›C-urty‹ und ›Fex‹ liefern Anklänge an ›C-arl‹ (die lange Zeit von May verwendete Schreibweise) und an ›F-ritz‹ (Friedrich), Karl Mays zweiten Vornamen. In Verbindung mit dem verlorenen Sohn Fex taucht ein Zigeunergrab auf (wie im Fragment ›Der verlorene Sohn‹). In Verbindung mit dem verlorenen Sohn Fritz gibt es die ›böse (Stief-)Mutter‹, die ihm in Haßliebe gegenübersteht.

24 Karl May: Die Juweleninsel. In: Für alle Welt. 5. Jg. (1881); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Gelsenkirchen 1978 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 2: Die Juweleninsel. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987

25 Karl May: Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882-84; Reprint Leipzig 1988ff.

26 Bei der Schilderung des Lebens der Briganten in den Pyrenäen und ihres ›Hauptmanns‹, der bei aller Verschlagenheit Züge menschlicher Größe zeigt und seinen ›Zögling‹ Mariano zu einem wahren Edelmann heranbilden läßt, greift May offenkundig zurück auf die ihm in seiner Jugend durch zahlreiche Räuberromane vermittelten Eindrücke, die ihn seinerzeit auch veranlaßten, in spanischen Räubern die Erretter der Einwohner von Ernstthal aus deren wirtschaftlichem Elend zu sehen (vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 73, 77, 79; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul).

27 Karl May: Die Liebe des Ulanen. In: Deutscher Wanderer. 8. Bd. (1883-85); Reprint Bamberg 1993 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 9-13: Die Liebe des Ulanen. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1994

28 Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86; Reprint Hildesheim-New York 1970ff. (Erwähnung des meinem Vortrag zugrundeliegenden Textfragments ›Der verlorene Sohn‹ in: Klaus Hoffmann: Vorwort (zu ›Der verlorne Sohn‹). In: Ebd., unpag.)

29 Siehe Anm. 14

30 Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1885-87; Reprint Bamberg 1976

31 Karl May: Deadly Dust. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977

32 Karl May: Giölgeda padiĘshanün. In: Deutscher Hausschatz. VII. Jg. (1880/81); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977

33 Karl May: Stambul. In: Deutscher Hausschatz. IX. Jg. (1882/83); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1978

34 Karl May: Der Geist der Llano estakata. In: Der Gute Kamerad. 2. Jg. (1887/88); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1983 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 1: Der Sohn des Bärenjägers. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992

35 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 109 – Metaphern solcher Art verwendet May häufig im erzählerischen Werk mit Blick auf erschütternde Ereignisse.

36 Vgl. ebd., S. 118.

37 Vgl. Walther Ilmer: Mit un-sicherer Hand zum sicheren Sieg. Karl Mays ›Old Surehand‹ als Werk der Kontraste. In: Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1995, S. 87-114.

38 Karl May: Der Scout. In: Deutscher Hausschatz. XV. Jg. (1888/89); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977


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39 Karl May: Kong-Kheou, das Ehrenwort. In: Der Gute Kamerad. 3. Jg. (1888/89); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 2: Kong-Kheou, das Ehrenwort. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988

40 Karl May: Die Sklavenkarawane. In: Der Gute Kamerad. 4. Jg. (1889/90); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984 – Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 3: Die Sklavenkarawane. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987

41 Karl May: Der Mahdi. In: Deutscher Hausschatz. XVIII. Jg. (1891/92); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1979

42 Karl May: Christus oder Muhammed. In: Regensburger Marienkalender. 26. Jg. (1891); Reprint in: Christus oder Muhammed. Marienkalendergeschichten von Karl May. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg 1979

43 Karl May: Der Kutb. In: Benziger's Marien-Kalender. 1895. In: May: Christus oder Muhammed, wie Anm. 42

44 Karl May: Christ ist erstanden! In: Benziger's Marien-Kalender. 1894. In: May: Christus oder Muhammed, wie Anm. 42

45 Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. In: Deutscher Hausschatz. XXIV. Jg. (1898); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1981

46 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894 – Ders.: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895 – Ders.: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896

47 Karl May: Der ‘Mir von Dschinnistan. In: Deutscher Hausschatz. XXXIV./XXXV. Jg. (1908/09); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1976

48 Karl May: Winnetou, Band IV. In: Lueginsland. Unterhaltungsblatt zur »Augsburger Postzeitung«. Nr. 88 (1909) – Nr. 36 (1910); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984

49 Die Frau des ›Finkenheiner‹ genannten Heinrich Weise verläßt im Roman Mann und Kinder wegen eines Liebhabers, der gesellschaftlich höher steht und vermögend ist, sich aber bald als moralisch verkommen erweist. Hans Wollschläger geht in seinem tiefschürfenden Essay ›»Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays‹ (in: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 11-92) von der Überlegung aus, Karl Mays Mutter Christiane May, geb. Weise habe während Karls früher Kindheit einen Liebhaber gehabt und seinetwegen Karl vernachlässigt. Grundsätzliche theoretische Erwägungen, die Mutter könne in ihrer Ehe frustriert gewesen und gefühlsmäßig an einen anderen (sozial höherstehenden) Mann gebunden gewesen sein – freilich ohne deswegen auch Ehebruch zu begehen –, finden sich sodann bei Walther Ilmer: Das Adlerhorst-Rätsel – ein Tabu? In: M-KMG 34/1977, S. 25-37. Eine ›Verirrung‹ Christiane Mays wäre aus ihrer Situation heraus verständlich und könnte die Grundlage für manche Personenkonstellation im Erzählwerk des Sohnes geliefert haben; jegliche Vermutung solcher Art ist jedoch klar als rein hypothetisch zu benennen, denn Dokumente irgendwelcher Art – oder auch nur überlieferte mündliche Berichte – in betreff außerehelicher amouröser Beziehungen Christiane Mays liegen nicht vor. Unabhängig davon ist mit Blick auf die Person des Finkenheiner von Interesse, daß sein Verlust des linken Armes möglicherweise seine Entsprechung findet in Heinrich Mays linksseitiger Lähmung nach einem Schlaganfall (1885, nach dem Tode Christiane Mays am 15. 4. 1885).

50 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 385*, Anm. 145 (Zitat aus dem Schriftsatz des Rechtsanwalts Haase, der May im Mittweidaer Prozeß 1870 als Pflichtverteidiger gestellt wurde)

51 Ebd.

52 Ebd., S. 79

53 Ebd., S. 92f. Die Seiten 80 bis 92 oben füllt Karl May mit Beschreibungen des Alltagslebens und Sonntagslebens in Hohenstein und Ernstthal, mit Betonung des Wirtshaustreibens, Rauchens und Trinkens unter sozial unwürdigen Verhältnissen. Der breite Plauderton läßt vermuten, daß es einer längeren Unterbrechung der Schilde-


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rung seiner ersten Reise bedurfte, da die Erinnerung ihn stark erregte und Ablenkung erforderte.

54 Vgl. Andreas Graf: »Habe gedacht, Alles Schwindel«. Balduin Möllhausen und Karl May – Beispiele literarischer Adaption und Variation. In: Jb-KMG 1991. Husum 1991, S. 324-63 (339).

55 Die Ähnlichkeit der Schilderung Karl Mays mit einer Textstelle bei Balduin Möllhausen ist nicht zugleich ein Beweis für Mays Erfinden s e i n e r Reise. Die Erfindung des ›Phonographen‹ durch Thomas Alva Edison 1877 ist kein Beweis dafür, daß ihm Aufzeichnungen des Franzosen Charles Cros zur Verfügung gestanden hatten, der die gleiche Art Sprechmaschine im selben Jahr als ›Parléophon‹ vorgestellt hatte. Der Franzose Soubeiran, der Amerikaner Samuel Guthrie und der Deutsche Justus von Liebig entdeckten unabhängig voneinander 1831 das Chloroform. Diese und ähnliche Koinzidenzen nebst zahlreichen Erfahrungen in meinem eigenen Leben lassen mir die Annahme berechtigt erscheinen, Karl May habe seine ›Reise nach Spanien‹ nicht kopiert oder erfunden, sondern buchstäblich so unternommen, wie er sie beschreibt.

56 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 9

57 Ich teile Hans Wollschlägers Auffassung (vgl. Wollschläger, wie Anm. 49), Karl May habe den ersten elementaren Schock bereits in früher Kindheit erfahren, mutmaßlich während seiner Blindheit. Es genügte ein nicht einmal hart oder gar böswillig gemeintes Zurückweisen des Kindes durch die überbeschäftigte Mutter – als das Kind sich ihr vertrauensvoll herankrabbelnd näherte –, um das hilflose Wesen seelisch tief zu verletzen. Der Aufenthalt eines Liebhabers in der Morgenfrühe im Hause May in der damaligen Niedergasse – wie Hans Wollschläger ihn zugrunde legt – hätte freilich die nächtliche Abwesenheit Heinrich Mays vorausgesetzt; dafür jedoch gibt es keinen Anhalt. Auch müssen Karls ältere Schwester Auguste (geb. 1. 12. 1837) und jüngere Schwester Wilhelmine (geb. 28. 5. 1844) wegen der beengten Raumverhältnisse ihre Schlafstätten in unmittelbarer Nähe gehabt haben, so daß von daher unliebsame Störungen für einen Liebhaber entstehen konnten. Der Ausgangspunkt für Wollschlägers Überlegungen, der Dialog Mutter/Sohn (May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 166), erlaubt meines Erachtens auch andere Zugänge zur Entschlüsselung; siehe den Versuch im nachfolgenden Text.

58 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 9

59 Die hier nicht im einzelnen wiedergegebenen Details der Schreckgebilde dürften für Psychologen ungewöhnlich aufschlußreich sein. Karl May beschreibt Angstzustände unter stärkster nervlicher Belastung: Ihm muß vor sich selbst gegraut haben – gleichsam als ob er den nahenden Wahnsinn oder eine Metamorphose in eine Art ›Mr. Hyde‹ befürchte (Robert Louis Stevenson beschreibt in seiner berühmten Erzählung ›Dr. Jekyll und Mr. Hyde‹ die schreckliche Persönlichkeitswandlung eines Menschen unter psychotischem Einfluß).

60 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 164-67

61 Vgl. Wollschläger, wie Anm. 49.

62 Siehe hierzu auch den ganz anders gelagerten Deutungsversuch bei Walther Ilmer: Karl May – Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 159ff. Die dortigen Überlegungen werden, im Blick auf Mays rein seelisch-therapeutisch bedingtes Schreiben, durch die im vorliegenden Beitrag vorgenommene Interpretation nicht gegenstandslos.

63 Vgl. Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann«, wie Anm. 18, S. 220, 226, 231, 236. Der von ihm genannte Weber Carl Barth (S. 231) könnte eventuell der von Karl May erwähnte heimliche Informant gewesen sein (May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 162f.).

64 Vgl. Wollschläger, wie Anm. 49, S. 22 und 86 (Anm. 29).

65 Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 383*, Anm. 140.

66 Vom südlichen Ende des (vormals so genannten) Leichenweges, der heutigen Bergstraße in Hohenstein-Ernstthal, mußte Karl May, um zu dem von seinen Eltern seinerzeit bewohnten Haus zwischen der Kantorei und dem damaligen Gasthof ›Zur Stadt Glauchau‹ zu gelangen, in der Tat ein nicht unbedeutendes Stück Weges schräg über den Markt hinüber, wie sich aus einer Ortsbesichtigung ergibt. Hans Wollschlä-


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ger (wie Anm. 49, S. 22) hält über den Markt hinüber nur dann für korrekt, wenn man an der Rückseite der Trinitatiskirche entlang und weitergeht bis zur damaligen Niedergasse, der heutigen Karl-May-Straße, so daß man auf Karl Mays Geburtshaus stößt. Gerade Mays Wort hinüber kommt dieser Deutung jedoch nicht unbedingt entgegen.

67 Vgl. Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann«, wie Anm. 18, S. 221f.

68 »Nach Amerika hinüber!« läßt sich hier nicht deuten als plumper Versuch Karl Mays, Amerikaaufenthalte vor 1908 zu suggerieren. Derartigen Versuchungen hat er gerade in ›Mein Leben und Streben‹ geflissentlich widerstanden, da seine angeblichen zahlreichen Auslandsreisen öffentlich als Schwindel entlarvt worden waren. Auch ein trickreicher Hinweis auf das im westlichen Landesteil Sachsens gelegene Dörfchen mit Namen Amerika liegt nicht vor, denn eine Flucht dorthin – in die unmittelbare Nähe von Penig, wo May 1864 als ›Dr. med. Heilig‹ und als Kleiderschwindler von sich reden machte – hätte nur Gefahren bergen können.

69 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 160

70 Ebd., S. 161

71 Diese Definition des Hinfindens zur Selbsterkenntnis kreiert Karl May in seinem Buch ›Im Reiche des silbernen Löwen IV‹ (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 195).

72 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 178f.

73 Siehe hierzu Walther Ilmer: Die Hütte im Walde – das »Wald-heim« vor Waldheim. In: M-KMG 95/1993, S. 45. Der dort zitierte Brief des Karl-May-Forschers Klaus Ludwig (Dresden) verweist auf die volkstümliche Benennung ›Koch's Hütte‹. Möglicherweise ist Hoppe in dem Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ daher nicht rein zufällig ›Koehler‹. Vgl. auch: Klaus Ludwig: Biographisches in Karl Mays »Die Liebe des Ulanen«. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 105/1995, S. 4ff.

74 Karl May: Des Kindes Ruf. In: Weltspiegel. 3. Jg. (1879); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

75 Ebd., S. 329

76 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 165

77 Vgl. Maschke, wie Anm. 14.

78 Rein hypothetisch, ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt und ohne daß ich selbst dieser Ansicht zuneige, sei angemerkt, daß Karl May das Textfragment ›Der verlorene Sohn‹ vielleicht (!) während der ersten Tage seiner dreiwöchigen Haft – vom 1. bis 21. September 1879 in Ernstthal –, dem spätestmöglichen Zeitpunkt überhaupt, zu Papier brachte und daß die versöhnlichen Besuche sowohl Emmas wie seiner Mutter eine Stimmungsänderung bewirkten. In bezug auf Emma freilich plagten ihn seinerzeit seltsame Träume. Siehe Roland Schmid: »Leckerbissen«. Karl Mays Atzung im September 1879 – von ihm selbst überliefert. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 11-19 (zur Inhaftierung Karl Mays im September 1879 siehe die in Anm. 14 erwähnten ›Untersuchungs-Acten‹).

79 Auffallend allerdings ist der Aufschrei des Prinzen Hassan Ardschir, einer Ich-Abspaltung Mays, nach guten Müttern in Mays Erzählung ›Die Todes-Karavane‹ (In: Deutscher Hausschatz. VIII. Jg. (1881/82), S. 204; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1978). Die Erzählung thematisiert meines Erachtens in Verschlüsselung Karl Mays ›Abstieg‹ ins Zuchthaus Waldheim.

80 Die zeitliche Folge der ›Negativ‹-Bilder Karl Mays im Erzählwerk 1888 bis 1890 erscheint bemerkenswert, da sie sich sonderbar mit Stationen seiner Biographie deckt:

Bloody-Fox in ›Der Geist der Llano estakata‹ (wie Anm. 34) zeigt die Rachegelüste des jungen Mannes.

Der bei aller Verworfenheit seltsam sympathische Sendador, ein halber Gelehrter (Karl May: El Sendador. Theil I: Lopez Jordan. In: Deutscher Hausschatz. XVI. Jg. (1889/90), S. 171; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1979), gleicht in vieler Hinsicht dem auf Tatzeugen und Geschädigte sehr sympathisch wirkenden Straftäter Karl May von 1864 u n d dem kühn zupackenden ›Polizeileutnant von Wolframsdorf‹ vom Frühjahr 1869.

In dem bedauernswerten Selim in der Mahdi-Erzählung (wie Anm. 41) porträtiert May den von daheim Verstoßenen.


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81 Karl May: In der Heimath (1892), derzeit noch unveröffentlichtes Manuskript (440 Seiten) im Archiv des Karl-May-Verlags, Bamberg, bildete ursprünglich das 1. Kapitel der Erzählung ›Krüger-Bei‹ (wie Anm. 22), wurde aber vom zuständigen Redakteur der Wochenzeitschrift ›Deutscher Hausschatz in Wort und Bild‹ eigenmächtig gestrichen und, ungeachtet des deswegen zwischen Autor und Redakteur entstehenden Streites, von Karl May nicht in die Buchausgabe ›Satan und Ischariot‹ (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen. Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897) eingegliedert. Diese 440 Handschriftseiten gehören zum autobiographisch Interessantesten (wenn nicht Brisantesten) in Mays Gesamtwerk: Der Ich-Erzähler Dr. K. May, Philologe und Linguist, Redakteur und Schriftsteller in Dresden, bekannt als Weltläufer unter den Namen Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, durchlebt eine schmerzhafte Liebesromanze, deren unglücklichen Ausgang er selbst verschuldet, und erstarkt daran, statt zu zerbrechen. Karl May nahm, wie das Manuskript erweist, die offene Gleichsetzung seines persönlichen Ich mit seinen beiden Helden also vor, noch e h e die ersten Bände seiner Gesammelten Reiseromane/Reiseerzählungen in Freiburg erschienen waren (die ihn in breitesten Leserkreisen bekannt machten und seinen Ruhm begründeten). Eine von Franz Kandolf bearbeitete, gekürzte Fassung des Textes ›In der Heimath‹ wurde 1927 vom Karl-May-Verlag, Radebeul, unter den Titeln ›Professor Vitzliputzli‹ und ›Wenn sich zwei Herzen scheiden‹ aufgenommen in Band 47 der Gesammelten Werke Karl Mays. Eine weitere von vornherein zum Scheitern verurteilte Liebesromanze, die den Ich-Erzähler in Verstrickung führt, schrieb Karl May dann ein Jahr nach ›In der Heimath‹ nieder in ›Winnetou I‹ (Anfang 1893), ein Indiz dafür, daß er die innere Konfliktlage, die zu ›In der Heimath‹ führte, noch nicht bewältigt hatte. (Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893).

82 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897

83 Zitiert nach Seite 1844 der Handschrift ›In der Heimath‹ (wie Anm. 81), mit freundlicher Genehmigung der Verlegerfamilie Schmid, Karl-May-Verlag, Bamberg.

84 May: Der Kutb, wie Anm. 43, S. 171

85 Karl May: Mutterliebe. In: Einsiedler Marien-Kalender. 1898. In: May: Christus oder Muhammed, wie Anm. 42

86 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXV: Am Jenseits. Freiburg 1899

87 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902 – Ders.: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903

88 Stolte: Brief, wie Anm. 4

89 Karl May: El Sendador. Theil II: Der Schatz der Inkas. In: Deutscher Hausschatz. XVII. Jg. (1890/91), S. 154; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1979

90 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 228

91 Die Ausführlichkeit der Darbietung in Form eines längeren Dialogs (ebd., S. 166) in dramatischem Ton wiederholt sich auf den Seiten 192f. bei der Konfrontation des Autors mit Emmas Großvater. Zur Schilderung des realen Sachverhalts hätten in beiden Fällen einige wenige Zeilen ausgereicht. Beide Male dient die Weitschweifigkeit dem Zuschütten peinigender Selbstvorwürfe mit Blick auf Emma.

92 Karl May: Frau Pollmer. Eine psychologische Studie. Prozeßschriften Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982 (wahrscheinlich Ende 1907/Anfang 1908 entstanden). Die dort gegen Emma vorgebrachten Tiraden sind in Wahrheit gegen des Autors eigenes Fehlverhalten gerichtet – und zugleich gegen seine Mutter, der er seine Fehlentwicklung anlastete. Näheres bei Ilmer: Karl May – Mensch und Schriftsteller, wie Anm. 62, u. a. S. 168, 214.

93 Entschiedenheit nebst Mut zu einem ›Ende mit Schrecken‹ bewies Karl May unter anderem in seiner zweimaligen Trennung von Münchmeyer (1877 und 1887) – dem Eintauschen bequemen Geldverdienens gegen wirtschaftlich ungesicherte Verhältnisse – um seiner Selbstachtung willen und, beide Male, um seine Herzensbindung an Emma zu stabilisieren. Auch gegen Anschuldigungen und Anfeindungen setzte er sich stets tapfer und temperamentvoll zur Wehr.

94 Karl Mays betonte Schilderung des Glücks seiner Ehe mit ›Herzle‹ Klara in ›Winnetou IV‹ (wie Anm. 48) hat nicht durchweg den Ton absoluter Aufrichtigkeit; hier und


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da klingt die Anstrengung durch. Anzeichen für Mays Gemütslage während der Niederschrift (1909/10) können möglicherweise gesehen werden in der Wahl des Pseudonyms ›Burton‹ für den Ich-Erzähler/Old Shatterhand und in der konsequent falschen Schreibung des Namens des Mörders Nscho-tschis, nämlich Sander statt Santer. ›Burton‹ gemahnt auffällig an ›burden‹, also Last, Seelendruck. Im falschen Burton steckt das t des richtigen Santer; und der falsche Sander trägt das d der wahren D-ruckverfassung des Autors: Der Schurke Santer ist der einzige der zahlreichen Gegner Old Shatterhands, der ihm an Geschick und Listenreichtum, an Kühnheit und Klarheit des Denkens gleichkommt, und der einzige, dem der Held nicht beizukommen vermag – ein schreckliches Negativ-Bild des in sich gespaltenen Autors, das an der eigenen Vermessenheit mit Schimpf und Schande zugrunde geht. In Nscho-tschis gewaltsamem Ende spiegelt sich die Horrorvision Karl Mays, seine Bindung an Emma – die ja seinetwegen im Mai 1877 die Heimat und den Großvater verlassen hatte, um in der fremden großen Stadt (Dresden), gerade wie Nscho-tschi, sich geistig weiterzubilden und des geliebten Mannes würdig zu sein – könne durch sein Verschulden unglücklich enden; in der Tat trägt Old Shatterhand mittelbar die Schuld an der Ermordung der Schwester Winnetous, da er die unheilbergende Reise nicht von vornherein verhindert hat, obwohl sie unter falschen Vorzeichen unternommen wurde (die bei der Niederschrift von ›Winnetou I‹ zutage tretende Präkognition mag zu denken geben). Auf Winnetou hatte Karl May lange Zeit idealisierte Züge der Lebensgefährtin Emma übertragen, und mit Nscho-tschis Tod verstärkte sich diese Besonderheit im Erzählwerk. Unter dem Einfluß Klara Plöhns, die systematisch die Trennung Karls von Emma betrieb und die Scheidung durchsetzte, fand Karl May nach ›»Weihnacht!«‹ (1897) nicht mehr zur Winnetou-Figur zurück. Die Gestaltung von ›Winnetou IV‹ ging dann zwar sicherlich auf Eindrücke der Amerika-Reise (1908) zurück, wurde aber maßgeblich dadurch beeinflußt, daß Karl May sich unerwartet seiner geschiedenen Frau Emma, obschon widerstrebend, noch einmal zuwenden mußte und seine Selbstgerechtigkeit, hinter der er sich nach der Scheidung (1903) zu verschanzen getrachtet hatte, 1909 beträchtlich erschüttert wurde: Sein Gegner Rudolf Lebius wollte die gemütskranke Emma für seine unehrenhaften Zwecke mißbrauchen, und Emma rief ihren Ex-Ehemann zu Hilfe (zu den Vorgängen siehe Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Stuttgart 1911. Prozeßschriften Bd. 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982). Während im Zuge der Niederschrift von ›Winnetou IV‹ das Negativ-Image des Nscho-tschi-Mörders noch einmal ersteht, schleicht sich die Schreibung Sander ein: S-a-n-d-e-r aber erlaubt die seltsame Rückverweisung auf S-e-n-d-a-d-o-r , ein Negativ-Bild des Autors, und auf S-a-n D-r, also ›Dr. Heilig‹ (siehe Anm. 68), also zweifach auf Karl May. Hat May sich in Tiefenschichten seines Ich als ›Mörder‹ Nscho-tschis, sprich Emmas, und im übertragenen Sinne also auch als Mörder Winnetous gesehen? Und somit als schuldig an seiner ersten Frau? Öffentlich Fehlverhalten gegenüber Emma zu bekennen, war ihm nicht möglich; er hätte sonst Lebius und anderen eine todbringende Waffe an die Hand gegeben. Aber das in ›Winnetou IV‹ errichtete wunderbare Winnetou-Denkmal kann als eine heimliche Hommage an Emma angesehen werden. Und aus Karl Mays Lebenssituation insgesamt erklärt sich, daß die das Buch tragende visionäre Kraft auch Töne von forciertem Optimismus ebenso aufweist wie Töne verklärender Resignation und daß dabei alles überlagert wird von des Autors Müdigkeit unter dem Geleitwort ›Schwanengesang‹.

95 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 280; ähnlich ebd., S. 282, 289

96 Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (111)


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