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›Der Kiang-lu‹ und der ›Pierer‹
›Chinoiserien‹ aus dem Lexikon. Zu Karl Mays Quellenbenutzung

Von Rudi Schweikert



I.

Untersucht man Karl Mays Gesamtstrategie der Quellenbenutzung, so wird man feststellen, daß er fast immer aus mehreren Referenzwerken Material übernahm, das er miteinander kombinierte. Man trifft also zumeist auf eine Quellenmixtur. Dabei sind oft auch Haupt- von Nebenquellen zu unterscheiden. Bei der Rekonstruktion der kompletten Quellensituation kann die Eruierung der kleinen Nebenquellen, aus denen May Einzelworte oder Begriffe, bestimmte Wendungen, feststehende Prägungen und kurze Sachzusammenhänge schöpfte, besonders vertrackt sein.

   Häufig hilft aber der einfache Griff zu einem Konversationslexikon. Der kann sich freilich doch als etwas komplizierter herausstellen, insofern man nämlich eine gewisse Nachschlagekombinatorik entwickeln muß, um zu Einzelnachweisen von Mays Benutzung zu gelangen. Ab und an allerdings bleibt das Ergebnis der Recherche zu uneindeutig. Doch immerhin wird in der Regel ein zeitgenössischer Horizont sichtbar, der Mays Texte für uns heute etwas transparenter macht.

   Um abzuklären, aus welchen Lexikonquellen Karl May jeweils Wissen bezog, ist grundsätzlich auf die ›Fluktuationen‹ zu achten, denen der Wortlaut bestimmter Artikel in den zeitgenössischen Nachschlagewerken unterworfen war. Zwar blieben des öfteren Aufbau und einige Formulierungen von bestimmten Stichwortartikeln nicht nur über diverse Auflagen eines Lexikons, sondern auch in verschiedenen konkurrierenden Werken erhalten – ob im ›Brockhaus‹, ›Meyer‹ oder ›Pierer‹. Aber andererseits gab es natürlich weitaus häufiger Abweichungen: Neue Informationen kamen hinzu und alte fielen heraus, aus Platzgründen oder weil sie überholt waren.

   Für unseren Fall der ›Chinoiserien‹, der Chinesisches zitierenden oder an Chinesisches anknüpfenden Partikel im ›Kiang-lu‹, wäre signifikant etwa ein Vergleich zwischen den Artikeln ›China‹ beziehungsweise ›Chinesische Sprache und Literatur‹ aus dem ›Pierer‹ in der 4. Auflage, die 1857 zu erscheinen begann, mit denen aus dem ›Meyer‹ der 6. Auflage, deren erster Band 1902 herauskam. Mit beiden Lexika könnte man die intellektuelle Lebensspanne Karl Mays gewissermaßen in enzyklopädischer Form umrissen sehen. Bezeichnend ist nun, daß man für den 1880 erstveröffentlichten ›Kiang-lu‹(1) im ›Meyer‹ der 6. Auflage überhaupt nicht fündig wird: Das zeitgenössi-


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sche Wissen über China hatte sich gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts, auch und gerade durch die politische Orientierung der europäischen Großmächte, rapide erweitert – die Veränderungen reichen bis hin zu so scheinbaren Geringfügigkeiten wie der Transkription der chinesischen Sprache, über welch letztere man mittlerweile mehr und Differenzierteres wußte.

   May nennt im ›Kiang-lu‹ die Titel einiger medizinischer Werke oder spielt auf den Bereich Naturgeschichte mit einem Titel an. Im ›Meyer‹ der 6. Auflage werden unter dem Stichwort ›Die chinesische Literatur‹ Medizin und Naturgeschichte ganz kurz summarisch ohne Titelerwähnungen abgehandelt. Nicht so im ›Pierer‹ der 4. Auflage. Dessen Informationen sind wesentlich detaillierter – und entsprechen bis in die Transkription der chinesischen Titel dem, was May geschrieben hat. Genaueres darüber gleich in Teil II.

   Zunächst einmal sind also die ›richtigen‹ Lexika in den ›richtigen‹ Auflagen für den zu untersuchenden May-Text herauszufinden. Die Such- und Prüfarbeit sollte dabei vom enzyklopädischen Monumentalwerk des 19. Jahrhunderts, dem ›Ersch-Gruber‹, der leider nur bis zum Buchstaben P gediehenen ›Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber‹ (1818 bis 1889 in Leipzig bei Brockhaus veröffentlicht) bis zu denjenigen Auflagen der bekannten Konversationslexika reichen, die gegen Ende von Mays Lebenszeit erschienen sind. (Auf den ›Ersch-Gruber‹ dürfte May beispielsweise für sein ›Aqua benedetta‹ beziehungsweise ›Ein Fürst des Schwindels‹ mit zurückgegriffen haben – eine umfassende Quellenstudie hierzu erscheint separat.)

   Eine beliebte ›Handbibliotheksquelle‹ Karl Mays war ›Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart‹. So auch für seine Erzählung ›Der Kiang-lu‹. Eine Hauptquelle war das Lexikon diesmal zwar nicht (wie beispielsweise im ›Ehri‹ (2)), wohl aber eine immer wieder herangezogene Stütze, wenn es galt, zusätzliche, wie nebenbei eingefügte, aber für die Stimmigkeit und Atmosphäre des Ganzen notwendige Plausibilitäten zu schaffen und kleine Lücken in der suggerierten Authentizität zu schließen, um den Leser die Würze vermeintlich echter Aura noch intensiver schmecken zu lassen.

   Die Hauptquellen, aus denen Karl May für seine Erzählung schöpfte, sind durch Ansgar Pöllmanns Darstellung bekannt. (3) Es handelt sich um die Bücher von Evariste-Régis Huc / Joseph Gabet: Wanderungen durch das Chinesische Reich. In deutscher Bearbeitung herausgegeben von Karl Andree. Leipzig 1865, und von Wilhelm Heine: Reise um die Erde nach Japan an Bord der Expeditions-Escadre unter Commodore M. C. Perry in den Jahren 1853, 1854 und 1855, unternommen im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten. Leipzig 1856. Neuere Un-


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tersuchungen von Bernhard Kosciuszko haben diesen Befund ergänzt. (4) Mays Sprachproben im ›Kiang-lu‹ wurden, in der Nachfolge einer Studie von Erwin Koppen, (5) von Walter Schinzel-Lang eingehender, aber äußerst ausgewählt besprochen. (6)

   Im folgenden stelle ich den Quellen-Anteil vor, der aus dem ›Pierer‹ nachweisbar ist, und zwar aufgrund von dessen 4. Auflage. Hie und da erwähne ich auch ›Pierer‹-Wissen, das im ›Kiang-lu‹ auftaucht, aber hinsichtlich seiner Quellenherkunft, weil zu wenig spezifisch, uneindeutig bleibt. Dennoch läßt sich so manches klären, was der bisherigen Forschung noch rätselhaft schien: einzelne Bezeichnungen, Schreibweisen (insbesondere Transkriptionen aus dem Chinesischen betreffend) und Wendungen. Eine bestimmte Häufigkeitsverteilung der ›Pierer‹-Einsprengsel wird nebenbei auch sichtbar.


II.

Auf Stapledon-Island entdecken der Erzähler Charley und sein Begleiter Kapitän Frick Turnerstick einen Chinesen, der sich in aussichtsloser Lage befindet, und das eigentliche Abenteuer der Geschichte vom ›Kiang-lu‹ beginnt. Die Parallele zum ›Ehri‹, an den diese Erzählung ausdrücklich angeschlossen wird, ist unübersehbar: Auch dort treffen westliche Seeleute mit dem Erzähler auf einer Insel einen in Gefahr befindlichen Vereinzelten aus – großmaßstäbig gedacht – jener Weltgegend, in der man sich gerade aufhält. Dessen Verstrickungen verstricken nun auch die Reisenden und zumal den Erzähler in Abenteuer.

   Der Erzähler befreit den leicht am Kopf und schwerer am Arm verletzten Chinesen aus seinem ›Gefängnis‹ zwischen Steilwand und anbrandendem Meer und fragt ihn im Kuan-hoa – Anmerkung: Die Sprache der gebildeten Chinesen (S. 108). Aus dem ›Pierer‹ respondiert: »die Sprache der Beamten u. Gebildeten (Kuan-hoa)« (P 41a). (7)

   Charley fragt den Chinesen nach seinem Namen (Kong-ni) und seiner Herkunft: »Aus Tien-hia ...« ... »Aus Kuang-tscheu-fu in der Provinz Kuang-tong.« (S. 108) Die Fußnoten dazu lauten: Deutsch: »Unter dem Himmel« oder auch »Welt«, wie die Chinesen ihr Reich nennen. Und: Canton. – Der ›Pierer‹ buchstabiert » T i a n - h i a (die Welt) « als eine der vielen Bezeichnungen für China (P 1a); ob -e- statt -a- ein Leseversehen ist? Eine Verlesung -e- statt -a- läßt sich, wie weiter unten zu sehen sein wird, bei der chinesischen Vaterunser-Wiedergabe jedenfalls eindeutig feststellen. Für die Provinz Canton schreibt das Lexikon einmal » Q u a n g t o n «, (8) für die Stadt Canton » K u a n g - t u n g - f u «, (9) beziehungsweise »C. hieß früher K u a n g - t s c h e u «. (10) – Die Bezeichnung ›Kuang-tong‹ für die Provinz Canton findet sich, für Mays Räuberbanden-Geschichte vielleicht bezeichnenderweise, im Zusammenhang mit


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einem Bericht über »zahlreiche u. kecke R ä u b e r b a n d e n«, die die Provinz um 1850 durchzogen (P 24b). Außerdem gibt es einen Artikel über die Provinz ›Kuangtong‹, aus dem zu entnehmen ist: »Hauptstadt ist Canton (eigentlich Kuangtscheufu od. Kuangtungfu genannt).« (11)

   Wenig später stellt der Gerettete den Erzähler auf die ›Wissensprobe‹: »Bist du ein Arzt? Kennst du das ›Tschang-schi-yi-thuny‹ und das ›Wan-ping-tsui-tschün‹?« fragte er mich. (S. 110) Es folgen die Erläuterungen in den Fußnoten: Deutsch: »Die ganze Heilkunde von Tschang-schi«, von Tschang-lu-yü, dem Sohne jenes berühmten Arztes, im Jahre 1705 herausgegeben. Und: »Der zurückkehrende Frühling aller Krankheiten.« Beide Bücher gehören zu den vorzüglichsten klassisch-medizinischen Werken der Chinesen. (Ebd.)

   Darauf der Erzähler, die Probe bestehend und, wie üblich, gleich noch eins draufsetzend: »Ich kenne beide, und auch den ›Yü-tsuan-itsung-kin-kian‹, antwortete ich, um ihm Vertrauen einzuflößen. In der Fußnote wird der Titel übersetzt und eine weitere Information hinzugefügt: Wörtlich: »Goldener Spiegel der Arzneikunst«, auch eines der klassischen Lehrbücher. (Ebd.)

   Dieses Detailwissen findet man wieder innerhalb des umfangreichen Artikels ›Chinesische Literatur‹ im ›Pierer‹. (12) Karl May hat aus den zahlreich aufgeführten Werken ausgewählt; ich gebe seine Auswahl im ›Pierer‹-Wortlaut wieder: »Größere medicinische Werke sind: Tschang-schi-yi-thung (die ganze Heilkunde von Tschang-schi) von Tschang-lu-yü, dessen Sohne, 1705 herausg. (...) Die eigentlichen klassischen Werke der Chinesen in der Medicin sind: (...) Yü-tsuan-i-tsung-kin-kian (goldener Spiegel der Arzneikunst); Wan-ping-tsui-tschün (der zurückkehrende Frühling aller Krankheiten) (...)« (P 39).

   Auffallend ist mehrerlei. Einmal, daß May aus einer Aufzählung von 15 klassischen medizinischen Werken und einem Sammelwerk nur drei auswählt. Zweitens, daß das erste ziemlich zu Anfang der ›Pierer‹-Aufzählung erwähnt wird und die beiden anderen weit später, aber nacheinander – May kehrt die Reihenfolge jedoch gerade um. Und zum dritten die Kleinigkeit, daß ein Lesefehler beim ersten zitierten Titel sich in den Druck geschlichen hat: -thuny statt -thung. Was deshalb erwähnenswert ist, weil solche Lesefehler bei den chinesischen Sprachproben des ›Kiang-lu‹, die durch den ›Pierer‹ verifizierbar sind, noch öfters vorkommen. Und viertens liegt hier, als im Text zum ersten Mal nachhaltig mit ›Chinoiserien‹ operiert wird, auch gleich das erste ›Nest‹ mit einer fortgesetzten Reihe von absichernden Orientierungen an Wissen, das im ›Pierer‹ wiederzufinden ist.

   »Erlaube mir, daß ich dich in der Sprache rufe, welche im Schin-tan gesprochen wird!«, meint Kong-ni etwas später, und die Fußnote erläutert: Schin-tan wird China von den Buddhisten genannt. (S. 113f.; später einmal Schin-ton (S. 259)). Das entspricht der ›Pierer‹-Information: »Das


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e i g e n t l i c h e C h i n a, (...) von den Buddhisten S c h i n - t a n (...) genannt« (P 1a).

   Nachdem der Erzähler bekundet hat, er reise in allen Ländern der Erde und er schreibe dann Bücher über das, was (er) gesehen, folgert Kong-ni: »So bist du nicht bloß ein Hieu-tsai [wohl Setzfehler: im Deutschen Hausschatz: Sieu-tsai] oder ein Kieu-jin, sondern ein Tsin-sse und hast Recht zu den höchsten Ehrenstellen deines Landes«. Die chinesischen Ausdrücke werden in der Reihenfolge ihrer Erwähnung in den Fußnoten folgendermaßen erklärt: »Blühendes Talent«, wie der Baccalaureusgrad genannt wird. – »Beförderter Mensch,« ungefähr Licentiat. – »Vorgerückter Mann«, so viel wie Doktor. Auf diesen drei Graden beruht die Anstellungsfähigkeit in China, und nur einem Tsin-sse werden vornehmere Aemter übertragen. (S. 114)

   In der Unterabteilung ›Staatswesen‹ des Artikels ›China‹ im ›Pierer‹ liest man, von Minimalia und leichten Umstellungen abgesehen, wörtlich das gleiche: » Die A n s t e l l u n g s f ä h i g k e i t z u S t a a t s d i e n s t e n beruht auf Staatsprüfungen; die Beamten gehen aus den drei gelehrten Graden hervor: Sieu-tsai (blühendes Talent, Baccalaureus), Keu-jin (beförderter Mann, Licentiat), Tsin-se (vorrückender Mann, Doctor); zu den höchsten Ehrenstellen berechtigt nur der Tsin-se-Grad; zu den Prüfungen werden alle Landeskinder ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, Religion od. dergl. zugelassen.« (P 5a) – Zum Vergleich: Der ›Meyer‹ in der 6. Auflage nennt, in abweichender Transkription, folgende »drei Grade: Ssiutsai (›Kandidat‹), Tschüyen (etwa ›Doktor‹) und Tschinschih (etwa ›Professor‹).« (13)

   Die Regelung einer uneingeschränkten Zulassung zur Prüfung mag May aufgrund seiner eigenen Situation des nicht mehr Zugelassenen besonders lockend erschienen sein. Und zwar als so verführerischer Freiraum, daß er sich dann auch im wirklichen Leben eine chinesische Graduierung anmaßte (Doktortitel oder noch höher). (14)

   Das Moment des Höherrangierens folgt in der Erzählung sofort, als Kong-ni Kapitän Turnerstick als Ti-tu einstuft; Fußnote: Ein Ti-tu ist ein Admiral. (S. 115) Der ›Pierer‹ gibt »Thi-tu (unserm General der Infanterie od. Cavallerie entsprechend« (P 5b), mit der späteren Erläuterung: »doch existirt kein Unterschied zwischen Land- u. Seedienst, ein General wird ohne weiteres Admiral« (ebd.).

   Kong-ni macht dem Erzähler aus Dankbarkeit den Vorschlag, Sohn eines Fu-yuen zu werden, eines Unterstatthalters. Ein Fu-yuen ist der erste Beamte des Tsung-tu, den wir in Europa Vizekönig zu nennen pflegen, und hat die ganze Civilverwaltung einer Provinz in der Hand. (S. 120f.) Dazu der ›Pierer‹: »Die größeren Provinzen haben einen V i c e k ö n i g od. G e n e r a l g o u v e r n e u r (Tsung-tu) (...)«. Diese Generalgouverneure »sind in Civilangelegenheiten durch den Gouverneur (Siün-fu od. Fu-yan) (...) beschränkt, welcher im Verein mit dem


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Provinzialrichter (...) den Rath des Vicekönigs bildet.« (P 4b) – Hier spricht die andere Schreib- und Ausdrucksweise Mays (Fu-yuen für Fu-yan und Unterstatthalter anstelle von Gouverneur) zumindest für eine gemischte Herkunft aus wenigstens zwei Quellen, wenn nicht für Huc-Gabet als alleinige Quelle. (15)

   Dem Glauben nach sei der Erzähler, meint Kong-ni, ein Tien-tschu-kiao mit der Erläuterung: Wörtlich: »Religion des Himmelsherrn«; so wird von den Chinesen die christliche Religion und so wird von ihnen auch jeder einzelne Christ genannt. (S. 121) – Im ausführlichen Artikel, der Chinas Geschichte gilt, lesen wir: »1815 erfolgte die gänzliche V e r b a n n u n g d e r K a t h o l i k e n (T i e n - t s c h u - k i a o) « (P 2a/b).

   Dann wird China Tai-tsing-kun genannt, mit der Fußnote: Wörtlich: »Reich der sehr reinen Herrscherfamilie« – China (S. 121). Das deckt sich mit der ›Pierer‹-Angabe, daß China »nach der regierenden Dynastie T a i - t s i n g – k u n (Reich der überaus reinen Herrscherfamilie)« genannt werde (P 1a). Den Ausdruck ›sehr rein‹ verwendet der ›Pierer‹ ebenfalls: »Die gegenwärtige D y n a s t i e heißt t a i - t s i n g, d. i. die sehr reine; sie stammt aus der Mandschurei u. wurde durch Schun-tschi gegründet, welcher 1645 die Ming- od. Chinesische Dynastie stürzte.« (P 3b)

   Und es folgt das nächste kleine ›Nest‹ mit dem ›Pierer‹ als Referenzwerk: »Du hast wohl noch nie das Li-king gelesen, ›das Buch der Anweisung zum Benehmen für alle Klassen, an allen Orten und bei allen Gelegenheiten und in allen Erfahrungen des Lebens‹? Komm zu mir, und hole es dir! Oder soll ich es dir lieber schicken?« (S. 123) – Wir schlagen den Artikel ›Chinesische Literatur‹ auf und lesen das, was May schicklich in Anführungszeichen setzte, über eines der fünf Kings: » L i - k i n g (L i k i, L i, Ritualcanon), Anweisung zum Benehmen für alle Klassen an allen Orten u. bei allen Gelegenheiten u. in allen Erfahrungen des Lebens (übersetzt von Stanisl. Julien)« (P 36a).

   Sodann geht es wieder um den Fu-yuen, nachdem die Bezeichnung Hoang-schan für »Erhabene Hoheit« – der Kaiser gefallen ist (wofür der ›Pierer‹ »Ho-ang-ti (erhabner Gebieter)« setzt (P 3a)): Also ein pensionierter Beamter! Einflußreich aber mußte er sein, da er ein Mandarin des ersten Ranges war und zwei Pfauenfedern tragen durfte, während nur die vornehmsten Ko-lao – Fußnote: Erste Klasse des Dienstadels, aus welcher allein die Minister gewählt werden – deren drei, die Ta-hia-su – Fußnote: Zweite Klasse des Dienstadels, aus welcher die Vicekönige, Präsidenten etc. ernannt werden – deren gewöhnlich aber nur eine tragen dürfen. (S. 123f.)

   Dazu der ›Pierer‹: »den A m t s a d e l bilden die M a n d a r i n e n (portugiesisch für das chinesische Kuan), getheilt in: a) C i v i l m a n d a r i n e n, deren es an 15.000 gibt u. die wieder in mehrere Klassen zerfallen; aus der ersten (Ko-lao) werden die Minister, aus der zweiten (Ta-hia-su) die Präsidenten, Vicekönige etc. gewählt; sie unterscheiden sich


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durch die Anzahl Pfauenfedern (3, beziehentlich 1 die sie auf ihrer Mütze in ein achatenes Röhrchen gesteckt, nach abwärts hängend, tragen.« (P 3b/4a) Eine bestimmte Abweichung vom ›Pierer‹ ergibt sich jedoch an folgender Stelle: China sei, so May, auf dem Papiere ... ein außerordentlich despotisch beherrschtes Land (S. 222) – im Lexikon finden wir dagegen: »Die S t a a t s v e r f a s s u n g ist unumschränkt monarchisch, aber keineswegs despotisch« (P 3a).

   In der Erzählung geht es dann um die Abfassung einer wissenschaftlichen Arbeit: »Du sprichst unsere Sprache. Kannst du sie auch schreiben?« fragt Kong-ni. »Nur die Siang-hing, und das ist wenig genug.« Mit der Fußnote: »Rohe Bilder«, aus denen die Schriftsprache zusammengesetzt wird. (S. 124) – »Die ersten S c h r i f t z e i c h e n waren rohe Bilder (S i a n g - h i n g) der zu bezeichnenden Gegenstände; die Zahl derselben hat 200 nicht überstiegen. Diese konnten nicht lange ausreichen (...)« (P 41b).(16)

   »Du wirst eine Schrift verfassen, welche wir dem Ly-pu einsenden. – Fußnote: »Kollegium der Prüfungen und Ceremonien.« (S. 124) – May meint das, laut ›Pierer‹, » C u l t u r t r i b u n a l (Li-pu) für Gebräuche u. Ceremonien«. Der Schreibweise nach ist es aber die »R e i c h s k a n z l e i (Ly-pu), Tribunal für die Civilbeamten, deren Ernennung, Beförderung, Bestrafung, Entsetzung etc.«. (P 4a) – Die vom ›Pierer‹ etwas abweichende Schreib- und Ausdrucksweise legt an dieser Stelle wieder nahe, daß May entweder eine andere Quelle benutzt hat, sich auf eigene frühere und nun nicht korrekt verwendete Exzerpte verließ oder Quellen miteinander mischte. Im Verlauf der Handlung, als May eine Reprise dieser Kleinepisode einbaut, wird Ly-pu allerdings mit Kollegien der Ceremonien oder Reichskanzlei übersetzt.(17)

   Die Angaben übers Geld (S. 127ff.) gehen nicht auf den ›Pierer‹, jedenfalls nicht auf dessen vierte Auflage zurück. Auch die folgenden ›Chinoiserien‹ haben andere Quellenherkunft oder nur einen etwas verschwommenen Bezug zum ›Pierer‹. Der kann aber aufschlußreich sein – wie im folgenden Fall.

   Wie May zu der von ihm höchstwahrscheinlich erfundenen Titel-Kombination ›Pen-tsao-y-jin‹ – »Naturgeschichte der Fremdlinge« – (S. 130) gekommen sein mag, erhellt innerhalb des Artikels ›Chinesische Literatur‹ im ›Pierer‹ die Abteilung ›N a t u r h i s t o r i s c h e w e r k e‹: ›Pen-tsao‹ ist als Ausdruck für Naturgeschichte dem Sprachlaien ›ermittelbar‹, wenn man die anschließenden chinesischen Ausdrücke und ihre deutschen Bezeichnungen miteinander vergleicht, die freilich keine wörtlichen Übersetzungen sein müssen, sondern auch Gattungsbezeichnungen sein können: »Pen-tsao-kang-mu (allgemeine Übersicht der Naturgeschichte)«, »Ta-kuon-pen-tsao (Naturgeschichte der Jahre Ta-kuon)« und »Pen-tsao-pi-yao (das Nothwendigste aus der Naturgeschichte)« (P 39a).


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   Auch der andere Titel ›Hio-thian-ti‹ – »Studium des Himmels und der Erde« – (S. 130) läßt sich auf der ›Pierer‹-Basis zusammenstellen. »Das große Fest im Tempel des Tian (Himmel) u. Ti (Erde) zu Peking« wird erwähnt (P 6b), außerdem – unter dem für May ebenfalls interessanten Stichwort ›G e h e i m e g e s e l l s c h a f t e n‹ – die » B r u d e r s c h a ft d e s H i m m e l s u. d e r E r d e (Tian-ti-hui)«. – ›Hui‹ nimmt May übrigens in diesem Sinne für »Körper- oder Genossenschaft« (S. 142) beziehungsweise Verbrüderung (S. 228), als Bezeichnung der Gesellschaft der Flußpiraten. Aufgrund der Titel »T a - h i o (große Lehre)« (P 36a), »S i a o - h i o (kleine Lehre)« (P 36b) und »Tsu-hio-ki (Enzyklopädie für Studirende)« (P 40a) mag May auf die Bedeutung ›Hio‹ = ›Studium‹ geschlossen haben. Doch da die Schreibweise thian für tian (Himmel) von den hier angeführten ›Pierer‹-Stellen abweicht, liegt näher, für den von May gewählten Ausdruck Hio-thian-ti eine andere Herkunft anzunehmen. Relativierend ist freilich hinzuzusetzen, daß selbst innerhalb des ›Pierer‹ die Schreibweise variiert, also mal ›thian‹, mal ›tian‹, mal ›tien‹ steht.(18)

   Und weiter: Sse-hai = »Vier Meere« nennen die Chinesen ihr Land und sich selbst Sse-hai-dse d. i. »Söhne der Vier Meere.« (S. 134) – ›Pierer‹: »Sse-hai (die 4 Meere)« (P 1a); Wen-tschang-kun, Fußnote Mays: »Palast der wissenschaftlichen Ausarbeitungen.« (S. 136) – ›Pierer‹: »Wen-tschang (neue Schreibart)« (P 41b).

   Der Erzähler und sein Begleiter Turnerstick müssen sich gegen eine chinesische Übermacht zur Wehr setzen. Charley zückt zur Abwehr seinen von Kong-ni geschenkten Talisman: »Halt – sao-sao!« rief ich – mit der Fußnote: »Sachte, langsam!« (S. 186) – auch der ›Pierer‹ hat »sao-sao« unter seinen Sprachproben, gibt aber »allmälig« als Übersetzung an (P 41b).

   Der Talisman stellt sich als Rangabzeichen einer geheimen und wenig ehrenwerten Gesellschaft heraus. »Ein Yeu-ki,« ertönte es. »Er steht eine Stufe höher als der Dschiahur, der nur Tü-ßü ist!« Die Fußnoten erklären: Oberst und Oberstlieutenant (S. 186) – ›Pierer‹: »Yeu-ki (Oberst), Yün-hoei-ßü u. Tü-ßü (Oberstlieutenant)« (P 5b/6a).

   In den Reihen der Chinesen befindet sich ein Yng-pa-tsung, was in der Fußnote mit Lieutenant wiedergegeben wird (S. 194); auch der ›Pierer‹ hat »Yng-pa-tsung«, übersetzt jedoch mit »Fähnrich« (P 6a). Diese Bedeutung von ›Yng-pa-tsung‹ wird im Verlauf der Erzählung aber auch angeführt (S. 248): Fähnrich, Standartenträger.

   Der Oberste der Flußpiraten-Gesellschaft ist der Kiang-lu, der nun als Tsiang-ki-um bezeichnet wird, als der, laut Fußnote, Oberstkommandierende (S. 194); der ›Pierer‹ gibt innerhalb der Offiziersklassen-Aufzählung, aus der auch die anderen Bezeichnungen entnommen sind: »Tsiang-ki-um (General en Chef)« (P 5b).

   Sing und Ho-schang werden als niedere und höhere Klasse der Bon-


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zen von May angeführt (S. 216); vgl. dazu: »die Priester dieser Religion [= Lehre des Fo oder Buddha] sind die Bonzen (chinesische Seng od. Ho-schang), über 1 Million an der Zahl, die niederen sind unwissend (...); die Oberen (Ta-ho-schang) sind gelehrter, ihnen liegt ob, die Religionsbücher zu studiren«. (P 6b) Die Unwissenheit der Bonzen malt May in einer ganzen kleinen Episode aus (S. 152ff.).

   Charley trifft später auf einen Ho-schang und hält ihm vor: »Du bist als Ho-schang in einem Kloster gewesen und hast dort das Schan-hai-king und das Hoan-yü-ki studieren müssen; auch das Fo-kue-ki muß dir bekannt sein, und du willst nicht wissen, was ein Dschiahur ist?« Die Fußnoten erläutern nur zwei der drei Buchtitel: »Buch der Berge und Meere.« Sowie: »Beschreibung der ganzen Erde,« eines der besten geographischen Werke Chinas (S. 217f.). Schon zuvor (S. 173) wurde erklärt, daß die Dschiahurs ein mongolischer Stamm seien.

   Hier häufen sich wieder die mit dem ›Pierer‹ abdeckbaren Angaben. Aus dem Lexikon erfahren wir: »Das älteste kosmographische Werk ist das Schan-hai-king (Buch der Berge u. Meere), in 18 Büchern, voll fabelhafter Nachrichten.« Kein sonderlich gutes Argument für Charleys Vorwurf an den Ho-schang, möchte man meinen. – »Das Hoan-yü-ki (Beschreibung der ganzen Erde) von Lo-ße-teng, eines der besten älteren geographischen Werke, erschien zuerst 976-84 u. wurde 1736-96 zum zweiten u. 1803 zum dritten Mal unverändert herausgeg., u. hat noch die Eintheilung des Reichs in 13 Statthalterschaften, die in 172 Büchern beschrieben werden; von B. 172-200 erzählt es unter dem Titel Sse-yi von den damals den Chinesen noch unbekannten Ländern.« (P 38a)

   Der Titel Fo-kue-ki bleibt bei May unerläutert – aus Versehen? Oder sollte beim Setzen aus dem Manuskript eine Fußnote Mays übersehen worden sein? Steht bei May auch keine Erklärung, der ›Pierer‹ gibt sie sehr wohl unter: »R e i s e b e s c h r e i b u n g e n, z. B. Fo-kue-ki, Reise einiger chinesischer Priester, 599-411 n. Chr. (französisch von Remusat 1833)« (P 38a). (19)

   Nur nebenbei: Man erinnert sich bei Remusat an eine Figur Mays aus ›Scepter und Hammer‹ – Manu-Remusat, den ägyptischen Schiffsführer. Der französische Asienforscher hier heißt Jean Pierre Abel Rémusat, war eine Koryphäe auf seinem Gebiet, geboren 1788 in Paris, studierte Medizin und Orientalische Sprachen, begründete 1822 die Société asiatique mit, fungierte ab 1828 als deren Präsident, lehrte Chinesisch und Mandschu am Collège de France, übersetzte aus dem Chinesischen, schrieb Abhandlungen über diese Sprache, verfaßte eine Grammatik des Chinesischen und starb 1832.

   Aber zurück: Der Ho-schang versucht, aufzubegehren. »So werde ich euch beim Hing-pu verklagen!« Fußnote: Justizministerium. (S. 218) – ›Pierer‹: »J u s t i z t r i b u n a l (Hing-pu)« (P 4a).(20)

   Danach schöpft May wieder aus anderer Quelle, nämlich aus Will-


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helm Heines Reisebeschreibung, (21) wenn es um die Scham-pans in Kuang-tscheu-fu geht, die schwimmenden Wohnungen, die May auch Sam-pans nennt (S. 220 und 224ff.) – der ›Pierer‹ hat die Schreibweise »Sampane«.(22)

   Später findet Sse-ma-kuang Erwähnung als Minister und Geschichtsschreiber (S. 279), und ausführlich wird aus seinem Buch zitiert (S. 280-86); die Zitate folgen Huc-Gabet.(23) Schinzel-Lang identifiziert ihn als »Sima Guang (1019-1086)«.(24) Der ›Pierer‹ führt aus: »Seit Sse-ma-tsian hat jede Dynastie die Geschichte fortsetzen lassen. Dies geschieht durch Gelehrte des inneren Collegiums (...), u. damit die Geschichte um so unparteiischer sein kann, so erscheint die Geschichte einer Dynastie stets erst unter der Regierung der folgenden (...). Diese Sammlung (...), von 2637-1644 reichend, besteht gemeiniglich aus 416 Heften, in 61 Pappenumschlägen vertheilt. Aus dieser großen Sammlung machte Sse-ma-kuang auf kaiserlichen Befehl einen Auszug, den er 1084 vollendete u. welchem der Kaiser Schin-tsung den Namen Thung-kian (allumfassender Spiegel) gab.« (P 38b, Hervorh. R. S.)

   Eine weitere Bezeichnung aus der Offiziersrangliste taucht noch auf: »Er ist ein Kuan-kiun-ßü«, mit der Fußnote: Ein hoher militärischer Grad; so viel wie Brigadier (S. 292) – ›Pierer‹: »Kuan-kiun-ßü u. Thsan-tsing (Brigadier)« (P 5b). Später folgt aus dem Bereich der Munizipalverwaltung der Begriff Pao-tsching mit der Erklärung Bürgermeister (S. 305). Das korreliert mit der ›Pierer‹-Angabe zu »Gemeindebeamte (Pao-tsching u. Li-tschang)« (P 4b).

   Nun sind wir bald am Ende der Erzählung, und es wird Zeit, daß Karl May mit einem seiner fremdsprachlichen Paradestücke herausrückt und es in die Handlung seiner Geschichte effektvoll rührend verwebt. Er macht's wie üblich: Jemand, der das Vaterunser in einer fremden Sprache spricht, muß gerettet werden.(25) Einem in Lebensgefahr geratenen Christen muß beigestanden werden, damit sich wieder mal erweise, daß die anderen Religionen letztendlich unausweichlich ›schwächer‹ sind als die christliche.

   Der Kiang-lu hat seine Frau, die der christlichen Religion anhängt, in ein brunnenähnliches Loch gesteckt, um sie ihrem Glauben abspenstig zu machen (eine gewisse biblische Parallele mag, wer will, in der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern erkennen). Der Erzähler entdeckt das Loch, wirft einen Stein hinein (nein: Ich ließ einen Stein hinabgleiten – immer schön vorsichtig), und die Frau ruft von unten herauf: »Ich fluche deinem Fo und deinem Buddha; ich will lieber verhungern, als meinem Tien tschu untreu werden. Ich bete ›Tsei thian ago-teng fu tsche, ago-teng yuan örl ming kian-schiny!‹ und er ist mächtig; er wird mich erretten, wenn es ihm gefällt!« (S. 296f.) Die Fußnoten erläutern ›Tien tschu‹ als »Herrn des Himmels« – zuvor stand schon einmal ›Tien-tschu‹ für Himmelsherr (S. 250; mit Druckfehler: Tien-tsch) – und den


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Beginn des Vaterunsers: Wörtlich: »Bist-im Himmel unser Vater welcher; wir wünschen Deinen Namen heilig-sein.«

   Dazu gibt der ›Pierer‹ folgende Informationen: »Als nun später die Jesuiten in Ch[ina] der Römisch-Katholischen Confession Eingang zu verschaffen suchten, verbot ihnen Papst Benedict IV. den Ausdruck Schang-ti u. befahl ihnen, um sich von den Deisten zu unterscheiden, den Gebrauch des Wortes Tien-tschu, d. h. Herr des Himmels (woran auch heutzutage noch die Chinesen erkannt werden, welche sich zur Römisch-Katholischen Kirche bekennen (...)), wogegen die protestantischen Missionen das Wort Gott entweder mit Schen-ti od. Schang-ti übersetzen.« (P 25a) – Man sieht, wie zuvorkommend korrekt May seine katholische Klientel im ›Deutschen Hausschatz‹ bediente.

   Den Abschluß des Artikels ›Chinesische Sprache u. Schrift‹ bildet der Passus, den May Wort für Wort übernommen hat: »Der A n f a n g d e s V a t e r u n s e r s lautet: Tsai thian ngo-teng fu tsche, ngo-teng yuan örl ming kian-sching, d. h.: bist-im Himmel unser Vater welcher, wir wünschen deinen Namen heilig-sein.« (P 42a)

   Hierdurch bestätigt sich die Vermutung Schinzel-Langs (der diese Wiedergabe des Vaterunser-Anfangs diskutiert), daß »Fehler des Setzers beim Übertragen des in deutscher Schrift abgefaßten Manuskriptes entstanden« seien).(26) Eine weitere Vermutung Schinzel-Langs hat sich ebenfalls erhärtet: »Darüber hinaus sind sicherlich auch allgemeine Nachschlagewerke wie etwa ›Mayers [sic!] Conversations-Lexicon‹ von Bedeutung, aus denen der Verfasser aber bislang noch keine direkten Zitate nachweisen konnte.«(27)


III.

Die Funktion der Lexikon-Zitate im ›Kiang-lu‹ ist klargeworden:

– Sie treten vorzugsweise in Dialogpartien auf und dienen der Anreicherung des Wortwechsels mit konkreten Details.

– Sie liefern Material für die von May besonders geschätzten fremdsprachlichen Ein-Wort-Einsprengsel sowie für kleine Frage-Antwort-Spiele im Zusammenhang mit dem bei May ubiquitären Motiv der Wissensprobe.

– Sie alternieren mit Zitaten aus den Hauptquellen, deren sich May hier bediente und die, im Gegensatz zu den Lexikon-Zitaten, zumeist für die Darstellung umfangreicherer Sachzusammenhänge benutzt werden.

Ansonsten sieht man jetzt deutlich, daß Karl May sich einer korrekten Übernahme des im Konversationslexikon vorgefundenen Wissens be-


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fleißigt hat. Aber das korrekte Übernehmen aus den benutzten Quellen dürfte auch bereits alles gewesen sein; Mays Chinesisch ist – mit Koppen zu reden(28) – »dasjenige eines ahnungslosen Dilettanten« ohne jede tiefergehende Sachkenntnis. Was jedoch – so wiederum Schinzel-Lang – Mays »Bemühungen, seiner Leserschaft eine anschauliche Vorstellung dieser doch so fremden Sprache zu liefern«,(29) keinen Abbruch tut.

   Auf der anderen Seite wird der bereits zeitgenössische Vorwurf entkräftet, May biete ›Unmögliches‹ – er bot, in bestimmten Fällen, ganz einfach nur lexikalisch Verbürgtes, dem er füglich vertrauen zu können glaubte.

   »Wenn uns ein bekannter Schriftsteller, dessen Namen ich nicht nennen will, in einem Reiseroman aufzubinden sucht, daß Pen-tsao i-jin Naturgeschichte der Fremdlinge und Hio thian ti Studium des Himmels und der Erde bedeute, obwohl erstlich Pen-tsao nie die Bedeutung Naturgeschichte hat und zweitens, selbst wenn es diese Bedeutung hätte, es an zweiter Stelle dieses Titels stehen müßte und analog bei Hio thian ti, so bekundet er dadurch, trotz seiner gegenteiligen Versicherung, daß er n i c h t chinesisch kann, stiftet jedoch weiter keinen Schaden, weil jedermann weiß, daß in Novellen mehr die Phantasie des Autors als die Genauigkeit der Thatsachen den Ausschlag gibt. Freilich sollte auch ein solcher Schriftsteller nichts Unmögliches bieten, wie im obigen Pen-tsiao i-jin, dessen Unmöglichkeit nur deshalb niemandem auffiel, weil die wirklichen Kenner des Chinesischen sehr selten sind.«(30)

   Pen-tsao als Naturgeschichte wiederzugeben, darin konnte May (nach den ›Pierer‹-Informationen, wenn man die Titelcharakterisierungen für Übersetzungen nimmt) ebensowenig Falsches oder Unmögliches sehen wie in der auf historischer Sprachstufe belegten Wortstellung.(31)

   Zudem baute May gerade in diese Erzählsequenz um Charleys akademische Schriften eine zusätzliche Absicherung gegenüber kompetenten Kennern des Chinesischen ein, indem er den Erzähler ausdrücklich darauf hinweisen läßt, wie er sich bemüht hatte, ... die ungereimtesten Dinge zu ersinnen (S. 130).

   Einige, darunter auch von Schinzel-Lang nicht verifizierbare chinesische Sprachproben sind durch den ›Pierer‹ immerhin buchstabengetreu nachgewiesen: ›Schin-tan‹ etwa, ein Begriff, bei dessen semantischer Analyse es heutzutage hapert,(32) oder die drei Prüfungsgrade, wodurch die Angaben bei Kosciuszko(33) präzisiert werden.

   Aber anderes läßt sich ebenfalls ergänzen. So wurde die von Koppen(34) kritisch herausgestellte zeitgenössische Ressentimentgeladenheit, die Karl May gelegentlich unterläuft, damals auch lexikalisch, zumindest im ›Pierer‹ festgeschrieben:


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Die j e t z i g e n E i n w o h n e r drangen ungefähr 3000 Jahre v. Chr. von Nordwest her in Ch[ina] ein. Sie sind eine von der kaukasischen Race durchaus verschiedene u. stammverwandt mit den Mongolen, die Mitte haltend zwischen dem leicht beweglichen Hindu u. dem muskulösen, fleischigen Europäer, gewöhnlich 5 Fuß hoch u. untersetzt; Dicke gilt für eine Zierde des Mannes. Rundes Gesicht, niedrige zusammengedrückte Stirn, kleine tiefliegende, weit auseinanderstehende (fast schielende) Augen, unbehaarte Augenlider, aber dichte Brauen, vorstehende Backenknochen, kleine Nase, kleiner dicklippiger Mund, kleines Kinn, kein Bartwuchs, das Gesicht im Ganzen höchst ausdruckslos, gelblicher od. krankhaft weißlicher Teint (bes. die Frauen), schlichtes schwarzes Haar. Sie sind fleißig, geschickt, höflich, gehorsam aber wollüstig u. unmäßig (bes. Opium), schmutzig, listig u. betrügerisch im Handel, bestechlich, feig, falsch, hinterlistig, rachsüchtig, unverträglich, nationalstolz, voll Verachtung gegen alles Fremde, festhaltend am Alten u. Hergebrachten, kalt gegen Unglückliche.(35)

*

Dieser Aufsatz wurde für die Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft geschrieben. Er gehört dort zu einer Reihe von ›Pierer‹-Studien des Verfassers.(36) Da die kleine Studie aber drei Jahrbuchbeiträge ausführlich ergänzt, erschien eine Aufnahme im Jahrbuch angezeigt.

*

1 Karl May: Der Kiang-lu. In: Deutscher Hausschatz. VII Jg. (1880/81); Buchausgabe in: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XI: Am Stillen Ocean. Freiburg 1894, S. 67-318; die den Zitaten nachgestellten Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Buchausgabe.

2 Karl May: Der Ehri. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80); Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XI: Am Stillen Ocean. Freiburg 1894, S. 1-60; vgl. Rudi Schweikert: ›Der Ehri‹ und der ›Pierer‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 99/1994, S. 39-48.

3 Ansgar Pöllmann: Ein Abenteurer und sein Werk. In: Über den Wassern. 3. Jg. (1910), Folge 3 und 5; bequem greifbar durch ›Karl May: Leben – Werk – Wirkung‹. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abt. I, Gruppe c: Presse-Auseinandersetzungen bis 1912, Heft 2 und 3 (Bad Segeberg)

4 Bernhard Kosciuszko: Illusion oder Information? China im Werk Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1988. Hamburg 1988, S. 322-40, und Jb-KMG 1989. Hamburg 1989, S. 146-77

5 Erwin Koppen: Karl May und China. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 69-88

6 Walter Schinzel-Lang: Fundierte Kenntnisse oder phantasievolle Ahnungslosigkeit? Die Verwendung der chinesischen Sprache durch Karl May. In: Jb-KMG 1991. Husum 1991, S. 287-323

7 Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Altenburg 41857-65

Die einzelnen Artikel des 4. Pierer-Bandes (1858), aus denen mit einem dem Zitat jeweils nachgestellten P mit Seitenangabe zitiert wird, sind:

China: S. 1a-30b
Chinesische Literatur: S. 35b-40b
Chinesische Sprache und Schrift: S. 41a-42a.

8 Pierer, wie Anm. 7, Bd. 3 (1857), Artikel ›Canton‹, S. 645a

9 Ebd.

10 Ebd., S. 646a

11 Pierer, wie Anm. 7, Bd. 9 (1860), Artikel ›Kuangtong‹, S. 868b


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12 Vgl. Anm. 7.

13 Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Leipzig-Wien 61902-08. Bd. 4 (1903), Artikel ›China‹, S. 41a

14 Vgl. etwa Hans Wollschläger: Karl May. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 72.

15 Vgl. Kosciuszko (1989), wie Anm. 4, S. 147f.

16 Vgl. auch Schinzel-Lang, wie Anm. 6, S. 290f.

17 May: Kiang-lu, wie Anm. 1, S. 262; vgl. auch Kosciuszko (1989), wie Anm. 4, S. 147.

18 May gibt auch den Ausdruck Tien-hio mit der Übertragung »Heilige oder himmlische Lehre.« (S. 152; mit Trennungsfehler: Bindestrich als Divis mißverstanden), ebenso Tien-wen, Fußnote: »Himmlische Litteratur.« (S. 121).

19 Wahrscheinlich statt 411 611 n. Chr.

20 Bei Kosciuszko (1989), wie Anm. 4, S. 147, ist die Schreibweise ›Hing-pu‹ (diese Schreibweise findet sich auch bei May und im ›Pierer‹) fehlerhaft: Das von ihm verwendete ›China Handbuch‹ (Hrsg. von Wolfgang Franke/Brunhild Staiger. Düsseldorf 1974) gibt richtig ›Hsing-pu‹ (Spalte 1612).

21 Vgl. den Nachweis bei Pöllmann, wie Anm. 3, S. 126ff.

22 Pierer, Bd. 3, wie Anm 8, S. 645b, vgl. auch (für May aber nicht einschlägig): Pierer, wie Anm. 7, Bd. 15 (1862), Artikel ›Schampans‹, S. 88a.

23 Nachweis bei Pöllmann, wie Anm. 3, S. 242ff.

24 Schinzel-Lang, wie Anm. 6, S. 290

25 Vgl. Schweikert: Ehri, wie Anm. 2; Ders.: Eins, zwei, drei: »Welch eine Ueberraschung! Das war ja das Vater unser!«. Ein artistischer Trick Karl Mays: Nachschlagen und erzählen. Vom Beten und Zählen in fremden Zungen. In: die horen. 40. Jg. Nr. 178 (1995), S. 45-52.

26 Vgl. Schinzel-Lang, wie Anm. 6, S. 295: ›ago‹ statt ›ngo‹, ›schiny‹ für ›sching‹.

27 Ebd., S. 294

28 Koppen, wie Anm. 5, S. 84

29 Schinzel-Lang, wie Anm. 6, S. 287

30 F. Kühnert: Das wirkliche China. In: Deutscher Hausschatz. XXV. Jg. (1899). Zitiert nach Gerhard Klußmeier: Karl May und Deutscher Hausschatz V. In: M-KMG 20/1974, S. 20

31 Schinzel-Lang, wie Anm. 6, S. 310f., führt das berühmte Kompendium aus dem Jahr 1596, das der ›Pierer‹ als erstes naturhistorisches Werk nennt, nach heutiger Transkription mit »Ben-cao gang-mu« und der Übersetzung »allgemeine Grundzüge der ›Wurzeln und Gräser‹« an.

32 Vgl. ebd. S. 287ff.

33 Kosciuszko (1989), wie Anm. 4, S. 150

34 Koppen, wie Anm. 5, S. 74ff.

35 Pierer, Bd. 4, wie Anm. 7, S. 2b/3a

36 Vgl. Schweikert: ›Ehri‹, wie Anm. 2; Ders.: Die Antwort steht im ›Pierer‹. Ergänzungen zu einem Beitrag von Joachim Biermann über Richard von Warwick in M-KMG 94. In: M-KMG 95/1993, S. 24ff.; Ders.: Schlag nach im ›Pierer‹ – erneut. Zu einer Stelle in Mays ›Waldröschen‹. In: M-KMG 98/1993, S. 46f.; Ders.: ›Der Boer van het Roer‹ und der ›Pierer‹. Karl May fährt mit dem Finger die Lexikonzeilen entlang, schreibt ab und imaginiert sich eins. In: M-KMG 103/1995, S. 28-36; Ders.: Der Heiduckenczakan. Ein weiteres Kapitel aus der Geschichte ›Was finde ich nicht alles in meinem ›Pierer‹?‹. In: M-KMG 103/1995, S. 39f.; Ders.: Karl Mays Islamkenntnisse – aus dem ›Pierer‹. Am Beispiel des Beginns von ›Durch die Wüste‹ (Und etwas über lexikographiehistorischen Wissenstransfer). In: M-KMG 104/1995, S. 34-39; Ders.: Der Ich-Erzähler als Bücherprotz. Karl Mays Motiv der Berufung auf gelehrte Bücher. Mit Hilfe des ›Buchs der Bücher‹, dem Lexikon. In: M-KMG 107/1996, S. 42f.; Ders.: Vom Starstechen oder Die Wonne des Aufzählens. Eine Kleinigkeit zur Quellensituation von Karl Mays Lieferungsroman ›Das Waldröschen‹. In: M-KMG 111/1997, S. 19. – Weitere Untersuchungen mit dieser Thematik folgen.

Über Mays Islamkenntnisse hatte ich geschrieben, daß »man bei der Frage, woher er sein Wissen nahm, leicht fündig« wird: »aus dem Konversationslexikon.« (a.a.O., 34). Helmut Lieblang in seiner ausgezeichneten Quellenstudie »Sieh diese Darb, Sihdi ...«.


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Karl May auf den Spuren des Grafen d'Escayrac de Lauture. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 132-204, paraphrasiert diesen Satz mit: »schreibt Schweikert etwas voreilig, daß May seine Islamkenntnisse aus dem Konversationslexikon nahm.« (S. 187). In dieser Ausschließlichkeit wurde dies, wie das obige Zitat zeigt, nicht behauptet.


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