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WERNER KITTSTEIN

Fiktion als erlebte Wirklichkeit:
Zur Erzähltechnik in Karl Mays Reise-Romanen
Teil I: Literaturwissenschaftliche Grundlagen –
Einzeluntersuchungen an Beispielen des Frühwerks und des Orientzyklus


(...) daß ein Schriftsteller nur dann etwas
Ordentliches schreibt, wenn er sich nicht
unter dem Einfluß eines persönlichen Ge-
fühls oder der Parteilichkeit befindet. Er
muß mit ruhigem, klarem Blick das Leben
im allgemeinen und die Menschen be-
trachten, sonst schildert er nur sein eignes
Ich, das niemand etwas angeht.

I. A. Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte(1)



1. Begründung und Ziel der Arbeit

In dieser Arbeit, die von einem interessierten Leser hauptsächlich für Leser der Romane Karl Mays verfaßt worden ist, wird nur insoweit vom Leben dieses Schriftstellers die Rede sein, als ›sein eignes Ich‹ eine literarische Umsetzung erfährt. Der ›empirische Autor‹(2) Karl May, der 1842 geboren wurde und eine problembeladene Kindheit hatte, die bei ihm offenbar schwere psychische Schäden verursachte; der mehrere Straftaten beging und dafür büßen mußte; der von Beruf Schriftsteller war, heiratete, sich scheiden ließ und wieder vermählte, schließlich 1912 starb: dieser Mensch wird kaum Gegenstand der Abhandlung sein,(3) dafür um so mehr sein Ich-Ideal in literarisierter Form, als Erzähler und als erlebende bzw. handelnde Figur. Dieses aus einem gigantischen Umschmelzungsprozeß entstandene, phantastische Wunschbild, das z. B. im Orient Kara Ben Nemsi heißt, soll hier im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die poetische Gestaltung dieses Wunschbildes, die literarische Formung des Tagtraumes ist sicher den allermeisten Lesern wichtiger und interessanter als der reale Autor May, der den Biographen und Psychoanalytikern Stoff zum Forschen und Schreiben liefern mag, aber ›sonst niemand etwas angeht‹.(4) Natürlich stelle ich den Zusammenhang zwischen dem Seelenleben des Autors und seinem literarischen Werk nicht in Abrede (für welchen Dichter überhaupt könnte man solche


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wechselseitigen Einflüsse leugnen?), werde ihn aber nur da thematisieren, wo er aus dem Wortlaut der Romane klar zu ersehen ist (z. B. in der Analyse der ›Todes-Karavane‹), und ausschließlich auf Karl May als Schriftsteller beziehen. Dementsprechend befasse ich mich in der folgenden Untersuchung mit den Texten Mays, speziell mit der Form, in der die mit ihnen vorgestellte Welt dem Leser gegenübertritt, um ihn teilnehmen zu lassen an einer ganz eigenartigen, letztlich nur in seinem eigenen Kopf existierenden Wirklichkeit; dabei liegt ein Schwerpunkt meiner Arbeit auf der Frage, wie weit das Erzählte tatsächlich als (fiktive) Wirklichkeit erscheint und wie sich der vermittelnde Erzähler zu ihr verhält.

   Die allgemein bekannte kontroverse Bewertung der ›eigentlichen‹ Reiseerzählungen und des ›symbolischen‹ Spätwerks spielt in dieser Arbeit keine Rolle. Im Mittelpunkt steht die erstgenannte Textgruppe, die ebenfalls nicht einheitlich beurteilt wird; neben allgemein gelobten Romanen, wie z. B. den meisten Bänden des großen Orient-Romans (mit Ausnahme wiederum der vermeintlich zu weit von der Haupthandlung abschweifenden Episoden), außerdem ›Winnetou I‹, ›Old Surehand III‹, ›Satan und Ischariot‹, ›»Weihnacht!«‹, stehen solche, die von der Mehrheit der Interpreten zwiespältig bis ablehnend behandelt werden, etwa ›Old Surehand I‹,(5) ›Im Lande des Mahdi‹ oder ›Im Reiche des Silbernen Löwen I/II‹. Seit längerem wird versucht, auch die frühen Erzählungen und die aus ihnen zusammengebauten Fehsenfeld-Romane, vor allem ›Old Surehand II‹, sowie die Marienkalender-Geschichten aufzuwerten, indem man sie unter neuen Gesichtspunkten interpretiert und beurteilt. Einen sehr guten kommentierenden Überblick darüber bietet die Große Karl-May-Biographie von Hermann Wohlgschaft in den Kapiteln, die die jeweiligen Texte besprechen.(6) Zwar habe ich manchmal den Verdacht, hinter diesen Bemühungen stehe das ausschließliche Motiv, nun aber auch jeden erreichbaren May-Text unter irgendeinem Aspekt noch aufzuwerten;(7) aber zumindest wird doch deutlich, wie facettenreich Mays Erzählwerk ist und wie gehaltvoll manche unscheinbaren Texte sind, liest man sie nur mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität.

   Doch obwohl in all diesen Arbeiten sichtbar wird, wie lebendig auch die Textinterpretation innerhalb der gesamten May-Forschung fließt, muß die betrübliche Feststellung gemacht werden, daß es über Formen und Entwicklung der Erzähltechnik in den Reiseerzählungen Karl Mays, die in Ich-Form geschrieben sind, bisher nur grobe Überblicke in Gesamtdarstellungen des Mayschen Werkes(8) sowie Abhandlungen zu Teilaspekten gibt, die sich außerdem überwiegend auf Elemente der Struktur beschränken.(9)

   Die Erzähltechnik im engeren Sinne, d. h. die Fragen, auf welche Weise May seinen Ich-Erzähler die erlebten Abenteuer dem Leser ver-


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mitteln läßt, welche Beziehungen zwischen dem Erzähler und dem handelnden bzw. erlebenden Helden bestehen, welche Stilmittel im einzelnen eingesetzt werden, wo und warum diese variiert werden und wie sie das Leseerlebnis beeinflussen, welche Bedeutung für den Grad der Authentizität, Fingiertheit oder Fiktionalität der Texte diese Erzählelemente, aber auch die Einbeziehung des Lesers haben – dies alles ist bisher noch nicht Gegenstand eingehender Analyse gewesen.(10)

   Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, daß May-Texte, die ihrer zeitlichen Entstehung nach eng zusammengehören, oft auffällige Unterschiede in der Verwendung gerade der erzählerischen Mittel, um die es hier geht, aufweisen. So enthält beispielsweise die Episode von Kara Ben Nemsis fast tödlicher Erkrankung an der Pest in der ›Todes-Karavane‹ so gut wie keine fiktionalisierenden Stilmittel, sondern bedient sich überwiegend der Formen des nüchternen Berichts, während sich die Gefangennahme durch Abrahim-Mamur in ›In Damaskus und Baalbeck‹ durch den geschickten Einsatz dieser Mittel auszeichnet und ungeheuer suggestiv wirkt; dabei wurden beide Texte innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums geschrieben.(11)

   Ich versuche darum, einen differenzierteren Zugang zu Mays Erzähltechnik zu gewinnen, indem ich ausgewählte Stellen aus Romanen, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, auf ihre fiktionalisierenden Stilmittel hin analysiere. Ich beabsichtige mit dieser Arbeit keineswegs, an Mays Werken diskurs-analytisch die poststrukturalistischen oder post-postmodernen Theorien zu exekutieren, wie es der literaturwissenschaftliche Jargon heute androht; ich möchte nur eine Beschreibung und Interpretation mir wichtig erscheinender erzählerischer Eigentümlichkeiten der Texte Mays sowie eine Analyse ihrer Entwicklung vom Früh- zum Spätwerk geben, um das Verständnis dieser abenteuerlichen Geschichten zu vertiefen und das Vergnügen an ihnen vielleicht noch zu fördern. So können stilistische Besonderheiten der Mayschen Ich-Romane deutlich werden, welche die auch unter diesem Aspekt außergewöhnliche Stellung des Werks innerhalb der erzählenden Literatur zeigen und die Theorie des Erzählens in dem einen oder anderen Punkt ergänzen mögen.


2. Erläuterung wichtiger erzähltechnischer Begriffe anhand von Beispielen aus Karl Mays Werk

Es gibt verschiedene, miteinander konkurrierende Theorien des Erzählens. Ich will von einem Aspekt ausgehen, der mir besonders geeignet erscheint, die Erzähltechnik in Mays Ich-Romanen zu beleuchten, deren besonderen Merkmale sich aus der vom Autor verbreiteten Fiktion ableiten, er sei mit dem Erzähler und dem Helden der Handlung sei-


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ner Romane identisch. Es handelt sich um das dichtungslogische System, das Käte H a m b u r g e r in ihrem anregenden und kontrovers diskutierten Buch ›Die Logik der Dichtung‹,(12) welches erstmals 1957 erschien, auf erkenntnistheoretischer Grundlage entwickelt hat; in diesem System sind der Er-Roman und der Ich-Roman kategorial voneinander geschieden.(13)

   Für Leser der Romane Karl Mays, die sich in der Terminologie der Erzähltechnik nicht auskennen, sollen jetzt einige wichtige Begriffe an Beispielen, die überwiegend May-Texten entnommen sind, dargestellt und erläutert werden. Es handelt sich um grundlegende dichtungslogische Begriffe nach Hamburger, sodann um die drei von Franz K. Stanzel unterschiedenen Erzählsituationen (auch Erzählhaltungen genannt), die zwei möglichen Sehweisen oder Perspektiven, die zwei Grundformen des Erzählens, die Funktion und Wirkung der Verben, welche innere Vorgänge bezeichnen, sowie um Wesen und Verwendungsweise des epischen Präteritums.

   Dieses Verfahren ist sicher nicht ganz unproblematisch, da solche Erzählelemente nur im Kontext des ganzen Romans den rechten Stellenwert erhalten und ihre spezifische Wirkung entfalten. Aber trotzdem soll auf diese Weise versucht werden, die allgemeine Bedeutung dieser Begriffe in einfacher Form verständlich zu machen. Zugleich kann damit schon hier ein Eindruck von der Vielfalt der von May verwendeten erzählerischen Formen vermittelt werden.


2.1. Begriffe aus Hamburgers ›Logik der Dichtung‹

2.1.1 Die echte Wirklichkeitsaussage(14)

Die ›echte Wirklichkeitsaussage‹ ist dadurch gekennzeichnet, daß das Aussagesubjekt (der Erzähler) durch seinen Ort in der Zeit definiert ist, daß es eine Aussage macht über etwas, was unabhängig davon, ob die Aussage gemacht wird oder nicht, existiert und daß das Ausgesagte zum Erlebnisbereich des Aussagesubjekts gehört und nur im Zusammenhang mit diesem gesehen wird. Dabei ist es unerheblich, ob der ausgesagte Sachverhalt real besteht (ob die Aussage also ›wahr‹ ist) oder phantasiert wird bzw. erlogen ist. Dem Schreibenden wird seine eigene Vergangenheit zum Objekt, über das er echte Aussagen machen kann.

   Ein Beispiel aus Mays Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹ möge dies verdeutlichen:

   Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Perso-


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nen: mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern und ich, der einzige Knabe.(15)

   Nachweisbar handelt es sich um den Autor Karl May, der dies schreibt. Die zu seinem Erlebnisfeld gehörigen Daten und Fakten sind in offiziellen Urkunden nachzuprüfen. Die Fakten würden auch dann gelten, wenn es die Autobiographie nicht gäbe, und sie werden von jedem Leser in Beziehung zum Schreibenden gebracht. Auch die Tatsache, daß dessen Angaben über die Familienmitglieder nicht dem Geburtsjahr, sondern einem späteren Zeitpunkt entsprechen,(16) ändert nichts an dem Aussagecharakter des Textes.


2.1.2 Die fingierte Wirklichkeitsaussage(17)

Die ›fingierte Wirklichkeitsaussage‹ ist eine Aussage über eine Als-ob-Wirklichkeit, eine vorgetäuschte, weder echte noch scheinbare; diese Aussage hat die Struktur der echten Wirklichkeitsaussage, in der ein Aussagesubjekt etwas über andere Personen, die der Leser aus dem Blickwinkel des Aussagenden sieht, mitteilt. Das ›Ich‹, z. B. im Brief- oder Memoirenroman, d. h. das fingierte Aussagesubjekt, objektiviert auch hier seine Vergangenheit und spricht von ihr in Form der echten Wirklichkeitsaussage. Das Vergangensein der Geschehnisse, von denen erzählt wird, bleibt dem Leser immer bewußt, da er sozusagen ständig das aussagende ›Ich‹ vor Augen hat, dessen vergangenen Erlebnisse auch er selbstverständlich nur als solche wahrnehmen kann.

   Hierfür ein Beispiel aus ›»Weihnacht!«‹, wo sich Karl May fast unverhüllt mit seinem Romanhelden identifiziert:

Es war am sechsten November, nach der letzten Vormittagsstunde, als ich zum ›Alten‹ gerufen wurde ... Ich klopfte an, trat ein und – – sah nichts, weil meine Augen nebelten. Es vergingen einige Augenblicke; der Nebel teilte sich, und ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich durchbohren wolle, vor mir stehen.

   »May!« erklang es in seinem tiefsten Baß.

   Ich verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat es gesehen und mir nichts darüber angedeutet.

   »May!!«

   Ich verbeugte mich wieder.

   »May!!!«

   Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken.

»Sie – – sind – – ja – – ein – – ganz – – –«

   Ich sah ihn so scharf an, daß er innehielt; beleidigen wollte ich mich auf keinen Fall lassen. Da lachte er und fuhr in einem ganz andern Tone fort ...(18)

Von einem bestimmten Zeitpunkt blickt der Ich-Erzähler auf ein früheres Stadium seines Lebens zurück und damit auf sein früheres ›Ich‹,


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über das als Objekt er eine Aussage macht. Für den Leser ist May als Kind keine eigenständige Persönlichkeit, also kein Subjekt, sondern bleibt eine vom Erzähler abhängige Figur. Sie wird nicht als eine selbständige Person erlebt, die nur im Akt des Erzählens zum Leben erwacht, sondern als Bestandteil des Lebenskreises, der dem erzählenden Subjekt als Aussagesubjekt angehört. Mit anderen Worten: Der junge May wird vom Leser als mit dem alten May identisch erfahren, nur eben in einem jüngeren Lebensalter; damit aber erscheint das erzählte Geschehen als ein vergangenes und kann – wie Hamburger meint – auch nicht im Akt des Lesens in eine vorgestellte Gegenwart erhoben werden.

   Ich habe diese Stelle aus ›»Weihnacht!«‹ ausgewählt, weil sie nicht nur den Begriff der fingierten Wirklichkeitsaussage, wie ihn Käte Hamburger darstellt, veranschaulicht, sondern zugleich auch die ›Versuchungen‹(19) der Ich-Erzählung (der realen wie der fingierten), sich in den Bereich der Fiktion hinüberzumogeln, zeigt. Diese Versuchung besteht hier in erster Linie in der Verwendung des Dialogs, der nach Hamburger eines der wichtigsten stilistischen Mittel fiktionalen Erzählens darstellt, da er das vergangene Geschehen am ehesten zu ›vergegenwärtigen‹ vermag.

   Ein hier nur am Rande zu erwähnender weiterer Grund für die Wahl dieser Stelle liegt in dem scharfen Blick, mit dem der junge May den Direktor zu einer sanfteren Sprechweise zwingt, einem Mittel, das auch noch dem angeblich (nach Meinung vieler Interpreten jedenfalls) von seiner Renommiersucht geläuterten alten May – z. B. in ›Schamah‹(20) – zu Gebote steht und schnell zu einer überlegenen Position verhilft.


2.1.3 Die fiktive Wirklichkeitsaussage(21)

Zur klaren Unterscheidung von den beiden vorhergehenden Formen soll noch kurz ein Beispiel für die ›fiktive Wirklichkeitsaussage‹, der die Aussagestruktur fehlt, betrachtet werden. Ich wähle eine Stelle aus ›Die Sklavenkarawane‹: Pfotenhauer hat den kleinen Ungarn examiniert und sich über ihn lustig gemacht. Da sprang der Kleine aus dem Boote an das Ufer und rief im höchsten Grimme: »Ja, Sie seinte dumm im Kopf, Ihrigen! ... Adieu, dobrau noc, poraucim se, gute Nacht, ich empfehle mich, leletak sa'ide, Allah jisallimak!« Er rannte davon. Der Graue sah ein, daß dieser Mann vielleicht ein Original war, den man als solches zu behandeln hatte. Es reute ihn, nicht nachsichtig, sondern fast grob gewesen zu sein. Darum rief er ihm nach, doch zurückzukommen. Das hatte keinen Erfolg.(22)

   Hier erzählt kein erkennbares Aussagesubjekt, dessen Existenz örtlich und zeitlich festzulegen wäre; im Vordergrund stehen die beiden


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handelnden Personen, die unabhängig vom ›Erzähler‹ existieren, aber nur so weit, als von ihnen erzählt – das heißt immer auch: gelesen – wird.

   Fiktionalisierende Elemente sind z. B. der Dialog (darin vor allem auch die fremdsprachlichen Brocken) und die Verben, die einen im Innern Pfotenhauers ablaufenden Vorgang, sein Denken und Empfinden, schildern: Dies läßt das Geschehen, obwohl es im Präteritum steht, für den Leser als ein gegenwärtiges erscheinen, es ist Illusion, d. h. scheinbare Wirklichkeit.


2.2. Erzählsituationen

Unter dem Begriff ›Erzählsituation‹ versteht man die Rolle des fiktiven Erzählers,(23) der nicht mit dem Autor identisch, sondern ein von diesem geschaffenes Medium ist; d. h. er verhält sich (scheinbar) eigenständig und kann über die Art, wie er dem Leser das Geschehen vermittelt, verfügen. Damit wird gleichzeitig die Rolle des Lesers, d. h. die Art und Weise, wie dieser das Erzählte aufnimmt und zu ihm steht, festgelegt.


2.2.1 Die auktoriale Erzählsituation

Als Beispiel für die auktoriale Erzählsituation diene der Beginn des 9. Kapitels von ›Der Schatz im Silbersee‹:

Sheridan war in der Zeit, in der unsre Erzählung spielt, weder Stadt noch Ort, sondern nichts als eine ambulante Niederlassung der Bahnarbeiter. Es gab da eine Menge von Stein-, Erd- und Blockhütten, höchst primitive Bauwerke, über deren Thüren aber zuweilen die stolzesten Inschriften prangten. Man sah da Hotels und Salons, in denen in Deutschland nicht der geringste Handwerker hätte wohnen mögen. Auch gab es einige allerliebste hölzerne Wohnungen, deren Konstruktion eine solche war, daß sie zu jeder Zeit abgebrochen und an einem andern Orte wieder zusammengesetzt werden konnten. Das größte dieser Gebäude stand auf einer Anhöhe und trug die weithin sichtbare Firma: »Charles Charoy, Ingenieur.« Dorthin ritten die beiden; sie stiegen an der Thür ab, neben welcher ein indianisch gesatteltes und aufgezäumtes Pferd angebunden war.

   »Uff!« meinte Winnetou, als er dasselbe mit leuchtendem Blicke betrachtete. »Dieses Roß ist wert, einen guten Reiter zu tragen. Es gehört gewiß dem Bleichgesichte, welches an uns vorüberkam.«

   Sie stiegen ab und banden ihre Pferde ebenfalls an. Es war kein Mensch in der Nähe, und als sie die Niederlassung überblickten, sahen sie der frühen Stunde wegen nur drei oder vier Personen, welche gähnend nach dem Wetter ausschauten. Aber die Thür stand offen, und sie traten ein.(24)

Dieser Kapitelanfang enthält eine Vielzahl von Elementen, die die auktoriale Erzählsituation charakterisieren. Gleich im ersten Satz macht


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sich der Erzähler als ›auctor‹, d. h. als Schöpfer, Erfinder seiner Geschichte bemerkbar, womit er zugleich den Leser anspricht und in die Geschichte einbezieht. Der Standort des Erzählers ist zunächst in der Höhe zu denken, aus der er den Ort der Handlung überblicken kann. Er teilt dem Leser aber nicht nur mit, was aus dieser Vogelperspektive zu sehen ist, sondern noch manches, was er einfach ›weiß‹; er weiß mehr als die Personen der Handlung, überblickt weite Zeiträume usw.; man spricht in diesem Falle vom allwissenden Erzähler, der seine Allwissenheit mehr oder weniger deutlich zeigen kann. Außerdem kommentiert er an der vorliegenden Stelle das Gesehene, wenn auch sehr zurückhaltend, durch die Wahl seiner beschreibenden Worte (etwas ironisierend: allerliebste) oder durch den Vergleich mit deutschen Verhältnissen. Er wechselt seinen Standort, nähert sich z. B. den Personen, von denen er erzählt, und läßt sie sprechen, wobei die Sicht von außen auf das Geschehen durchweg gewahrt bleibt; es kommt zu keinem Perspektivenwechsel. Der auktoriale Erzähler ist auch am durchdachten Aufbau des Textes klar zu erkennen: Nach einem historischen Hinweis erfolgt ein Überblick über die Örtlichkeit, der immer detaillierter wird, dann kommen die Personen in den Blick, schließlich wird zur Handlung übergeleitet. Das wichtigste der hier erkennbaren Merkmale der auktorialen Erzählsituation ist aber, daß der Erzähler sich in die Geschichte einmischt, indem er (an den unterstrichenen Stellen) Kommentare, Urteile und Wertungen abgibt.

   Da er somit für den Leser als eigenständige, vom Autor geschaffene Person sichtbar ist, spricht man auch vom persönlichen Erzähler oder der persönlichen Erzählweise (wobei ›persönlich‹ nicht mit dem nun folgenden Begriff ›personal‹ verwechselt werden darf).


2.2.2 Die personale Erzählsituation

In der personalen Erzählsituation wird das Bewußtsein von Romanpersonen, also deren Innenwelt, ohne erkennbare Einschaltung eines Erzählmediums wiedergegeben; das Bewußtsein spiegelt die Außenwelt unmittelbar wider und wird bruchlos in Handlung umgesetzt. Diese Darstellungsart gibt es über längere Strecken oder gar für einen ganzen Roman bei May nicht, obwohl sie eigentlich zu erwarten wäre bei einem Autor, der in seinen Texten sein inneres und äußeres Leben vielfältig verschlüsselt zu erzählen vorgibt. Wieweit an Einzelstellen in Mays Romanen von einer personalen Erzählsituation gesprochen werden kann, soll im Abschnitt III zur Sprache kommen. Darum sei in diesem allgemeinen Rahmen eine Stelle aus Alfred Döblins Roman ›Berlin Alexanderplatz‹ vorgestellt:


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Es regnete. Links in der Münzstraße blinkten Schilder, die Kinos waren. An der Ecke kam er nicht durch, die Menschen standen an einem Zaun, da ging es tief runter, die Schienen der Elektrischen liefen auf Bohlen frei in der Luft, eben fuhr langsam eine Elektrische rüber. Sieh mal an, die bauen Untergrundbahn, muß doch Arbeit geben in Berlin. Da war noch ein Kino. Jugendlichen unter 17 Jahren ist der Eintritt verboten. Auf dem Riesenplakat stand knallrot ein Herr auf einer Treppe, und ein duftes junges Mädchen umfaßte seine Beine, sie lag auf der Treppe, und er schnitt oben ein kesses Gesicht. Darunter stand: Elternlos, Schicksal eines Waisenkindes in 6 Akten. Jawoll, das seh ich mir an. Das Orchestrion paukte. Eintritt 60 Pfennig.(25)

Man merkt sogleich, die Einstellung des ›Erzählers‹ zum Geschehen ist eine ganz andere als im vorigen Beispiel – ja, es fragt sich, ob da überhaupt einer erzählt, ob der Leser nicht vielmehr das Geschehen um die Hauptperson Franz Biberkopf, das Geschehen mit und in ihr ohne jede Vermittlung eines Erzählers miterlebt. Geschildert wird, was Franz sieht und hört, aus seiner beschränkten Perspektive, und zwar in der Reihenfolge, in der er es bemerkt und gedanklich realisiert; entsprechend ungeordnet scheinen die Wahrnehmungen zu sein: Daß es regnet, kann noch ein Erzähler feststellen; aber Kinoschilder, Menschengedränge, Baustelle, Franzens Staunen und seine Schlußfolgerung, ein weiteres Kino, Plakat, Text und Bild, beschrieben bzw. zitiert in der Reihenfolge, wie Franz sie wahrnimmt, sein Entschluß zum Filmbesuch, Musik, Eintrittsgeld, das er erlegen muß, Franzens räumliche Bewegung: das alles bekommt der Leser nur mit, indem die wechselnden Eindrücke der erlebenden Person Franz, aus deren Sicht oder Empfinden, wiedergegeben werden. Dabei wechselt auch mehrfach die Perspektive von außen nach innen und zurück: visuelle und akustische Eindrücke werden beschrieben, Gedanken Biberkopfs: Urteile, Entschlüsse, Wertungen des gerade aus dem Gefängnis Entlassenen (»ein duftes junges Mädchen«, »ein kesses Gesicht«) werden mitgeteilt, Plakattexte werden zitiert. Der Leser ist gewiß irritiert, er muß dauernd zwischen Innen- und Außenperspektive wechseln, er weiß nicht immer genau zu sagen, ob ein Urteil von der fiktiven Person oder von einem Erzähler stammt, da die Gedanken nicht durch ein vermittelndes verbum dicendi (»dachte er« oder »fuhr es ihm durch den Kopf«) eingeführt werden. Wer auch immer erzählt, er tritt hinter die Romanperson zurück und erweckt im Leser den Eindruck, dieser befinde sich selbst in der Person Franz, schaue mit dessen Augen, höre und fühle mit ihm, denke seine Gedanken. Man sagt, der Leser nehme die ›persona‹, die Rollenmaske der fiktiven Figur an (daher der Begriff ›personale Erzählsituation‹).

   Zwei Merkmale sind für die personale Erzählhaltung besonders charakteristisch. Erstens: Der Erzähler, der als fiktive Figur durchaus mitzudenken ist, enthält sich in vielen Szenen jeder Stellungnahme und gibt keinerlei Kommentar ab, weder direkt noch indirekt durch seine


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Wortwahl; wenn dennoch kommentiert wird, kann der Leser oft nicht entscheiden, ob dies ein Erzähler oder die fiktive Person tut; man spricht daher auch von einem unpersönlichen Erzähler bzw. von unpersönlichem Erzählen. Zweitens: Es kommt zu einem häufigen Wechsel der Außen- und Innenperspektive, der den Leser zu konzentriertem Mitdenken zwingt.


2.2.3 Die Ich-Erzählsituation

Der Sonderfall der Ich-Erzählsituation, nämlich die Rahmenerzählung, in der jemand alte Aufzeichnungen findet, deren Inhalt er dem Leser mitteilt, ohne in dem berichteten Geschehen selbst aufzutreten,(26) kann hier fortgelassen werden. Interessant ist diese Erzählsituation in bezug auf May nur, soweit der Ich-Erzähler auch handelnde Person ist. Am häufigsten begegnet der Fall, daß das ›Ich‹ wie ein auktorialer Erzähler auftritt, so auch ganz überwiegend bei Karl May:

Ich legte mich also auf die andere Seite und hielt die Hände so, daß sie unserm Retter so bequem wie möglich lagen. Bald darauf wendete sich der Posten dem Feuer zu. Sofort fühlte ich, daß eine Messerklinge schneidend durch die Riemen ging und gleich darauf wurde mir das Heft in die Hand gedrückt. Mich rasch aufsetzend, zog ich die Füße an und schnitt dort auch die Riemen durch ... Jetzt war es grad, genau und ganz so gut, als ob wir alle schon auf unsern Pferden säßen und von hier weiter ritten! Ich hatte ja meine Gewehre! Aber ich wollte kein Blut vergießen, und so mußten wir uns noch eine Weile gedulden.(27)

Eine typische Ich-Erzählsituation, in der alles aus der Perspektive des Erzählers geschildert und das eigentümliche Wechseln zwischen Erleben und Erinnern bzw. Erzählen deutlich wird. Äußere Vorgänge (z. B. die Wendung des Wächters) und Gedanken des Erzählenden werden geschildert, wobei in den drei letzten Sätzen nicht eindeutig zu bestimmen ist, ob die Erleichterung über die sichere Befreiung dem erlebenden oder dem erinnernden ›Ich‹ zuzuschreiben ist. Interessant ist bei dieser Anlage der Erzählsituation, welche Lesereinstellung aufgebaut wird. Weniger das W a s der Geschichte (Gelingt die Befreiung?) als das W i e steht im Vordergrund: Der Leser kann genüßlich den Verlauf der Aktion verfolgen, er kann sie fast als ein Spiel auffassen, da er nicht nur durch die pointiert ausgesprochene Sicherheit des Erzählers weiß, daß alles gut ausgehen wird, sondern schon durch die Erzählsituation als solche für das Schicksal zumindest der Hauptperson keine Sorge zu haben braucht, muß diese doch auf jeden Fall am Leben bleiben, da sie ja erzählt. (Eine so überraschende Pointe wie am Ende der Erzählung ›In der Dämmerstunde‹ von Lord Dunsany, wo der Ich-Erzähler vorgibt, ein Tiger habe ihn gefressen, er sei also


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eigentlich ein echtes Gespenst,(28) gibt es bei May selbstverständlich nicht.)

   Ein sehr schönes Beispiel für die auktoriale Ich-Erzählsituation, bei der der Erzähler sein Allwissen, das aus der zeitlichen Distanz zu den Erlebnissen herrührt, benutzt, um sein Verhalten bei dem geschilderten Vorgang plausibel zu machen, gibt folgende Stelle aus ›Am Rio de la Plata‹: Der Erzähler wird von einem Bravo verfolgt. Ein Sombrero ragte hinter der Ecke der Gartenmauer hervor. Unter diesem Hute mußte ein Kopf, ein Mensch stecken. Der Mann sah, daß er bemerkt worden war. Ein Zurückweichen hätte seiner Absicht nur geschadet, denn es mußte unsern Verdacht erregen; darum wählte er das in dieser Lage Beste und trat hervor. Es war der Bravo, vor welchem ich von dem Yerbatero gewarnt worden war.(29)

   Der Mann sah – allenfalls das kann der Erlebende noch aus dessen Reaktion (Zusammenzucken o. ä.) erschließen. Was aber im Kopfe des Bravos vorgeht (dessen Absicht, die vermuteten Folgen seines eventuellen Fehlverhaltens, das aus seiner Sicht Beste), kann nur der Erzähler aus der zeitlichen Distanz des Rückblicks wissen, da er den weiteren Verlauf des Überfalls kennt.

   Noch deutlicher äußert sich der erinnernde Erzähler, wenn er einen Kommentar über sein früheres Verhalten abgibt und auf zukünftige Ereignisse vorausdeutet, wie an der folgenden Stelle aus ›Surehand III‹: Der klügste Mann begeht zuweilen eine Dummheit, und vielleicht grad dann, wenn er alle Veranlassung hat, klug zu sein. So auch wir! Von den andern will ich schweigen, aber daß wir beide, Winnetou und ich, diese Flasche unbeachtet ließen, das war eine geradezu unverzeihliche Nachlässigkeit von uns ... Ich kann mich noch heut über meine damalige Unachtsamkeit ärgern. Die Folgen traten freilich sehr prompt ein!(30)

   Damit wird die scheinbar beschränkte Sicht des Erlebenden erweitert zu der Sicht des Erinnernden, der aus der zeitlichen Distanz die weitere Entwicklung der Handlung überblicken kann. Die Funktionen eines solchen Vorverweises sind klar; er dient der Spannungssteigerung sowie der Versicherung, daß der Erzähler dieses Abenteuer tatsächlich erlebt hat.

   Bei May kommt auch ein Ich-Erzähler vor, der sich der personalen Erzählhaltung annähert, und zwar gar nicht so selten, wenn auch meist nur für Augenblicke; so z. B. in ›Winnetou III‹: ... kehrte ich nach dem Lagerplatze zurück. Als ich dort ankam, war kein Mensch da. Wo steckten die drei? Waren sie nur zum Spaße entschlüpft, um heimlich zu lauschen, was ich bringen würde? Oder waren sie miteinander noch einmal jagen gegangen? Ich rief und bekam keine Antwort. Ach, wenn sie wirklich fort wären! Aber ich mußte vorsichtig sein und suchte in aller Eile den Umkreis des Platzes ab. Da wurde es mir zur Gewißheit, daß sie sich wirklich entfernt hatten. Jetzt schnell an die Arbeit!(31)


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   Hier verbirgt sich der Erzähler für einige Momente hinter seinem erlebenden ›Ich‹, dessen fieberhafte Gedanken mitgeteilt werden, ohne daß dies zunächst durch einen entsprechenden Ausdruck (ein verbum dicendi) verdeutlicht wird. Es liegt ein mehrfacher Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive vor, der Erlebende kommt unmittelbar zu Wort. Aber sehr bald wird das Vorhandensein des Erzählenden dem Leser wieder bewußt gemacht.


2.3. Perspektiven

Unter der Außenperspektive in der Erzählkunst versteht man gemeinhin die Sicht auf die äußerlich wahrnehmbaren Ereignisse, den Schauplatz der Handlung sowie auf Äußerungen der Personen (z. B. in wörtlicher Rede), während mit dem Begriff Innenperspektive das Erzählen von Vorgängen im Innern einer Person, also von ihren Gedanken, Gefühlen, Empfindungen gemeint ist. Werden letztere durch wörtliche Rede im Dialog oder als Gedankenbericht durch den Erzähler wiedergegeben, so handelt es sich um Außenperspektive; kommen dagegen Gedanken einer Person direkt, unvermittelt zu Wort, etwa in der erlebten Rede oder im inneren Monolog, so liegt Innenperspektive vor. Im ersteren Fall befinden sich Erzähler und Leser scheinbar außerhalb der erzählten Welt und blicken aus einer gewissen Distanz auf sie; im zweiten Fall wird der Eindruck erweckt, sie befänden sich im Innern einer Person und dächten ihre Gedanken mit, ohne daß eine Distanz bewußt gemacht wird.

   Die Innenperspektive kann es nur in der personalen Erzählsituation geben; dem auktorialen Erzähler wird nämlich alles zur Außenperspektive. In gewisser Weise haben die früheren Beispiele die beiden Perspektivarten schon mit veranschaulicht, aber es sollen noch eigens Textstellen, in denen die innere Handlung mit Gedanken und Empfindungen der Personen im Vordergrund steht, vorgeführt werden.

   Die Beispiele werden wieder nach Mays Er- und Ich-Romanen gegliedert.


2.3.1 Die Außenperspektive im Er-Roman

Diese Perspektive wird an einem Beispiel aus dem ›Schatz im Silbersee‹ gezeigt:

Der Eindruck dieser Worte [sc. Old Shatterhands] war ein großer. Daß der berühmte Jäger es wagte, einer solchen Uebermacht gegenüber Drohungen auszusprechen, erschien den Roten ganz und gar nicht als ein wahnsinniges Beginnen; es imponierte ihnen. Sie wußten, daß seine Worte nicht leere Reden seien, sondern daß er sie zur Wahrheit machen werde. Die Frauen und Mädchen zogen sich, ohne


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einen Befehl dazu erhalten zu haben, zurück. Die Männer flüsterten einander halblaute Bemerkungen zu, wobei am deutlichsten die Worte »Old Shatterhand« und »das Gewehr des Todes« zu hören waren.(32)

Wie erfährt der Leser, welchen Eindruck Old Shatterhands Rede auf die Indianer macht: daß sie beeindruckt sind, daß sie seine Drohungen ernst nehmen und was sie an dem Weißen bewundern? Der Erzähler teilt es mit, entweder mit sachlichen Worten oder durch die Wiedergabe der wörtlichen Rede; dabei wird im vorliegenden Falle die Außensicht sogar doppelt angewandt: die Worte, die die Indianer sprechen, werden ausdrücklich als von einem Außenstehenden zu hörende bezeichnet. Die weiteren Informationen kann der Erzähler übermitteln, weil er weiß, was die fiktiven Personen denken, er ist der sogenannte allwissende Erzähler, wie er sehr oft bei der auktorialen Erzählhaltung auftritt.


2.3.2 Die Außenperspektive im Ich-Roman

Hier paßt ein Beispiel aus ›Old Surehand I‹:

Es schien ihm [sc. Old Wabble] nicht leicht zu werden, den Entschluß, den er gefaßt hatte, auszusprechen; er schlang und schlang; er drückte und drückte, um die Worte herauszubringen; er bewegte die Arme und Beine; er drehte und wendete den dürren Körper, als ob alle seine Knochen locker geworden seien; es wackelte und wabbelte jedes Glied an ihm, bis er endlich hervorstieß:

   »Ja ich will darauf verzichten, und mich unter Euch stellen; ...«

   Ja, er war der Mann, der sich niemals einem andern unterordnete; das wußte ich. Man sah es ihm auch deutlich an, welche Ueberwindung es ihm gekostet hatte, es jetzt einmal zu thun, und daß er dafür Lob von mir erwartete. Er sah mich mit großen Augen und weit geöffnetem Munde erwartungsvoll an; aber diese Erwartung ging nicht in Erfüllung ...(33)

Drei Mittel benutzt der Ich-Erzähler, um das, was in der dritten Person vorgeht, dem Leser mitzuteilen: Er läßt sie sprechen (das ist von außen zu hören), er beschreibt ihr Verhalten, ihre Bewegungen und Mimik (das ist zu sehen), und er konstatiert ihre Einstellung mit abstrakten Worten (wobei der Leser wiederum außerhalb der dritten Person bleibt). Dabei tut er noch ein übriges: er charakterisiert Old Wabble auch allgemein, zeigt ihn als eine sehr selbstbewußte Persönlichkeit, die sich normalerweise keinem anderen unterordnet, die in dieser Beziehung ihm selbst gleicht, und er kennzeichnet damit indirekt auch das Verhältnis zwischen sich und dem alten Cowboy, dessen späterer Wandel zum Gegner, ja Todfeind sich hier schon abzeichnet.(34)

   Damit leistet der Erzähler für den Leser zweierlei. Erstens versetzt er diesen in die Position eines Betrachters und Zuhörers, der das Verhalten der Personen an ihren scheinbar objektiv wahrnehmbaren Äuße-


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rungen messen kann; zweitens verschleiert er, daß der Leser im Grunde doch nur die Darstellung und die dahinterstehenden Interessen des Ich-Erzählers übernimmt.


2.3.3 Die Innenperspektive im Er-Roman

Für die Innenperspektive im Er-Roman sei in Ermangelung einer prägnanten längeren Passage in May-Romanen wieder ein Ausschnitt aus Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ angeführt:

   Franz Biberkopf ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren:

Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen.(35)

Ein Erzähler gibt an, wo sich die Hauptperson befindet, dann (ab dem zweiten Satz) läßt er den Leser mit ihr für eine Zeitlang allein und verschwindet völlig hinter der Hauptperson und dem Geschehen. Übergangslos kreuzen sich dann äußere Eindrücke und Gedanken Franz Biberkopfs; in dessen Kopf spiegelt sich die Außenwelt in kurzen Reflexen und wird von ihm kommentiert, Erinnerungen mischen sich darunter. Besonders irritierend erscheint der Tempuswechsel zwischen (häufigem) Präsens und (seltenerem) Präteritum. Die Gedanken im Präsens sind eindeutig von Franz; Wendungen dagegen, wie »Was war denn? (...) Wie sich das bewegte (...) Was war das alles« scheinen von jemand anderem formuliert zu werden, wenn es auch Gedankensplitter Biberkopfs sind. Ebenso übergangslos wie am Anfang der zitierten Passage geht der Text am Ende (im letzten Satz) wieder in Erzählerbericht über.

   Ich werde später (Kapitel 2.9) diese Formen des sogenannten inneren Monologs und der erlebten Rede genauer darstellen.

   Als Beispiel für eine scheinbare Innenperspektive in Mays Er-Romanen diene der folgende Ausschnitt aus ›Der Schatz im Silbersee‹: Der Häuptling besann sich. Sagte er ja, so war damit das Verhalten des »großen Fußes« verteidigt, und vielleicht gab es jetzt für den »springenden Hirsch« auch eine Veranlassung, zur List zu greifen. Diese Weißen leiste-


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ten weit mehr, als was man ihnen zugetraut hatte. Vielleicht war der kleine Kerl hier auch ein guter Läufer; da erschien es wohl geraten, seinem roten Gegner eine Zuflucht offen zu halten.(36)

   Die Überlegungen des Häuptlings werden vom Erzähler eingeführt (besann sich). Deren längere Wiedergabe könnte zwar den Eindruck erwecken, seine Gedanken artikulierten sich selbst; aber der allwissende Erzähler macht mit der Verbform erschien sehr bald wieder deutlich, daß er sie dem Leser vermittelt. Trotzdem leistet diese Darstellungsform etwas Wichtiges: Die Bewunderung, die das Verhalten der Weißen dem Indianer abnötigt und die dem Leser scheinbar aus erster Hand mitgeteilt wird, erscheint diesem noch größer, als wenn sie vom Erzähler konstatiert würde.


2.3.4 Die Innenperspektive im Ich-Roman

Die Innenperspektive im Ich-Roman prägt den folgenden Textausschnitt aus ›Old Surehand I‹:

Sollte dieser Apanatschka, aller Indianerart entgegen, einen so dichten Bart besitzen, daß er sich rasieren mußte? Wo nahm er die Seife her? Bekanntlich rasieren sich die Indianer nicht, sondern sie reißen sich die wenigen Barthaare, die sie haben, so lange aus, bis sie nicht wiederwachsen. Dieser Indsman war mir sehr sympathisch. Sein Gesicht machte einen Eindruck auf mich, den ich am liebsten mit dem Ausdrucke ›anheimeln‹ bezeichnen möchte. Hatte ich ihn denn schon einmal gesehen? Gewiß nicht! Aber dann gab es unter meinen jetzigen oder früheren Bekannten ein Gesicht, welches dem seinigen ähnlich war. Mit der Schnelligkeit des Blitzes tauchten in meinem Innern hundert und hundert dieser Gesichter auf, aber das betreffende war nicht dabei. Es ist eigentümlich, daß einem das am nächsten Liegende so oft am fernsten ist!(37)

Diese Passage vereinigt auf engstem Raum die unterschiedlichsten Erzählweisen: eine kulturgeschichtliche Information (indianische ›Rasur‹), die nüchterne Feststellung der Sympathie, eine Sentenz des erinnernden Erzählers im letzten Satz, Gedankenbericht (anheimeln), aber – was hier besonders interessiert – auch eine unmittelbare Gedankenwiedergabe in Form der erlebten Rede (die Fragen). Es wechseln also Äußerungen des erlebenden und des erinnernden ›Ichs‹ miteinander ab; in der Schicht des Erlebenden liegen Außensicht (mit dem Gedankenbericht) und Innenperspektive (mit der erlebten Rede) vor; diese gibt fragende Gedanken und die Antwort darauf (Gewiß nicht!) ohne ein Erzählmedium wieder.

   Eine außergewöhnliche Variante in der Gestaltung der Innenperspektive, wobei der Ich-Erzähler die Sicht einer dritten Person einnimmt, wird in Kapitel 2.9 vorgestellt.


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2.4. Grundformen des Erzählens

Bericht und szenische Darstellung kennzeichnen zwei weitere Formen, die den Leser in verschiedene Positionen zum erzählten Geschehen versetzen.


2.4.1 Der Bericht / die berichtende Erzählung im Er-Roman

Ein Beispiel aus ›Die Sklavenkarawane‹:

Nun beginnt einer, welcher sich durch besondere Sprachgewandtheit auszeichnet, dem Tiere in höflichen Ausdrücken mitzuteilen, daß man wünscht, es möge die Gegend verlassen und die Rinder, Kamele und Schafe eines andern Dorfes verspeisen. Das ist natürlich ohne Erfolg. Es wird ihm der Beschluß der Dorfältesten nun in dringenderer, ernsterer Weise zu Gehör gebracht – ebenso umsonst. Darauf erklärt der Sprecher, daß man jetzt gezwungen sei, gewaltsame Maßregeln zu ergreifen, und man beginnt, so lange mit Steinen nach dem Dickicht zu werfen, bis der ... Löwe erscheint, indem er stolz und majestätisch hinter den Felsen und aus dem Gestrüppe hervortritt. In diesem Augenblicke schwirren alle Pfeile ...

   Keiner hat sich Zeit genommen, richtig zu zielen. Die meisten Geschosse gehen an dem Tiere vorüber; nur einige treffen, indem sie ihn leicht verwunden. Da sprühen seine Augen Feuer – ein Sprung, und er hat einen der Jäger unter sich liegen.(38)

Der Vorgang wird von einem unbeteiligt erscheinenden Erzähler gerafft wiedergegeben, und zwar aus einer gewissen räumlichen und vor allem zeitlichen Distanz. Trotz des Präsens wird das Ereignis beim Lesen nicht als gegenwärtig vorgestellt, dafür wird es zu nüchtern-sachlich (unter Verwendung der indirekten Rede) und zu knapp berichtet; die Vermittlung wirkt wie referierend. Es werden auch keine Schwerpunkte in der Erzählung gesetzt, alle Einzelheiten erscheinen gleich wichtig.


2.4.2 Die szenische Darstellung im Er-Roman

Eine szenische Darstellung im Er-Roman findet sich ebenfalls in ›Die Sklavenkarawane‹:

Die Sterne leuchteten so hell hernieder, daß man den Löwen ganz deutlich sah ... Schwarz sah ein, daß er mit dem Schusse nun noch warten müsse, bis das Raubtier die Augen weiter öffnete und den Hinterleib erhob, um sich zum Sprunge anzuschicken. Dieser Meinung schien der »Vater der elf Haare« aber nicht zu sein, denn er raunte ihm zu: »Jetzt ist die richtige Zeit. Schieß nun!« ...

   Dieser [sc. der Löwe] war, als der Schuß krachte, aufgesprungen. Seine Augen weit öffnend, stieß er ein markerschütterndes Brüllen aus und setzte zum Sprunge


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an. Schwarz hatte glücklicherweise seine Geistesgegenwart nicht verloren. Er drückte auf das linke Auge des Löwen ab und rief zu gleicher Zeit dem Ungarn zu: »Wirf dich zur Seite! Schnell, schnell!«(39)

Ganz anders wirkt eine so erzählte Szene. Statt aus einer unbestimmbaren zeitlichen und räumlichen Distanz wird eine konkrete, gegenwärtig wirkende Situation aktualisiert und aus der Sicht der handelnden Personen erzählt, allerdings ohne daß der Erzähler ganz verschwindet. Einzelheiten, die für das Verständnis des Verhaltens von Menschen wichtig sind, werden betont (der kühle Mitteleuropäer Schwarz hat zwei heißblütige und entsprechend ungeduldige Helfer bei sich); der Charakter der beteiligten Personen wird nicht zuletzt durch die wörtliche Rede differenziert. Der Erzähler ergreift Partei (glücklicherweise), sympathisiert mit den mutigen Männern und scheint somit am Geschehen emotional beteiligt zu sein, was sich auf den Leser auswirkt, zumal dieser bisher schon ein großes Sympathiepotential auf die Personen übertragen hat.


2.4.3 Der Bericht im Ich-Roman

Der Bericht im Ich-Roman kommt am Beginn des Amerikateils von ›»Weihnacht!«‹ vor:

Also ich war mit Winnetou an den Missouri gekommen, und zwar nach St . Joseph, wo es damals fünf Zeitungen, darunter eine deutsche, gab und die Verbindung mit St.Louis, respektive den Redakteuren der dortigen Zeitungen, eine so gute war, daß ich auf Erfüllung meiner schriftstellerischen Wünsche nicht lange zu warten brauchte.(40)

   Ein stark raffender Bericht über die gerade zurückliegenden Ereignisse, die für die Haupthandlung nicht besonders wichtig sind und deshalb in recht summarischer Weise mitgeteilt werden. Schon das einleitende Adverb kennzeichnet diesen Text als Hintergrundinformation, die nur die Folie für die Haupthandlung abgibt, den von seiner Reputation als Reiseschriftsteller Erzählenden aber auch gleich in das rechte Licht rückt. Die Zeitangabe damals setzt den ganzen Vorgang, auch aus der Sicht des Erzählers, deutlich in die Vergangenheit.


2.4.4 Die Darstellung im Ich-Roman

Die Darstellung im Ich-Roman wird ebenfalls an einem Beispiel aus ›»Weihnacht!«‹ gezeigt:


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Wir wurden jetzt gestört, denn der Kellner hatte einen jetzt eben eingetretenen neuen Gast zu bedienen. Dieser war einem Geistlichen ähnlich ganz schwarz gekleidet und glatt rasiert und hatte einen kleinen Handkoffer bei sich. Er gab sich ein frommes, würdevolles Aussehen, zu welchem aber, wie ich nicht jetzt gleich sondern später erst bemerkte, sein unstäter und ruhelos umherforschender Blick nicht recht passen wollte.(41)

Die Merkmale, die dieser Stelle den Charakter der szenischen Darstellung verleihen, fallen sogleich auf. Eine pointiert einsetzende Handlung wird als Gegenwart erlebt (dreimal jetzt). Der Blick des Lesers wird auf eine dritte Person gelenkt, die später für den Erzähler eine zunächst noch unklare Bedeutung erhalten wird, sich hier aber dem Leser schon als Betrüger verrät. Die beiden zitierten Stellen machen eine weitere Funktion der szenischen Darstellung im Unterschied zur berichtenden Erzählung deutlich: Der Bericht ist eher auf Vergangenes ausgerichtet, das mitgeteilt werden muß, damit die eigentliche Handlung einsetzen kann; die Darstellung dagegen weist mehr in die Zukunft und verspricht zweierlei: Die schwarz gekleidete Person wird Verwicklungen provozieren, die den Erzähler betreffen, und dieser wird den Verwicklungen zunächst unvorbereitet begegnen, wodurch eine spannendere Ereigniskette entsteht, als es ein sofortiges Durchschauen des Betrügers ermöglichen würde.

   Die beiden kurzen Textbeispiele mögen genügen, die unterschiedliche Erzählweise zu dokumentieren. Sie lassen wohl schon erkennen, daß die berichtende Erzählung eine größere Affinität zur auktorialen Erzählsituation hat, die szenische Darstellung zur personalen; aber beide Darstellungsweisen können sich natürlich auch mit der jeweils anderen Erzählhaltung verbinden.


2.5. Ein Fallbeispiel zur Veranschaulichung der Erzählmodelle

Um die unterschiedlichen Wirkungen der drei Erzählsituationen in Verbindung mit Perspektiven und Grundformen noch auf eine andere Weise zu veranschaulichen, sei ein Experiment gewagt. Ich schreibe eine prägnante Stelle aus Mays Romanen um, indem ich sie in die zwei anderen Stanzelschen Erzählsituationen umforme. Welchen Eindruck gewinnt der Leser jeweils vom Geschehen, wie steht er zu ihm, in welche Stimmung wird er versetzt, zu welchen Wertungen wird er veranlaßt? Läßt sich feststellen, daß es tatsächlich sinnvoll ist, drei Erzählmodelle zu postulieren statt nur zwei? Der Leser dieser Arbeit möge die besondere Ausführlichkeit meiner Analyse verzeihen; sie ist notwendig, wenn gezeigt werden soll, mit wie geringen stilistischen Mitteln ganz unterschiedliche Lesewirkungen zu erzielen sind. Ich wähle eine Stelle aus dem Kapitel ›Auf Tod und Leben‹ in ›Der Schatz im Silbersee‹.


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   Selbstverständlich ist der Satz, den ich herausgreife, im Kontext der ganzen Episode, ja des gesamten Romans und dessen Erzählhaltung zu sehen und zu interpretieren.

   Die Situation ist bekannt. In Gefangenschaft der Utahs müssen vier Weiße: Old Shatterhand, Jemmy, Davy und Frank Zweikämpfe um ihr Leben bestehen, wobei Frank die schwierigste Aufgabe erhält, ja eine eigentlich gänzlich unlösbare; ausgerechnet er, der Hinkende, soll gegen den schnellsten Läufer des Stammes einen Wettlauf absolvieren. Er ahnt, daß er den Gegner trotzdem schlagen kann, wenn er sich nicht auf seine Beine, sondern auf seinen Verstand verläßt, d. h. wenn ihm der richtige Einfall kommt. Der läßt aber leider auf sich warten. Old Shatterhand versucht ihm zu helfen, ohne aber herauszufinden, worauf der Kleine überhaupt hinauswill. Schließlich beginnen die Kämpfe, ohne daß sich eine Lösung für Franks Problem gefunden hat. Der Satz, den ich auswähle, lautet:

   »Ich begreife dich nicht!« rief Old Shatterhand aus, ganz erstaunt über die Ruhe des Kleinen.(42)

   Es liegt, wie in dem ganzen Roman, die auktoriale Erzählsituation vor. Die beiden Seinsbereiche: Welt der handelnden Personen und Welt des Erzählers sind getrennt. Der fiktive Erzähler greift auch an dieser Stelle nicht kommentierend in den Erzählfluß ein, aber das tut er in Mays Er-Romanen ohnehin nur in Ausnahmefällen. Betrachtet wird das Geschehen aus der Sicht dieses Erzählers, also von außen; der Leser erfährt nicht direkt, was in den beiden Personen Frank und Old Shatterhand vorgeht, er erschließt es nur aus ihren Worten und aus der vom Erzähler charakterisierten Sprechweise (rief aus) und inneren Haltung Old Shatterhands (ganz erstaunt); vor allem letzteres ist kennzeichnend für die auktoriale Erzählhaltung; der Erzähler deutet den Ausruf des Jägers so, weil er als Erfinder bzw. Schöpfer (auctor) des Erzählten weiß, daß sich der Anführer der Gruppe über die in einer solchen Situation außergewöhnliche und unerwartete Haltung Franks wundert, daß er sich einfach wundern muß, kennt er doch genau das körperliche Handicap des kleinen Sachsen. Ob die Formulierung sogar leichte Kritik an Frank enthält, ist durchaus möglich, aber nicht eindeutig auszumachen. Auf jeden Fall handelt es sich um ein persönliches Erzählen in der Art eines Berichts.

   In einer Ich-Erzählung könnte dieser Satz ohne große Veränderung so lauten: Ganz erstaunt über die Ruhe des Kleinen, rief ich aus: »Ich begreife dich nicht!«

   Die Identität der beiden Seinsbereiche liegt auf der Hand, wieder ist es ein persönlicher Bericht, aber diesmal nicht von einer außenstehenden Person, sondern von jemandem, der am Geschehen beteiligt ist, der daran interessiert sein muß, daß Frank den Wettlauf gewinnt, weil – wie der Leser genau weiß – im anderen Fall allerhand weitere Schwierigkei-


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ten auf ihn, den Ich-Erzähler, zukommen, nämlich Verhandlungen über die Verrechnung der Niederlage des Gefährten mit der Niederlage eines Indianers, Tröstung des Unterlegenen, der seine Fähigkeiten ja im allgemeinen zu überschätzen pflegt, Ausgleich mit den beiden anderen Freunden, besonders mit Jemmy usw. Diese Folgen berühren den auktorialen Erzähler dagegen nicht. Die Perspektive ist natürlich auch eine andere, das Erstaunen wird nicht von außen konstatiert, aus einem Vorwissen des Erzählers heraus oder aus der Deutung der Reaktion Old Shatterhands, sondern das ›Ich‹ gibt selbst kund, wie es in seinem Innern aussieht, es setzt seine Gedanken und Empfindungen in einen Bezug zu den äußeren Vorgängen und dokumentiert damit seine emotionale Beteiligung, die es mit dem Leser teilt. Die Innenperspektive bedeutet, daß der Ich-Erzähler ein Interesse daran hat, seine Empfindungen zu äußern, angesichts der prekären Lage seines Gefährten, der sich selbst, Jemmy und Davy schon als unglückliche Schwammerlinge bezeichnet hat.(43) Dabei ist auch nicht der Ansatz einer Kritik an Frank zu spüren. In der konkreten Situation, für die der untersuchte Satz formuliert wird, steht der Erzähler ganz unter dem Eindruck des Geschehens und erscheint durch die offene Artikulierung seiner inneren Unsicherheit weitaus weniger omnipotent als der im Originaltext vom außenstehenden Erzähler gezeichnete Old Shatterhand.

   Damit sind wir schon beim Vergleich der beiden Fassungen. Ein genaues Hinsehen macht den Unterschied in der Wirkung dieses Satzes auf den Leser deutlich. Im ersten Fall erscheint ihm das Erstaunen Old Shatterhands als ganz normale Reaktion eines Menschen auf die ihm unnatürlich erscheinende Ruhe eines Mannes, der vor einem aussichtslos erscheinenden Kampf auf Leben und Tod steht. Der Ausruf Old Shatterhands wird vom Leser sicher als einfache Tatsachenfeststellung, in der vielleicht sogar leise Kritik mitschwingt, hingenommen, ohne daß sie das Bild der überlegenen Rolle Old Shatterhands beeinträchtigt; denn der Leser wird das Nicht-begreifen-Können nur so interpretieren, daß der Jäger das Verhalten Franks merkwürdig, ja unangebracht findet und mißbilligt.

   Davon unterscheidet sich die Wirkung auf den Leser im Falle der Ich-Form. Daß Old Shatterhand Frank nicht begreift, wird auf etwas ganz anderes bezogen, es wird – vor allem in Verbindung mit der Äußerung seiner eigenen inneren Haltung des Staunens – als ein Nicht-Wissen interpretiert, als ein Nicht-Verstehen des Plans, den Frank vermutlich hat, was übrigens Frank selbst in seiner Antwort ganz offenherzig zugibt, wenn er sagt: »Ich ooch nich, wenigstens jetzt noch nich.« Dies bezieht sich nicht auf die Unbegreiflichkeit seiner Ruhe, sondern auf die fehlende Kenntnis eines Auswegs, auf das Fehlen eines rettenden Gedankens, gepaart aber mit der Zuversicht, daß rechtzeitig ein zündender Einfall kommen wird. Im ersten Fall hieß Old Shatterhands Ausruf so


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viel wie ›Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst.‹ Im zweiten Fall: ›Ich kann mir überhaupt nicht denken, was du vorhast.‹ Und damit wird deutlich, daß Old Shatterhand selbst eingesteht, überhaupt keinen Beitrag zur Rettung Franks leisten zu können, ein Eingeständnis, das in der auktorialen Fassung der Stelle nicht oder wenigstens nicht leicht erkennbar wird. Vor allem also die Innenperspektive in der Ich-Erzählsituation läßt das Verhältnis zwischen den beiden Personen in einem anderen Licht erscheinen, als es in der Originalfassung mit ihrer Außenperspektive der Fall ist. Der gleichartige persönliche Berichtstil in beiden Versionen ist dagegen so zu erklären, daß in beiden Fällen ein Erzähler seine Anwesenheit deutlich zeigt, nur daß seine Sicht auf die erzählte Welt jeweils verschieden ist.

   Selbstverständlich ist auch der Leser, der sich bei der Lektüre leicht in den Ich-Erzähler versetzen kann, genauso ratlos wie Old Shatterhand.

   Nun soll der Satz in einer personalen Erzählsituation erscheinen. Dazu muß er stärker umgeformt werden und könnte etwa so lauten:

   Old Shatterhand sah ihn staunend an – diese Ruhe des Kleinen! »Ich begreife dich nicht!« rief er aus.

   Kein persönlicher Berichtstil, sondern unpersönliche Darstellung, ganz in die Situation integriert, ohne persönlichen Erzähler: ›diese Ruhe des Kleinen‹ gibt offensichtlich die Wirkung, die das Verhalten Franks auf Old Shatterhand hat, wieder, ist keine Feststellung eines außenstehenden Erzählers – aber es ist nicht eindeutig zu erkennen, wer spricht. Ein Erzähler ist zwar vorhanden, es teilt ja jemand in der Er-Form mit, was geschieht, d. h. die Seinsbereiche sind getrennt, aber diese Trennung ist nur an der grammatischen Form des Satzes erkennbar, ansonsten wird aus der Perspektive der fiktiven Person Old Shatterhand erzählt; die Perspektive stellt ganz auf diesen Old Shatterhand und dessen Reaktion auf das Verhalten Franks ab, unter dem Eindruck der Gefangenschaft, in der die Indianer die Verhaltensregeln diktieren können; es liegt also Innenperspektive vor.

   Der auffällige Unterschied zur auktorialen Er-Erzählhaltung braucht kaum beschrieben zu werden: Der Leser wird in das Geschehen hineingezogen, er kann sich unmittelbar in die fiktive Person versetzen (noch distanzloser als in der Ich-Form), er kann mit ihr staunen, mit ihr rätseln, was mit Frank los ist, wie sein im Grunde unbegreifliches Verhalten zu deuten ist. Der Leser sieht in diesem Augenblick nur Old Shatterhand und dessen Wertung der Situation, während er im ersten Fall, in der auktorialen Erzählsituation, beide vor Augen hatte und von außen betrachtete: das Erstaunen Old Shatterhands und die Ruhe des Kleinen.

   Aber auch zur Ich-Situation besteht ein großer Unterschied. Zunächst ist man versucht zu sagen, in beiden Fällen werde in gleicher Weise


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aus der Perspektive Old Shatterhands erzählt, nur die sprachliche Form sei verschieden. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, daß sich die Stellung des Lesers zum erzählten Vorgang in den beiden Fassungen unterscheidet. Wird in der Ich-Situation das erzählende ›Ich‹ deutlich wahrgenommen, bemerkt der Leser also, daß ihm ein von dem Geschehen Betroffener das Erlebte und seine Eindrücke mitteilt, daß der Erzähler also immerhin in der Lage ist, klar und überlegt zu sagen, was geschehen ist, so kann in der personalen Erzählsituation kein Erzähler dingfest gemacht werden, scheint die Situation fast autonom zu werden und für sich selbst zu sprechen, welchen Eindruck in erster Linie der Einschub ›diese Ruhe des Kleinen‹ bewirkt, von dem nicht eindeutig zu sagen ist, ob ihn die fiktive Person Old Shatterhand oder ein Erzähler äußert. Dieser Einschub wirkt viel irritierender auf den Leser, als wenn ihn ein auktorialer Erzähler oder der Ich-Erzähler formulierte, und damit erhält das Geständnis ›Ich begreife dich nicht‹ einen viel umfassenderen Charakter von Unsicherheit, situativer Unterlegenheit gegenüber der sonst untergeordneten Figur des Hobble-Frank. In der Ich-Situation hingegen wirkt der Erzähler trotz dieses Ausrufs distanzierter, sicherer, und in der auktorialen Er-Form sogar ein wenig überlegen, fast kritisch, als wollte er sagen: Sei nur vorsichtig, werde nicht übermütig, wende dich an mich, wenn es nötig ist. Dies aber schwingt in der personalen Erzählsituation auf gar keinen Fall mit.

   Was die Wirkung auf den Leser angeht, besteht also ein großer Unterschied zwischen den drei Erzählsituationen, so daß man die personale Erzählsituation weder als Form der auktorialen noch als bloße Differenzierung der Ich-Erzählsituation auffassen kann. Das Leseerlebnis ist jeweils ein anderes – immer vorausgesetzt, der Leser vermag sich in die fiktive Situation hineinzuversetzen.


2.6. Verben, die innere Vorgänge beschreiben

2.6.1 Verben im Er-Roman

Für den Er-Roman diene eine Stelle aus ›Der Schatz im Silbersee‹ als Beispiel:

... riß das Gewehr empor und legte auf ihn an, um ihn durch eine Kugel niederzuwerfen. Aber er erkannte die Unmöglichkeit, diesen Vorsatz auszuführen ...(44)

Das Verb ›erkennen‹ benennt einen Vorgang, der sich im Bewußtsein der handelnden Person abspielt und von außen (an Mimik und Gestik) nicht eindeutig festzustellen ist. Dabei liegt ein gedanklicher Akt vor,


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der keinem realen Menschen außer dem Denkenden selbst als solcher bekannt sein kann; bestenfalls kann ein anderer daraus, daß (wie in unserem Beispiel) der Schießwillige seinen Vorsatz nicht ausführt, folgern, daß dieser die Unmöglichkeit erkannt hat; aber keine reale Person kann dies so apodiktisch behaupten, wie es hier geschieht. Das gilt auch für den Begriff ›Vorsatz‹, der ebenfalls einen denkerischen Akt bezeichnet, und streng genommen auch für den finalen Infinitiv ›um niederzuwerfen‹, der hier unbedingt mit dem Zusatz ›vermutlich‹ o. ä. versehen werden müßte, wäre von realen und nicht von fiktiven Personen die Rede.

   Diese sprachlichen Formen sind logisch gesehen nur möglich, wenn es sich um einen fiktiven Vorgang handelt, der von einem Erzähler geschildert wird, der diesen Vorgang kennt, weil er ihn erfunden hat; zu diesem Vorgang gehört auch alles, was in den Köpfen der Personen vor sich geht; also kann der Erzähler dem Leser diese inneren Geschehnisse mit Verben wie ›denken, meinen, glauben, sich vornehmen, beabsichtigen‹ usw. mitteilen, natürlich auch in konkreteren Formen wie ›fühlen, glücklich sein, bedauern‹ usw. In der Realität werden solche Begriffe zwar auch gebraucht, wenn jemand z. B. sagt: »XY dachte, er könne das mit mir machen«, aber im allgemeinen wird dann ein Adverb wie ›wohl‹ hinzugefügt oder zumindest von Sprecher (und Hörer) stillschweigend mitgedacht; es signalisiert, daß der Sprecher dieses Satzes nur annimmt, XY habe etwas Bestimmtes gedacht. Ohne diese Zusätze kann ein realer Sprecher solche Verben innerer Vorgänge nur auf sich selbst beziehen: »Ich beabsichtige, morgen dies und das zu tun.«


2.6.2 Verben im Ich-Roman

Der Ich-Roman ›Old Surehand I‹ enthält natürlich ebenfalls solche Verben:

Die Blicke seiner [sc. Schiba-bigks] Leute wurden drohender; sie waren bereit, über mich herzufallen, doch hielt er sie durch eine gebieterische Handbewegung zurück. Ich sah es seinem Gesichte an, daß ihm ein Gedanke gekommen war, jedenfalls der Gedanke, den ich beabsichtigte. Ich hatte gesagt, daß ich mit ihm zu sprechen wünsche, und er ging bereitwillig darauf ein, um mich auszufragen; er hegte also ganz dieselbe Absicht mir gegenüber, die ich ihm gegenüber auch hatte.(45)

Ohne weiteres ist klar, daß der Erzähler von sich selbst Verben innerer Vorgänge verwenden darf (›ich beabsichtigte, ich wünsche‹), denn er kennt seine eigenen Gedanken und Absichten natürlich und kann sie als solche aussprechen. Wie aber ist es mit einer dritten Person, in diesem Falle dem Comanchen Schiba-bigk? Zunächst erschließt der Erzähler dessen Gedanken aus dem Gesichtsausdruck des Indianers; das


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Adverb jedenfalls deutet darüber hinaus an, daß er eine, wenn auch sehr begründete, Vermutung äußert. Im nächsten Satz aber wird diese allein angemessene Ausdrucksweise verlassen und so getan, als könnte der Erzähler die Gedanken des anderen lesen (ging bereitwillig darauf ein, um mich auszufragen), obwohl er das so sicher nicht wissen kann. Wie ist das möglich? Käte Hamburger, die solche sprachlichen Formen im Ich-Roman als sehr störend empfindet, nimmt ihre Zuflucht zu der Erklärung, es seien fiktionalisierende Elemente, mit denen der Ich-Roman immer wieder die Grenze zum Er-Roman, zur Fiktion zu überschreiten versuche, was ihm aber doch nie gelingen könne. Als bessere Erklärung (die auch Stanzel andeutet) bietet sich aber die Überlegung an, es könnte sich bei diesem Ich-Erzähler um eine genauso fiktive Figur, wie der Er-Erzähler sie darstellt, handeln, welche damit auch über die inneren Vorgänge in anderen Personen orientiert wäre (dazu weiter unten mehr).

   In der späten Erzählung ›Schamah‹ kommen mehrere solcher verbalen Formen vor (ohne daß, wie unten Kapitel 3.4.1 gezeigt werden wird, diese Erzählung ihren Charakter fingierter Wirklichkeit verliert), darunter die, welche May in seinen Ich-Romanen überhaupt gern verwendet: Seine Freude war ebenso groß wie aufrichtig.(46) Andere Beispiele: Mustafa Bustani war so verwundert, mich plötzlich vor sich zu sehen ...(47)Wir erschraken beide.(48)Jetzt ... bekam er Mut, seine Stimme von neuem zu erheben.(49)»Du – – – du malst mit?« fragte er, indem gewisse, nicht ganz frohe Ahnungen in ihm aufstiegen.(50)


2.7. Das epische Präteritum

Beim normalen Erzählvorgang dient das Präteritum des Verbs (der Begriff ist in der Grammatik des Deutschen mit dem Imperfekt identisch) dazu, deutlich zu machen, daß das, wovon erzählt wird, zum Zeitpunkt des Erzählens vergangen ist. Aber wenn man diese grammatische Form etwas differenzierter betrachtet, wird man feststellen können, daß sie auch eine ganz andere zeitliche Bedeutung annehmen kann.


2.7.1 Episches Präteritum mit Vergangenheitsbedeutung

Episches Präteritum mit Vergangenheitsbedeutung liegt in einem Beispiel aus ›Von Bagdad nach Stambul‹ vor:

Ein armer Angehöriger dieses Stammes, Namens Abd Allah, starb im Jahre 570 nach Christus, und einige Monate später, am 20.April 571, der auf einen Montag fiel, gebar seine Witwe Amina einen Knaben, welcher später Mohammed genannt wurde.(51)


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Nicht nur die genauen Daten verweisen auf die Vergangenheit der Ereignisse zum Zeitpunkt des Erzählens; auch ohne diese Jahreszahlen könnte man die hier erwähnten historischen Ereignisse, über die man in Geschichtsbüchern nachlesen kann, als vergangene identifizieren.

   Gleiches finden wir in ›Durch Wüste und Harem‹: »Schon bei Sayda habe ich gekämpft,« rühmte er sich, »und dann auf der Insel Candia, wo wir die Empörer besiegten. Nachher focht ich in Beirut unter dem berühmten Mustapha Nuri Pascha, dessen tapfere Seele jetzt im Paradiese lebt. Damals hatte ich auch meine Nase noch, und diese verlor ich in Serbien, wohin ich mit Schekib Effendi gehen mußte, als Kiamil Pascha den Michael Obrenowitsch fortjagte.«(52)

   Auch eine Ich-Erzählung kann eindeutig Vergangenes berichten, wie es die Geschichte des Buluk Emini zeigt: Eindeutige Signale dafür sind wieder die Namen von historischen Personen und Orten, die datierbar sind. Dazu machen die Zeitadverbien die genaue zeitliche Struktur deutlich: Der Buluk Emini nennt den Erzählzeitpunkt jetzt, die erzählte Zeit damals.


2.7.2 Episches Präteritum mit Gegenwartsbedeutung im Er-Roman

Episches Präteritum mit Gegenwartsbedeutung im Er-Roman kennzeichnet die folgende Stelle in ›Der Karawanenwürger‹:

Ein deutscher Reisender, namens Korn hatte die Küstengegend verlassen, um einen Ausflug in die trübe Einsamkeit dieser Strecke zu machen und dann über Augila und Siwah Aegypten zu erreichen. Nur sein Diener Mahmud begleitete ihn. Dieser war weit im Oriente herumgekommen, sprach ein wunderliches Mischmasch aller arabischen und türkischen Dialekte, hatte zuletzt als Fremdenführer in Algier fungiert und war in seine gegenwärtige Stellung getreten, um endlich einmal zu wissen, wem er angehöre.(53)

Dieser Text erweckt zunächst den Eindruck, als würden vergangene Ereignisse erzählt; vom Zeitpunkt des Erzählens (und damit auch des Lesens) gesehen, ist die Reise Korns in Begleitung des arabischen Dieners vorbei, und was zum Zeitpunkt dieser Reise schon vorüber war, wird folgerichtig im Plusquamperfekt wiedergegeben. Aber dann stutzt der Leser: Die Stellung, die der Diener inne hatte, wird plötzlich als eine gegenwärtige bezeichnet; gegenwärtig zur Zeit des Erzählens (und Lesens)? Das kann nicht sein, dann müßten Erzähler und Leser sich realiter mit Korn in der nordafrikanischen Steppe befinden. Also versetzt sich der Erzähler offenbar in Gedanken in die Situation, von der er erzählt, und zieht auch den Leser mit, der so das Geschehen als ein gegenwärtig vorstellbares auffaßt, es in seiner Gedankenwelt tatsächlich mit-


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erlebt. Das Adjektiv gegenwärtig hebt damit die Vergangenheitsbedeutung des epischen Präteritums an dieser Stelle auf und läßt es für den Leser präsentische Bedeutung annehmen.

   Vor allem in Verbindung mit den sogenannten deiktischen Zeitadverbien ›heute, morgen‹ usw. verliert das Präteritum der Verben häufig seine übliche grammatische Funktion und läßt eine Handlung als ›gegenwärtig‹, bzw. von solcher ›Gegenwart‹ her sogar als ›zukünftig‹ erscheinen, etwa nach dem Muster: »XY befand sich in heller Aufregung. Morgen war Ostern, und er hatte noch keine Eierfarben gekauft


2.7.3 Episches Präteritum mit Gegenwartsbedeutung im Ich-Roman

Auch im Ich-Roman gibt es dieses präsentische Präteritum. Das erste Beispiel ist aus ›Winnetou I‹: Der Ich-Erzähler entwickelt Gedanken über das vermutliche Verhalten Santers und die Folgen, die sich daraus für ihn selbst und seine Gefährten ergeben: Dagegen war als ganz gewiß anzunehmen, daß Santer den Abend und wohl auch die Nacht dazu benützen werde, uns recht weit vorauszukommen ... Wir hatten dann morgen einen heißen Ritt vor uns, welcher dadurch erschwert und verlangsamt wurde, daß wir auf die Fährte achten mußten ...(54)

   Mehrfach wird aus der Sicht des Handelnden, der erlebten Gegenwart also, im Präteritum wiedergegeben, was man – wir müßten sagen: – ›am nächsten Tag‹ wird tun müssen, was aber aus der Handlungszeit betrachtet folgerichtig auf ›morgen‹ angesetzt wird.

   Ein zweites Beispiel, diesmal aus ›Satan und Ischariot II‹: Wir legten uns zeitig schlafen, denn der morgende Weg durch das Warr war nicht nur beschwerlich, sondern wurde auch nach und nach gefährlich, je mehr wir uns den Ruinen näherten, wo wir die Feinde und unsere eingeschlossenen Leute vermuteten.(55)

   Der erste begründende Satz trifft im Präteritum bloß eine Feststellung über das, was am nächsten Tag sein wird; das kann noch als völlig korrekt angesehen werden, denn der Begriff ›Weg‹ ist mehrdeutig: Ist nur der Weg im Sinne einer topographischen Angabe gemeint, dann gilt die Beschwerlichkeit für jeden Zeitabschnitt; nur wenn ›Weg‹ die Bedeutung einer zu bewältigenden Strecke mit der damit verbundenen Anstrengung hat, nimmt das Präteritum des Verbs die Unternehmung des folgenden Tages vorweg. Der zweite Teilsatz dagegen nennt einen einmaligen Vorgang, dessen Umstände sich aus der besonderen abenteuerlichen Situation ergeben; da verliert das Präteritum seine Vergangenheitsbedeutung und antizipiert sogar Zukünftiges.


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2.8. Das ›historische Präsens‹

Bedeutung und Funktion des sogenannten historischen Präsens sind umstritten;(56) mal wird es als Beweis für die Vergangenheitsbedeutung des epischen Präteritums, mal als Beweis für deren Verlust angesehen. Jedenfalls dient es der Vergegenwärtigung einer vergangenen Handlung zur Spannungssteigerung.

   Ein Beispiel aus ›Durch Wüste und Harem‹:

Ich stemmte mich gegen das Blech – vergebens; ich drückte und preßte mit aller Gewalt dagegen, doch ohne Erfolg. ... Ich hatte nur noch Luft und Kraft für eine Sekunde; es war mir, als wolle eine fürchterliche Gewalt mir die Lunge zerbersten und den Körper zersprengen – noch eine letzte, die allerletzte Anstrengung; Herr Gott im Himmel, hilf, daß es mir gelingt! Ich fühle den Tod mit nasser, eisiger Hand nach meinem Herzen greifen; er packt es mit grausamer, unerbittlicher Faust und drückt es vernichtend zusammen; die Pulse stocken, die Besinnung schwindet, die Seele sträubt sich mit aller Gewalt gegen das Entsetzliche, eine krampfhafte, tödliche Expansion dehnt die erstarrenden Sehnen und Muskeln aus – ich höre einen [!] Krach, kein Geräusch, aber der Kampf des Todes hat vermocht, was dem Leben nicht gelingen wollte – das Sieb weicht, es geht aus den Fugen, ich fuhr empor.(57)

Eine stilistisch nicht gerade berauschende Leistung, diese gegenüber der Erstfassung in ›Leïlet‹ (wo sie allerdings wiederum äußerst blaß wirkt) stark veränderte Stelle: völlig überladen durch die Adjektivdoppelungen; voll mißglückter Metaphorik (die sich sträubende Seele, der Kampf des Todes) – aber das hier nur nebenbei. Die präsentischen Verbformen sollen das Erlebnis vergegenwärtigen und damit besonders bedrängend wirken lassen; ob sie aber verhindern, daß das ganze Geschehen nicht doch als vergangenes empfunden wird, soll einmal dahingestellt bleiben. In Verbindung mit dem Stoßgebet, das wie ein Fetzen inneren Monologs wirkt, erscheint die Absicht der Vergegenwärtigung jedenfalls übererfüllt, und sie läßt den abrupten Übergang ins Präteritum am Ende der Satzreihe weniger schmerzhaft als vielmehr deplaziert wirken. (Für die illustrierte Ausgabe von 1907 wurde dieser Satz sinnvollerweise ebenfalls ins Präsens gesetzt: ich fahre empor(58).) Gleiches gilt übrigens auch für die Stelle in ›Leïlet‹, an der die Fahrt durch die Stromschnellen geschildert wird: ebenfalls im Präsens, dann – innerhalb eines Satzes – wieder ins Präteritum wechselnd (... er faßt darnach, ergreift ihn und wird emporgezogen – – es war Abrahim-Arha(59)), was aber völlig unpassend wirkt; wenn überhaupt, müßte die Erzählung im nächsten Abschnitt noch im Präsens weitergehen, denn ohne Pause wird die packende Aktion fortgesetzt: Abrahim-Arha stürzt sich sogleich auf den Erzähler usw. In ›Durch Wüste und Harem‹ ist die Stelle ein wenig verbessert (– es ist – Abrahim-Mamur(60)).


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2.9. Die erlebte Rede und der innere Monolog

Ich beschreibe zunächst die Stilform: Der Terminus ›Erlebte Rede‹ ist umstritten,(61) aber weder das Ungetüm ›style indirect libre‹ noch die ›freie Redevermittlung‹, die Lämmert vorschlägt, erscheinen mir treffender, weshalb ich an dem meistens gebrauchten Begriff festhalte; es ist nur notwendig, daß alle Interpreten das gleiche darunter verstehen.

   Da ein Schwerpunkt in meiner Analyse der Erzähltechnik in Mays Ich-Romanen die erlebte Rede ist, werde ich mich auch in diesem allgemeinen Überblick mit diesem Stilmittel am ausführlichsten beschäftigen. Der innere Monolog muß zurücktreten, weil er in den Ich-Romanen eine ganz untergeordnete Rolle spielt, aber im Vergleich mit der erlebten Rede trägt er zur Erläuterung von deren spezieller Funktion und Wirkungsweise bei.

   Was im Kopf eines Menschen vorgeht, worüber er nachdenkt, was er für sich zu klären sucht, sei es, daß er keinen Ansprechpartner hat, dem er seine Verwunderung, Unsicherheit oder Angst, aber auch seine Hoffnungen, Sehnsüchte oder Pläne anvertrauen kann, sei es, daß er seine Gedanken absichtlich vor anderen verbirgt, das alles kann in Erzähltexten auf verschiedene Weise wiedergegeben werden. Grundsätzlich gibt es vier Varianten, welche eine je unterschiedliche Beziehung des fiktiven Erzählers zum Erzählgegenstand bzw. zur denkenden Person und damit auch eine bestimmte Position des Lesers festlegen: den Gedankenbericht durch den Erzähler, die erlebte Rede und den inneren Monolog; hinzu kommt die Möglichkeit, daß der Denkende das, was in ihm vorgeht, im Dialog oder im Selbstgespräch, d. h. in Form der wörtlichen Rede, äußert.

   Ich gebe ein einfaches Beispiel – die Situation: Ein Mann ist in der Nacht stockbetrunken nach Hause gekommen. Am nächsten Morgen, als er erwacht, kann er sich an nichts erinnern. Da fällt sein Blick auf den Boden. Dort liegt in tausend Scherben die kostbare Vase, das Geschenk der Erbtante Hedwig. Das Gefäß muß in der Nacht zerbrochen worden sein – von wem?

   Der Erzähler kann dem Leser die Gedanken des erschrockenen Mannes auf folgende Weise vermitteln:

   a) in wörtlicher Rede: Er setzte sich im Bett auf, sein Kopf schmerzte. Entsetzt rief er aus: »Habe ich die Vase zerbrochen? Was soll ich nur tun?« Erschöpft sank er zurück.

   b) als Gedankenbericht: Er setzte sich im Bett auf, sein Kopf schmerzte. Entsetzt fragte er sich, ob er die Vase zerbrochen habe und was er nur tun solle. Erschöpft sank er zurück.

   c) als erlebte Rede: Er setzte sich im Bett auf, sein Kopf schmerzte. Hatte er die Vase zerbrochen? Was sollte er nur tun? Erschöpft sank er zurück.


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   d) als innerer Monolog: Er setzte sich im Bett auf, sein Kopf schmerzte. Habe ich die Vase zerbrochen? Was soll ich nur tun? Erschöpft sank er zurück.

   Zunächst fällt die unterschiedliche Art der formalen und sprachlichen Vermittlung der Gedanken auf. Bei der wörtlichen Rede spricht der Mann direkt aus, was er denkt; formal wird dies durch die Anführungszeichen und den einführenden Satz mit dem verbum dicendi (»rief er aus«) deutlich gemacht. Im Falle des Gedankenberichts handelt es sich um die indirekte Rede im Konjunktiv, die ebenfalls durch den Erzähler eingeführt wird (»fragte er sich«). Diese Einführung unterbleibt bei den anderen Formen der Gedankenwiedergabe; dabei steht die erlebte Rede in der 3. Person und im Präteritum bzw. Plusquamperfekt, der innere Monolog in der 1. Person und im Präsens bzw. Perfekt.

   Was bedeutet das für die Beziehung zwischen Erzähler, Romanfigur und Leser? In den beiden ersten Fällen besteht eine eindeutige Distanz zwischen diesen drei Größen: ein Erzähler tritt deutlich dem Leser gegenüber, macht klar, daß er die Rede bzw. die Gedanken eines Dritten, der fiktiven Figur, wiedergibt, und der Leser sieht vor seinem geistigen Auge den Sprechenden bzw. Denkenden sowie den vermittelnden Erzähler und hört ihnen zu. Das Beziehungsgefüge läßt sich als ein Dreieck auffassen: Hier der Leser, ihm gegenüber die fiktive Person, daneben der Erzähler, der dem Leser die Rede bzw. die Gedanken mitteilt.

   Im dritten Beispiel dagegen ist diese Distanz deutlich verringert. Kein Erzähler meldet sich direkt zu Wort, indem er berichtet, daß da jemand spricht oder denkt; Gedanken werden scheinbar unvermittelt wiedergegeben. Betrachtet man den Satz aber genau, bemerkt man: In dieser sprachlichen Form (über Gegenwärtiges im Präteritum und von sich in der 3. Person) denkt ein Mensch nicht; die grammatische Verfremdung deutet auf eine Person hin, die noch als Vermittler agiert, eben den Erzähler, der aber als eigenständige Figur nicht mehr greifbar, dessen Anwesenheit nur noch zu ahnen ist. In der vierten Version des Beispiels, dem inneren Monolog, fällt auch dies weg: die Gedanken werden wörtlich zitiert, so, wie sie sich im Kopf der denkenden Person formen, ungebrochen durch ein erzählendes Medium und nicht durch Anführungszeichen vom erzählenden Text abgehoben; der Erzähler verschwindet völlig hinter der fiktiven Person und tut so, als wäre er gar nicht da. Der Leser befindet sich scheinbar im Kopf der denkenden Figur und vollzieht deren Gedanken nach, als seien sie seine eigenen.

   Das Besondere an der erlebten Rede und dem inneren Monolog besteht also darin, daß sprachlich und formal (fast) nicht gekennzeichnet wird, wo es sich um die Schilderung äußerer Wirklichkeit (Aufsetzen, Schmerzen, Zurücksinken) handelt und wo um die Wiedergabe von Gedanken, also innere Handlung (die ratlosen Fragen). Nur indirekt,


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nur noch mit Hilfe der grammatischen Form zeigt sich der Erzähler als Vermittler der Gedanken bei der erlebten Rede, während der Leser beim inneren Monolog ohne alle sprachlichen oder formalen Anzeichen aus der Perspektive des außenstehenden Beobachters in die des Miterlebenden katapultiert wird (man beachte: das Gedachte stimmt wörtlich mit der direkten Rede im ersten Fall überein), um gleich darauf, oft im gleichen Satzgefüge, wieder die Außensicht einzunehmen. Dabei muß dann vorausgesetzt werden, daß die Distanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich so verringert bzw. ganz aufgehoben ist, daß das Erlebte vom Erzählenden bzw. Schreibenden als unmittelbar gegenwärtig empfunden wird.

   Darüber hinaus gibt es in Mays Romanen und Erzählungen häufig eine Form der Darstellung von Bewußtseinsinhalten, die zwischen dem Gedankenbericht und der erlebten Rede liegt. Dabei wird die Wiedergabe der Gedanken zwar nicht durch ein verbum dicendi eingeführt, dafür aber vorbereitet mit einer Bemerkung über die innere Reaktion des Erzählers auf eine vorhergegangene Äußerung einer anderen Person, die dann mit der Anführung der Gedanken erläutert wird. Ein Beispiel aus ›Im Reiche des silbernen Löwen III‹: Ich war nicht nur erstaunt, ich war sogar betroffen. War es denn möglich, daß mein Hadschi derartige Gedanken hegen und solche Worte sprechen konnte?!(62)

   Erlebte Rede und innerer Monolog sind bevorzugte Stilmittel der personalen Erzählhaltung; ihren sinnvollen Platz haben sie im Er-Roman, wo sie als Form des modernen Erzählens, das die Figur des herkömmlichen Erzählers erschüttert, wenn nicht gar zerstört hat, ihre weitreichende Funktion besitzen. (Wie eng diese Stilmittel für manche Literaturkritiker mit der Vorstellung von ›modernem Erzählen‹ verbunden sind, beweist deren Kritik an Patrick Süskinds Roman ›Das Parfum‹, der ganz traditionelle Erzählformen aufweist(63)). Ihre Funktion besteht vor allem darin, die fiktive Person, die denkend, redend und handelnd auftritt, dem Leser unvermittelt gegenübertreten zu lassen, die Distanz zwischen ihr und dem Leser, die normalerweise durch das Erzählmedium gegeben wird, aufzuheben. Dadurch kann die Situation, in der sich die Romanperson befindet, vom Leser unmittelbar erlebt werden, das Ausgeliefertsein an bedrängende, nicht vorhersehbare, nicht deutbare und darum auch nicht beherrschbare Instanzen sowie die daraus resultierende Unsicherheit, Irritation und Angst übertragen sich auf den Leser, zumal dann, wenn häufig zwischen Außen- und Innenperspektive gewechselt wird. Es ist kein Erzähler mehr da, der den Leser in der Sicherheit wiegt, daß das erzählte Geschehen ja vorbei sei, keine unmittelbare Bedeutung für ihn habe und im nachhinein ruhig überschaut und gedeutet werden könne. Im Gegenteil: das fiktive Romangeschehen erhält die Qualität unübersichtlicher, rätselhafter Vorgänge, denen der Leser genauso wie die Romanfigur ausgeliefert ist.


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Die Welt des modernen Romans entbehrt einer klaren Sinngebung, der Mensch fühlt sich in ihr wie in einem Labyrinth. Erlebte Rede und innerer Monolog sind Stilmittel, mit deren Hilfe der Erzähler, der ja bei jedem Erzählvorgang als anwesend gedacht werden muß, den Eindruck erweckt, daß sich die Romanfigur ihrer selbst und ihrer Umwelt zu vergewissern sucht, daß sie Fragen stellt, die manchmal sogleich, öfter erst nach geraumer Zeit, manchmal überhaupt nicht beantwortet werden. Diese Stilmittel drücken die Empfindung der Romanfiguren aus, daß das Dasein rätselhaft und darum höchst bedrohlich ist, und kein Erzähler gibt dem Leser mehr Hilfestellung, daß wenigstens er sich dieser irritierenden Rätselhaftigkeit entziehen kann.

   Im Ich-Roman rekapituliert und berichtet der fiktive Erzähler das von ihm selbst erlebte Geschehen. Haben die Stilmittel erlebte Rede und innerer Monolog auch hier einen Sinn? Beide können – so möchte man meinen – in diesem Zusammenhang nicht verwendet werden, ist doch der Ich-Erzähler immer sichtbar anwesend; es scheint, als könne sich dieser eigentlich nicht hinter seiner Hauptperson, die sein eigenes Ich ist, völlig verbergen (im inneren Monolog) bzw. sich verbergen und zugleich zeigen, indem er grammatische Tricks anwendet (in der erlebten Rede) – es sei denn, es ließe sich nachweisen, daß der Ich-Erzähler genauso zur fiktiven Figur wird wie der Er-Erzähler. Dann würde er für einige Zeit den zeitlichen Abstand zum Erlebten vergessen, wäre sich der Distanz zwischen Erzähl- und Erlebnissituation nicht bewußt und würde sich gänzlich in die erinnerte Vergangenheit verlieren. Schließlich steht fest – worauf in Anmerkung 13 hingewiesen wurde –, daß die erlebte Rede in Ich-Romanen vorkommt, und Karl May benutzt sie nicht selten mit besonderer Wirkung in seinen Reiseerzählungen (vgl. die Einzelanalysen in Abschnitt 3).

   Bemerkenswert wird das Problem der erlebten Rede in Ich-Romanen dadurch, daß Karl May ab etwa Mitte der 90er Jahre öffentlich behauptete, er sei mit Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi identisch, d. h. er habe die geschilderten Abenteuer persönlich erlebt – nachdem er dies schon vorher in seinen Romanen sukzessive immer deutlicher hatte durchblicken lassen.(64)

   Was bedeutet dies für den Aussagewert der fiktionalisierenden Stilmittel? Hier bietet sich ein Blick auf den Autor May an. Zu vermuten ist folgendes:

   a) Diese Stilmittel belegen die Fähigkeit Mays, sich besonders intensiv in seine phantasierte Welt hineinzuversetzen, sie innerlich zu erleben, das heißt aber auch, sie dem Leser als echte Fiktion, nicht als Fingiertes, zu vermitteln (vgl. dazu Anm. 13). An solchen Stellen seiner Romane ist er selbst die im nachhinein ratlos überlegende, den Fortgang der Ereignisse noch nicht überschauende Person der Handlung, obwohl er diese aus der zeitlichen Distanz angeblicher Rückschau er-


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zählt; also wird er sich nicht so offen oder nur sporadisch als Erzähler zeigen.

   b) Wo May daran interessiert ist, den Leser davon zu überzeugen, daß er tatsächlich Erlebtes erzählt, an das er sich selbst schreibend erinnert, da wird er sich nicht hinter seinem erlebenden ›Ich‹ verstecken, sondern als Erzählender jederzeit präsent bleiben; an solchen Stellen wird er die fiktionalisierenden Stilmittel gerade nicht einsetzen, denn sie würden einen Bruch mit der beabsichtigten fingierten Wirklichkeit darstellen.(65) c) Nun kommen in der Phase seiner späten Reiseerzählungen viele Passagen mit starker Fiktionalisierung, etwa durch die erlebte Rede, vor, und das sind nicht die schlechtesten (siehe Kapitel 3 zum ›Silberlöwen II‹). Hier hilft zum Verständnis die bekannte Überlieferung, nach der May seine fiktiven Gestalten oft wie reale Menschen aufgefaßt und beispielsweise während des Schreibens mit ihnen gelacht und geweint habe. Dem ist zu entnehmen, daß ihn seine Einbildungs- bzw. Vorstellungskraft so sehr überwältigen konnte, daß er sozusagen die Absicht des Fingierens für einige Zeit vergaß und eine Fiktion gestaltete. Daß solche Phasen nur kurze Zeit dauerten, belegt die Tatsache, daß auch die aufregendsten Abenteuer meist keine Spur im Innern der handelnden Personen hinterlassen.(66) Umgekehrt kann nichtfiktionaler Erzählstil eine kurzfristige Distanzierung von den Erfindungen der Phantasie signalisieren; dazu gehören vor allem stimmungszerstörende Bilder und Vergleiche wie in ›Die Todes-Karavane‹ (vgl. unten 3.2.2) oder so unsägliche Bilder wie in ›Von Bagdad nach Stambul‹(67): Man staunt, was es nicht alles im menschlichen Innern zu sehen gibt!(68)

   Die erlebte Rede einer dritten Person in einem Ich-Roman Karl Mays soll im folgenden analysiert werden. Bezeichnenderweise kennen Dorrit Cohn und Franz K. Stanzel (in seiner Kritik an Käte Hamburgers Thesen) die erlebte Rede einer dritten Person im Ich-Roman nicht; Käte Hamburger schließt sie – wie erinnerlich (siehe Anm. 13) – sogar ausdrücklich aus und behauptet, alle Äußerungen des Ich-Erzählers hätten die Struktur einer Aussage, dementsprechend könne der Ich-Roman keine echte Fiktion aufbauen. Die folgende Stelle aus ›Satan und Ischariot II‹ soll zeigen, daß diese erzähltheoretische Position unhaltbar ist.

   Diese besonders bemerkenswerte Variante der erlebten Rede, mit der der Ich-Erzähler die Gedanken einer anderen Person wiedergibt, ist in der Szene, in der Old Shatterhand die Unterhaltung zwischen der Listigen Schlange und der Jüdin Judith belauscht, enthalten:

   [1] Er [sc. Listige Schlange] stand auf ... und blickte forschend zu ihr nieder. [2] Sie antwortete nicht. [3] Ihr Leichtsinn war auf eine kleine Liebelei mit dem hübschen jungen Häuptlinge nicht ungern eingegangen; an die Folgen hatte sie nicht gedacht. [4] Nun verlangte er von ihr, daß sie seine Frau werden solle! [5] War es wahr, daß Melton sie betrügen wollte? [6]


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War es wahr, daß der Indianer so reich sein konnte, wenn er wollte? [7] Er stand wartend vor ihr und hielt den Blick scharf auf sie geheftet, als ob er die Gedanken sehen wolle, die sich jetzt in ihr bewegten.(69)

   Schrittweise wird der Leser zum unvermittelten Nachvollzug der Gedanken Judiths befähigt. Zunächst wahrt der Erzählerbericht mit der korrekten Zeitenfolge die Außensicht: Im normalen Erzähltempus Präteritum (Satz 1 und 2) teilt der Erzähler mit, was er als Old Shatterhand beobachtet hat, im Plusquamperfekt (3) erfolgt die Bewertung von Judiths bisherigem Verhalten gegenüber dem Indianer. Die Neigung Judiths zum Leichtsinn kennt der Erzähler aus den ihm bekannten weiteren Ereignissen; auch Old Shatterhand kann sie aus den Informationen, die er bis dahin über die Jüdin erhalten hat, erschließen; aber diese Feststellungen können sich durchaus im Kopfe Judiths formen: daß sie leichtsinnig ist, weiß sie wohl selbst und wird sie sich in dieser Situation auch eingestehen, und daß sie die daraus resultierenden Probleme nicht bedacht hat, wird ihr spätestens jetzt, wo sie sich dem Häuptling gegenüber entscheiden soll, schlagartig klar. Damit nähert sich Satz 3 schon der Innenperspektive. Folgerichtig geht der Erzähler nun noch einen Schritt weiter und formuliert im Präteritum etwas, was auch noch im Plusquamperfekt stehen müßte, würde er es dem Leser aus seiner Sicht mitteilen (4). Da müßte es etwa heißen: »Nun hatte er von ihr verlangt, daß sie seine Frau werden solle!« Das Präteritum zeigt aber ganz deutlich an, daß Judiths Überlegungen fast unmittelbar wiedergegeben werden. Dazu gehören auch die beiden folgenden Fragen. In der Außenperspektive des Erzählers müßte die Stelle (5, 6) etwa lauten: »Sie schien zu überlegen, ob der Indianer mit seinem Vorwurf, Melton wolle sie betrügen, recht habe. Wahrscheinlich fragte sie sich auch, ob er wirklich so reich sein könne, wie er vorgab. Das alles konnte ich ihrem Mienenspiel entnehmen.« Statt dessen verschwindet der Erzähler nun völlig hinter der Person der Jüdin und teilt ihre Gedanken genau so mit, wie in einer Er-Erzählung dem Leser Gedanken einer handelnden Person mitgeteilt werden, in Form der erlebten Rede. Der Leser erfährt demnach die Bedenken der Jüdin in einer Stilform, die ihm suggeriert, er hege sie selber. Erst danach (7) nimmt der Erzähler wieder die Außensicht Old Shatterhands ein, der das, was er sieht, mit einem Vergleich (›als ob‹) zu deuten versucht.

   In den Sätzen 4-6 (vorbereitet schon in 3) wird also das fiktive Aussagesubjekt Ich-Erzähler durch das fiktive Subjekt Judith ersetzt. Das Präteritum der Verben verliert seine Vergangenheitsbedeutung und ermöglicht es so dem Leser, sich die Gedanken der handelnden Person Judith als gegenwärtige vorzustellen. Damit widerlegt diese Stelle eindeutig die Meinung Hamburgers, im Ich-Roman habe das epische Präteritum immer und ausschließlich Vergangenheitsfunktion, stelle äußere und innere Handlungen durchweg als, vom Ich-Erzähler aus gesehen,


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vergangene dar. Und damit wird diese Stelle zur echten Fiktion, die Hamburger für den Ich-Roman leugnet, indem sie ihm bloß den Charakter einer fingierten Wirklichkeit zuspricht.

   Was bedeutet dieser Befund für die Wirkung, die diese Szene auf den Leser ausübt, und für ihre erzählerische Qualität? Der Leser gewinnt den Eindruck, daß sich der Erzähler für die Jüdin überraschend stark interessiert, denn er gestaltet ihr Verhalten ungemein anschaulich und lebensecht. Bedenkt man, aus welcher sozialen und menschlichen Lage Judith als Angehörige einer verfemten und angefeindeten Minderheit kommt, daß sie aufgrund der gesellschaftlichen Schranken gerade ihre Schönheit, die ihr eben nicht so leicht wie nichtjüdischen Frauen zu einer wirtschaftlich abgesicherten Ehe verhilft, als Quelle tiefer Enttäuschungen empfinden dürfte, daß daher ihre Sehnsucht nach einer ›guten Partie‹ besonders stark ausgeprägt sein muß, dann wird man die aus ihren Wünschen nach Reichtum und Geborgenheit resultierende zielstrebige, ja skrupellose Jagd nach dem reichsten Mann und die gleichzeitigen Bedenken, ob einer der ausersehenen Männer ihr denn das Ersehnte auch bieten kann, zumindest verstehen und nicht mehr gar so schroff verurteilen, wie es der Roman sonst nahelegt. Gleichzeitig verrät gerade diese Szene, wo die Jüdin zwischen zwei Männern, die sie begehren und damit in ihren egoistischen Absichten bestärken, hin- und hergerissen wird, größeres Verständnis des Autors für die dargestellte menschliche Problematik, als sein Erzähler alias Old Shatterhand aufbringt, und es gelingt ihm für einen Augenblick die menschlich anrührende Gestaltung lebenswahr gesehener Not; die Verquickung von Charaktermängeln, wie weiblicher Eitelkeit, männlicher Besitzgier und väterlicher Eigenliebe, mit restriktiven sozialen Verhältnissen und pseudo-religiösen, in Wirklichkeit ökonomisch begründeten und aus Sozialneid fließenden Vorurteilen hat diese Frau in eine fast ausweglose Lage gebracht. Die doppelte Bedingtheit der menschlichen Existenz durch je besondere individuelle Eigenschaften und gesellschaftliche Zwänge kommt in dieser kleinen Szene zum Ausdruck. Mir scheint, eine so beeindruckende, wenn auch auf wenige Zeilen beschränkte literarische Leistung, ist Karl May selten gelungen.(70)

   Eine ironische Variante der erlebten Rede dritter Personen im Ich-Roman gibt es in ›Satan und Ischariot III‹. Die Comanchen haben Old Shatterhand, Winnetou und Emery Bothwell gefangen gesetzt: Diese Vorsichtsmaßregel hatte man getroffen, weil der Felseneinschnitt sich außerordentlich gut zur Aufnahme von uns eignete. Wir hatten von drei Seiten Felsen, und auf der vierten saßen die bis an die Zähne bewaffneten Wächter; da waren wir den Roten viel sicherer, als wenn sie uns mit draußen am Wasser behalten hätten.(71)

   Dann aber erklärt Old Shatterhand dem Engländer, das sei für sie, die Gefangenen, gerade günstig, weil es im Felseneinschnitt bald dunkel sei


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und sie sich leicht von den Fesseln freimachen könnten. Demnach muß die zitierte Bewertung des Ortes, an dem die drei eingesperrt sind, aus der Perspektive der Indianer erfolgt sein. Deren Gedankengang wird vom Ich-Erzähler nachvollzogen: Ihrer Meinung nach sind ihnen die Gefangenen viel sicherer als am Wasser, wo sie selbst lagern; nach Meinung des Erzählers dagegen ist das Gegenteil der Fall. Jetzt, während des Gesprächs Old Shatterhands mit Emery, wird auch dem Leser erst klar, daß die zunächst befremdliche positive Wertung, die Old Shatterhand über die Taktik der Comanchen abgibt, gar nicht so gemeint ist, sondern daß eine gute Portion Ironie mitspielt, die aber erst im nachhinein erkennbar ist. Der spielerische Charakter der Episode wird noch deutlicher, wenn Old Shatterhand bei der Flucht den Ausschau haltenden Comanchen so jovial-ironisch ins Bockshorn jagt.(72) Hier kündigt sich schon das Spiel Kara Ben Nemsis mit den Feinden und gleichzeitig des Erzählers mit seinem Sujet und den Lesern an, wie es wenig später (1897) im ›Turm-zu-Babel‹-Kapitel des ›Silberlöwen‹ durchgehend getrieben wird, nur daß es im Amerika-Roman noch nicht so auffällig thematisiert wird wie zwei Jahre später.(73)


3. Einzeluntersuchungen

An einzelnen Auszügen aus den Ich-Romanen analysiere ich nun, wie May seine Sujets erzähltechnisch realisiert hat, und ich versuche die Erzähltechnik zu bewerten. Dabei werde ich mich allerdings großer Zurückhaltung befleißigen, da die Problematik der literarischen Wertung bekannt ist. Wenn beispielsweise Käte Hamburger behauptet, ›Wahrheit‹ im Sinne eines nachweisbaren Tatbestands und ›Interpretation‹ schlössen einander aus, es gebe keine ›ästhetische Wahrheit‹,(74) dann redet sie damit natürlich nicht einer Beliebigkeit bei der Auslegung von Kunstwerken das Wort, sondern macht klar, daß Interpretation keine unwiderlegliche Entscheidung über Richtig oder Falsch begründet, sondern nur eine aus Elementen des Kunstwerks hergeleitete Deutung ermöglicht, der eine andere entgegengesetzt werden kann; denn diese der Deutung zugrundeliegenden Elemente werden durch eine subjektive Auswahl gewonnen und ihrerseits wieder subjektiv gewertet. So(75) werden schon ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage gegeben, ob ein Kunstwerk in sich stilistisch einstimmig sein muß oder Unstimmigkeiten, Brüche aufweisen darf; umstritten ist, wie die jeweilige Einstimmigkeit oder Ambivalenz zu beurteilen ist, wieweit Paradoxie und Ironie zu den inhaltlichen Elementen passen usw. Literarische Wertung ist also immer subjektiv bedingt und richtet sich nach den Auffassungen und Erwartungen oder Forderungen, die der Wertende an das Kunstwerk heranträgt. Ausgewählt werden Stellen


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– aus dem Frühwerk: ›Leïlet‹ (mit einem Blick auf die leicht veränderte Fassung im großen Orientroman) und ›Unter Würgern‹;

– aus den mittleren Reiseerzählungen: ›Giölgeda padis'hanün‹, ›Die Todes-Karavane‹ und ›In Damaskus und Baalbeck‹;

– aus der späten Reiseerzählung ›Im Reiche des silbernen Löwen I/II‹ das Hausschatz-Kapitel ›Am Turm zu Babel‹;

– aus den vier Altersnovellen ›Schamah‹, ›Bei den Aussätzigen‹, ›Abdahn Effendi‹ und ›Merhameh‹.

Ich beschränke mich auf Texte, die die Welt des Orients zum Gegenstand haben, aus dem einfachen Grunde, weil die Untersuchung so geschlossener ausfallen kann; ob sich in der Erzählweise signifikante Unterschiede zu den in anderen Erdteilen spielenden Erzählungen ergeben (was zu erwarten ist, da z. B. die Rolle Old Shatterhands anders gestaltet ist als die Kara Ben Nemsis(76)), kann ein anderes Mal untersucht werden.


3.1. Die erste Gruppe: Probefahrt zum Nil

Die zwei von mir ausgewählten Texte aus dem Frühwerk Mays tragen deutlich experimentellen und zugleich epigonalen Charakter; in ihnen probiert May verschiedene stilistische Formen aus, wobei er sich stark an literarischen Vorbildern orientiert.


3.1.1 ›Leïlet‹ (1876)(77)

Diese Erzählung ist die Frühfassung des Ägypten-Abenteuers in ›Giölgeda padis'hanün‹, das 1880/81 im Deutschen Hausschatz erschien. Die kolportagehafte Liebesgeschichte aus ›Leïlet‹ ist im ›Deutschen Hausschatz‹ gestrichen, einige Namen sind verändert, ansonsten ist der Kern der Geschichte meist wörtlich übernommen. Ich untersuche die erste Begegnung des Erzählers mit Abrahim-Arha (S. 9f.). Dabei gehe ich ausnahmsweise auch der Frage nach, ob der Erzählstil eine psychologisch-biographische Deutung, wie sie manche May-Interpreten geben, aushält.

   Zunächst spricht eindeutig der sich erinnernde Erzähler, der Abrahim nach dem Wert der Tabakspfeife taxiert, was er als Kenner des Orientes zu begründen weiß, dann aber als untaugliches Mittel für die Beurteilung eines Menschen erkennt. Darauf erfolgt der Übergang zur Perspektive des noch namenlosen Helden, die einige Augenblicke beibehalten wird: Lieber also einen Blick in das Gesicht! Wo habe ich doch nur diese Züge schon einmal gesehen, diese schönen, feinen und in ihrer


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Mißharmonie doch so diabolischen Züge? Ein verbloser Satz gibt den Entschluß, wie er einem Menschen jäh durch den Kopf zucken mag, wieder. In einem inneren Monolog artikuliert das erlebende ›Ich‹ seine Betroffenheit. Die zeitliche Distanz zwischen Erzählen und Erleben bleibt im folgenden aufgehoben: Forschend, scharf, stechend, nein, förmlich bohrend senkt sich der Blick des kleinen, unbewimperten Auges in den meinen und kehrt dann kalt und wie beruhigt wieder zurück. Dann werden die Gesichtszüge als Ausdruck einer zum Verbrecherischen verderbten großen Menschennatur gedeutet, die aber der Reinheit nichts anhaben könne. Dem Stil nach handelt es sich um unvermittelte Wiedergabe von Gedanken einer fiktiven Person, in die sich der Leser hineinversetzen kann. Aber: Sind das wirklich Gedanken, die einem Abenteurer in dieser vorgestellten, spannungsgeladenen Situation durch den Kopf gehen? Das ist unwahrscheinlich. Es sind vielmehr vorgestanzte Formulierungen, die in typischer Kitschmanier vorgeben, jahrelange Erfahrungen eines Menschen sowie sein Seelenleben würden sich in Gesichtszügen manifestieren und an Falten und einem stechenden Blick ablesen lassen, ein Vorgeben, das in diesem frühen Text noch plakativer formuliert wird als in späteren Romanen Mays. Wie unecht das vorgebliche Erleben ist, verrät der Fehlgriff beim entscheidenden Verb: Glühende und entnervende Leidenschaften haben dem Gesichte ihre immer tiefer eindringenden Spuren aufgravirt. Das können nicht einmal die Worte eines fiktiven Erzählers sein, es sind die Worte des Autors, der in einem neuen Metier Fuß zu fassen versucht und zunächst einmal seine vielfältige Lektüre ausschlachtet. (78) Wo bin ich diesem Manne begegnet? Ich muß mich besinnen, aber das fühle ich, unter freundlichen Umständen ist es nicht gewesen. Wer denkt hier? Der Erzähler müßte wissen, wo und unter welchen Umständen er diesem Manne schon einmal begegnet ist. Das erlebende ›Ich‹ kann es auch nicht sein, die ausdrückliche Feststellung des Gefühls wirkt dafür ganz unpassend. Also steht die ganze Passage bloß im historischen Präsens? Das aber könnte die innere Unwahrhaftigkeit der geschilderten Empfindungen nicht aufheben.

   Vielleicht ist diese Stelle überhaupt anders aufzufassen und in ihren Details für eine biographisch-psychologische Deutung fruchtbar zu machen. Der Erzähler will zeigen, daß die frühere Begegnung mit Abrahim-Arha nicht freundlich abgelaufen ist. Gleichzeitig suggeriert er dem Leser, Erlebender und Erinnernder seien mit dem Autor identisch. Wußte dieser vielleicht im Augenblick des Schreibens noch nicht, wo er die mit Abrahim-Arha gemeinte Person in seinem realen Leben schon einmal gesehen hatte? Möglicherweise liegt hier der Fall vor, daß ein solches, die Gedanken einer fiktiven Figur unmittelbar vergegenwärtigendes Stilmittel auf den Autor zu beziehen ist, daß biographische Reminiszenzen an dieser Stelle die Erzählhaltung und ihre Stilmittel bestimmen. May hätte demnach beim Schreiben dieser Passage tatsäch-


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lich, wie so oft behauptet wird, eine reale Figur seines Lebens gemeint, die er nun beschreibt, ohne aber genau zu wissen, um wen es sich eigentlich handelt. Wen aber verkörpert dann Abrahim-Arha? Da beginnen die Schwierigkeiten schon mit den beiden Namen, die der Bösewicht in den zwei Fassungen trägt. Interpreten, die eine ganze Palette unterschiedlichster Angebote machen, beziehen sich immer auf die Buchfassung, nicht auf die Frühfassung ›Leïlet‹, und sprechen von Abrahim-Mamur. Heinz-Lothar Worm schlägt vor, es handele sich um den verbrecherischen jungen May selbst, genauer: die »Nachtseite seiner Psyche«;(79) Hartmut Kühne bietet ein »teuflisches Spaltprodukt des eigenen Ichs« (natürlich Mays) an;(80) Worm denkt auch an Mays Vater.(81) Soll das nun alles auch auf den frühen Text passen? Zwischen ›Leïlet‹ und der Buchversion liegen immerhin fünf Jahre mit prägenden Ereignissen: May verläßt Münchmeyer, lebt mit Emma Pollmer zusammen, heiratet sie 1880; vor allem aber gibt es die sogenannte Affäre Stollberg mit Mays letzter Haftstrafe im Jahre 1879. Was vor diesem Hintergrund die überwiegend wörtliche Übernahme aus ›Leïlet‹ bezüglich der Beziehung des Ich-Erzählers zu Abrahim-Arha/Mamur und die Veränderungen, z. B. des Namens der befreiten Frau von Leïlet zu Güzela/ Senitza, bedeuten, lassen die genannten Interpreten offen.

   Walther Ilmer tut noch ein übriges. Seiner Meinung nach gestaltet ›Leïlet‹ den Versuch Mays, »einem anderen Mann [seinem Quartierwirt] ›die Frau wegzunehmen‹«.(82) Gestützt wird das mit Vermutungen von Wilhelm Vinzenz(83) und der unbekümmerten Aufbereitung angeblicher ›Fakten‹ durch Klaus Hoffmann in seiner Untersuchung von Mays Straftaten.(84) Fünf Jahre später soll dann nach Ilmer die gleiche Episode für Mays Kampf um Emma Pollmer gegen deren Großvater stehen.

   Unbestritten bleibt, daß May sein Leben in seinen Romanen verschlüsselt hat. Aber bei so viel Willkür und Spekulation in den Details erscheint es mir doch viel plausibler, wenn man annimmt, daß May einfach literarische Vorbilder umgestaltet hat: nicht nur bestimmte Texte wie Wilhelm Hauffs Märchen ›Die Errettung Fatmes‹ und Alfred Brehms Erzählung ›Eine Rose des Morgenlandes‹, sondern auch literarische Muster und Motive.(85) Den »melodramatischen Schluß«, der nach Bernhard Kosciuszko »auf Erinnerungen an Trivialromane zurückzuführen« ist,(86) bringt Wolfgang Hammer mit Schillers kurzem Text ›Eine großmütige Handlung, aus der neusten Geschichte‹ in Verbindung.(87)

   Auf ein wesentliches Element des Kitsches wurde oben schon verwiesen. Dazu gehört auch das Versatzstück von den ›schönen, feinen und in ihrer Mißharmonie doch so diabolischen Zügen‹, das eine Zeichnung Gustave Dorés zitiert, aber eben keine aus eigener Anschauung gewonnene Beschreibung darstellt. Später (in ›Satan und Ischariot I‹) wird May den Namen des französischen Zeichners bei der Beschreibung Harry Meltons ausdrücklich nennen.(88)


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   Als May später Teile seiner frühen Erzählung kraftsparend als Abrahim-Mamur-Abenteuer in den großen Orientroman für den ›Deutschen Hausschatz‹ einfügt, da sie in Ägypten, also auf seinem neuen Reiseweg, spielen, hat er zwar seine erzählerischen Mittel verbessert und weiß sie wirkungsvoller einzusetzen, es gelingt ihm aber nicht (oder es gebricht ihm an Zeit und Ruhe), den Text dem inzwischen erreichten stilistischen Niveau ganz anzugleichen und die Mängel der Frühfassung auszumerzen.

   Welche signifikanten Varianten zeigt ein Vergleich der beiden Fassungen an der besprochenen Stelle?

   Der oben monierte Fehlgriff wurde behoben: statt aufgravirt heißt es nun eingravirt(89) (in der Buchfassung dann eingegraben(90)).

   Der Hauptunterschied besteht in der Umformung des ersten inneren Monologs in erlebte Rede: Wo hatte ich diese Züge doch nur bereits einmal gesehen ...? Dann geht es weiter im Präsens. Das wirkt suggestiver als in ›Leïlet‹; die stufenweise Vergegenwärtigung des vergangenen Geschehens zieht den Leser machtvoller in die geschilderte Situation hinein. Der zweite innere Monolog wird in der Hausschatz-Fassung beibehalten, aber ausgebaut: Wo bin ich diesem Manne begegnet? Gesehen habe ich ihn, ich muß mich nur besinnen; aber das fühle ich, unter freundlichen Umständen ist es nicht gewesen. Auch hier eine Verbesserung, das sekundenlange Nachdenken wirkt echter, wodurch auch die Benennung des Gefühls plausibler wird. Aber diese Stelle mit ihren vergegenwärtigenden Stilelementen ist zu kurz, steht zu isoliert und enthält ansonsten noch die gleichen literarischen Versatzstücke wie ›Leïlet‹, als daß sie ästhetisch voll überzeugen könnte.

   Die beiden Fassungen der Abrahim-Arha/Mamur-Episode sind sich stilistisch insgesamt so ähnlich, daß man sie in dieser Hinsicht zusammen bewerten darf. Oft ist der Stil überladen und wirkt in dem Bemühen, eine bedrohliche Stimmung zu evozieren, uneinheitlich. Überladen an der besprochenen Stelle durch den Einsatz fiktionalisierender Elemente, die einander potenzieren sollen, die beabsichtigte Wirkung aber gerade dadurch verfehlen. Die Schwimmaktion ist in ›Leïlet‹ kurz und lieblos abgehandelt, in ›Giölgeda‹ dauert sie länger, leidet aber unter den gleichen Mängeln wie die Begegnung mit Abrahim-Arha/Mamur; sie ist in Abschnitt 2.8 kurz besprochen worden. Erlebtes, Gesehenes, sei es in der Realität des Autors, sei es in seiner Vorstellungswelt, vermitteln die Texte nicht.

   Wie konnte die Episode im Orientroman so erfolgreich werden? Gewiß liegt dies nicht an ihrem Erzählstil, sondern an ihrem Inhalt, der so fesselte mit seiner raschen Folge gefährlicher Situationen, die im Leser gleich mehrfach Beschützerinstinkte ansprechen: die Befreiung eines Mädchens, das Leid des rechtmäßigen Bräutigams, die Todesgefahr, in der der Held beinahe umkommt, die Selbstlosigkeit der anderen Helfer,


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und das alles im Dunstkreis des Harems – da mochten die damaligen Leser vielleicht gerade die etwas unbeholfene Erzählweise als wahrhaftigen Ausdruck der Empfindungen eines schlichten Weltläufers deuten, was ihre Glaubhaftigkeit förderte und der späteren ›Old Shatterhand-Legende‹ Vorschub leistete.


3.1.2 ›Unter Würgern‹ (1878/79)(91)

Der Ich-Erzähler wird von André Latréaumont empfangen: »... Wir haben seit lange mit Schmerzen auf Sie gewartet!« Dieser unerwartete Empfang mußte mich frappiren. Mit Schmerzen hatte man auf mich, den Unbekannten, gewartet? Aus welchem Grunde?(92)

   Hier liegt eine Zwischenform der unmittelbaren Gedankenwiedergabe vor, kein Gedankenbericht, aber auch nicht echte erlebte Rede. Der Erzähler beschreibt seine Reaktion auf diesen überraschenden Empfang, dann erst stellt das erlebende ›Ich‹ in Gedanken Fragen, die nur aus der betreffenden Situation heraus verständlich sind; sie werden erst nach geraumer Zeit beantwortet, wenn die Bewohner des Hauses ihm Aufklärung erteilen. Der Erlebende versetzt sich sogar in deren Situation, indem er von sich selbst aus ihrer Perspektive als einem Unbekannten spricht. Dies ist möglich, weil ihm zu diesem Zeitpunkt eine Information fehlt, daß nämlich Emery Bothwell vieles über ihn berichtet hat, so daß er in Wahrheit gar kein Unbekannter mehr ist. Die Gedanken des erlebenden ›Ichs‹ stellen sich also simultan zum Geschehen ein, sind demnach wie erlebte Rede aufzufassen. Es ist die einzige Stelle dieser Art in ›Unter Würgern‹; ähnliche Passagen lassen sich immer bei näherem Hinsehen als Gedankenbericht erkennen.

   Nur an dieser Stelle also kann sich der Held sogar in andere Personen hineinversetzen, wenn er dabei auch aus mangelnder Information einem Irrtum erliegt. Warum gerade hier? Vielleicht hat dies mit der Art und Weise zu tun, wie der Reisende von den Gastgebern empfangen wird: wie ein Messias, auf den sie mit Schmerzen gewartet haben, von dem sie sich Erlösung aus tiefer Not nicht nur erhoffen, sondern ganz sicher erwarten. Ihre Überzeugung ist vergleichbar mit der Glaubensgewißheit, mit der in der Bibel die Gebrechlichen in Jesus Christus den Erlöser von ihren Leiden sehen. Der Erzähler soll den verschleppten Sohn aus der Hand der Wüstenräuber befreien. (Emery wartet derweil wie Johannes der Täufer auf den, der – geistig – stärker ist als er.) Die Unausgewogenheit, ja innere Unwahrhaftigkeit der Szene wird deutlich, wenn der Leser mit einigem Erstaunen erfährt, in welchem Zustand innerer Ruhe sich Mutter und Schwester des Entführten befinden: beide ruhen kostbar gekleidet und entspannt auf Tabouret und Divan; Madame haben sogar in einem Romane geblät-


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tert. Ebenso bereitwillig, wie Jesus den an ihn Glaubenden hilft, so folgt auch der Erzähler der Bitte seiner Gastgeber: »Liegt es in meiner Macht, so wird sie erfüllt!« antwortete ich einfach.(93) Nur geht er in der Retterrolle noch nicht gänzlich auf, was die Einschränkung in seiner einfachen Antwort zeigt sowie die Überraschung, die er angesichts der sehnsüchtigen Erwartung konstatiert. Später wird er die Rolle selbstbewußter spielen.

   Interessant dürfte an dieser Stelle ein Vergleich mit einer ähnlichen Selbststilisierung, die wieder eine biblische Parallele hat, sein, weil man so einen gravierenden Unterschied deutlich machen kann. Es handelt sich um den Anfang des Kapitels ›Am Turm zu Babel‹, der vor dem Herbst 1893 entstanden ist; es wird unten in Abschnitt 3.3.3 besprochen werden. Eine Selbstironisierung, wie sie dort zu erkennen ist, findet sich jedenfalls in ›Unter Würgern‹ noch nicht.


3.1.3 Zusammenfassende Wertung

Die beiden frühen Texte dokumentieren die tastenden Versuche Mays, seinen Stil zu finden. Dabei verraten die trivialisierende Behandlung des abgegriffenen Sujets, das hektische Erzähltempo und der weitgehend mißglückte Einsatz fiktionalisierender Stilmittel in ›Leïlet‹ die Unselbständigkeit und Unsicherheit des Autors, der noch weit entfernt von der eigenartig fesselnden Erzählweise späterer Romane ist. ›Unter Würgern‹ enthält ein – ebenfalls trivialisiertes – biblisches Motiv, gestaltet es aber so uneinheitlich, daß es eher lächerlich wirkt.

   Diese Texte bezeugen weder den Versuch, bewußt zu fingieren, noch die Fähigkeit, sich ganz in die vorgestellte Wirklichkeit hineinzudenken; es sind eben literarische Proben, die nur an den wenigen Stellen annehmbar erscheinen, wo sich der Erzähler Zeit nimmt, einzelne Situationen auszugestalten.


3.2. Die zweite Gruppe: Erlebnisreise durch Wüste und Ruinen

Die drei Texte der zweiten Gruppe gehören in die Zeit der frühen und mittleren Reiseerzählungen. Sie sind gekennzeichnet durch die weitgehend eigenständige Gestaltung der abenteuerlichen Handlung; überschaut man sie im ganzen, fällt aber die verwirrend uneinheitliche Erzählweise auf, die oft mit stilistischen Fehlgriffen durchsetzt ist, welche die zunächst gut inszenierte Stimmung abrupt zerstören.


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3.2.1 ›Giölgeda padis'hanün‹ (1880)(94)

Kara Ben Nemsis Begegnung mit Amscha und sein Mekka-Besuch sollen hier untersucht werden: Der Held trifft in der arabischen Wüste Amscha, die Tochter des Scheiks Malek, Hannehs Mutter, über die er sich Gedanken macht:

Das Weib war allerdings nicht mehr jugendlich ... aber einst war sie gewiß nicht häßlich gewesen, das sah man ihr heute noch sehr deutlich an. Was führte sie so ganz allein in die Wüste? Warum hatte sie den Weg nach Dschidda eingeschlagen und kehrte nun mit uns zurück? Warum war sie sichtlich erfreut gewesen, als sie hörte, daß Halef nach Mekka gehen wolle, und warum sagte sie nicht, wohin sie uns führen werde? – Sie war mir ein Räthsel. (DH 435)

Das ist erlebte Rede, die fiktive Gegenwart der Situation wird noch durch die deiktischen Zeitadverbien ›heute, nun‹ und das Adverb ›sichtlich‹ unterstrichen. Kara Ben Nemsi stellt sich selten so drängende Fragen über die Motive anderer Menschen wie an dieser Stelle: Welche Bedeutung hat diese Frau also, wenn sie ihn so sehr beeindruckt? Auf der Ebene der Abenteuerhandlung spielt sie keine so herausragende Rolle, daß sie das Interesse des Deutschen in solch hohem Maße erwecken könnte, zumal dieser noch gar nichts von ihr weiß. Steckt also mehr dahinter? Warum packt den Erzähler diese Figur so, daß er für mehrere Augenblicke total hinter seinem erlebenden ›Ich‹ verschwindet und die geschilderte Situation dem Leser als gegenwärtige Wirklichkeit präsentiert? Beteiligen wir uns noch einmal an dem beliebten Spiel autobiographischer ›Spiegelungen‹ und fragen: An wen dachte der Autor, als er diese Szene zu Papier brachte?

   Welche Angebote machen berufene Interpreten? Walther Ilmer sieht in Amscha »Frau Pauline [sc. Münchmeyer], deren Beziehungen zu Heinrich nicht durchweg die besten waren«, in Scheik Malek »ihren gutmütigen Stiefvater, den alten Reuter«, in Hanneh »Paulines Schwester Minna, mit der May verheiratet werden sollte«.(95) Nach Ilmers Meinung werden aber die diesen realen Verhältnissen zugrundeliegenden Geschehnisse »ausgeblendet und überblendet« zu gänzlich anderen Personen und Ereignissen, was das Verständnis der Stelle natürlich nicht erleichtert und die Interpretation nicht eben überzeugend macht, sondern – wie so oft bei derartigen Gedankenspielereien (was diese ›Spiegelungen‹ meiner Ansicht nach sind) – zu völliger Beliebigkeit, das aber heißt: Belanglosigkeit führt.(96) Verwirrender wird alles noch, wenn man die tiefenpsychologische Deutung Worms heranzieht: Danach »könnte« hinter der »Konstruktion« – Malek nimmt als liebender Vater den Fluch der Obrigkeit auf sich, um Amschas Schmach zu sühnen – »der Wunsch Karl Mays versteckt sein nach einem Vater, der sich (...) mit dem Schicksal seines Kindes identifiziert«;(97) damit setzt Worm Malek (»ein Stück weit«)


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mit Mays Vater gleich, dessen Ächtung in Ernstthal (wie die Maleks in Mekka) allerdings nur vermutet wird. Da Worm nur die männlichen Figuren behandelt, fehlt eine analytische Deutung Amschas, aber man kann annehmen, daß sie auf dieser Deutungsebene nicht mit Pauline Münchmeyer gleichgesetzt würde. Halten wir der Vollständigkeit halber noch fest, daß eine weitere Figur dieser Episode, Abu Seïf, von Ilmer autobiographisch an einer Stelle mit dem Verleger Münchmeyer gleichgesetzt wird,(98) an anderer aber mit Emmas Onkel, dem Barbier Emil Pollmer;(99) Worm wiederum interpretiert den Räuber archetypisch als »ungezügelte«, »schrankenlose Sexualität« Mays.(100)

   Akzeptiert man, daß die unterschiedlichen Ansätze solcher Analysen verschiedene, ja widerstreitende Deutungen zulassen mögen (z. B. Malek als Stiefvater Paulines, aber auch – zusammen mit Mohammed Emin – als »der gerechte, liebende, göttliche Vater«(101)); sieht man aber auch darüber hinweg, daß zum scheinbaren Gelingen solcher Deutungen der May-Text vergewaltigt werden muß (z. B. wenn Ilmer behauptet, Kara Ben Nemsi überlasse Abu Seïf »den augenscheinlichen Sieg« – dabei gibt Abu Seïf selbst das Gegenteil zu (DH 410); oder Halef komme Kara Ben Nemsi in Mekka zu Hilfe(102)) und erkennt man die grundsätzliche Berechtigung solcher Interpretationsansätze an – dann muß aber doch gefragt werden, welche Bedeutung die erlebte Rede mit ihren den Erzähler irritierenden Fragen von diesen Ansätzen her gewinnt.

   Die Fragen betreffen Amscha, die wie ein Mann handelnde Frau. In bezug auf Abu Seïf, Malek, Hanneh erfolgen keine Überlegungen dieser Art. Nun haben diese Personen sowohl auf der Handlungsebene als auch in den oben angeführten Interpretationen ein ungleich größeres Gewicht als Amscha: Mays Vater, Münchmeyer, Minna Ey, Emma Pollmer und Mays Sexualität – sie alle hatten gewiß einen bestimmenderen Einfluß auf das Leben Mays als Pauline Münchmeyer, wenn diese auch offenbar die Idee hatte, May durch eine Heirat mit ihrer Schwester Minna an Münchmeyers Verlag zu binden.(103) Oder aber – sollte man aus dieser Stelle eine besondere Bedeutung gerade dieser Absicht Paulines herauslesen können? Versuchen wir's:

   In welcher ›Wüste‹ bewegt sich Pauline ›so ganz allein‹? Im Verlegergeschäft, der Kolportage, die auch Münchmeyer alias Abu Seïf beherrscht, wenn auch nicht so gut wie Karl May alias Kara Ben Nemsi? Das kann nicht sein, Mekka steht nach Ilmer für den Münchmeyer-Verlag, und diese Stadt und die Wüste bilden im Roman zwei eindeutige Gegenwelten, die unmöglich autobiographisch gleichgesetzt werden können. Und wieso ›allein‹? Sie ist doch Teil eines ganzen Familienclans, in dessen Interesse sie handelt. Sodann: Wofür steht Dschidda, das Ziel Amschas/Paulines, bevor sie auf May/Kara Ben Nemsi trifft? Da bietet sich kein realer Ort an. Es scheint nachgerade unmöglich, den


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Text ernst und genau zu nehmen und gleichzeitig widerspruchsfrei mit der Autobiographie oder dem Seelenleben Mays in Verbindung zu bringen, ohne in Beliebigkeit zu verfallen, indem man behauptet, die Kolportage sei mal das – aus christlicher Sicht gesehene – heidnische Mekka, mal die Wüste, ganz wie es einem paßt.

   Der Versuch, auf diesem Wege eine Verschränkung der drei Wirklichkeitsschichten mit Autor, Erzähler und Erlebendem aufzuzeigen, ist zum Scheitern verurteilt. Also zurück aus der Spekulation, die mit dem normalen Leseerlebnis sowieso nichts zu tun hat, zur Textanalyse. Wie sind die Amscha betreffenden Fragen in Form der erlebten Rede zu erklären? Kara Ben Nemsi ist offenbar sehr beeindruckt von dem Verhalten dieser Frau, die in einer für orientalische Verhältnisse ganz ungewöhnlichen Weise selbständig handelt, sehr bestimmt auftritt und sich mit dem deutschen Abenteurer auf eine Stufe stellt, was dieser ohne weiteres akzeptiert, indem er sich z. B. stillschweigend von ihr über den Mund fahren läßt. Wie so oft bei May liegt eine Begegnungsszene vor, aber mit umgekehrten Vorzeichen zum üblichen Ablauf solcher Szenen: Nicht Kara Ben Nemsi ist den anderen Personen ein Rätsel (in vielerlei Gestalt), sondern eine andere Person kommt ihm rätselhaft vor, verbirgt ihre wahre (charakterliche) Identität und macht ein Geheimnis um ihre Vergangenheit, ihr ganzes Wesen. Und da fällt einem die uralte Marah Durimeh ein, die Kara Ben Nemsi in Amadijah ebenfalls als ein ›Räthsel‹ (das Wort wird zweimal unmittelbar hintereinander gebraucht(104)) erscheint. Beide Personen, Amscha und Marah Durimeh, bestimmen Kara Ben Nemsis weiteren Lebensweg, wenn auch die alte Kurdin ungleich höheren Einfluß ausübt als die Beduinin. Und ähnlich wie Marah Durimeh in einer von der Norm abweichenden Weise als Frau auftritt, der der Held mit größter Ehrfurcht begegnen wird, so auch die Beduinin Amscha, die von dem Mann als gleichberechtigte Persönlichkeit behandelt wird. Ganz prägnant veranschaulicht in dieser Szene die erlebte Rede die Gegenwart der innerlich geschauten fiktiven Situation; sie muß daher in erster Linie aus dieser Situation gedeutet werden. Das soll und kann als Erklärung genügen, zumal Amscha auf eine dritte weibliche Figur, die später auch eine größere Bedeutung als eigenständige, selbstbewußte Frau erlangen wird, nämlich ihre Tochter Hanneh, vorausweist.

   Bald darauf tritt der Wunsch des Deutschen, Mekka zu besuchen, in den Vordergrund. Ganz unmittelbar mit seinen Augen wird die Stadt beschworen: Da lag sie, die »Heilige«, die Verbotene! (DH 451) Das ist noch reine Vorstellung des Erlebenden, denn mit Augen zu sehen ist die Stadt von seinem Standort nicht. Es schließen sich Überlegungen an, die als erlebte Rede oder wenigstens sehr erlebnisnah formulierter Gedankenbericht gegeben werden. Die Passage endet mit einem Resümee des sich erinnernden Erzählers.


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   Abends sieht Kara Ben Nemsi die Lichter von Mekka: Dort lag Mekka – – – ! (DH 452) Wieder ein sehnsüchtiger Gedanke. Die drei Gedankenstriche deuten das innere (Nach?-)Erleben an. Die ganze Episode ist reich an Feststellungen, oft in Frageform, die eine unauflösbare Mischung aus Erleben und Erinnern ergeben. Dies gilt auch für die Flucht aus Mekka nach der Entdeckung durch Abu Seïf: Aber – wird das Thier gehorchen? ... Gott sei Dank! Bei dem bekannten Ruf erhob sich das Hedjihn in zwei Rucken, und windschnell ging's nun dahin. Schüsse krachten hinter mir – nur vorwärts, vorwärts! (DH 455) Die Frage ist innerer Monolog, der Ausruf Gott sei Dank! kann auch beim Erzählen bzw. Schreiben noch einmal durch den Kopf gehen – es ist eine Alptraumsituation, die mit der im Kanal auf Abrahim-Mamurs Anwesen verglichen werden kann; nur vorwärts, vorwärts! – das gilt auch für die erinnernde Bewältigung der Situation während des Schreibens. Der nächste Satz: Wäre das Kameel eines jener halsstarrigen Thiere gewesen, welche man so oft findet, so war ich unbedingt verloren. Die grammatisch falsche Form verrät zum einen die Vermischung der beiden Ebenen: es beginnt im Konjunktiv II als Wiedergabe einer gedachten Möglichkeit, die der Ebene der Erinnerung angehört, und geht über in den Indikativ, der eine Feststellung trifft: das kann erlebte Rede sein; zum andern aber verrät dieser Satz den Hang Mays zur Übersteigerung: Schon vorher hatte er den sicheren Tod im Falle der Entdeckung vorhergesagt, und dann wird genau an der richtigen Stelle ein schnelles Kamel plaziert, das den Helden in Sicherheit bringt. Auch der eine Satz im Präsens wirkt eher fehl am Platz. So ganz sicher ist sich May seiner erzählerischen Mittel also immer noch nicht.

   Während der Flucht folgen erneut mehrere Fragen als erlebte Rede, dann kann wieder ruhiger erzählt werden.

   Ich breche hier die Einzelanalyse ab. Festzuhalten bleibt, daß diese Episode viele Stellen enthält, an denen das doppelte Bewußtsein des Ich-Erzählers dargestellt wird, und zwar im Augenblick des Erlebens und im Augenblick des Erinnerns, wobei sich beide Phasen stellenweise überlagern. Es ist eine wichtige Episode, die sich wesentlich von den vorhergehenden (den Abenteuern in der Sahara, in Ägypten und auf dem Roten Meer) unterscheidet. Hier wird Kara Ben Nemsi zum ersten Mal von den Eingeborenen aufgenommen und in Leben und Umwelt der Wüstenbewohner integriert; er handelt nicht nur auf eigene Faust, um aus eigenem Antrieb Unrecht zu verfolgen oder auf die Bitte eines anderen jemanden zu befreien; er handelt innerhalb einer Gruppe, wenn auch zunächst noch widerwillig, und erfährt im Gegenzug von eben dieser Gruppe Hilfe, damit er seinen geheimen Wunsch, die verbotene Stadt zu besuchen, ausführen kann. Folgerichtig schließt die Episode mit den Worten Maleks, die er im Namen aller spricht: »... Du bist unser Freund und Bruder, obgleich Du einen andern Glauben hast,


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als wir. Sallam, Effendi!« – – – (DH 467). Gleichzeitig wird sein Begleiter durch Heirat in die Gruppe aufgenommen – alles Voraussetzungen für die kommende Handlung, die Hilfe für die Haddedihn gegen feindliche Wüstenstämme, den Ritt nach Mossul und nach Kurdistan usw., woran sich alle die anderen Abenteuer anschließen. Ilmer stellt richtig fest, daß jetzt die Exposition beendet ist und die Haupthandlung beginnt,(105) welche in einem riesigen Spannungsbogen bis zur Bestrafung des Schurken, der dem Deutschen als erster begegnet ist, und zur Schenkung Rihs an Halef reicht. Aber während Ilmer diesen Einschnitt autobiographisch zu begründen versucht, kann man ihn meiner Ansicht nach zutreffender herleiten aus der Position, die die Episode um Malek, Amscha, Abu Seïf, Halef und Hanneh sowie Kara Ben Nemsis Mekka-Besuch innerhalb der Folge der abenteuerlichen Ereignisse und ihrer erzählerischen Vermittlung einnimmt, einer Position, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Erzähler das unmittelbare Erleben der damaligen Geschehnisse besonders intensiv wiedergibt und an vielen Stellen die Distanz zum vergangenen Geschehen verliert, ja verlieren muß, weil er sich endlich – wenigstens für einige Zeit – in dieser Welt seiner Phantasie etabliert hat, weil er akzeptiert worden ist von den fiktiven Gestalten, die er erfindet, und weil sich damit nicht nur sein erträumtes ›Ich‹, sondern auch sein reales Autor-Ich bewährt und bestätigt; damit wird seine dunkle Vergangenheit überwunden. Diese aber bedrängt ihn offenbar beim Abfassen der Mekka-Episode nicht so stark, daß sie ihn zu strikt distanzierendem Erzählen zwingen würde, wie das in der als nächstes zu behandelnden Ereigniskette aus ›Die Todes-Karavane‹ der Fall ist. Eine auf erzähltechnisch-stilistischer Analyse beruhende Deutung erscheint mir, weil sie aus dem Wortlaut des Textes abgeleitet werden kann, stringenter als die angestrengte Suche nach detailliert aufzulistenden Parallelen im realen Leben des Autors, so befriedigend diesbezügliche Funde im Einzelfalle für den Analytiker auch sein mögen.


3.2.2 ›Die Todes-Karavane‹ (1882)(106)

Es handelt sich um die Episode aus dem großen Orientroman, die oft als eine der bewegendsten und beeindruckendsten erzählerischen Leistungen Mays gewürdigt wird.(107) Kara Ben Nemsi gerät an den Rand des Todes, weit entfernt von den Höhen des Schar Dagh, auf denen er der Liebe und dem Mit-Leiden in der Person Marah Durimehs begegnet war; der Autor verarbeitet hier – nach übereinstimmender Meinung der Biographen – eines der bedrängendsten Kapitel seines Lebens, den Verlust der Mutterliebe. Welche erzählerischen Mittel setzt May ein, um diese Erlebnisse zu gestalten?

   Der Anfang dieser Episode, an dem die ersten Hinweise auf die Pest-


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erkrankung stehen, ist ganz als nüchterner Bericht des erinnernden Erzählers in Außensicht gestaltet: Bei diesen Gedanken war es mir ...; etwas später: Ich hatte die Empfindung ... Und das war nicht etwa Einbildung usw. (DH 94) Auch die Frage: Was sollte ich thun, oder vielmehr, was konnte ich thun? wird, die Berichtigung beweist dies, vom Erinnernden gestellt. Dann schildert der Held seinen Zustand in sehr distanzierter Form: Ich hatte das Gefühl ...; ich merkte, daß ... (DH 104). Vollends der ironische Vergleich: die alte persische Dienerin, die wie ein ungarischer Tzikos ritt, was ich dieser persischen Huldgöttin gar nie zugetraut hätte (DH 105), ist Ausdruck völlig fehlender emotionaler Beteiligung des Erzählers an dem Schicksal seines erlebenden ›Ichs‹. Kara Ben Nemsi hat angesichts des Birs Nimrud sogar noch Lust, Uhland zu zitieren (DH 106) und die Plattform zu ersteigen, um die weite Aussicht zu genießen. Ausführliche historische Angaben leiten zur Erinnerung an die Heimat über, die aber nicht etwa Todesahnungen, sondern bloß Bibelzitate provoziert. Auch die folgenden, irgendwo abgeschriebenen Angaben über den Zerfall Babels lassen keinen stimmigen metaphorischen Bezug zu der in Kara Ben Nemsi rumorenden Pest erkennen. Alles mündet in einen wiederum ironischen Vergleich, der den erreichten Krankheitszustand völlig verharmlost: Ich befand mich in einem Zustande, welcher einem recht starken Katzenjammer glich, was ich sehr wohl zu beurtheilen verstand, da ich während meiner Schülerzeit leider auch einige Male mich in jener hochelegischen Morgenstimmung befunden hatte, welche Victor Scheffel, der Dichter des Gaudeamus, mit den Worten beschreibt: es folgt ein dreizeiliges Zitat (DH 107). Im folgenden kommt das Bedrängende der Situation nur im Dialog mit Halef annähernd zum Ausdruck.

   Die distanzierende Erzählweise ändert sich auch danach nicht; klischeehafte Wendungen (DH 122), die prompt verunglücken (eine herrliche Menschenblume, die ... verwelken mußte: die verbale Metapher paßt nicht zum plötzlichen Tod durch Mord) geben Kara Ben Nemsis ›Empfindungen‹ bei der Entdeckung der Leiche Bendas wieder, der persönlichste emotionale Ausruf bezieht sich befremdlicherweise auf Materielles (Welche Reichthümer waren dabei in die Hände dieser Teufel gekommen! DH 122). Auch der etwas spätere Ausruf: Hätte ich jemals ahnen können, daß ich an diesem Orte meinen vielbewegten Lauf beschließen werde! (ebd.) ist aufgrund seiner isolierten Stellung im distanzierten Bericht nicht geeignet, den erinnernden Erzähler vergessen zu lassen, was dann durch dessen Kommentar zu Kara Ben Nemsis Überlegungen, er hätte die Morde verhindern können (Ich kann mich diesem Vorwurfe noch heut nicht ganz entziehen, obgleich seitdem eine geraume Zeit vergangen ist (DH 123)), noch unterstrichen wird. Es folgen die für einen Pestkranken ganz unangemessene Belustigung (Diese lieben Söhne des Propheten dachten in ihrem Entsetzen gar nicht ... (DH


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123)) und trockene Metaphorik (Ich drängte mein Leid mit Gewalt zurück zum Herzen (DH 124)), welche die vielleicht beabsichtigte Wirkung der wenigen Ansätze zu einem emotional geprägten fiktionalisierenden Erzählstil (Ja, Medizin, aber welche! ... Was verstand ich als Laie von der Behandlung der Pest! ... Es mußte doch irgendwo eine Quelle ... geben ... DH 123) im Keim ersticken. Den kräftigsten Anstoß zu emotionaler Erregung verursacht noch der Tod des Hundes: Ich hatte das Gefühl, als ob der theuerste Freund mir an meiner Seite erschossen worden sei. O, diese Schwäche! Wäre ich bei meiner frühern Kraft gewesen, was hätte ich mir aus diesem alten Strick gemacht, der meine Arme zusammen hielt! (DH 125)

   Die aufregenden Ereignisse um den Tod vieler dem Erzähler befreundeter Wesen und die Todesgefahr, in der sich Kara Ben Nemsi und Halef befinden, werden ganz überwiegend emotionslos, oft mit unangemessenen Stilmitteln erzählt und kaum einmal in eine aus der Sicht des Erlebenden gestaltete Stilform gebracht. Inhaltlich ist diese Episode von morbider Düsternis gekennzeichnet: die Umgebung (Wüste, Ruinen), die Verwesungsluft, die Ermordung der Perser, die Erschießung des treuen Hundes, der mutmaßliche Tod Lindsays (der fast am erschütterndsten wirkt, da er im Stadium der Andeutung bleibt und den Leser in völliger Ungewißheit läßt), die sich allmählich entwickelnde Krankheit – diese inhaltlichen Elemente könnten eine allgemeine Todesstimmung verbreiten, die noch dadurch verstärkt würde, daß das dreimalige Auftauchen von Räubern recht kurz gehalten wird und somit fast spukhaft wirkt, wenn – ja, wenn sie nicht durch den Erzählstil immer wieder zerstört würde. Dafür ist nun nicht der rationale Stil als solcher verantwortlich zu machen; wenn er durchgehalten würde, könnte man ihn als effektvollen Erzählstil genießen, der gerade wegen der tiefen Betroffenheit des Autors May von den eigenen Erlebnissen, die hier literarisch verarbeitet werden, ohne jeden Schnickschnack die Ereignisse für sich selbst sprechen ließe. So ist es aber gerade nicht; die oben angeführten stilistischen Entgleisungen (Klischees, verunglückte Metaphorik, unangemessene Ironie) machen die Erzählweise uneinheitlich und lassen die beabsichtigte Todesstimmung nicht aufkommen.

   Man ist versucht, dem Autor schlicht mangelndes Stilgefühl, wenn nicht gar erzählerisches Unvermögen vorzuwerfen. Dies ginge aber sicher zu weit, denn beispielsweise die Textstelle, die ich als nächste besprechen werde, schildert einen vergleichbaren Zustand existentieller Not auf einem hohen literarischen Niveau. Der Hauptgrund für die meiner Ansicht nach – jedenfalls wenn man sie an ihrem anspruchsvollen Thema mißt – stilistisch mißratene Episode von der Pesterkrankung ist wohl der oben schon angedeutete: Es zeigt sich eine unbewußte Abwehr gegen eine Projektion größter seelischer Nöte, die hinter der Gestaltung dieser Episode stehen, nach außen; man könnte diese unein-


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heitliche, ja in sich widersprüchliche Stilform als eine Art Zensur deuten, die zu diesem Zeitpunkt noch verhindern soll, daß das Innenleben des Autors allzu deutlich an die Oberfläche gelangt, ohne daß diese Zensur allerdings die Durchsichtigkeit der literarischen Gestaltung von realer Vergangenheit des Autors gänzlich verhindern kann. Diese Zensur führt hier zu einem hohen Grad von Fingiertheit des Erzählten, wo die fiktionalisierenden Stilmittel auf ein Minimum beschränkt werden und der Leser auf vielfältige Weise die Anwesenheit des Erzählers als Aussagesubjekt erfährt, das ungewollt die tiefere Authentizität des Erzählten als ein Teil des wirklichen Lebens Karl Mays dokumentiert, indem es sich praktisch aller Hinweise auf eine emotionale Beteiligung des Erzählers bzw. Autors enthält.

   Auch der Eindruck, daß an mehreren Stellen Selbstironie des Erzählers mitzuschwingen scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als trügerisch. Zu offener Selbstironie ist May erst später in der Lage; ein besonders schönes Beispiel dafür ist Halefs Hinweis im ›Silberlöwen‹ auf die Gänge, die die Stachelschweine ausgerechnet für Kara Ben Nemsi gegraben haben sollen (siehe unten Abschnitt 3.3.4). Hier aber ist kein Platz dafür, weder für das erlebende noch für das erinnernde ›Ich‹ bzw. den Autor, wo es sich um die Schilderung einer existentiellen Grenzsituation handelt. Gerade diese Stellen bestätigen daher die dem Autor unbewußte Verschleierung der realen Grundlage der Handlung, eine für den Leser offenkundige psychische Abwehrreaktion Mays.


3.2.3 ›In Damaskus und Baalbeck‹ (1882/83)(108)

Das nächste Beispiel stammt aus ›In Damaskus und Baalbeck‹ und schildert die abenteuerliche Begegnung Kara Ben Nemsis mit Abrahim-Mamur in den Ruinen von Baalbek. Es übertrifft in der Qualität des Aufbaus und der Gestaltung der Einzelheiten die vorhergehenden Texte bei weitem.

   Die Passage, in der dieses Abenteuer erzählt wird, setzt gleich beeindruckend mit einer verschleierten Vorausdeutung ein: ... und wohl heute noch kam es vor, daß sich Einer dort [sc. in den unterirdischen Gängen] verbarg, welcher Ursache hatte, sich nicht sehen zu lassen. (DH 223) Außerdem wird das epische Präteritum kam mit dem Zeitadverb heute verbunden, das sich auf die fiktive Gegenwart des Erlebenden, nicht die des Erinnernden bezieht, wodurch schon hier die Verbform ihre Vergangenheitsbedeutung verliert und die ganze Handlung für den Leser die Qualität unmittelbarer Gegenwart gewinnt.

   Dann setzt die eigentliche Handlung ein: ... wanderte ich langsam durch die Ruinen, mich ganz dem Eindrucke überlassend, den sie auf mich machten. Welch ein Unterschied zwischen dem Geschlechte, das


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solche Massen zu überwältigen verstand, und demjenigen, dessen Hütten da hinter mir an den Trümmern lehnten! (ebd.) Kara Ben Nemsi bemerkt Schlangen, ein Chamäleon, einen Turmfalken. Halt, war da drüben nicht eine Gestalt vorübergehuscht, schnell und geschmeidig, wie der Schatten einer Wolke? Es war jedenfalls Täuschung, aber ich schritt langsam der Stelle zu, an welcher ich den Schatten erblickt hatte. (ebd.)

   Hier wird eine spannende Situation vergegenwärtigt, mit Gedanken, Augenblickseindrücken, einer Vermutung (die sich später als falsch herausstellen wird, was der Erzähler wissen müßte, wäre er nicht ganz in der Person des Erlebenden aufgegangen). Und konsequent geht es in diesem Stil weiter: Hinter der Doppelsäule öffnete sich da eine tunnelartige Aushöhlung, welche eine gewisse Neugierde in mir weckte. Wie mochte es in einem dieser Gänge beschaffen sein, in denen beim Glanze düsterer Fackeln die Opfer Baal's dahingeschlachtet wurden? Es konnte nicht schaden, einige Schritte in den Gang zu tun. Wenn ich nur so weit ging, als das Licht des Tages reichte, so konnte mir ja unmöglich ein Unglück geschehen. (ebd.) Das ist echte erlebte Rede, denn der Erzähler sollte wissen, daß es gar wohl geschadet hat. Die ostentative Sicherheit, mit der Kara Ben Nemsi ein Unglück ausschließt, signalisiert dem Leser, daß eins geschehen wird. Außerdem belegt das Präteritum dahingeschlachtet wurden, das eigentlich ein Plusquamperfekt sein müßte, die fiktive Gegenwart dieser Vorstellung im Kopfe Kara Ben Nemsis. Erzähler und Leser bleiben ganz bei dem Erlebenden, wenn nun erzählt wird, was er in dieser Situation sinnvollerweise tut und denkt: Er beobachtet genau (dazu ist er in den Gang gegangen), und: Ich schaute und horchte in die mächtige Finsterniß hinein, und meine Phantasie malte sich den Schreck aus, welchen ich empfinden müsse, wenn da hinten plötzlich Lichter auftauchten und Sonnendiener hervorbrächen, um mich zu packen und zu den Opfern Moloch's zu gesellen. (ebd.) Kein abgeschriebener historischer Exkurs, kein Bibelzitat; statt dessen eine auf die handelnde Person abgestimmte Eindrucksschilderung inneren Erlebens, das zugleich auf die kommenden Ereignisse vorausdeutet.

   Die Stimmung wird richtig beibehalten: Ich kehrte mich wieder dem Eingange zu. Wie anders da draußen das helle warme Tageslicht! (ebd.) So empfindet wohl tatsächlich ein Mensch mit reger Phantasie, der in unterirdische Verliese aus uralter heidnischer Zeit gestiegen ist. Dann wird ein Gedanke angefangen, unterbrochen, ein von den aufs äußerste angespannten Nerven kaum bemerkter Eindruck vage realisiert, die körperliche Reaktion kommt nicht mehr zustande, und das vom Leser befürchtete Unglück geschieht: Im Glanze der Sonne muß – – – halt, knisterte es nicht hinter mir? Ich wollte mich umwenden, erhielt aber in diesem Momente einen fürchterlichen Schlag gegen den Kopf. Ich weiß noch, daß ich taumelte und die Arme nach dem Manne ausstreckte, welcher den Hieb geführt hatte; dann aber wurde es schwarz um mich. (ebd.)


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   Der Erzähler scheint in der ganzen Passage völlig verschwunden, wiedergegeben wird nur noch, was Kara Ben Nemsi registriert: zuletzt im Präsens (muß); auch daß er den Mann sieht, wird in einer Weise formuliert, die deutlich macht, daß es die Wahrnehmung eines Sekundenbruchteils ist. Hier liegt eine packende Schilderung vor, die eine ansprechende stilistische Unmittelbarkeit und Einstimmigkeit erreicht.

   Als Kara Ben Nemsi wieder zur Besinnung kommt, äußert er Fragen und Vermutungen in Form der erlebten Rede: Wo befand ich mich? – Wer war der Mann? Jedenfalls doch der, welcher mir den Schlag versetzt hatte. Warum hatte er mich so feindlich behandelt? Der Mann spricht ihn an, Kara Ben Nemsi erkennt ihn sofort an der Stimme: Himmel! Diese Stimme kannte ich! (DH 223) Seine Gedanken werden wiedergegeben in Gestalt erlebter Rede, wobei der Ausruf Himmel! sogar präsentisch aufzufassen ist, als Ein-Wort-innerer-Monolog. Dann folgt ein längerer Dialog. Danach wieder Kara Ben Nemsis Gedanken: Ich hörte an dem Rascheln seiner Kleider, daß er sich zum Liegen ausstreckte. Wollte er wirklich schlafen? Unmöglich! Oder sollte dies eine neue Qual für mich bedeuten? Wollte er mit mir spielen, wie der Knabe mit dem Käfer an der Schnur? (DH 224)

   Die folgende Passage enthält viele Fragen, die das angestrengte Nachdenken des Überrumpelten deutlich machen, wie er dem Tod entgehen kann: Aber umkommen! War es denn wirklich so weit? Vermochte ich mich nicht zu wehren? (DH 224) Darüber vergißt man die inhaltliche Ungereimtheit, die der Gefangene selbst empfindet, daß Abrahim-Mamur seinen Gegner nur unzulänglich gefesselt hat und zögert, ihn ganz unschädlich zu machen, daß er stattdessen angeblich schlafen will. Die folgenden Überlegungen Kara Ben Nemsis und der anschließende Kampf sind packend geschildert, wie man es von May gewöhnt ist. Dann folgen wieder viele Fragen und Vermutungen des erlebenden ›Ichs‹. Erst spät (DH 234) erfolgt der erste maytypische Hinweis auf Kara Ben Nemsis Kaltblütigkeit und Ruhe. Und dann das tolle Hinübersteigen über den liegenden Feind, in stockdunklem Gang. – pst! – heißt es da (ebd.), reine Gegenwart des Erlebenden. Wie froh Kara Ben Nemsi ist, als er wieder ans Tageslicht gelangt, verrät der erlösende Stoßseufzer: Gott sei Dank! Ich war befreit! (DH 234)

   Dann wird die Suche nach Abrahim-Mamur unternommen, die nun überwiegend sachlich geschildert, aber einige Male mit Fragen in Form erlebter Rede gewürzt wird. Es stellt sich schließlich heraus, daß Abrahim-Mamur Kara Ben Nemsi und seine Leute genarrt hat und entkommen ist, sogar die Zeit noch zu einer höhnischen Nachricht genutzt hat. Er scheint, was seine Tatkraft und Schläue angeht, dem Helden ebenbürtig zu sein. Dem entspricht dessen Feststellung: Dieser Mensch war wirklich ein ganz gefährliches Subjekt! (DH 236)

   Mir scheint, wenige andere Abenteuer bei May sind über eine so lan-


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ge Strecke derart packend erzählt wie dieser in den Ruinen von Baalbek spielende Kampf, und das ist nicht zuletzt seiner erzählerischen Gestaltung zu verdanken, die stilistische Mittel einsetzt, welche die Unmittelbarkeit des Erlebten auf den Leser übertragen. Der Erzähler ist über längere Zeit fast überhaupt nicht zu bemerken, er hat sich ganz in das erlebende ›Ich‹ zurückgezogen, denkt dessen Gedanken mit, stellt dessen Fragen, gibt dessen Vermutungen als erlebte Rede wieder. Der zeitliche Abstand des Erzählens vom Erleben ist nur durch die grammatische Form (3. Person im Präteritum) angedeutet, die an einer Stelle, im Augenblick, da es auf Messers Schneide steht (er durfte nur die Hand ausstrecken, so hatte er mich), mit dem Ausdruck – pst! – zur wahrhaftig wirkenden, reinen Vergegenwärtigung übergeht.


3.2.4 Zusammenfassende Wertung

Die Texte der 2. Gruppe zeigen auf ganz unterschiedliche und irritierende Weise die emotionale Betroffenheit des Autors, der sich mit seinem Ich-Erzähler identifiziert, ohne dies (allzu) auffällig zu machen, weil er sich der eigenen Betroffenheit nicht recht bewußt ist. Er denkt sich intensiv in die vorgestellte Situation hinein, erkennt sie aber nicht als Reminiszenzen aus tatsächlich Erlebtem und als Reflexe aktueller psychischer Not, die er in exotische Fernen projiziert, um sie zu bewältigen. In zwei Textausschnitten dominiert der gekonnte Einsatz fiktionalisierender Stilmittel, zumal der erlebten Rede, wogegen der Abschnitt aus ›Die Todes-Karavane‹ in auffallender Weise fast ausschließlich ›rationale‹ Elemente enthält, die man als unbewußte, aber starke Abwehr dieser Außenprojektionen seelischer Zustände interpretieren kann. Die Begegnung mit anderen Personen wie Amscha, aber auch der Kampf auf Leben und Tod mit einem Feind wie Abrahim-Mamur, was doch immerhin ein häufig vorkommendes literarisches Motiv ist, sind da schon unverfänglicher und lassen die innere Beteiligung des Autors an der fiktiven Wirklichkeit zu. Manche Stellen aber beweisen, daß der Autor trotz der oft sicheren Beherrschung der erzählerischen Mittel diese noch nicht völlig eigenständig und widerspruchsfrei zu handhaben weiß; dazu gehört zum Beispiel die uneinheitliche Zeichnung des Abu Seïf, der zunächst Charakterzüge des ›edlen Räubers‹ trägt, zu denen aber sein Ende (er wird im Verborgenen sozusagen hingerichtet, was der Leser erst im nachhinein erfährt) nicht recht passen will.

   Trotz dieser Einschränkungen gewinnt man den Eindruck, May habe jetzt fast den Gipfel dessen erreicht, was Abenteuerliteratur erzählerisch leisten kann, und er könne sich nur noch in Nuancen verbessern, es sei denn, er findet neue Erzählformen – und diese entwickelt er in dem jetzt zu betrachtenden Roman tatsächlich. (Schluß folgt)


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1 Iwan Alexandrowitsch Gontscharow: Eine alltägliche Geschichte. Deutsch von Fega Frisch. Düsseldorf 1958, S. 230

2 Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. München 1994, S. 21

3 Anders als bei Günter Scholdt: Selbstporträt à la Fehsenfeld. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1996. Husum 1996, S. 12-38

4 Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler, zwischen autobiographischer und dichterischer Nachgestaltung eines Dichterlebens noch keineswegs geklärt. Dementsprechend unsicher sind die Bezeichnungen, die manche Interpreten benutzen, und damit auch deren Deutungen. So verwechselt Walther Ilmer in seinem Beitrag ›Mit un-sicherer Hand zum sicheren Sieg‹ in dem Sammelband ›Karl Mays ›Old Surehand‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1995, S. 87-114, auf S. 90f., wo er die Handlung des Romans wiedergibt, dreimal den Autor mit dem Ich-Erzähler, der an den zitierten Romanstellen allein gemeint sein kann, als ob die beiden Personen nicht völlig getrennten Seinsbereichen angehörten. Ebenso behauptet Joachim Biermann in seinem Beitrag ›Die Spur führt in die Vergangenheit‹ im gleichen Sammelband (S. 243-76) über eine Ankündigung des Erzählers, die im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr aufgenommen wird: »Es ist der Autor Karl May, der hier spricht« (S. 246), ohne den Versuch eines Nachweises für die Gültigkeit dieser Gleichsetzung. Dagegen hat May selbst dies richtig gesehen, als er in ›Mein Leben und Streben‹. Freiburg o. J. (1910), S. 144; Reprint Hildesheim-New York 21982, hrsg. von Hainer Plaul, schrieb: [Des ›Icherzählers‹] Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination.

5 In dem Anm. 4 genannten Sammelband wird der Roman durchaus differenziert bewertet, beispielsweise von Walther Ilmer. Einerseits führt Ilmer eine Fülle von »Fehler(n) und Unzulänglichkeiten« aller Art auf (S. 90ff.), wobei an mehreren Stellen wieder richtig zwischen Autor und Erzähler unterschieden wird (z. B. S. 100); andererseits konstatiert er: »Der Band ›Old Surehand I‹ ist statt eines mißlungenen Machwerks [wofür er die Jugenderzählung ›Der Geist des Llano estakado‹ hält] eine glanzvolle Leistung« (S. 94).

6 Vgl. Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Paderborn 1994, z. B. S. 261 zur Diskussion um ›Old Surehand II‹. Dazu neuerdings als Einzeluntersuchung Christoph F. Lorenz: Die wiederholte Geschichte. Der Frühroman ›Auf der See gefangen‹ und seine Bedeutung im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 160-87, wo der Autor u. a. frühere Versuche, ›Old Surehand II‹ zu rehabilitieren, weiterführt (S. 177-82).

7 Dies ist meiner Ansicht nach der eigenwilligen May-Biographie Wohlgschafts vorzuwerfen, die fast jedem noch so belanglosen (oder manchmal einfach ärgerlichen) Text irgendeinen Vorzug abgewinnen möchte, so den Marienkalender-Geschichten; vgl. z. B. S. 309, Zeilen 15-18; S. 310, Zeilen 35ff. Diese Tendenz hat dann für das Spätwerk solche Beschwörungen zur Folge wie S. 440, Zeilen 21f. Interessanterweise wirft Walther Ilmer diese Tendenz u. a. auch meinem Büchlein über ›Karl Mays Erzählkunst‹ vor (Sudhoff/Vollmer: Old Surehand, wie Anm. 4, S. 89, Anm. 9), worin ich ihm nicht einmal ganz Unrecht geben kann.

8 Immer noch am besten in: Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 206-34

9 Bibliographische Angaben in: Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 67, 70f., 74

10 Der kleine Aufsatz ›Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays‹ von Hermann Wiegmann, in: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S.113-27, erfüllt seinen Anspruch leider in gar keiner Weise. Er ist begrifflich ungenau und oft widersprüchlich.

11 Karl May: Die Todes-Karavane. In: Deutscher Hausschatz. IX. Jg. (1882/83), S.94ff.;

Karl May: In Damaskus und Baalbeck. In: Deutscher Hausschatz. IX. Jg. (1882/83), S. 223ff.

Datierung nach Roland Schmid: Anhang (zu ›Auf fremden Pfaden‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, S. A32: August-Oktober 1882; nach Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Die Todes-Karavane/In Damaskus und Baalbeck/Stambul/Der letzte Ritt. In: Deutscher Haus-


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schatz. VIII., IX., XI. Jahrgang (1881/82, 1882/83, 1884/85), S. 2; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1978: schon bis zum Sommer 1882.

12 Ich zitiere nach: Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 31977.

13 Wichtige dichtungslogische und erzähltechnische Begriffe werde ich jetzt an Textbeispielen erläutern. Zunächst aber wären die Kerngedanken Käte Hamburgers und anderer Theoretiker zusammenzufassen. Da diese literaturwissenschaftliche Bestandsaufnahme Exkurscharakter hat und den Maybezug des Aufsatzes allzusehr unterbricht, erfolgen diese allgemeinen Bemerkungen zur Erzähltechnik hier in den Anmerkungen:

   Nur der Er-Roman formt nach Käte Hamburger eine fiktive Wirklichkeit, eine echte Fiktion als vom Leser vorgestellte Schein-Wirklichkeit, die aber als solche tatsächlich im Bewußtsein des Lesers existiert, also ›gegenwärtig‹ ist, während der Ich-Roman nur eine fingierte, also vorgetäuschte Wirklichkeit darstellt. Grundlage dieses Systems ist die Stellung des Aussagesubjekts (das ist nach anderen Erzähltheoretikern, z. B. Stanzel und Kayser, der fiktive Erzähler), das im Er-Roman zur reinen Erzählfunktion wird, von der aus das Erzählte keinen Vergangenheitscharakter hat. Statt dessen stehen die fiktiven Personen der Handlung im Vordergrund, für die die Handlung – wie für den Leser – Gegenwart ist. Dagegen bleibt im Ich-Roman das Aussagesubjekt ein reales Ich, aus dessen Sicht alles Erzählte vergangen ist und somit auch vom Leser, der diese Perspektive zwangsläufig übernimmt, als Vergangenes erlebt wird.

   Es kann im Er-Roman keinen fiktiven ›Erzähler‹ geben, sondern nur ›das Erzählen‹ als Funktion. Der Begriff ›Erzähler‹ gilt nur für den Ich-Erzähler bzw. für den Autor. Durch Autor-Eingriffe in das Romangeschehen wird der Charakter der Fiktion im Er-Roman nicht eingeschränkt. Wesentliche Mittel zur Herstellung der Fiktion sind der Gebrauch des Verbums, das im Präteritum seine normale Aufgabe, Vergangenes wiederzugeben, verliert und präsentische Funktion annimmt, vor allem in Verbindung mit den deiktischen Zeitadverbien (z. B. jetzt, gestern); außerdem das Verb ›sagen‹ und überhaupt der Dialog (der eigentlich nur im Er-Roman seinen genuinen Platz hat); dazu die Verben, die innere Vorgänge (Denken, Fühlen) wiedergeben; sowie die erlebte Rede. Es muß aber schließlich zugegeben werden, daß auch im Ich-Roman fiktionalisierende Stilelemente vorkommen (Dialoge, Fiktionalisierung des Ich-Erzählers), ja daß die Masse der Ich-Romane vom Leser wie die Er-Romane als Fiktion erlebt werden. Trotzdem kann apodiktisch behauptet werden, »daß die entscheidend fiktionalisierenden Darstellungsformen, die Verben der inneren Vorgänge angewandt auf dritte Personen, damit die erlebte Rede, ja auch der Monolog, kurz die Gestaltung der Subjektivität dritter Personen im Ich-Roman nicht vorkommen können«. (Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 250)

   Wenn der Ich-Roman dem Er-Roman noch so angenähert erscheint, so kann er doch niemals eine echte Fiktion aufbauen, und die beiden Gattungen gehören völlig getrennten Seinsbereichen an. Soweit K. Hamburger.

   Franz K. S t a n z e l hat sich mit Hamburgers Thesen kritisch auseinandergesetzt (Franz K. Stanzel: Episches Präteritum, erlebte Rede, historisches Präsens. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 33 (1959), S. 1-12; wieder abgedruckt in: Zur Poetik des Romans. Hrsg. von Volker Klotz. Darmstadt 1965, S. 319-38 – Ders.: Zur Konstituierung der typischen Erzählsituationen. In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Darmstadt 1978, S. 558-75). Kurz gefaßt, kommt er zu folgenden Ergebnissen: Die strenge Unterscheidung, die zwischen Er- und Ich-Roman vorgenommen wird, ist nicht haltbar, wenn man die Wahrnehmung des Lesers, sein Leseerlebnis, als Ausgangspunkt der Analyse und Interpretation nimmt. Es kann nachgewiesen werden, daß das epische Präteritum seine Vergangenheitsfunktion im Er-Roman nicht in jedem Falle verliert, sondern nur an solchen Stellen, in denen eine personale Erzählsituation herrscht, die den Leser das vergangene Geschehen als gegenwärtiges erleben läßt. In solchen Erzählsituationen verschwindet die fiktive Erzählerfigur ganz hinter dem erzählten Geschehen. Wo nicht eine solche personale, sondern die auktoriale Erzählsituation herrscht, wird der Erzähler auch vom Leser durchaus bemerkt und somit auch das erzählte Geschehen als vergangenes, als ein im nachhinein mitgeteiltes, erlebt. Im Ich-Roman nun kann der Ich-Erzähler ebenfalls zu einer fiktiven Figur wer-


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den, wodurch auch hier personales Erzählen mit der entsprechenden Vergegenwärtigung möglich wird.

   Ich werde zeigen, daß dies in ganz besonderem Maße für Mays Romane gilt. Als eine Möglichkeit der Vergegenwärtigung im Ich-Roman nennt aber auch Stanzel nicht die erlebte Rede, obwohl sie nach seinen Thesen auch dort vorkommen müßte, da sie ein wesentliches stilistisches Mittel zur Formung der personalen Erzählsituation darstellt.

   Übrigens geht auch Eberhard L ä m m e r t in seinen ›Bauformen des Erzählens‹ (Stuttgart 41970) nicht auf die Möglichkeit, es könne im Ich-Roman erlebte Rede geben, ein.

   Dagegen hat sich Dorrit C o h n (Erlebte Rede im Ich-Roman. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 19 (1969), S. 305-13) mit dem Problem der erlebten Rede im Ich-Roman beschäftigt und an mehreren Beispielen nachgewiesen, daß dieses Stilmittel auch dort vorkommt. Allerdings gewinnt man aus ihren Formulierungen den Eindruck, es handle sich dabei um Ausnahmeerscheinungen, wenn sie schreibt: »Und doch findet sich gelegentlich in einem Ich-Roman ein Erzähler, der (...) seinem vergangenen Leben (...) miterlebend gegenübersteht« (ebd., S. 308) und: »Die Tatsache, daß man die erlebte Rede in manchen Ich-Romanen vorfindet« (ebd., S. 309, Anm. 12). Was sie gar nicht nachweist, ist die Verwendung der erlebten Rede im Ich-Roman auch zur Wiedergabe der Gedanken einer dritten Person, was zumindest an einer wichtigen Stelle in Mays ›Felsenburg‹ zu finden ist (siehe dazu Kapitel 2.9.).

   Worauf Stanzel (Zur Konstituierung der typischen Erzählsituationen, a. a. O., S. 570ff.) besonders aufmerksam macht, ist der unterschiedliche Ansatz, von dem Dichtungslogiker und Erzähltheoretiker wie er selbst ausgehen, wodurch sie zwangsläufig zu unterschiedlichen, wohl gar widersprüchlichen Ergebnissen kommen müssen. Er selbst betrachtet Erzähltexte unter einem leserorientierten Gesichtspunkt, der sich mit kommunikationstheoretischen und rezeptionsästhetischen Ansätzen weitgehend deckt. Das bedeutet, daß unter dichtungslogischen Gesichtspunkten die strenge Zweiteilung Hamburgers grundsätzlich bestehen kann, während sie unter leserorientiertem Aspekt hinfällig wird – ein Befund, der allein schon daher einleuchtend erscheint, daß es z. B. die erlebte Rede in Ich-Romanen häufig gibt und sie den Leser in eine der Er-Erzählung vergleichbare Haltung zu der erzählten Handlung bringt (Genaueres dazu im Kapitel ›Die erlebte Rede und der innere Monolog‹).

   Überhaupt unterscheiden sich moderne erzähltheoretische Positionen im wesentlichen darin, wie sie die drei Stanzelschen Erzählsituationen (deren genaue Erläuterung folgt im Kapitel ›Erzählsituationen‹) einander zuordnen. Während Stanzel nachzuweisen sucht, daß alle drei trotz fließender Grenzen deutlich voneinander zu unterscheiden sind und den Leser in eine je eigene Stellung zum Text bringen, entwirft Johannes A n d e r e g g (Fiktion und Kommunikation. Ein Beitrag zur Theorie der Prosa. Göttingen 1973) zwei Erzählmodelle. Danach wird das Ich-Du-Textmodell (Bericht-Modell) geprägt von einem persönlichen Erzähler, der ›berichtet‹; es entspricht der auktorialen und der Ich-Erzählsituation Stanzels; das Er-Textmodell (Erzähl-Modell) dagegen enthält einen unpersönlichen Erzähler, der ›erzählt‹, d. h. im Sinne Stanzels ›darstellt‹ (dazu Erläuterungen in Abschnitt 2.4.). Es entspricht daher der personalen Erzählsituation. Um diese hat sich hauptsächlich der dichtungstheoretische Streit entsponnen. Häufig wird sie als eigenständige Erzählsituation abgelehnt, so z. B. von Wolfgang L o c k e m a n n (Zur Lage der Erzählforschung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 15 (1965), S. 81ff., später modifiziert in: Lyrik, Epik, Dramatik. Meisenheim am Glan 1973, S. 235ff.), der sie zur auktorialen Er-Erzählung rechnet, und von Erwin L e i b f r i e d (Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie. Stuttgart 1970, S. 244), der sie allerdings der Ich-Erzählung zuschlägt. Damit ist die Begriffsverwirrung vollkommen.

   Ich ziehe von allen erzähltheoretischen Modellen dasjenige Stanzels vor, weil es mir am praktikabelsten erscheint und am ehesten in die Lage versetzt, Erzähltexte unter dem Gesichtspunkt der Rezeption durch den Leser zu verstehen. Schließlich ist es eine Binsenweisheit, daß Romane nicht für Dichtungstheoretiker, sondern für Leser geschrieben sind.


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14 Vgl. Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 43-52.

15 May: Leben und Streben, wie Anm. 4, S. 8f.

16 Ebd., S. 327*, Anm. 2

17 Vgl. Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 245-51.

18 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 6f.

19 Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 256

20 Karl May: Schamah. In: Abdahn Effendi/Schamah. Zwei Erzählungen von Karl May. Nachdruck aus der ›Bibliothek Saturn‹. Bamberg/Braunschweig 1977, S. 54

21 Vgl. Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm 12, S. 55f.

22 Karl May: Die Sklavenkarawane. Stuttgart (1893), S. 259

23 Gegen Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 115ff., und mit Stanzel (z. B. Konstituierung, wie Anm. 13, S. 563) halte ich es für sinnvoll, an einer fiktiven Erzählergestalt festzuhalten.

24 Karl May: Der Schatz im Silbersee. Stuttgart (1894), S. 218 (Unterstreichungen hier wie im ganzen Aufsatz stets von W. K.)

25 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München 1965, S. 23f. (dtv-Taschenbuch)

26 Eines der bekanntesten Beispiele ist Theodor Storms Erzählung ›Der Schimmelreiter‹.

27 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 281

28 Lord Dunsany: In der Dämmerstunde. In: Die Uhr schlägt Mitternacht. Haarsträubende Gespenstergeschichten. Hrsg. von Käthe Recheis. München 1981, S. 73-78 (S. 78) (dtv-Taschenbuch)

29 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 41f.

30 May: Surehand III, wie Anm. 27, S. 177f.

31 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 509f.

32 May: Silbersee, wie Anm. 24, S. 327f.

33 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 85

34 Schon diese Stelle begründet Skepsis gegenüber der oft zu lesenden Behauptung, Old Wabble mache eine charakterliche Wandlung durch.

35 Döblin, wie Anm. 25, S. 10

36 May: Silbersee, wie Anm. 24, S. 364

37 May: Surehand I, wie Anm. 33, S. 540

38 May: Sklavenkarawane, wie Anm. 22, S. 5

39 Ebd., S. 40f.

40 May: Weihnacht, wie Anm. 18, S. 124f.

41 Ebd., S. 139

42 May: Silbersee, wie Anm. 24, S. 353

43 Ebd., S. 334

44 Ebd., S. 96

45 May: Surehand I, wie Anm. 33, S. 352

46 May: Schamah, wie Anm. 20, S. 10

47 Ebd.

48 Ebd., S. 11

49 Ebd., S. 15

50 Ebd., S. 26

51 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892, S. 3

52 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 573f.

53 Karl May: Der Karawanenwürger. In: Der Karawanenwürger und andere Erzählungen. Berlin 1894, S. 6

54 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 514


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55 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 385

56 Vgl. Hamburger: Logik der Dichtung, wie Anm. 12, S. 84ff.; Stanzel: Episches Präteritum, wie Anm.13, S.332f.

57 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 52, S. 140f. – Es muß natürlich keinen Krach heißen, in: Karl Mays Illustrierte Reiseerzählungen. Bd. I: Durch die Wüste. Freiburg 1907,wurde die Stelle berichtigt.

58 Ebd., S. 116

59 May: Leïlet. In: Feierstunden am häuslichen Heerde. 1. Jg. (1876/77), S. 41; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1994

60 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 52, S. 156

61 Vgl. vor allem Lämmert, wie Anm. 13, Anm. 130 zu S. 235.

62 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 72

63 So z. B. Jürgen Peters in der Frankfurter Rundschau vom 26. 3. 1988; vgl. Wolfgang Hallet: Das Genie als Mörder. Über Patrick Süskinds ›Das Parfum‹. In: Literatur für Leser: Heft 3/4 (1989), S. 275. Das tiefe Mißtrauen gegenüber einem auktorialen Erzähler im modernen Roman zeigen auch Rezensionen von Robert Schneiders ›Schlafes Bruder‹ (Über ›Schlafes Bruder‹. Materialien zu Robert Schneiders Roman. Hrsg. von Rainer Moritz. Leipzig 1996 (Reclam Leipzig 1559)).

64 Seine spätere Behauptung, dies dürfe nicht wörtlich genommen werden, auch die frühen Texte seien symbolisch gemeint, ist eine Reaktion Mays auf die Angriffe gegen ihn, wobei die Gegner vor allem die behauptete Gleichsetzung des Autors mit den Gestalten seiner Phantasie angriffen und verhöhnten.

65 Man sollte auch die sogenannte ›Old Shatterhand-Legende‹ nicht als Fiktion, sondern eben als Fingierung bezeichnen.

66 Ein gutes Beispiel bietet die Episode in Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897, S. 137, wo Old Shatterhand, Winnetou und Emery Bothwell soeben dem sicher scheinenden Tod entronnen sind, aber auf ihrem weiteren Ritt kein Sterbenswörtchen mehr darüber verlieren; Wiegmann, wie Anm. 10, S. 116, stellt dies auch fest bei der Analyse des Abrahim-Mamur-Abenteuers und deutet es als Beleg für Mays ›rationales‹ Erzählen.

67 Vgl. Karl May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 51, S. 154: Auch das rauhe Herz eines Weltläufers fühlt zuweilen, daß es im Innern des Menschen hinter öden, einsamen Flächen auch Höhen giebt, welche die Sonne mit ihrem Strahle vergolden und erwärmen darf.

68 Der Begriff ›fiktionszerstörendes Erzählen‹, mit dem oft den Handlungsfluß unterbrechende Kommentare des Erzählers bezeichnet werden, paßt auf Mays Romane im allgemeinen nicht, denn die eine Fiktion: das Erzählte sei prinzipiell erlebte Wirklichkeit, wird nur verschoben zu der anderen: der Erzähler berichte tatsächlich seine eigenen Erlebnisse; treffender dürfte der Ausdruck ›stimmungszerstörendes Erzählen‹ sein.

69 May: Satan und Ischariot II, wie Anm. 55, S. 16f.

70 Zu einer ähnlichen, aber auf anderem methodischen Weg gewonnenen Charakteristik der Jüdin gelangt Helmut Schmiedt in seinem Beitrag ›Identitätsprobleme. Was ›Satan und Ischariot‹ im Innersten zusammenhält‹ (Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 247-65); er stellt fest, daß auch diese Figur einer »partiellen Fremdsteuerung von Identität« (ebd., S. 256) unterliegt. Ich habe dies hier aus einem Erzählelement abzuleiten versucht. Sicherlich wäre es lohnend, die realen sozio-kulturellen Bedingungen, durch die negative Figuren in den Romanen Mays – vor allem die Juden – definiert werden (Schmiedt behandelt sie nicht, da er sich erklärtermaßen nur mit den textimmanenten Konstituenten befaßt), ausführlicher und genauer zu untersuchen, als es bisher meist geschehen ist; dadurch wäre die Einstellung Mays zu seinen Figuren von dem Ruch einer allzu klischeehaften Wertung zu befreien.

71 Karl May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 66, S. 117f.

72 Vgl. ebd., S. 136f.

73 Auch das Versteckspiel des Ich-Erzählers mit To-kei-chun in der Amerika-Episode


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des ›Silberlöwen I‹ scheint mir von anderer Qualität zu sein als das Spiel im ›Turm-zu-Babel‹-Kapitel.

74 Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Stuttgart 1979, S. 137f.

75 Ausführlich dazu: Wilhelm Emrich: Zum Problem der literarischen Wertung. Abhandlungen der Klasse der Literatur der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Jg. 61/Nr. 3. Mainz 1961

76 Vgl. Walther Ilmer: Einleitung (zu ›Im Reiche des silbernen Löwen‹). In: Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. In: Deutscher Hausschatz. XXIII/XXIV. Jg. (1897/98); Reprint der Karl-May-Gesellschaft 1981, S. 4f.

77 May: Leïlet, wie Anm. 59

78 Vgl. dazu Wolfgang Hammer: Karl Mays Novelle ›Leïlet‹ als Beispiel für seine Quellenverwendung. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 205-30; Helmut Lieblang: »Der Inhaber dieses Buiruldu ...« Alfred Edmund Brehms Orient in Karl Mays Frühwerk. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 232-270.

79 Heinz-Lothar Worm: Karl Mays Helden, ihre Substituten und Antagonisten. Paderborn 1992, S. 104

80 Hartmut Kühne: Werkartikel ›Satan und Ischariot‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 264; vgl. auch Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 15ff.

81 Worm, wie Anm. 79, S. 102f.

82 Walther Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi ›im Schatten des Großherrn‹. Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 291

83 Wilhelm Vinzenz: Feuer und Wasser. Zum Erlösungsmotiv bei Karl May. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 26/1980, S. 25

84 Klaus Hoffmann: »Nach 14 Tagen entlassen ...«. Über Karl May zweites ›Delikt‹ (Oktober 1861). In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 338-54 (345-48)

85 Vgl. Anm. 78

86 Bernhard Kosciuszko: Leïlet – Eine Rose des Morgenlandes. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 63/1985, S. 26

87 Vgl. Hammer, wie Anm. 78, dort, S. 228ff., wird auch Schillers Text wiedergegeben.

88 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 24

89 Karl May: Giölgeda padis'hanün. Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. In: Deutscher Hausschatz. VII. Jg. (1880/81), S. 330; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977

90 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 52, S. 96

91 Karl May: Unter Würgern. In: Deutscher Hausschatz. V. Jg. (1878/79); Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982; Buchausgabe: Karl May: Die Gum. In: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894 (zitiert wird mit beiden Seitenangaben: erst ›Würger‹, dann ›Gum‹).

92 Ebd., S. 607/7; in ›Gum‹: frappieren

93 Ebd., S. 608/10

94 May: Giölgeda padis'hanün, wie Anm. 89

95 Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 82, S. 293

96 Vgl. dazu Harald Fricke: Exkurs: Thesen zur psychoanalytischen Literaturinterpretation. In: Ders.: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin. Paderborn u. a. 1991, S. 56-62 (S. 58).

97 Worm, wie Anm. 79, S. 119

98 Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 82, S. 292

99 Ebd., S. 294

100 Worm, wie Anm. 79, S. 114f.

101 Ebd., S. 119

102 Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 82, S. 292

103 Ebd., S. 293

104 May: Giölgeda padis'hanün, wie Anm. 89, S. 760


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105 Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 82, S. 296

106 May: Todes-Karavane, wie Anm. 11

107 Stellvertretend sei genannt: Roxin: Einführung, wie Anm. 11, S. 3f.

108 May: In Damaskus und Baalbeck, wie Anm. 11


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