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CLAUS ROXIN

Das siebenundzwanzigste Jahrbuch

Das Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, dessen 27. Band wir hier vorlegen, ist mittlerweile eine altüberlieferte Einrichtung und hat viele Mitglieder während der längsten Zeit ihres Lebens begleitet. Das wirft die Frage auf, ob es denn wirklich nach so vielen Jahren über Karl May und seine Werke noch Neues zu sagen gibt. Ich glaube, man kann diese Frage getrost bejahen; der neue Band bestätigt dies und dokumentiert auch die Fülle des immer wieder vorliegenden Forschungsmaterials. Obwohl wir nicht auf Tagungsbeiträge zurückgreifen konnten, war der Band noch im Umbruch so umfangreich, daß einiges auf eine spätere Veröffentlichung verschoben werden mußte.

   Wir bringen zunächst Unbekanntes und Neues aus der Feder Karl Mays. Das erst in diesem Frühjahr bekannt gewordene Gedicht ›Des Buches Seele‹ ist für die eigenartig-esoterische Gedankenlyrik, der May seit der Jahrhundertwende einen erheblichen Teil seiner Arbeitskraft gewidmet hat und von der vieles noch unveröffentlicht ist, durchaus charakteristisch. Die zentrale Aussage, daß die ›Seele‹ des Buches kein Produkt menschlichen Geistes ist und sich nicht dem fragenden Verstande erschließt, sondern von oben kommt, ist auch sonst aus dem Spätwerk vielfältig belegbar. Die ›himmlichen Wahrheiten‹, die May in seinem Alterswerk sichtbar machen wollte, entspringen derselben Kunstauffassung.

   Es folgt als Erstveröffentlichung die Korrespondenz Karl und Klara Mays mit Babette Hohl-Kopp. Unser herzlicher Dank gilt Frau Wohlgeschaffen-Braun dafür, daß sie der KMG die Briefe Karl und Klara Mays an ihre Großmutter zur Verfügung gestellt und uns auch ein sehr seltenes Foto Mays überlassen hat, das diesem Jahrbuch als Frontispiz dient. Die Korrespondenz des Ehepaares May mit Babette Hohl-Kopp bestätigt frühere Befunde: daß nämlich May mit seinen Lesern nicht nur literarischen Meinungsaustausch pflegte, sondern zu ihnen auch persönlich-private Beziehungen herzustellen verstand. Die hier vorgelegten Briefe zeigen den Autor wieder von einer sehr sympathischen Seite. Sie sind – im Verein mit den kundigen Erläuterungen Ulrich Schmids – Bausteine zur Rekonstruktion von Mays Alltagsleben; und mindestens Mays langer Brief vom 11. 3. 1905 ist ein wertvoller Beitrag zu Mays literarischem Selbstverständnis im Alter.

   Ein völlig neuer Fund ist auch Mays chinesisches Wörterverzeichnis, das wir im Original der Handschrift und in einer Transkription mit dem hervorragend sachkundigen Kommentar von Walter Schinzel-Lang bringen. Es zeigt sich, daß May entgegen früheren Annahmen sich um die chinesische Sprache im Rahmen dessen, was einem Laien möglich


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war, verhältnismäßig ernsthaft bemüht hat. Freilich ist auch hier ein starker Einschlag phantasievoll-dilettantischen Leichtsinns nicht zu verkennen, der Mays Umgang mit seinen Quellen überall auszeichnet, ohne den freilich auch ein so umfangreiches literarisches Werk nicht zu bewältigen gewesen wäre.

   Das China-Thema leitet über zu einer weiteren ›Neuigkeit‹ des Jahrbuchs: Wir haben diesmal versucht, Schwerpunkte zu bilden, und einer dieser Schwerpunkte sind die Quellenstudien. Fünf Beiträge (von Schinzel-Lang, Schweikert, Lieblang, Graf und Koch) bemühen sich um Mays chinesische, ägyptische und nordamerikanische Quellen. Was Mays Darstellung der Nilländer betrifft, werden unsere seit Jahren betriebenen einschlägigen Studien im vorliegenden Band zu einem gewissen Abschluß gebracht. Zwar haben wir für Mays Vorlagen noch keine lückenlosen Belege. Doch ist inzwischen so genau dokumentiert, woher May seine Kenntnisse bezogen hat, daß eine kommentierte Ausgabe seiner in diesen Weltgegenden spielenden Werke heute möglich wäre.

   Den zweiten Schwerpunkt bildet der von der Sekundärliteratur bisher vernachlässigte ›Schatz im Silbersee‹, dem sechs Beiträge gewidmet sind (von Wollschläger, Scheerer, Hammer, Graf, Koch und Lüderssen). Die Interpretation einschließlich der ideologischen Prämissen des Romans (Scheerer), die Schilderung der von den handelnden Personen praktizierten Moralsysteme (Lüderssen), die Analyse der Handlungsstruktur (Hammer), die Darstellung der Quellen (Graf) und zeitgeschichtlichen Hintergründe (Koch) und die Herausarbeitung des – in einem nicht oberlehrerhaften Sinne – ›Jugendgemäßen‹ in dieser Erzählung (Wollschläger, Lüderssen) ergeben ein farbiges und differenziertes Gesamtbild. Mit der systematischen Erforschung eines der meistgelesenen Bücher deutscher Sprache – die Auflage dürfte vier Millionen überschritten haben – ist damit ein guter Anfang gemacht.

   Auch im übrigen haben wir in diesem Jahrbuch Neues angepackt. Kittstein liefert eine umfassende Abhandlung zu Mays noch nie gründlich untersuchter Erzähltechnik, und Sauerbeck widmet bestimmten Darstellungsmitteln Mays erstmals eine ins einzelne gehende Aufmerksamkeit. Solche Studien sollen fortgesetzt werden. Denn über die erzählerischen Qualitäten selbst der Reise- und Jugenderzählungen Mays gibt es noch immer sehr widersprechende Meinungen. Die meisten beruhen auf subjektiven Geschmacksurteilen, die aus ganz wenigen Kriterien gewonnen worden sind. Wir wollen versuchen, hier mit der Zeit zu einer Objektivierung der Wertungsdiskussion zu kommen.

   Ein neuartiges Unternehmen ist schließlich auch Wohlgschafts Arbeit über ›Sterbeszenen in Mays Kolportageromanen‹. Denn noch nie ist in diesem Genre eine den einzelnen Kolportageroman übergreifende Motivanalyse versucht worden. Nur wenige Leser werden den Aufsatz ohne innere Bewegung aus der Hand legen. Das Thema und die


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persönliche Vertrautheit und Authentizität, mit der der Autor wie Karl May es behandeln, sichern dem Beitrag ein Interesse, das über Karl May und seine Kolportageromane hinausreicht. Doch bleibt festzuhalten, daß das ›Sterben‹ für Karl May nicht erst seit ›Am Jenseits‹ ein existentielles Sujet war, daß er mehr darüber wußte, als es in unserer den Tod verdrängenden Zeit üblich ist, und daß Detailuntersuchungen auf dem wenig durchpflügten Feld der Kolportageromane noch reichen Ertrag versprechen. So zeigt auch dieses Jahrbuch, wie unermüdet die May-Forschung voranschreitet. Wir werden noch viele Jahrbücher mit neuen Forschungsergebnissen füllen können.


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