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WERNER KITTSTEIN


Fiktion als erlebte Wirklichkeit:
Zur Erzähltechnik in Karl Mays Reise-Romanen
Teil II: Einzeluntersuchungen an Beispielen der späten Reise-Romane und Altersnovellen



Im ersten Teil dieser Arbeit wurden literaturwissenschaftliche Grundlagen der Erzähltechnik kritisch referiert und Grundbegriffe des Erzählens an Textauszügen erklärt; damit wurden die verschiedenen narrativen Formen, die May benutzt hat, analysiert und ihre Wirkung auf den Leser dargestellt. Im Anschluß daran konnte in Detailuntersuchungen an ausgewählten Passagen aus zwei frühen Erzählungen und dem großen Orientroman die Entwicklung in der Handhabung dieser Erzählformen aufgezeigt werden: Die tastenden Versuche des Frühwerks werden allmählich abgelöst vom sicheren und stimmigen Einsatz fiktionaler Stilelemente, die das weitgehend unreflektierte Einfühlen des Autors in die Vorstellungswelt, welche in seinen Roman entworfen wird, veranschaulichen.

  Im folgenden II. Teil sollen die Einzelanalysen auf die späte Phase der im Orient spielenden Romane sowie auf die Altersnovellen ausgedehnt werden.



3.3.Die 3. Gruppe: Spiel und Spaß am Turm zu Babel
›Im Reiche des silbernen Löwen‹: Erstes Kapitel ›Am Turm zu Babel‹109


Die Texte der dritten Gruppe, die alle aus dem 1897 verfaßten Kapitel ›Am Turm zu Babel‹ im ›Deutschen Hausschatz‹ stammen, zeichnen sich durch die allgemein sichere und gekonnte Handhabung nicht nur der spannungsfördernden und -lösenden Handlungselemente (was grobe Widersprüche im äußeren Handlungsablauf nicht ausschließen muß), sondern auch der erzählerischen und stilistischen Formen aus; diese sind zunehmend durch eine selbstironische Distanzierung vom behaupteten Wahrheitsgehalt des ›Erlebten‹ geprägt. Gerade wenn man die Verwendung längst erprobter Motive und ganzer Ereignisketten mit früheren Romanen und Erzählungen vergleicht, fällt zum einen das hohe Niveau auf, das May jetzt erreicht hat, noch ohne daß er versucht, ›Hochliteratur‹ zu verfassen; zum anderen aber sind auch neue Erzählformen zu erkennen, obwohl dem Autor gerade dies viele Interpreten absprechen.


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3.3.1 Bisherige Wertung


Fragt man Erwachsene, die als Kinder oder Jugendliche ›Karl-Mays‹ verschlungen haben, jetzt aber keine mehr lesen, nach den Szenen, die ihnen aus ihrer Kindheitslektüre noch in Erinnerung sind, so werden unerwartet viele aus der ›Turm-zu-Babel‹-Episode genannt. Es handelt sich vorzugsweise um die Gerichtsverhandlung in Hilleh mit dem Sprung schräg über die Mauer und dem anschließenden, Freiheit atmenden Ritt in die Wüste, die Gefangenschaft im Birs Nimrud mit der Anordnung der Räume (einschließlich Skizze), den mit Ziegelmehl verstopften Gang und die nächtliche Flucht; die vermeintlichen Steine in der Sandböschung; auch eine Nebenepisode, wie das Wiedersehen mit dem Beduinen aus ›Durch Wüste und Harem‹; sogar Details, wie die merkwürdigen Striche auf dem Ziegel, sind im Gedächtnis haften geblieben - nur daß diese Szenen nicht immer dem richtigen Roman zugeordnet werden können.

  Da überrascht es sehr, daß gerade dieser Teil des ›Silberlöwen‹ bei der Kritik überwiegend schlecht wegkommt.110 Ihm wie der in Amerika spielenden ›Einleitung‹ wird jeder Fortschritt in Handlung und Erzählstil gegenüber den früheren Romanen abgesprochen, im Realienband über May werden die beiden ersten Bände »literarisch bedeutungslos« genannt,111 was meiner Ansicht nach ein eklatantes Fehlurteil ist, das erkennbar nicht auf sorgfältiger Autopsie beruht.

  Während für Claus Roxin in seiner richtungweisenden Studie über den May der späten Reiseerzählungen das Bagdad-Kapitel »durchaus das beste« ist, wogegen sich ansonsten die äußere Handlung »müde dahinschlepp(e)« und nur die innere Handlung fessele,112 beurteilt Walther Ilmer in seiner umfangreichen, sorgfältig analysierenden Einleitung zum KMG-Reprint den ganzen Roman sehr positiv, indem er die innovative Handhabung älterer Handlungsmotive, aber auch Ausdruck und sprachliche Form rühmt, ohne die Schwächen des Romans zu verschweigen.113 Hermann Wohlgschaft folgt ihm in seiner Biographie in der Bewertung, interessiert sich aber hauptsächlich für autobiographisch-psychologische und theologische Deutungsmuster, denen ich hier nicht folgen kann.114

  Weder die beiden ersten Bände des ›Silberlöwen‹ im ganzen noch das Kapitel ›Am Turm zu Babel‹ im besonderen haben jemanden dazu gereizt, sich ausführlicher (und genau!) mit der Erzählweise im engeren Sinne (Erzählhaltung, -perspektive) zu beschäftigen; aber gerade sie macht meiner Meinung nach die besondere Qualität wenigstens des Babel-Kapitels aus.


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3.3.2 Vorläufiger Gesamteindruck


Erneute Lektüre des Kapitels ›Am Turm zu Babel‹ bestärkt mich in der Ansicht, daß es sich vielleicht um den besten der Abenteuer-Texte Mays in Ich-Form handelt. Auf der Ebene der Handlung sind zwar viele unausgeführte Details (Erinnerung an Dschafar, das Bild Dschafars und der Gul, Andeutung der Zusammenführung Dozorcas und seiner Familie und anderer künftiger Ereignisse) und sachliche Widersprüche (die Ilmer in der Einleitung zum Reprint aufführt) festzustellen, dafür weist der Roman aber in anderer Hinsicht eine überraschende Formung auf - allerdings auch da mit ärgerlichen Fehlleistungen, auf die ich weiter unten zurückkomme.115 Der überwiegende Teil der Handlung ereignet sich innerhalb weniger Tage und auf engem Raum (zwischen Hilleh und dem Birs Nimrud, gerahmt von zwei Aufenthalten in Bagdad, eingeleitet durch den Aufbruch von den Haddedihn und die Fahrt auf dem Tigris, die aber schon mitten in die Haupthandlung führt). Das Figurenpaar Hanneh und Dozorca ist formal verbunden durch die beiden Nachtgespräche; das Paar Hanneh und Ahmud Mahuli wird inhaltlich verbunden durch ihr Ungenügen an den Lehren des Islam; alle drei sind auf der Suche nach dem rechten Glauben an Gott. Vor allem aber erscheinen mir Handlungsstruktur und Erzählweise so beeindruckend wie selten, weil sie sich von der früheren in wesentlichen Punkten unterscheiden. Der äußere Verlauf der Handlung unterliegt spielerischen Formen, die Helden experimentieren mit dem Einsatz des früher Gelernten (Halef!) bzw. wenden es zum Spaß an (Kara Ben Nemsis Flucht aus dem Turm und die freiwillige Rückkehr), und der Autor verwendet beides, um eine neue Motivierung der abenteuerlichen Ereignisse zu gewinnen, aber auch um dem Leser Grund zu neuer Aktivität zu bieten. Was in früheren Romanen ungenießbar war (z. B. die langen, ergebnislosen Verhöre Gefangener), wird jetzt weitgehend vermieden; was früher gut war, wird beibehalten, aber neu gehandhabt.

  Das zeigt als prägnantes Beispiel der Stellenwert, den der komisch verdrehte Brief Halefs hat: Der in der Heimat zu denkende Ich-Erzähler erhält und liest Halefs Brief scheinbar daheim, in Deutschland; etwas später aber stellt sich heraus, daß das erlebende ›Ich‹ Kara Ben Nemsi diesen Brief erst am Tigris von einem Beduinen, der ihn nach Mossul bringen soll, ausgehändigt bekommt und nach einem kleinen Streitgespräch mit dem Boten lesen kann. Warum diese Umstellung der natürlichen Reihenfolge?

  Dies könnte man, ebenso wie die mehrfachen Handlungsansätze, die Ulrich Schmid konstatiert, auf die Unsicherheit des Autors, wie er sein fiktives ›Ich‹ wieder in den Orient als Handlungsraum hineinkommen lassen soll, zurückführen. Vergegenwärtigt man sich aber das Zeitbewußtsein der letztlich identisch sein sollenden Instanzen Autor (A), er-


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innerndes bzw. erzählendes (I-1) und erlebendes ›Ich‹ (I-2), dann erscheint die Umstellung sinnvoll: A identifiziert sich so stark mit I-1, daß er das Zitieren des Briefes für den Leser des Romans und das Lesen des Briefes durch I-2 in eins setzt und I-1 die reale Reihenfolge der Vorgänge umkehren läßt. Damit konstituiert A bzw. I-1 eine eigene Zeitstruktur, so wie beide eine eigene Raumstruktur schaffen (DH 115), wenn sie erzählen, wie sich I-2 beschwert, daß der Bote ihm die Entfernung des Lagers der Haddedihn nicht verraten hat. Hier scheint ein logischer Schnitzer vorzuliegen: Wenig später nämlich kann I-2 mit Sicherheit schließen, daß es nicht weit ist (DH 115). Nun muß man aber bedenken, daß I-2 inzwischen den Brief Halefs wiederholt mit wahrem Genusse durchgelesen hat und wieder ruhig nachdenken kann. Eingedenk der oben festgestellten besonderen Zeitstruktur, die A bzw. I-1 schafft, liegt der Gedanke nahe, es könnte sich hier auch um eine eigentümliche (fiktive) Raumkonstruktion handeln: Das Raumbewußtsein des I-2 verändert sich während der Lektüre des Briefes; dieser Brief bringt Kara Ben Nemsi die Haddedihn ›näher‹, als sie vorher waren; vorher schien ihr Lager noch weit weg, genauer: er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie weit entfernt es ist; nach der Lektüre hat er sich den befreundeten Beduinen innerlich so angenähert, daß die Strecke zwischen ihm und ihrem Lager verringert erscheint, und das bedeutet innerhalb der Fiktion, daß sie ihm tatsächlich näher sind. Dieses neue Raumgefühl befähigt Kara Ben Nemsi auch dazu, die Landschaft genauer zu betrachten und ihr Aussehen für sich dienstbar zu machen; so kann er die richtigen Schlüsse ziehen.

  Das bedeutet außerdem, daß die am Anfang des Kapitels klar erkennbare fingierte Wirklichkeit (u. a. Anrede der Leser der ›Gesammelten Werke‹, Hinweis auf den 3. Band, die Zeitformen der Verben setzen das Erzählte vom Erzählzeitpunkt gesehen in die Vergangenheit) hier unmerklich in die Fiktion übergeht. Wenn I-2 im Blütenmeer der Steppe sitzend den Brief liest, dann ist das für den Leser ›gegenwärtig‹, und ebenso alles weitere Geschehen.

  Mit der Floßfahrt auf dem Tigris beginnt das eigentliche Abenteuer um den Turm zu Babel; darum gebe ich einen zusammenfassenden Überblick über die Erzählhaltung in den verschiedenen Handlungsansätzen.

  Ziemlich klar zu erkennen ist, daß in den Anfangspassagen eine starke Vermischung der Erzählebenen von A und I-1 erfolgt, ein Hin und Her mit Unklarheiten und Widersprüchen. U. Schmid deutet dies ausschließlich äußerlich als Ausdruck der ›Schreibkrise‹ Mays, der kein rechtes Konzept für diesen Roman gehabt habe; im Zusammenhang mit der weiteren Handlungsstruktur spricht er von »Mays Unlust und Unfähigkeit, die alte ›Maschinerie‹ fortzubetreiben«.116 Ich glaube nicht, daß diese Erklärung richtig ist. Man muß ja doch fragen, ob May nicht


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gute Gründe hatte, gerade solche Handlungsansätze zu wählen. Grundsätzlich ist der Montagecharakter des Anfangs mit seinen acht Handlungsansätzen117 auch zurückzuführen auf die neue Situation des Autors May, der seit geraumer Zeit als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi an die Öffentlichkeit trat; dabei darf angenommen werden, daß sich nach der finanziellen Besserstellung und der endlichen Gründung einer gesicherten bürgerlichen Existenz auch die Haltung des Autors während des Schreibens veränderte. Das aber bedeutet, daß auch ein neuer Erzähler und ein neu Erlebender als fiktiver Bestandteil der Autor-Persönlichkeit in die Welt, die May bisher entworfen hatte, integriert werden mußten, und das tat der Autor nun ganz systematisch, womit er zeigen wollte, es sei alles tatsächlich schon immer so gewesen, wie er es jetzt ausdrücklich behauptete: Gerade die Ablehnung des Zufalls (im Handlungsansatz 1 nach U. Schmid) sollte bestätigen, daß alle Teile des Werkes zusammenhängen und zum Wesen des Autors gehören. Die Erinnerung an den Dolch des Persers wie die mehrfachen späteren Hinweise auf die Amerika-Erzählungen (z. B. die Erwähnung der Hengste Winnetous, DH 146) dienen diesem Ziel ebenso wie die Anknüpfung an die Erlebnisse im ersten Orient-Roman. Der erzähllogisch an unpassender Stelle mitgeteilte Brief Halefs legitimiert in komprimierter Form die bisherige Charakterzeichnung dieser Figur in Inhalt und Ausdrucksweise. Die Verkennungsszene mit dem Boten variiert eines der wichtigsten Motive in Mays Romanen und verbindet auch dieses wieder mit der Person des Autors, der nach seiner eigenen Auffassung bisher immer verkannt worden war und sich nun endlich auch real zu erkennen gibt. Der Aufenthalt bei den Haddedihn nimmt mit der Anerkennung des ›Ichs‹ durch die Beduinen (alle kennen ihn, umdrängen ihn, wollen ihn berühren, rühmen ihn) die erhoffte Anerkennung des Menschen May in seiner Umwelt vorweg. Mit der in die Buchfassung übernommenen Geschichte ›Scheba et Thar‹ (Schmids Handlungsansatz 7) wird eines der früheren Abenteuer als Beispiel für die Außergewöhnlichkeit des Helden vorgeführt, und die erneute Erwähnung des Erinnerungsbesuchs bei den Ruinen von Babylon verweist auf die Bedeutung dieses früheren Abenteuers im großen Orient-Roman. Alle acht Handlungsansätze haben eine bestimmte Funktion innerhalb der neuen inneren und äußeren Lage des Autors May und seines Ich-Erzählers zu erfüllen und sind keineswegs als bloßes zielloses Herumsuchen zu deuten. Daß sich im Erzählstil zugleich der Ansatz des Versuchs, die Behauptung des Realitätscharakters der Erlebnisse zu überwinden, zeigt, soll weiter unten dargestellt werden.

  Im übrigen und ganz allgemein: Was ist daran auszusetzen, daß May seine Helden erneut die Stätten ihres früheren Wirkens aufsuchen und sie dort Personen und Verhaltensweisen begegnen läßt, die doch zu diesen Orten gehören? Selbstverständlich sollen die Schwächen dieses Ro-


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mans nicht wegdiskutiert werden, aber wer die Parallelen zu früheren Werken Mays als »Unlust« und »Unfähigkeit«, eine ganz neue spannende Handlung mit noch nie Dagewesenem zu entwerfen, deutet, zeigt damit nur, daß er die eigentlichen Reiseromane unterschätzt, indem er immer noch zu sehr auf die oberflächlichen Handlungsmotive achtet, ohne ihre neuartige Verwendungsweise anzuerkennen und zu genießen. Richtiger ist die Deutung, daß die neue Situation Mays in seinem literarischen Schaffen ihren Niederschlag findet, und zwar vor allem in Erzähltechnik und -stil.



3.3.3 Erzähltechnik in ausgewählten Passagen


Die Analyse einiger längerer Textstellen soll zeigen, wie differenziert May die Erzählelemente nun einsetzt, um die Situation des erlebenden ›Ichs‹ in all ihren Schattierungen zu gestalten, und wie souverän er nun die verschiedenen Erzählebenen miteinander verschränkt.


1. Passage: DH 114f. (Buchausgabe I/270-79): bis des ihm anvertrauten Briefes zu begegnen


Dieser Text ist vor dem Herbst 1893 entstanden.118 Der Erzähler ist auf dem Weg zu den Haddedihn gerade am Tigris angekommen. Da begegnet er einem ihm unbekannten Beduinen, der sich schließlich als ehemaliger Ateïbeh und jetziger Haddedihn entpuppt, der einen Brief Halefs ›zur Post‹ bringen soll. Der Erzähler weist sich als Kara Ben Nemsi aus, indem er die beiden berühmten Gewehre und sein Notizbuch mit seiner Adresse, die ja auch auf dem Brief steht, vorzeigt. Darob höchst erfreut, drückt ihm der Beduine den Brief und das zum Schriftvergleich entgegengenommene Notizbuch in die Hand und sprengt davon, um den Haddedihn die frohe Botschaft von der Ankunft Kara Ben Nemsis zu überbringen. Sehr aufschlußreich ist nun, wie die Erkennungsszene gestaltet ist. Sie lehnt sich eng an die Stelle im Johannes-Evangelium 20, 24-29 an, wo der ungläubige Thomas konkrete Zeichen verlangt, an denen er den auferstandenen Gottessohn erkennen kann: Jesu Hände und seine Seite mit den (drei) Wundmalen. Kara Ben Nemsi weist seine Gewehre und das Notizbuch (also auch hier die Dreizahl) vor. Der Galiläer Thomas ruft erschüttert: »Mein Herr und mein Gott!« Der heißblütige Araber reagiert emphatischer: »oh Freude, oh Freude; Allah sei gepriesen! Kara Ben Nemsi ist da! Kara Ben Nemsi ist da! Ich muß augenblicklich zurück, es zu verkünden Etwas später heißt es dann: ... ich ... folgte der Spur des so schnell zum Glauben gebrachten ungläubigen Ateïbeh. Das Intermezzo mit dem Beduinen gerät in der Freude des Autors, nach längerer Zeit sein Wunsch-›Ich‹ wieder im Orient etablieren zu können, zu einer unbewußten Travestie auf die Thomas-Szene im Johan-


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nes-Evangelium, wobei Kara Ben Nemsi in noch stärkerem Glanze zu erstrahlen scheint als der vom Himmel gestiegene Seraskier, als der er in ›Durch Wüste und Harem‹ den Arabern und Kurden erschienen war.119 Aber war dort diese Erscheinung durch die bombastisch-übertreibende Erzählung des Kurdenhäuptlings ironisch gebrochen und entschärft worden, so hier durch die offenkundige Selbstironie des Erzählers, der verdutzt und zugleich amüsiert reagiert, als ihn der Beduine einfach stehen läßt: Die beiden Gewehre, den Brief und das Notizbuch in den Händen, lachte ich hinter ihm her. (115)

  Der große Unterschied zu der vergleichbaren Stelle in ›Unter Würgern‹ ist oben (3.1.2) schon erwähnt worden. Dort fehlt jeglicher Anklang von Selbstironie bei der Stilisierung des Helden als messianischer Retter.

  Der Vergleich mit einer weiteren Szene, in der Kara Ben Nemsi in der Welt des Orients ankommt, die kaum ein Jahr vor der hier analysierten entstanden ist (Ende 1892), zeigt die stufenweise sich wandelnde Erzählhaltung und Einstellung des Erzählers zur phantasierten Welt. Ich meine den ›Anhang‹ zum ›Schut‹, wo Kara Ben Nemsi zusammen mit David Lindsay zu den Haddedihn reist. Dort120 führt sich Kara Ben Nemsi sogleich wieder vor einem Publikum, das mit den Gastgebern in ›Unter Würgern‹ vergleichbar ist, mit einer glorreichen, seine Überlegenheit beweisenden Tat ein; das Publikum wird von dem Lord gebildet, der bewundernd ausruft: »Ist doch etwas ganz anderes, wenn man mit Euch reist, Sir. Man erlebt etwas.«121 Hier ist von distanzierender Selbstironie des Erzählers noch nichts zu spüren, wenngleich im Unterschied zu ›Unter Würgern‹ das ganze Arrangement der Szene die Leichtigkeit, mit der im Babel-Kapitel gefährliche Abenteuer ihren spielerischen Charakter erhalten, schon anklingen läßt. Dazu trägt vor allem die Anwesenheit des spleenigen Engländers (aufgrund seiner Kleidung, seiner Sprechweise) und dessen Verhalten (sein gewaltiger Klapps auf die Nase des einen Pferdediebs122) bei, die das überdeutliche Selbstlob des Erzählers mildern. Hinzu kommt der Charakter des Lords, der allen Abenteuern von vornherein das Flair des Spielerischen verleiht, vergleichbar etwa Lord Castlepool in ›Der Schatz im Silbersee‹. Das war zwar schon in den früheren Orient-Bänden der Fall, kam dort aber noch nicht so zum Tragen, da der Lord entweder Kara Ben Nemsi in seinen Aktionen behinderte oder aber überdeutlich als Karikatur gezeichnet war. Jetzt aber erhält er eine wichtige Funktion für den Handlungsverlauf, indem er zum Auslöser für das neue Abenteuer wird, da er Kara Ben Nemsi zur vollständigen Änderung seiner Reisepläne veranlaßt, was in einer schönen Ellipse gestaltet wird.123 Aber immer noch besteht ein entscheidender Unterschied zu der vergleichbaren Situation im Babel-Kapitel: Die im ›Anhang‹ gestaltete Wirklichkeit ist eine bloß fingierte: Der Verweis auf das Ende des langen Ritts


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durch den Vorderen Orient und den Balkan sowie auf die vielen Leseranfragen, die den Autor seitdem erreichten, charakterisiert das Erlebte als etwas Vergangenes; außerdem wird durch die Zeitadverbien am Beginn der neuen Erzählung: Ich befand mich wieder einmal in Damaskus124 und mit dem Hinweis auf einen früheren Band der Reiseromane in einer Anmerkung (Siehe Bd. III, Kap. 6.125) auf die in der Vergangenheit geschaffene literarische Figur Jakub Afarah verwiesen. Dagegen wirkt die Begegnung mit dem Beduinen am Anfang des Babel-Kapitels auf den Leser wie ein gegenwärtiges Geschehen.



2. Passage (DH 861f., Buchausgabe II/210-14)


In der 2. Passage hat Kara Ben Nemsi mit Halef eine lange Diskussion darüber, wer sich zu einem Feuer schleichen soll, an dem Feinde zu vermuten sind. Halef besteht darauf, das Wagnis allein zu unternehmen, und Kara Ben Nemsi geht schließlich - trotz massiver Bedenken - darauf ein. Kaum ist Halef fort, stellt der Erzähler fest: Es giebt Dummheiten, welche der Mensch erst später und auch solche, die er sofort einsieht. Zu der letzteren Art gehörte diejenige, welche ich jetzt begangen hatte. Kaum war Halef verschwunden, so hätte ich ihn zurückholen mögen, und es wäre gut für ihn und mich gewesen, wenn ich dies gethan hätte. Zunächst wird die Erzählung der vergangenen Ereignisse also unterbrochen mit der im Präsens gehaltenen Sentenz über Dummheiten. Damit wird zur Situation des erinnernden ›Ichs‹ gewechselt. Dazu gehört auch das Urteil im nächsten Satz. Dann erfolgt wieder der Übergang zur erzählten Vergangenheit, die Formulierungen aber sind derart, daß immer noch aus der Sicht des Erinnernden gesprochen wird, erkennbar vor allem durch die Vorausdeutung, die der Erlebende nicht machen könnte. An der ganzen zitierten Stelle spricht demnach das erinnernde ›Ich‹ aus zeitlicher Distanz. Diese Erzählhaltung wird im folgenden beibehalten, so wenn der Erzähler über die Gefühle, die sich nach einem begangenen Fehler einstellen, reflektiert: Hat man etwas gethan, was man lieber hätte unterlassen sollen, so giebt das ein Gefühl des Unbehagens ... Ich kenne Leute, welche behaupten ... Dann aber leitet die abschließende Feststellung des Erinnernden: Ich war, mit einem Worte, mit mir selbst höchst unzufrieden wieder zur erlebten Vergangenheit zurück. Kara Ben Nemsi schaut zu dem Schein des Feuers hinüber und stellt fest: Wäre Halef entdeckt worden, so hätte man es wahrscheinlich ausgelöscht. Dieser Gedanke beruhigte mich. Diesen Gedanken, der sich als falsch herausstellen wird, kann eigentlich nur Kara Ben Nemsi in seiner aktuellen Lage hegen; der Erzählende weiß ja inzwischen, daß die Feinde, nachdem sie Halef gefangen hatten, das Feuer absichtlich brennen ließen, um Kara Ben Nemsi zu täuschen und anzulocken. Aber es verging wieder eine halbe Stunde und dann noch eine viertel Stunde,


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ohne daß er zurückkehrte. Hatte er etwa seine Beobachtungen glücklich gemacht und dann aber die Stelle, an welcher ich ihn erwartete, nicht wiedergefunden? Ich wußte doch, daß er einen ganz guten Ortssinn besaß! Wiederum werden dem Leser Gedanken mitgeteilt, die nur der Erlebende haben kann. Die Frage, die er sich stellt, wird erst viel später beantwortet; wenn Kara Ben Nemsi selbst in Gefangenschaft geraten sein wird, erkennt er, daß auch Halef ergriffen worden ist. Hier kann also nicht das erinnernde ›Ich‹ sprechen, sondern nur das erlebende. Dessen Unsicherheit und Unruhe werden unterstrichen durch die Andeutung, daß Halef eigentlich zu seinem Sihdi zurückfinden müßte. Dies ist ein Beispiel für erlebte Rede, wo der Erzähler hinter seine fiktive Person zurücktritt und diese Fragen stellen läßt, die ihr erst im Laufe der weiteren Handlung beantwortet werden. Dieses Stilmittel bestimmt auch die Wiedergabe der folgenden Gedanken, wie sich Kara Ben Nemsi nun zu verhalten hat, wenn er vermutet, daß Halef wahrscheinlicherweise von den Leuten des Säfir gefaßt worden ist und daß diese jedenfalls auch nach ihm suchen. Die erste Vermutung wird sich als richtig erweisen, die zweite dagegen nicht; im Gegenteil, die Feinde erwarten ihn! Die Überlegungen, was zu tun sei, gehen weiter; und jetzt, wo sich der Gedanke, daß Halef etwas zugestoßen ist und Kara Ben Nemsi ganz besonders vorsichtig sein muß, verfestigt hat, ist der Zustand der Ratlosigkeit beendet und wird durch kühle Überlegung ersetzt. So kann sich der erinnernde Erzähler wieder stärker bemerkbar machen und aus der Distanz urteilen, was in den sprachlichen Formen des Gedankenberichts - so glaubte ich und wie ich mir sagen mußte - zum Ausdruck kommt. Und prompt spricht der Erzähler wieder wie am Anfang der besprochenen Passage aus seiner Situation, der Erzählgegenwart, heraus, wenn er im Präsens räsoniert: es gibt Gedanken ... mag man sie Eingebungen oder sonstwie nennen, sie werden ... als Wahrheiten aufgenommen und festgehalten. Die Bestätigung der Richtigkeit erfolgt im Rückgriff auf angebliche Erfahrungen des Erzählenden: Ich habe das sehr oft an mir selbst erlebt ... Es folgt aus seiner Perspektive eine zukunftsgewisse Vorausdeutung, die sich auch bewahrheiten wird: Ich hatte die volle Überzeugung einer vor mir liegenden Gefahr und nahm aber mit ganz derselben Selbstverständlichkeit an, daß sie mich zwar fassen aber nicht überwältigen könne.

  Die Erzählsituation wird also sehr differenziert gestaltet: Der Erzähler versetzt sich schrittweise in die erinnerte Situation hinein, indem er allmählich die Distanz verringert und schließlich ganz aus der Sicht des Erlebenden erzählt, in der Stilform der erlebten Rede; dann wird die Distanz wieder vergrößert, und der Erzähler tritt erneut hervor. Für einen Augenblick also scheint die bedrängende Situation, in die Kara Ben Nemsi geraten ist, als er sich den Verbleib seines Freundes nicht erklären kann, den Erzähler zu überwältigen, und er vergegenwärtigt sich


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diese Situation so plastisch, daß er sich sozusagen mit der Rolle des Erlebenden identifiziert.

  Die Phase der Überlegung und der Vorbereitungen ist vorbei, Kara Ben Nemsi schleicht sich an; somit steigt die Gefahr und erscheint dem Leser noch bedrohlicher durch die eben zitierte Vorausdeutung; deren zweiter Teil, daß die Gefahr Kara Ben Nemsi nicht überwältigen könne, müßte zwar in der Lage sein, den Leser zu beruhigen; aber wie und warum die Gefahr ihn fassen wird, das sind Fragen, die ihn sogleich erneut in Spannung versetzen. Die folgenden Schilderungen zeigen, daß auch der Erzähler dieser Spannung wieder erliegt.



3. Passage (DH 862f.; Buchausgabe II/214-19)


In der 3. Passage kommt Kara Ben Nemsi am hohen Ufer des Euphrat an und hält, von dem Anblick fasziniert, inne: Sonderbar! Besorgt um den Freund war ich hierhergekommen, um nach ihm zu suchen, und doch richtete sich meine Aufmerksamkeit ... auf die von links herbeiströmenden Fluten, deren nachtdunkle Fläche wie mit einem weichen, phosphoreszierenden, sich immerfort bewegenden Filigrannetze überzogen war. Dieses geheimnisvolle »Finsterleuchten« zog meine Blicke an und hielt sie eine ganze Weile fest.

  Dies ist eine der ganz wenigen Stellen in Mays Romanen, an denen ein Naturbild in die Handlung integriert und damit wirklich anschaulich, wie aus echtem Erleben, vergegenwärtigt wird und dem Leser vorstellbar ist.

  Es ist schwer zu entscheiden, wer die Wertung Sonderbar! abgibt, Kara Ben Nemsi oder der Erzähler; aus dem gesamten Kontext möchte ich auf erlebte Rede Kara Ben Nemsis schließen, dem am ehesten auffällt, wie seltsam diese Ablenkung von seinen eigentlichen Absichten ist.

  Der Fluß kommt ihm wie ein geheimnisvolles ... Wesen vor, das das Schicksal der aus dem Paradies vertriebenen Menschen und der nach Babylon in die Gefangenschaft verschleppten Israeliten zu tragen hat. Dies sind Gedanken, die Kara Ben Nemsi durch den Kopf gehen, aber durch den Vergleich doch den Erzähler sichtbar machen. Schnell aber wird die Aufmerksamkeit Kara Ben Nemsis auf das Feuer, an dem zwei Männer sitzen, gelenkt. Und in diesem Augenblick höchster Gespanntheit: was ist's mit diesem Feuer, bedeutet es Gefahr oder nicht? - verschwindet der Erzähler wieder hinter dem Erlebenden, indem dieser mit erlebter Rede fortfährt: Das gab ein so friedliches Bild; wo war da die Spur von einer Gefahr für mich zu sehen! Befand ich mich an dem gesuchten Versteck, von dem man glaubte, daß die Geister der Erschlagenen des Nachts da ihr Wesen trieben? Oder waren diese beiden Männer nur harmlose Fischer, welche jetzt in der Dunkelheit und Kühle einen Fang machen wollten, um ihn dann am Morgen unten in Hilleh zu ver-


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kaufen? Wieder sind es Fragen, die sich sinnvollerweise nur Kara Ben Nemsi stellen kann; der Erzähler weiß, worum es sich handelt. Die Überlegungen gehen weiter, der Verdacht, das friedliche Bild könne Täuschung sein, taucht auf, aber er muß ergründet werden: Wer weiß, was man ihm [sc. Halef] angethan, mit ihm begonnen hatte! ... Ich mußte etwas thun; aber was?

  Das Gefühl der Unsicherheit wird wieder verdrängt durch den Vorsatz, näheren Aufschluß über die beiden Männer zu erhalten. Hier liegt Gedankenbericht vor: Ich glaubte, zunächst erfahren zu müssen ... und beschloß also ... und überlegte ... das erforderte Zeit, mehr Zeit, als ich meiner Ansicht nach zu diesen ... Vorbereitungen verwenden durfte. Wieder also die Annahme, die Situation einigermaßen richtig einzuschätzen und dadurch meistern zu können, was aus der Sicht des erinnernden ›Ichs‹ der Rechtfertigung seines damaligen Handelns dient. Aber darauf folgen mehrere widerstreitende Erwägungen, was das beste zu tun sei; Annahmen werden sogleich wieder verworfen, die Überlegungen verraten wieder bedenklichste Unsicherheit. Der Augenblick einer Entscheidung naht, als sich Kara Ben Nemsi die Böschung in Richtung des Feuers hinabzubewegen beginnt. Und in diesem Augenblick wird die Distanz des erinnernden ›Ichs‹ zum erlebenden erneut aufgehoben durch erlebte Rede: Zwei Punkte, die Kara Ben Nemsi für Steine gehalten hat, bewegen sich plötzlich. Kamen diese Steine etwa durch den von mir verursachten Druck mit dem Böschungssande ins Rollen? Nein, es waren ja gar keine Steine, sondern es fuhren vier Arme plötzlich aus dem Sande heraus ... Diesmal wird die Frage, die Kara Ben Nemsi durch den Kopf schießt, sofort beantwortet, und damit ist die Unsicherheit beendet, handgreifliches Geschehen macht ihm sowie dem Leser klar, was wirklich los ist. So kann die Distanz wiederhergestellt werden, die Spannung ist fast gelöst, fraglich bleibt nur noch der technische Vorgang der Gefangennahme. Und darum zeigt sich der erinnernde Erzähler wieder, indem er sich an den Leser wendet: Man glaube nicht, daß ich erschrocken sei; ich war solche Überraschungen gewohnt; aber diese hier kam so schnell über mich, daß ich keine einzige Sekunde zur Gegenwehr bekam. Kara Ben Nemsi wird von einer Übermacht niedergerungen und gefesselt. Im folgenden wird der Leser unmittelbar angesprochen, und zwar vom fiktiven Erzähler: Lieber Leser, hast du vielleicht einmal die Augen so voller Sand gehabt, daß auch nicht ein einziges Körnchen mehr Platz gefunden hätte? Nein? Ich auch nicht alle Tage, dafür aber damals so gründlich wie nur möglich. Vollends das Zeitadverb damals stellt die erzählerische und zeitliche Distanz wieder her.

  Die soeben vorgestellte dritte Passage ist erzähltechnisch ähnlich wie die zweite, aber noch differenzierter gestaltet. Sie beginnt mit Überlegungen, bei denen nicht genau zu unterscheiden ist, ob sie als erlebte Rede Kara Ben Nemsis oder als Kommentar des Erzählers aufzufassen


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sind. Die folgende erlebte Rede dokumentiert dann die fragende Ratlosigkeit Kara Ben Nemsis; als er sich zum Handeln entschließt, kommt Gedankenbericht, der wiederum von der erlebten Rede abgelöst wird im Augenblick unmittelbar vor dem Höhepunkt, als Kara Ben Nemsi völlig ungewiß ist, wie er die Situation einzuschätzen hat: sich bewegende Steine? Als sich die Lage - wenn auch zum Unglück für Kara Ben Nemsi - klärt, meldet sich sogleich wieder der Erzählende zu Wort durch die Wendung an den Leser; die Irritation ist vorbei, die Fehleinschätzungen Kara Ben Nemsis sind erkannt, es gibt keinen Grund mehr, sich von der Situation gefangen nehmen zu lassen, Erzähler und Leser können die weitere Entwicklung ruhig distanziert schildern bzw. verfolgen.

  Wiederum kann ein Vergleich die besondere erzählerische Qualität dieser beiden Passagen untermauern. Ich wähle Stellen aus der ›Mahdi‹-Trilogie, die in die gleiche Entstehungszeit gehört. Die Begegnung mit dem alten Fakir ist reich an Reflexionen des Erzählers, wie er diesen Menschen einschätzen soll. Dabei handelt es sich teils um Gedankenbericht, teils um erlebte Rede. Ich sann über den Grund des Vertrauens nach, welches er mir bewies ... Ich kam auf den Gedanken ... Aber warum? ... Welchen Grund konnte er haben, mir zu schaden? Ich ließ diesen Gedanken sehr bald wieder fallen ...126 Aus der sprachlichen Form geht hervor, daß die Fragen von dem sich erinnernden Erzähler gestellt werden, die ganze Stelle ist also Gedankenbericht.

  Etwas später trifft der Erzähler den Alten wieder: Als wir uns ihm genug genähert hatten, sah ich, daß er seine Lippen im Gespräch mit Allah bewegte; auf seinem Gesichte lag der Ausdruck reinster, religiöser Verzückung. Nein, dieses Gesicht konnte nicht lügen. Der Mann, welcher dem Grabe so nahe stand, daß jeder Augenblick ihn hineinstoßen konnte, sollte ein Freund von Verbrechern sein? Unmöglich, ganz unmöglich! Ich empfand in diesem Augenblicke das festeste, das innigste Vertrauen zu ihm.127

  Was der Erlebende sieht, löst in ihm ein spontanes Urteil aus, welches ganz unmittelbar als sein Gedanke formuliert wird; die apodiktische Feststellung konnte nicht lügen und das zweimalige unmöglich kann nicht vom erinnernden Erzähler stammen, der es längst besser weiß. Es handelt sich um Innenperspektive in Form der erlebten Rede, die den Leser für einen Moment in die geschilderte Situation versetzt. Spannungssteigernd, weil irritierend wirkt auch noch die ganz versteckte Vorausdeutung im folgenden Satz; der ausdrückliche Hinweis auf den Zeitpunkt und der doppelte Superlativ lassen den Leser ahnen, daß sich der Erlebende in diesem Augenblicke irrt, und deshalb verstärkt um sein Wohlergehen bangen. Störend aber ist die Verunklärung der Erzählsituation durch die falsch gehandhabte Außenperspektive im ersten Satz; wie soll der Erlebende sehen, daß der Fakir zu Allah betet? Der erin-


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nernde Erzähler kann dies ebensowenig behaupten, denn er weiß längst, daß der Fakir tatsächlich zu den Verbrechern gehört und sich in diesem Moment verstellt. Was gerade die Qualität der oben besprochenen Stellen aus dem ›Babel‹-Kapitel ausmachte, der schrittweise Übergang aus der Erzähl- bzw. Lesesituation zur erzählten, damit das fast unmerkliche Hinübergleiten in die fiktive Wirklichkeit und dementsprechend wieder die Lösung von ihr - das geschieht an dieser ›Mahdi‹-Stelle nicht; die erlebte Rede steht isoliert in einem erzählerisch unlogischen Kontext.

  Als Konsequenz aus dieser stilistisch mißglückten Stelle erscheint dem Leser die kurz darauf folgende mit ihren mehrfachen Fragen in Form erlebter Rede völlig deplaziert: Der Fakir stand jetzt als ein ganz anderer Mann vor mir, aber als was für einer? Er war mir in diesem Augenblicke ein Rätsel. Was war das für ein Gelächter! War das aus Hohn oder aus Uebermuth? Wie sollte ich mir den Ausdruck seines Gesichtes erklären? War das Verachtung oder Drohung? Er kam mir jetzt gerade wie ein Raubtier vor, welches mit seiner Beute spielt.128 Die Fragen, die sich der Erlebende stellt, und die Deutung im letzten Satz sind typische Beispiele für Kumulation (Hohn - Uebermut, Verachtung - Drohung; auch im Lautlichen: die w-Alliterationen der Satzanfänge) und Übersteigerung (Raubtier), die dazu dienen sollen, die inhaltliche Ungereimtheit und erzählerische Unwahrhaftigkeit der Situation zu verschleiern; diese Begriffe können eigentlich gar nichts anderes signalisieren, als: Der alte Mann ist ein gefährlicher Heuchler. Und der Erlebende, dieser so scharfsinnige Mann, soll sich immer noch nicht sicher sein, wie er ihn einzuordnen hat? Das ist ganz unwahrscheinlich.

  Die drei Stellen aus dem ›Mahdi‹ belegen das verstärkte Bemühen Mays, fiktionalisierende Elemente zur Vergegenwärtigung des Geschehens einzusetzen, wobei ihm aber immer wieder einmal Fehlleistungen wie in den frühesten Texten unterlaufen.

  Dagegen gelingt es Karl May in den vorgestellten Passagen wie an anderen Stellen des ›Babel‹-Kapitels, eine fesselnde Episode in sich geschlossen und mit erzählerischer Logik zu entwerfen und gleichzeitig die Verschränkung der drei Erzählebenen transparent zu machen.



3.3.4 Erzählhaltung an einzelnen Stellen des ›Babel‹-Kapitels


Wie ist die Erzählhaltung an einzelnen Stellen dieses Romans zu interpretieren? Die besondere Befindlichkeit des Autors Karl May, von dem in diesem Kapitel öfter die Rede sein muß, wird gleich zu Anfang dieses Romans sichtbar; denn sie wirkt sich entscheidend auf die Erzähltechnik aus. Diese ist in ganz neuer Weise vor allem dadurch geprägt, daß


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May die nun gewonnene Erzählhaltung und ihre sichere Handhabung selbst thematisiert.

  Karl Mays Romane erwachsen aus einer doppelten Erfindung: die eine besteht darin, daß die Handlung von ihrem Helden später selbst erzählt wird, die andere darin, daß im Laufe der Zeit immer ausdrücklicher behauptet wird, der Ich-Erzähler sei mit dem Autor und die Handlung sei mit dessen Erlebnissen gleichzusetzen. Ich will zunächst an einigen willkürlich herausgegriffenen Stellen untersuchen, worin die grundlegend neue Qualität der Erzählweise besteht und in welcher Weise sich die genannte doppelte Erfindung auf den Erzählstil auswirkt.


1. Kara Ben Nemsi erklärt: »Wenn ich mich in alles hineindenke, ist es mir nicht schwer, zu erraten, wie das Ereignis vor sich gehen wird.« (DH 858) Hier läßt der Autor May sein erlebendes ›Ich‹ die Voraussetzung, aus der er die Geschichte souverän erzählen kann, erklären: Indem er sich in die jeweilige Situation, die ja von ihm selbst erfunden ist, hineinversetzt, kann er die Einzelheiten und die Folgen konsequent entwickeln.


2. Kara Ben Nemsi will nachsehen, wer sich an einem Feuer befindet, Halef soll zurückbleiben. Dieser beschwert sich:


»Allah! Warum willst nur immer Du es sein, auf welchen der Ruhm der Entdeckungen fallen soll! ... Du wirst Dich wahrscheinlich wieder in den bekannten Sattel setzen, um mir Deine heißgeliebte Vorsicht vorzureiten?«

  »Das thue ich allerdings.«

  »Und weißt doch, wie tief es mich betrübt. Es mag ja sein, daß ich früher, in der Zeit, als Du mich kennen lerntest, ein wenig ungestüm und vielleicht auch unbedächtig gewesen bin; daran war meine Jugend schuld. Das ist nun vorüber ...« (DH 859)


Wenden wir einmal die genügend belegte These, daß Halef das Alter ego des Ich-Erzählers = Karl Mays ist, sowie die uralte Metapher vom Reiten für das Schreiben (in den bekannten Sattel setzen bedeutet, daß diese Metapher dem Hadschi wie auch dem Leser bekannt ist) auf die Erzählhaltung an. Dann war der von Halef verkörperte May also früher bereit, unvorsichtig, ungestüm zu sein, d. h. ohne durchdachte Form zu erzählen (was ich oben mit den Hinweisen auf überladenen Stil, verfehlte Metaphorik, unangemessene Ironie usw. nachzuweisen versucht habe), ohne daß man dies dem von Kara Ben Nemsi verkörperten May vorwerfen kann, der sein anderes ›Ich‹, den Hadschi, ja immer kritisierte und zurückpfiff; jetzt aber ist der Halef-May ebenso bedächtig geworden wie der Kara Ben Nemsi-May, d. h. alles, was nun beide Personen tun, wird von May gedeckt; beide gehen in dem einen Schriftsteller auf, nur vermeidet dieser immer noch, sich das einzugestehen, weshalb er etwas zö-


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gert, dem Halef-May nachzugeben. Als Halef tatsächlich in Gefangenschaft gerät, wird das dadurch wettgemacht, daß auch Kara Ben Nemsi auf die gleiche Art gefangengenommen wird. Alles in allem bedeutet das, auf das Erzählen bzw. die Erzähltechnik angewandt, daß der Autor May sich jetzt mit allem, was und wie er erzählt, identifizieren und sich dazu bekennen darf, wenn er auch noch eine zögerliche Folie darüberdeckt. Nun wird - fast - ohne schlechtes Gewissen erzählt; einerseits entspricht dies der Selbstdarstellung Mays im realen Leben als Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi, andererseits pflegte er die ›Old Shatterhand-Legende‹ gewiß mit schlechterem Gewissen als das Schreiben.


3. Auf der Suche nach einem Versteck für die Pferde am Birs Nimrud finden die beiden den von Halef so genannten ›Stachelschweinsmarkt‹. Kara Ben Nemsi überlegt, ob ein Gang aus dem früheren Gefängnis des Bimbaschi in diesen Hof führen könnte; Halef kritisiert dies als Wunschdenken, aber Kara entdeckt weitere Löcher, die die Stachelschweine gegraben haben:


»... - schau hin! Siehst Du die Löcher, welche in die zerrissene Mauer führen?«

  »Hm! Ich sehe sie; aber ich wundere mich, daß die Kanafid grad da einen Gang gegraben haben sollen, wo Du einen brauchst?«

  »Brauchst? Ich brauche keinen, denn ich bin nicht gefangen. Ich verbinde Umstände, welche im Zusammenhange zu stehen scheinen, vollends miteinander, und ob ich da recht habe oder nicht, das hat keine Folgen für uns, aber dennoch werde ich diesen Hof hier morgen etwas eingehender untersuchen, als es jetzt möglich ist.« (DH 659)


Ist die Gleichsetzung, die ich an der vorhin besprochenen Stelle übernommen habe, richtig, dann fragt sich Karl May in der Rolle Halefs, inwiefern es gerechtfertigt ist, die Dinge so zu arrangieren, wie sie für den Fortgang einer schlüssigen Handlung benötigt werden; und May als Kara Ben Nemsi antwortet souverän, er stehe ja unter keinem Zwang (er ist jetzt nicht mehr in der sozialen Situation und der wirtschaftlichen Zwangslage wie noch vor einigen Jahren), und deshalb könne er die Details der Erzählung frei entwerfen. Diese in der Phantasie enthaltenen Details werden vom Autor miteinander zu dem Gewebe einer schlüssigen Geschichte verbunden. Genauso selbstherrlich kann auch das erzählte ›Ich‹ Kara Ben Nemsi handeln. Nicht leicht zu entschlüsseln ist allerdings die Bedeutung der Behauptung: Das hat keine Folgen für uns. Für den Autor werden selbstverständlich Folgen eintreten, positive oder negative: Die Erzählung findet Anklang oder nicht; und dadurch wird die Höhe der Einkünfte beeinflußt. Für Kara Ben Nemsi als Handlungsträger aber hat das Vorhandensein der Gänge sicher Folgen, nämlich seine Rettung aus dem Gefängnis des Birs Nimrud. Nur für den fik-


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tiven Erzähler wird die ganze Geschichte folgenlos bleiben. Diese Zwiespältigkeit der Behauptung Kara Ben Nemsis wird bestätigt durch die Ankündigung, den Hof am nächsten Tag untersuchen zu wollen, denn dies widerspricht ja wiederum der behaupteten Folgenlosigkeit. Das Ganze ist offensichtlich für die handelnden Personen eine Spielerei (so wird Kara Ben Nemsi sogar mit dem gefährlichsten Gegner, dem Säfir, spielen, indem er wieder in den Birs Nimrud zurückkehrt; und Halef nimmt seine ganze Gefangenschaft nicht ernst), für den fiktiven Erzähler ist es bloß heitere und erheiternde Erinnerung, für den schreibenden Autor schließlich ist es einerseits spielerische Erfindung, Flunkerei, andererseits aber auch Teil seines Innenlebens, das er nach außen in die reale Umwelt projiziert und den Mitmenschen vorführt.


4. »Begreifst Du, daß ich wissen möchte, was sich heut hinter den Steinen ereignet, welche die Enkel Noahs zusammenfügten, um sich einen Namen zu machen?« »Also doch Neugierde, Sihdi, nichts als Neugierde! ...« (DH 675) Die ›Neugierde‹ des erlebenden ›Ichs‹ entspricht dem spielerischen Umgang des schreibend-erzählenden Autors mit seinem Stoff: Er fragt sich, was man mit dem Turm zu Babel heutzutage anfangen kann; Kara Ben Nemsi verbrämt dies mit einer Art Forscherdrang, das erzählte Zweit-›Ich‹ alias Halef bringt es auf den Punkt. Allerdings richtet sich die Neugierde auf das, was der kreative Schriftsteller selber entwirft: Wie weit kann er gehen, was alles kann er erfinden, was alles kann er seinen Lesern zumuten? In der Realität hat er seinen Mitmenschen allerhand zugemutet, was sie sich allerdings nur zu gerne gefallen ließen. Des weiteren gehört auch der Turm zur literarisch bewältigten Vergangenheit des Autors: Hier hat er als Kara Ben Nemsi am Rande des Grabes gestanden (in ›Die Todes-Karavane‹), und jetzt fragt er sich, wie er heut mit diesem phantasierten und zugleich real existierenden Ort umgehen soll. Vergleicht man die erzählerische Gestaltung der Ereignisse, die dort spielten bzw. spielen, fällt der große Unterschied sofort ins Auge: der Fortschritt ist unverkennbar.


5. Wieder geht es im Gespräch zwischen Kara Ben Nemsi und Halef um vorsichtiges Verhalten. Halef: »Aber sag selbst, was aus unsern hoffentlichen und berühmten Erlebnissen werden soll, wenn Du mit Deiner übertriebenen Vorsicht alle Begebenheiten zurückscheuchst, welche sich uns nähern wollen?« (DH 859) Die Ereignisse der Handlung werden scheinbar als autonome gesehen (letzter Teilsatz), aber im Zusammenhang des Gesamtsatzes wieder als Teil der Erfindung des Autors dargestellt. Wieder haben wir eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Hälften des Autors über das rechte Erfinden: die vorsichtige Hälfte ziert sich noch vor der Schilderung besonders abenteuerlicher Ereignisse, während die andere Hälfte den sinnvollen Rat gibt, um der literari-


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schen Wirkung willen ruhig etwas dick aufzutragen; dann darf man aber nicht zu zimperlich sein, sondern muß gefahrenträchtige Situationen entwerfen. Sinnvoll ist es, solche Situationen zu wünschen und sie von vornherein als bedeutende zu antizipieren.


6. Ein Beispiel für die in diesem Roman häufig vorkommende heitere Gelassenheit des Erzählers findet sich hier: Wenn man einen Winnetou zum Lehrmeister im Dauerlaufe gehabt hat und so hübsch frisch, naß und erquickt aus dem Wasser gestiegen ist, wie jetzt ich, so fördern die Schritte doppelt. (DH 875)


7. Ich war in eine Falle gegangen, glücklicherweise in eine mir bekannte, obwohl ich mich noch niemals hier im Innern des Birs Nimrud befunden hatte. (DH 876) Das ist eine besonders schöne Variante im Spiel mit den Erfindungen seiner Vorstellungskraft, das May in diesem Roman gestaltet; außerdem wirft ein winziges Detail helles Licht auf den Rang, den Mays Erzähltalent129 in dieser Phase seiner Ich-Romane erreicht hat.


7.1 Wesentliche Örtlichkeiten und auch Verhaltensweisen von Menschen, z. B. die Absichten und Taten der Schmuggler, sind in der Erzählung des Polen Dozorca vorgegeben und bilden das Raster für die Erlebnisse im Turm. Daraus ergibt sich eine dreifache Spiegelung dieses Geschehens: 1) die Erzählung des Polen von seiner unfreiwilligen Gefangenschaft mit ihrem schlimmen Ausgang weist in ihrer Detailliertheit und in Verbindung mit den interessierten Fragen Kara Ben Nemsis auf dessen Gefangenschaft im Turm voraus; 2) der erste, wegen des nicht geplanten Zeitpunkts im Grunde unfreiwillige Aufenthalt Kara Ben Nemsis im Turm spielt die Gefangenschaft des Polen, allerdings mit wesentlichen Varianten, nach und nimmt mit der nächtlichen Flucht durch den Stachelschweinsgang ein vorläufig gutes Ende für die Gefangenen; 3) der zweite, freiwillige Aufenthalt Kara Ben Nemsis im Turm hat auch für den Polen sein Gutes, da er von nun an keine Angst mehr vor den Verbrechern haben muß.


7.2 Bei dem oben betonten Detail handelt es sich um den Begriff ›Falle‹. Darunter versteht man gemeinhin einen Hinterhalt, der einem Menschen von einem Feind gelegt wurde und der dem Hereingelegten unbekannt ist; d. h. worin er besteht, wo und wann er statthat, weiß der Bedrohte nicht. An dieser Stelle aber sagt der Erzähler ausdrücklich, die Falle sei seinem erlebenden ›Ich‹ bekannt, und das stimmt in dem Sinne, daß sie ihm von dem Polen in vielen Einzelheiten beschrieben worden ist: die mündliche Erzählung als literarische Form konstituiert innerhalb der Fiktion eine Kenntnis, die einer Autopsie gleichkommt.


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Kara Ben Nemsi hat das Turm-Gefängnis aus reinem Mutwillen aufgesucht, die Gefangenschaft ist also bewußt einkalkuliert worden; Halef hat sie sich sogar gewünscht. Nur der aktuelle Zeitpunkt der Gefangennahme ist weder erwartet noch gewollt.

  Was ist das Besondere daran? Ähnliche Situationen gab es schon in früheren Romanen, nur wurden sie ganz anders gestaltet. Vergleichbar sind jene Stellen, an denen der Held behauptet, in eine Lage zu kommen oder gekommen zu sein, in der ihn der winzigste Fehler oder Zufall das Leben kosten könne. Man erinnert sich an den Besuch in Mekka, wo der Entdeckung des Christen eine solche Konsequenz vorausgesagt wird. Aber als das Befürchtete eintritt, liegt gleich das Kamel bereit, das Kara Ben Nemsi in Sicherheit bringt. Oder die Szene in ›Old Surehand III‹ mit Winnetous und Old Shatterhands Kampf gegen den riesigen Grizzlybären (ein Kampf, in den sich die beiden Helden ostentativ unbekümmert begeben), wo Old Shatterhand plötzlich behauptet, ein Straucheln bedeute seinen Tod, dann aber ein einziger Messerstich genügt, die Bestie zu erlegen. An solchen Stellen gibt der Erzähler vor, beim geringsten Versehen sei er ›unbedingt verloren‹. Solche Szenen werden ganz ernsthaft, ohne spielerische Ironie erzählt und wirken deshalb höchst unglaubhaft, ja sogar lächerlich: Auch was die Gefahr fürs eigene Leben angeht, nimmt Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi den Mund recht voll - könnte ein Kritiker sagen. Im Unterschied dazu wird an der ›Babel‹-Stelle die - objektiv betrachtet - große Gefahr, in die Kara Ben Nemsi gerät, sogleich relativiert, aber nicht ungewollt, sondern mit voller Absicht; damit wird sie zum Spiel erhoben, das von allen beteiligten Guten (Kara Ben Nemsi, Halef, dem Leser) genossen werden kann, zumal die genannten drei längst vorhatten, in diesen geheimnisvollen Turm zu gehen.


8. Ich lasse nämlich den General nicht etwa als schriftstellerischen Deus ex machina an dieser Stelle erscheinen; das wäre, wenn es sich nur um Phantasiegebilde handelte, ein ganz überflüssiges Verfahren ..., weil der schon vorhandene Sandschaki mir ganz dieselben Dienste leisten könnte, wie der an den Haaren herbeigezogene »Dscheneral«. Dieser letztere, den ich Freund nennen darf, ist vielmehr eine hervorragende, militärische Persönlichkeit, sogar Autorität und durch den Gang seines bewegten Lebens im höchsten Grade interessant. (DH 892) An dieser Stelle ist mehreres bemerkenswert:

  1) Der Erzähler May deutet selbst die Möglichkeit an, der General könnte die Funktion eines Deus ex machina haben; indem er ihn doch erscheinen läßt, macht er deutlich, daß er der Erfinder der ganzen Geschichte ist, denn wir alle wissen, daß es sich bei dem Roman um eine nur vorgestellte, also fiktive Wirklichkeit handelt. Die souveräne Distanz, mit der der Erzähler/Autor in seiner Vorstellungswelt mit seinen


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fiktiven Gestalten schaltet und waltet, zeigt sich in der Ausdrucksweise: der an den Haaren herbeigezogene »Dscheneral« ist demnach tatsächlich augenzwinkernder Beweis für erzählerische Willkür!

  2) Der Ausdruck Phantasiegebilde meint hier nicht die Erzählung, sondern die Figur des Generals; dieser ist allerdings eine Mischung aus historischer Persönlichkeit und erfundener Figur, vielleicht mit Übertragung von einer anderen.130

  3) Begründet wird das Auftreten des Generals nicht mit einem Erfordernis für die Handlung, sondern mit dem Interesse, das seine Person als solche beanspruche, was wiederum auf die kreative Willkür des Schriftstellers zurückzuführen ist.

  4) Die Begründung um den Sandschaki ist nicht leicht zu verstehen, denn so, wie dieser sich bei der Gerichtsverhandlung verhalten hat, könnte er keinesfalls die Rolle des Generals übernehmen. Aber er könnte das Spiel, das ja auch er (mit Kara Ben Nemsi) spielt, auf die Spitze treiben und sich dadurch selbst entlarven; denn er ist kein Kara Ben Nemsi und kein Autor wie Karl May.


9. Die folgende Stelle (DH 911) paßt zwar inhaltlich zum bisher analysierten Kontext und seiner Bewertung, sie ist aber leider stilistisch mißlungen und sticht unangenehm von der sonstigen Erzählweise ab. Darum soll sie auch nicht zitiert werden. Kara Ben Nemsi rechtfertigt seine freiwillige Rückkehr in das Gefängnis im Birs Nimrud als ein nur gewagtes, nicht aber vermessenes Unternehmen mit der Anlage der ganzen Erzählung. Da hat nämlich der Erzähler/Autor den Birs Nimrud nur mit wenigen Feinden bevölkert, seinen Helden mit überlegenen Waffen ausgestattet und mit einer schon zur Genüge bewiesenen Portion Wagemut ausgestattet, daß dem Erfolg eigentlich nichts im Wege stehen kann. Nur wird dies in einer unangenehm trockenen Stilform dargelegt (umständlichste Satzkonstruktionen mit 4 daß-Sätzen und 5 Infinitivsätzen in 13 Zeilen), die den Leser eher an die bemühte Verteidigung eines subalternen Beamten gegen die Vorwürfe seines Vorgesetzten als an die Reflexionen eines überlegen mit seinen Feinden umspringenden Helden bzw. ironisch mit den Motiven seines Abenteuerromans schaltenden Autors denken lassen.


Alle diese Stellen gehören nicht nur zur Abenteuerhandlung, sondern handeln von der Erzähltechnik Mays. Ob der Autor sein Wunsch-Ich von seiner Vorstellungskraft sprechen läßt (1), ob er seine eigene schriftstellerische Vergangenheit auf Halef projiziert (2) oder seine Entwicklung als Romanautor analysiert (5), ob er den Gegenstand seines Erzählens neu bewertet (4) oder die planende Gestaltung des Schauplatzes, an dem er seine Erfindungen spielen läßt, vorführt (3, 9), ob er die Motive seiner Romane im nachhinein miteinander verknüpft


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(7) oder seine imaginative Willkür offen ausspricht (8): Alles verrät den Fiktionscharakter der Geschehnisse und die Lust an der spielerischen Verrätselung, die um so offenkundiger erscheint, je kunstvoller sie gestaltet wird. Die doppelte Erfindung, von der am Anfang dieses Abschnittes die Rede war, wird in augenfälliger Weise wie auf einem Transparent entfaltet; sie verdrängt für Augenblicke die vordergründige Handlung, die nur noch Vorwand zu sein scheint für die Epiphanie des erfindungsreichen Karl May.



3.3.5 Die Technik des Verzögerns


Die Technik des Verzögerns hat in ganz besonderer Weise den Leser im Blick. Der zugrundeliegende Mechanismus ist einfach. Der Leser will erfahren, wie ein bestimmtes Geschehen ausgeht. Zum Ausgang gehört aber notwendig der Gang der Handlung, d. h. der Leser findet sein Vergnügen auch darin, in Erfahrung zu bringen, wie die Handlung zu einem bestimmten Ausgang kommt; nein, eigentlich muß es heißen: er findet recht eigentlich sein Vergnügen darin, denn sonst würde er als erstes auf den letzten Seiten nachschlagen und das Ende eines Romans allem, was davor liegt, vorziehen. Das tut er aber in den seltensten Fällen; denn gerade die oftmals verschlungenen Wege der Handlung, die er er-liest, enthalten den größten Reiz. Jeder, der mehrbändige Romane Mays gelesen hat, dazu gehört allen voran der große Orient-Roman, kann sich an die Vorfreude erinnern, die er empfand, wenn er sich dem Ende des 1. Bandes näherte und die Reihe der Folgebände, die er noch vor sich hatte, überblickte. Und je weiter er las, desto mehr nahm eine gewisse Unruhe zu, daß jetzt nur noch zwei, dann einer, dann nur noch ein halber Band ungelesen waren, und wenn man den ›Schut‹ zuklappte, gesellte sich zu der Melancholie, die der Schluß vermittelt, noch die besondere Trauer darüber, daß nun eine weite Lese-Reise unwiderruflich zu Ende war. Und was so ein rechter May-Leser ist, der hat diese Empfindungen bei jeder neuen Lektüre dieses Romans.

  Somit liegt der Grund für das immer erneute Entkommenlassen der Schurken hauptsächlich darin, durch die Verzögerung des Strafgerichts das Lesevergnügen zu erhöhen. Und so zeichnet sich denn der Orient-

Roman unter anderem durch den riesigen Spannungsbogen aus, durch den sich der Erzähler die Bestrafung des ersten Bösewichts, der dem Helden über den Weg läuft, bis zum Ende der langen Geschichte, d. h. bis in den 6. Band hinein aufbewahrt.

  Aber nicht jeder Leser wird so reagieren. Wer an der vordergründigen Fabel interessiert ist, im Orient-Roman also an der Verbrecherjagd (insgesamt auf Hamd el Amasat oder in den Zwischenepisoden auf

Abrahim-Mamur, später auf die ganze Verbrecherbande des Schut),


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der wird vielleicht ungeduldig, vor allem bei den vielen vermeintlichen Abschweifungen, die sich der Erzähler/Autor in den Bänden 4 und 5 erlaubt, die scheinbar gar nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben. Der Leser aber, der an mehr als der äußeren Aktion interessiert ist, d. h. derjenige, der den Orientroman zum zweiten Mal oder noch öfters liest, der wird an den ›Abschweifungen‹ Gefallen finden, solange sie nur einigermaßen gut erzählt sind (was zugegebenermaßen nicht auf alle zutrifft); er wird nach Zusammenhängen forschen, motivliche Verbindungslinien aufspüren - und er wird einfach sein Vergnügen daran haben, daß er sich um so länger auf die Weiter- und Zuendeführung der Haupthandlung freuen darf.

  Eine ganz außergewöhnliche Verzögerung mit bemerkenswerter erzähltechnischer Bedeutung liegt nun im ›Turm-zu-Babel‹-Kapitel vor. Kara Ben Nemsi ist im Birs Nimrud gefangen, aber seine Hände sind so gefesselt, daß er sie leicht losmachen kann. Jedoch statt sich sofort zu befreien, den Säfir zu überwältigen und der gerechten Strafe zuzuführen, läßt er ihn fortgehen und flieht dann erst mit dem persischen Kammerherrn, indem er Halef in Gefangenschaft zurückläßt, reitet nach Hilleh, unterhält sich dort freundschaftlich mit dem ›Dscheneral‹, nimmt den Sandschaki und die Boten des Säfirs fest, reitet mit Verstärkung zum Turm, gibt noch ausführliche Instruktionen und kehrt endlich wieder in das Gefängnis zurück, um auf die Rückkehr des Säfirs zu warten. Dann erst werden die Feinde unschädlich gemacht.

  Fragt man, ob dieser Ausflug aus dem Gefängnis im Birs Nimrud von der Handlung her geboten ist, wird man schnell die Antwort parat haben: selbstverständlich nicht. Man braucht gar nicht zu überlegen, wie die Handlung anders hätte konstruiert werden können, um Kara Ben Nemsi den sofortigen Sieg zu ermöglichen. Denn solche Hilfskonstruktionen sind eigentlich ganz abwegig; nicht die Handlung ist autonom, sondern der Erzähler. Hätte dieser gewollt, hätte er alles ganz anders arrangieren können. Demnach liegt ein anderer Grund für die Hinauszögerung dessen, worauf die Handlung hinausläuft, vor, und dieser Grund paßt zu der spielerischen Gestaltung des ganzen Kapitels aufs beste. Es ist ein Nervenkitzel besonderer Art, der dem Leser zusätzlich zu den aufregenden Vorgängen geboten wird, indem sich nämlich in dessen Kopf parallel zur erzählten Handlung eine eigene abspielt. Was alles kann in der Zeit der Abwesenheit Kara Ben Nemsis im Birs Nimrud geschehen! Und Halef (also des Autors zweites ›Ich‹) liegt in einen Teppich gewickelt dort! Kein Zweifel, daß sich der Leser während Kara Ben Nemsis Aufenthalt in Hilleh alles Erdenkliche ausmalt; z. B. könnte ihm einfallen, wie Kara Ben Nemsi schon einmal in unterirdischen Gewölben von einem Gegner genarrt wurde, nämlich von Abrahim-Mamur in den Gängen von Baalbek. Wie nun, wenn der Säfir vor der Zeit nach seinen Gefangenen sieht? Ein herrliches Leseerlebnis gönnt


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der Erzähler hier seinem Leser: Während dieser von den überraschenden Geschehnissen in Hilleh liest, hegt er gleichzeitig Befürchtungen über mögliche Ereignisse zur gleichen Zeit an einem ganz anderen Ort. Es sind zwei simultan verlaufende Handlungen, die sich im Kopf des Lesers verknüpfen, aber gesteuert durch die Strategie des Erzählers. Diese Strategie zeigt ihren wahren Wert beim erneuten Lesen der gleichen Episode; dann wird der Leser sich anderes ausmalen als beim ersten Mal - und vielleicht wird schließlich der Effekt eintreten, den die Zeitlupenwiederholungen von Torszenen im Fernsehen manchmal haben; man befürchtet, diesmal könnte der vom Spieler der gegnerischen Mannschaft geschossene Ball doch noch ins Tor gehen statt darüber. Der Leser liest die Episode von Kara Ben Nemsis Ausflug nach Hilleh, während dieser eigentlich gefangen im Turm liegen müßte, im wahrsten Wortsinne immer wieder neu und entwirft damit eine - wenn ich sie so nennen darf - Para-Fiktion, die sich der vom Erzähler entworfenen Fiktion überlagert.

  Damit wird in dieser Episode ein großer Nachteil, den der Ich-Roman gegenüber dem Er-Roman hat, aufgehoben. Er kann nicht wie dieser durch Perspektiven- und Ortswechsel von zwei Handlungen, die gleichzeitig zu denken sind, ineinander verschachtelt erzählen, da sich der Ich-Erzähler nicht zugleich an verschiedenen Orten aufhalten kann. Was gleichzeitig mit dem von ihm Erlebten stattgefunden hat, kann er nur recht umständlich in einer als solche gekennzeichneten Rückblende oder durch die Einschaltung einer anderen Person als Berichterstatter vermitteln, womit sich beim Leser aber auch nicht der Eindruck der Gleichzeitigkeit einstellt. Genau dies aber ist an dieser Stelle der Fall, provoziert durch den so auffälligen Ortswechsel des Helden, bei dem er zwei höchst wichtige Personen zurückläßt; es ist kaum anzunehmen, daß ein Leser die ganze Zeit über, die Kara Ben Nemsi in Hilleh verbringt, den gefährlichen Säfir oder den im Teppich eingerollten Hadschi vergißt. Dafür sorgt nämlich der Erzähler, der, während er von den Vorgängen in Hilleh berichtet, durch allerlei direkte und indirekte Verweise auf die gleichzeitige Situation im Turm die Para-Fiktion wachhält. Etwa achtmal wird der Zeitdruck, unter dem Kara Ben Nemsi steht, erwähnt; siebenmal wird an Halef erinnert, noch öfter an den Säfir. Weiterhin dient die Raumanordnung diesem Ziel; das Serail des Sandschaki, in dem die Verhandlungen zwischen diesem, dem Pädär, Osman Pascha und Kara Ben Nemsi stattfinden, hat eine ähnliche Anordnung der Räume (Haupt-, Neben- und Vorraum) wie das Gefängnis im Birs Nimrud, nur die Anzahl ist reduziert (drei gegenüber fünf Räumen); Haupt- und Nebenraum sind durch einen Vorhang getrennt, hinter dem Kara Ben Nemsi im entscheidenden Moment hervortritt; der Vorhang hat also eine ähnliche Funktion wie die Vorhangsthür (DH 911) aus Gitterstäben im Turm, hinter der sich Kara Ben Nemsi dem


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Säfir in seiner wahren Größe zeigen wird. Kara Ben Nemsi betritt mit der stillschweigenden Erlaubnis des Kol Agasi, der sich einfach entfernt, das Serail, wie es ihm beliebt, so wie er umgekehrt den Birs Nimrud nach Belieben verläßt, als der Säfir weggegangen ist. Überhaupt handelt er an beiden Orten ganz nach eigenem Gutdünken. Weiterhin erinnert die Verwechslung, deren sich der Sandschaki schuldig macht, als er von den beiden entflohenen Halunken spricht und nicht erkennt, daß der zweite gar nicht Halef ist, wieder an diesen. In diesem Falle liegt kein ›Mißgriff‹ des Autors vor, wie Ilmer meint;131 im Gegenteil, dies wie vieles andere beweist, wie konsequent diese Episode gestaltet ist: Der Sandschaki befindet sich in großer Aufregung; es ist verständlich, daß er bloß den als ersten Eintretenden, Kara Ben Nemsi, beachtet, der bisher auch Wortführer war, während Halef im Hintergrund geblieben war, so wie jetzt der persische Kammerherr, der zudem Halefs Waffen, also auch sein Gewehr trägt; kein Wunder, daß der Sandschaki ihn nicht genau betrachtet. Ebensowenig bemerkt er ja die veränderte Miene des ›Dschenerals‹, als der ihn verhört. Wenn einige Zeit vergangen ist, hat er seinen Irrtum erkannt und spricht richtig von dem Perser. Das Verhalten des Säfirs und des Generals weist ebenfalls Parallelen auf; dieser martert den korrupten Beamten mit seinem Verhör wie jener seinen Gefangenen, Kara Ben Nemsi, quälen will. Die Worte, mit denen der Kol Agasi sich an den Sprung über die Mauer nach der Gerichtsverhandlung erinnert, verweisen den Leser zwangsläufig auf Halef, der ja auch wie auf Gomelastik ... darüber hinwegflog (DH 908). Nicht zuletzt gibt es mehrere Hinweise auf das Spiel, welches Kara Ben Nemsi wie der Erzähler veranstaltet. Kara Ben Nemsi sagt selbst: »Jetzt hat der Scherz ein Ende, und es wird Ernst gemacht.« (DH 895) Osman Pascha vermutet, daß Kara Ben Nemsi der Angelegenheit eine etwas interessante Wendung (DH 907) geben will. Amuhd Mahuli freute sich wie ein Kind auf den Streich, den wir vorhatten (ebd.). Der Erzähler nennt etwas später sein Vorhaben zwar ein gewagtes Spiel, aber die Betonung liegt auf dem Spiel, denn es ist ihm so frei, so leicht, so unbesorglich zu Mute, als ob [er] es schon gewonnen hätte. Dazu paßt die Ironie, mit der er das Gefängnis als liebe, traute Stätte (DH 911) bezeichnet.

  Unmittelbar, nachdem die Para-Fiktion im Kopf des Lesers einen solchen Höhepunkt erreicht hat, ist sie zu Ende: Kara Ben Nemsi beobachtet, daß der Säfir unbesorgt die Verteilung der Beute unter den Räubern leitet, also die Flucht Kara Ben Nemsis nicht bemerkt haben kann. Von jetzt an läuft die erzählte Fiktion wieder einsträngig weiter.

  Nun soll aber noch die abschließende und zugleich stärkste Erinnerung an die Situation im Turm besprochen werden. Sie kommt durch den Kunstgriff zustande, daß der Erzähler erst kurz vor der Rückkehr Kara Ben Nemsis in das Gefängnis des Birs Nimrud auf die entscheidende Voraussetzung für seinen Plan (DH 908) zu sprechen kommt, daß näm-


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lich der Säfir nicht vor der Zeit ins Innere des Turms zurückkehrt. Eigentlich hätte diese Voraussetzung gleich bei der Flucht aus dem Turm ausdrücklich mitgeteilt werden müssen. Da bleibt es aber dem Leser überlassen, sie zu bedenken; sie wird erst erwähnt, wenn sie innerhalb der Para-Fiktion ihre wichtige Funktion erhält. Diese besteht darin, dem Leser noch einmal schlagartig klar zu machen, welches Risiko Kara Ben Nemsi eingegangen ist. Unausgesprochen bleibt, was im Falle einer vorzeitigen Rückkehr des Säfirs mit Halef geschehen würde; konsequenterweise überläßt der Erzähler es dem Leser, sich die eventuellen Folgen auszumalen. In umgekehrter Reihenfolge hatte der Erzähler mit Halefs Brief verfahren; die Mitteilung von dessen Wortlaut ist am Anfang des Kapitels wirkungsvoller als da, wo sie chronologisch hingehört.

  Zumindest die zweite Umstellung (die Nennung der Voraussetzung eines Plans am Ende des Geplanten) könnte fast eine Wirkung entfalten, wie sie sich Brecht nicht besser hätte wünschen können, nämlich die Kritik des Lesers am Verhalten seines bewunderten Helden zu provozieren. Ist sein Unternehmen wirklich gutzuheißen, ist das Spiel, das er hier mit seinem brutalen Gegner, dem Säfir, treibt, nicht allzu gewagt, ja provokativ? Die Frage stellen, heißt sie verneinen; denn nur um so deutlicher wird ja der vom Erzähler entworfene Illusionscharakter des ganzen Geschehens; der Leser erkennt, daß gerade die völlige Übersteigerung der spielerischen Fiktion Ziel des Erzählens ist, die an vielen Stellen das Hineinziehen des Lesers in eine aufregende Handlung, wie es in früheren Romanen praktiziert wurde, ablöst durch dessen größte Distanzierung von den Ereignissen; und diese Distanz gleicht der, welche der Erzähler zu seinem Gegenstand hat, wenn er ihn komisch-spielerisch gestaltet und sich dadurch zugleich als Autor mit den zugrundeliegenden bedrängenden Erlebnissen vergangener Jahre versöhnt.

  Die Parallelen zwischen der Situation im Birs Nimrud und der in Hilleh (zu den oben genannten kommen noch Verhöre, Gewaltausbrüche u. a.) geben Anlaß, Zweifel an der weitreichenden Deutung, die Gert Ueding den sogenannten Spiegelungen von Handlungsteilen, Motiven, Raumkonstruktionen usw. in Mays Werk gibt,132 anzumelden. Meines Erachtens handelt es sich in den meisten Fällen um bloße (variierende) Wiederholungen, wie sie einfach für das Genre des Abenteuerromans üblich sind und speziell für May oft genug festgestellt worden sind. Wenn Ueding mit Recht schreibt, detaillierte Entschlüsselungen der Biographie Mays ließen sich »auch aus einem Roman von Otto Ruppius wie aus einer Trick-Kiste herausziehen«,133 so richtet sich diese Kritik ebenso gegen seine eigene Behauptung, die sogenannten Spiegelungen würden ein besonderes Maysches »Multiversum in Zeit und Raum ausschreiten«;134 denn ebenso läßt sich ein Roman von Oskar Höcker als ›Trick-Kiste‹ benutzen, aus der Motive Karl Mays bis hin zu kompletten Personentypen hervorgezaubert werden können.135 Mir scheint, die Bedeu-


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tung solcher Parallelen dürfte sich nicht in dem Verweisungsnetz, das sie bilden, erschöpfen, um bemerkenswert zu sein; sie müßten eine über sich hinausweisende Funktion erfüllen. Das aber ist in ›Am Turm zu

Babel‹ der Fall in den Parallelen, die die Hilleh-Episode mit dem Birs Nimrud verknüpfen; denn neben den vielen an Halefs Gefährdung erinnernden Hinweisen und den anderen von mir aufgezeigten Elementen stellen sie ein wesentliches Konstruktionsmittel für die Para-Fiktion dar, die der Leser während der Lektüre der vom Erzähler entworfenen Fiktion formt; sie erhalten diese besondere Fiktion bis zu deren automatischem Ende mit der Rückkehr Kara Ben Nemsis in den Turm; damit gewinnt der Ich-Roman Vorzüge, die normalerweise nur den Er-Roman auszeichnen.



3.3.6 Zusammenfassende Wertung


Das Kapitel ›Am Turm zu Babel‹ ist ein einziges literarisches Spiel, in dem die Motive der bisherigen Reiseromane nicht nur gemischt und neu zusammengesetzt, sondern in überraschender Weise gewertet werden; man spürt förmlich die Freude des Autors über die nun erreichte Formkraft, aber auch über die inzwischen gewonnene Distanz von seinen psychischen Obsessionen. Die Spielregeln hat die Erzählung des Polen vorgegeben, der Rahmen der Handlung ist abgesteckt, die äußeren Bedingungen sind bekannt, die Überzeugung, daß Kara Ben Nemsi mutig und klug genug ist, erfolgreich zu agieren, gibt ihm der Pole - sozusagen als aufmunterndes Publikum; das Spiel braucht nur noch gewagt zu werden. Die Flucht aus dem Gefängnis erfolgt aufgrund der Informationen, die Dozorca geliefert hat, nicht eigentlich aus eigener Kraft. Dies entspricht genau der Entwicklung von Mays Verhalten in der Öffentlichkeit, die der Autor seit einigen Jahren durchlief: In ›Krüger Bei‹ (1892) machte er seine Identität mit Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi literarisch öffentlich;136 seit etwa 1894 bestätigte er in Briefen an seine Verehrer/innen, daß seine romanhaft geschilderten Erlebnisse für bare Münze zu nehmen seien; ab 1896 ließ er sich für die Allgemeinheit auf Postkartenfotos als Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi ablichten. Die Rahmenbedingungen hatten seine bisherigen Romane abgesteckt; die Versuchung, öffentlich zu erklären, er sei tatsächlich der omnipotente Weltläufer, wurde von seinem Publikum, unterstützt von der geschäftstüchtigen Redaktion des ›Deutschen Hausschatzes‹, kräftig geschürt. Damit wagte May nun das reale Spiel; er legte die Kostüme an und machte der Öffentlichkeit vor, was sie vorgemacht haben wollte. Allerdings sah er nicht voraus, daß die Wirklichkeit sich nicht auf Dauer so spielerisch-folgenlos manipulieren ließ wie die Fiktion und daß der ganze Schwindel irgendwann auffliegen mußte. Aber während May am


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›Babel‹-Kapitel schrieb, verwechselte er die Möglichkeiten, die das reale und das literarische Spiel gewähren, keineswegs so total, wie man aus der Leichtigkeit, mit der er seine eigenen literarischen Versatzstücke benutzte, schließen möchte. Da ist zwar nichts von Bemühtheit und kein Hinweis, der ein schlechtes Gewissen oder gar Angst vor der Entlarvung signalisieren könnte, festzustellen; da spürt man nur Spaß an der Ironisierung des fiktiven ›Ichs‹ und der entworfenen Handlung, wie sie sich nie zuvor dem Leser mitgeteilt hatte. Aber die distanzierende Ironie läßt doch ahnen, daß sich May des Spielcharakters halb bewußt war, daß er den Balanceakt, den er ausführte - zwischen scheinbarer Schilderung von real Erlebtem und wirklicher Fiktionalisierung - halb durchschaute. Er nahm also schon wieder Abstand von der Attitüde des heldenhaften Dr. Karl May alias Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, kaum daß er sie so richtig ausgestaltet hatte. Damit kann die wichtige Feststellung Gert Uedings,137 Karl May gehöre zu den Schriftstellern, die sich zu einem Bestandteil der von ihnen selbst entworfenen künstlichen Welt gemacht haben und dies selbst nicht mehr recht durchschauen, wenigstens für diesen Roman(teil) dahingehend präzisiert werden, daß der Autor mit diesem Auf-die-Spitze-Treiben seines literarischen Spiels sehr wohl den Fiktionscharakter seines Werkes erkannte und anerkannte, was möglicherweise die Desillusionierung, die dann die Orientreise und die Angriffe seiner Gegner bringen sollten, vorbereitete. May machte im ›Babel‹-Kapitel das eigene Spiel zu deutlich, als daß man annehmen könnte, er hätte lange bei der Old Shatterhand- und Kara Ben Nemsi-Camouflage bleiben wollen.

  Noch ein literarischer Beleg dafür ist die Situation beim Polen Dozorca, die genau die gleiche ist wie die um viele Jahre zurückliegende beim ersten Besuch Kara Ben Nemsis, worauf Ueding ausdrücklich hinweist,138 ohne die meiner Ansicht nach bestmögliche Deutung zu geben. Während die übrigen Parallelen und Wiederholungen von Situationen immer Varianten aufweisen, hat sich diesmal ›nichts verändert‹. Dies ist der beste Beweis dafür, daß May hier dem Leser ein fast überdeutliches Signal gibt, dieser solle das Erlebnis nicht für ein reales nehmen, sondern als ein erfundenes durchschauen; wenn der Leser der Täuschung erliege, sei er selbst schuld - nicht aber der Autor.

  ›Am Turm zu Babel‹ bereitet in fiktionaler Form vor, was May später in seiner Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹139 - allerdings auf sein ganzes Œuvre der Reiseerzählungen beziehend - theoretisch ausführt und begründet: Sein ›Ich‹ sowie die Figur Halefs stellen ihn selbst, sein Leben, die verschiedenen Schichten seiner eigenen Persönlichkeit dar; die ›Erlebnisse‹ sind aber nicht wörtlich zu nehmen, sondern dichterische Imagination,140 sein Schreiben ist Beichte.141 Mit vollem Recht darf man der Annahme Mays: Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler sei, war, wenigstens für denkende Leute, voll-


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ständig ausgeschlossen!142 zumindest für das Babel-Kapitel rückhaltlos zustimmen.

  In diesem Kapitel entfaltet Karl May voll seine erzählerischen Fähigkeiten (das heißt leider auch, daß deren Begrenztheit deutlich wird!); gleichzeitig gestaltet er ein facettenreiches Spiel mit den drei an der Konstituierung des Erzählten beteiligten Figuren: dem erlebenden Kara Ben Nemsi, dem erinnernden Erzähler und dem Autor. Der Fiktion nach sind alle drei identisch, aber diese Fiktion wird hier nicht ernsthaft vorgetragen mit dem Anspruch, unbedingte Wahrheit zu sein, wie May es eine Zeitlang in der Realität behauptete, sondern sie wird ironisch gebrochen, was zweierlei sichtbar macht: zum einen das Hin- und Herschwanken des Autors zwischen Phantasie und Wirklichkeit, die permanent in eine fruchtbare Ver-Wechsel-Wirkung treten; zum andern das bewußte Spiel mit dieser Verwechslung und das Vergnügen, den Leser zu vexieren. Das wird besonders deutlich, wenn May mit literarischen Topoi spielt, etwa bei der Bemerkung über den General, wo er sich weit über die von ihm selbst in seinen früheren Schreibphasen halb nachgeahmten, halb variierten literarischen Muster erhebt und sie neuen Zwecken dienstbar macht; das war ihm schon in dem Amadijah-Abenteuer der 2. Phase annähernd gelungen, wo er von der Befreiung eines Gefangenen durch die Berauschung seiner Wächter als einem verbrauchten Schriftstellercoup, den er nun selber ausführe, sprach.143 Aber auch in diesem Punkt zeigt ein genauer Vergleich den Unterschied: Während der Erzähler in Amadijah in mißverständlicher Weise betont, er führe dies in voller Wirklichkeit aus, macht er mit dem ›Dscheneral‹ gerade die Fiktion auffällig. Das wirft die Frage auf, ob May mit seinen mündlichen und brieflichen Beteuerungen zu dieser Zeit wirklich die Welt hinters Licht führen wollte; eine Geschwürnarbe als Relikt von Winnetous Messerstich, Pferdehaar von Winnetous herrlichem Schopf, Kulissenfotos als authentische Belege für die abenteuerlichen Reisen des Autors - muß man das alles nicht eher als ironisch-verspielte Distanzierungen vom behaupteten Realitätsgehalt der Romane werten, genau wie die oben angeführten Textstellen? Allein: Der Pole Dozorca treibt Kara Ben Nemsi geradezu in den Birs Nimrud, wenn er behauptet, nur Kara Ben Nemsi könne ihm mit Erfolg helfen; und das Publikum Mays, im Verein mit der Hausschatz-Redaktion und den wohlmeinenden Freunden, wünschte sich sehnlich, die Abenteuer des geliebten Autors möchten Wirklichkeit sein. Vielleicht kann man der Hypothese, die öffentliche Identifizierung Mays mit seinen Helden sei hauptsächlich aufgrund der Leserwünsche erfolgt, die von Claus Roxin als nicht sehr stichhaltig angesehen wird,144 doch ein etwas größeres Gewicht zumessen. Gleichzeitig läßt sich Roxins Deutung des Verhaltens Mays ergänzend präzisieren. Ich glaube, daß sich May in ›Am Turm zu Babel‹ mit literarischen Mitteln weitgehend von der Schuld, ein Lügner zu sein, ent-


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lastete, indem er mit seinem Erzählstil seine ›Erlebnisse‹ ihres Realitätscharakters entkleidete; anders gesagt: indem er »die hochgradige Absurdität der von May scheinbar so kunstvoll aufgebauten Legende«145 literarisch objektivierte, da er seine fiktiven Figuren, Kara Ben Nemsi und Halef, darüber scherzen ließ, entlarvte er selbst sie für den (denkenden) Leser als Phantasiegebilde. Roxins Erklärung für Mays öffentliches Renommieren, die Phantasie löse den Verstand ab und setze dem Publikum die Fiktion als Realität vor,146 dürfte in bezug auf May dahingehend zu ergänzen sein, daß der Verstand des Autors immerhin in der Lage war, diesen Vorgang schreibend zu widerlegen. Deshalb glaube ich, daß die sogenannte ›Old Shatterhand-Legende‹ eher von der literarischen Öffentlichkeit als von Karl May gefördert, zumindest aber seit etwa 1897/98 in erster Linie von ihr aktiv weitergesponnen wurde.147

  Vor diesem Hintergrund zeigen sich allerdings um so gnadenloser die großen Schwächen Karl Mays in der Stoffbehandlung, denen er auch hier leider unterliegt:

  - Trotz aller behaupteten Gefährlichkeit des Säfirs und seiner Bande erweisen sich diese letztlich doch als leicht zu überwindende Gegner, die außerdem wegen ihres ohne alle Schattierungen gezeichneten negativen Charakters kein wirkliches Interesse beim Leser wecken. Gerade das Spiel, welches Kara Ben Nemsi mit den Feinden und der Erzähler mit dem Erzählgegenstand sowie dem Leser vollführen, hätte auch dem Säfir zugebilligt werden müssen, um ihn zu einem vollwertigen Gegenspieler zu machen. Ich glaube nicht, daß der Grund für diesen Mangel in der psychischen Entlastungsarbeit, die May mit diesem Roman leisten wollte, liegt; dann hätte er die Verkörperungen seines ›Ichs‹ nicht so komisch-distanziert gestalten können. Ursache dürfte vielmehr das begrenzte Vermögen Mays, menschliche Charaktere differenziert zu zeichnen, sein.

  - Der größte Teil der von Ilmer aufgedeckten Widersprüche und Ungereimtheiten in der Handlungsführung ist nicht zu beseitigen.

  - Das ›Spiel‹ mit Sujet und Leser wird nicht konsequent durchgeführt. Besonders die Strafaktionen, denen der Säfir unterworfen wird, sind und bleiben abstoßend. So kunstvoll sich May auch streckenweise mit seiner Schriftstellerpersönlichkeit auseinandersetzt, so rudimentär und daher unbefriedigend bleibt die Bewältigungsarbeit aufs ganze gesehen. Und darum muß May endlich in den Orient reisen, um sich ganz von seinen pseudologischen Neigungen und literarischen Manierismen zu lösen. Ob es ihm allerdings wirklich ganz gelang, soll in Teil 3.4 dieser Arbeit zur Sprache kommen.

  Damit aber bleibt auch das Kapitel ›Am Turm zu Babel‹ trotz seiner immensen Vorzüge das, was es ist: ›bloß‹ ein überraschend guter und außergewöhnlicher Abenteuerroman, nicht mehr.


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3.4. Die 4. Gruppe: Auf Holzwegen zur Hochliteratur


Es folgt nun eine Untersuchung der vier Altersnovellen, die im Orient spielen. Wenn mir diese späten Erzählungen auch nur einen sehr zwiespältigen Genuß bereiten, da sie ungeheuer bedeutungsschwanger daherkommen, in ihrem Aussagegehalt aber oft unklar sind und in ästhetischer Hinsicht nur selten Erfreuliches bieten, so sind sie doch für unser Thema sehr ergiebig. Außerdem sind sie in ihrer Kürze gut überschaubar und können meinen ersten Versuch, mich in einer detaillierten Analyse dem Erzählstil des Alterswerks zu nähern, erleichtern.



3.4.1 Das Spiel mit den Zeitangaben: ›Schamah‹


Was die Bedeutung der deiktischen Zeitadverbien und vergleichbarer Angaben für den Grad der Fingiertheit bzw. Fiktionalität betrifft, soll ›Schamah‹, die ›Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande‹,148 die im Jahre 1907 entstand, herangezogen werden. Anhand der Zeitadverbien kann eine gewisse Korrektur der bisherigen Interpretation dieser Erzählung, nämlich was die Rolle des Erzählers (und seiner Frau) betrifft, geleistet werden.

  Verankert wird das Geschehen, welches mitgeteilt werden soll, in der Erzählgegenwart, um sogleich in eine fingierte Erzählung überzugehen. Die konkreten Angaben, die nachprüfbar auf reale Ereignisse zurückzuführen sind (Mays Orientreise 1899/1900 mit Besuchen in Jerusalem und Hebron), können zwar nicht darüber hinwegtäuschen, daß schon die ersten Details erfunden sind. Gerade die Anknüpfung an den im Hause des Autors vorhandenen Sattel aber macht den Text zu einem fingierten: die Handlung wird in die Vergangenheit gerückt durch den Blickpunkt ›Sattel‹, dessen Vorhandensein mit der folgenden Schilderung erklärt werden soll.

  Zu diesem Sattel kam ich durch meinen Freund, den reichen, judarabischen Händler Mustafa Bustani in Jerusalem (S. 5): Nochmals wird betont, daß das nun zu Erzählende auf vergangenen Ereignissen beruht, die also eine Wirklichkeit darstellen, die unabhängig vom Erzählvorgang existiert und Objekt der Aussage des Ich-Erzählers ist. Unter den fiktionalisierenden Stilmitteln fallen im folgenden ganz besonders die Zeitadverbien wegen ihrer gehäuften Verwendung auf; sie können aber den durchgehenden Charakter der Fingiertheit nirgends aufheben. Eine vergegenwärtigende Funktion wird durch den distanzierenden Erzählduktus verhindert.

  Es erübrigt sich, die weiteren Stilmittel, die eine fiktive Wirklichkeit aufbauen könnten, anzuführen: sie alle werden durch Textstellen, die


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den Vergangenheitscharakter deutlich machen, neutralisiert: dazu gehören der Verweis auf das Jahr 1900 (S. 33), das ausdrückliche Übergehen touristischer Attraktionen (S. 37), die angebliche Tagebuchnotiz der Frau des Erzählers (S. 43); am deutlichsten sind die Hinweise auf die vorliegende Erzählung (S. 68) und der Schluß: weil er [sc. der Sattel] mich an jene zwei Tage im Heiligen Lande erinnert (S. 80).

  Interessanter ist die Szene mit dem vorzeitigen Besuch im Gartenhäuschen, wo Thars Malerei stattfindet. Die Häufigkeit, mit der die Hauptpersonen der Handlung, Bustani und sein Sohn Thar, die Zeitverhältnisse, d. h. die Beziehungen zwischen ›heute‹ und ›morgen‹, betonen, verleiht der Stelle eine besondere Bedeutung. Thar ist überrascht, den Erzähler jetzt schon im Gartenhäuschen zu sehen: »Schon heut'?« wunderte sich dieser. »Du wolltest doch erst morgen kommen!« (S. 28) Das ist also entgegen der Planung, entgegen der Erwartung. Zufall? Keineswegs, wenn wir die Konsequenzen betrachten. Das noch unfertige Gemälde des Jungen erweckt den Zorn des Vaters, der sich nun besinnt, daß er seinen Sohn bisher falsch erzogen haben könnte. Sein Nachdenken und Beten, das er sich vornimmt, deutet an, daß in ihm eine Veränderung vor sich geht; und diese Veränderung könnte die Voraussetzung sein, daß am nächsten Tage endlich die lang erwartete (und im Traum angekündigte) ›Verzeihung‹ kommt. Ohne das verfrühte Eintreten des Erzählers und seiner Frau in das Häuschen wäre Thars Gemälde vollendet worden und hätte dann vielleicht den Zorn Bustanis nicht herausgefordert; aber solche Spekulation ist überflüssig. Das ›heute‹ führt zu Bustanis Selbst-Besinnung, zur Selbst-Kritik; er bereut sein bisheriges nachgiebiges Verhalten gegenüber seinem Sohn, und diese Reue ist die seelische Voraussetzung zur Gnade, d. h. zur Verzeihung.149 »Gute Nacht!« sagten auch wir, reichten ihm die Hände und gingen sehr gespannt darauf, wie sich die Angelegenheit für morgen entwickeln werde. (S. 32) Die Zeitadverbien der ganzen Passage signalisieren deutlich, daß das gerade erzählte Geschehen für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist.

  Noch klarer, als es Bustanis Worte tun (Es ist, als ob mir mit euch ein Licht gekommen sei (S. 32)), zeigt diese Passage aufgrund ihrer Zeitgestaltung, daß das ›Ich‹ und seine Frau mit im geistigen Zentrum der Erzählung stehen; auf die äußere Handlung bezogen, befinden sie sich zwar tatsächlich »als Beobachter eher am Rande der Ereignisse«, wie Sudhoff schreibt,150 aber auf der geistig-religiösen Ebene der Novelle haben sie die entscheidende katalysatorische Funktion. Bestätigt wird dies durch die häufigen Verweise Bustanis auf die merkwürdig-wunderbare Bedeutung der Anwesenheit des Erzählers und seiner Frau und auf deren Verhalten, das Bustanis Erwartung, die Verzeihung werde kommen, bestärkt. Und sie kommt ja auch gerade während der nur zweitägigen Anwesenheit des Erzählers in Jerusalem. Darüber hinaus


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verleiht die fast leitmotivisch zu nennende Verwendung der Zeitadverbien ›gestern - heute/jetzt - morgen‹ dem auffallenden Bezug der Gartenhaus-Szene auf den Erzähler und seine Frau besondere Aussagekraft.

  Für die Wandlung Thars erhalten die Zeitadverbien oder vergleichbare Stilmittel leider keine vergleichbare Bedeutung. Im Gegenteil, die uralten Motive aus den früheren und mittleren Reiseromanen, die nun auf Thar übertragen werden, bestätigen die gedankliche Unklarheit des Textes. Sudhoff interpretiert sie zwar als Beweis für die gewandelte Einstellung Mays seinen früheren Reiseromanen gegenüber, deren Old Shatterhand- und Kara Ben Nemsi-Taten nun als kindisches Spiel erscheinen würden, aber dazu will nicht ganz passen, daß der Erzähler (jetzt also wirklich May selbst) einmal sogar die gewohnte Attitüde Kara Ben Nemsis einnimmt: Das durfte ich nicht dulden ... Es gibt da eine gewisse Art von Blick, der immer wirksam ist, wenn man ihm die nötige Festigkeit zu geben versteht. Den richtete ich auf denjenigen von ihnen, welcher der Vornehmste zu sein schien. Er wurde verlegen ... (S. 54). Daß hier so ganz gegen den intendierten metaphysischen Gehalt verstoßen wird (auch die Übertragung der alten Kämpfe auf Thar wird ja damit relativiert), könnte man - wollte man wohlwollend argumentieren - zwar so erklären, daß tatsächlich Mustafa Bustani die zentrale Figur der geistig-religiösen Ebene ist und nicht Thar. Eher zeigt es meiner Ansicht nach aber den grundlegenden Mangel vieler Texte des Alterswerkes, daß sie in sich widersprüchlich sind, so wie es der alte May auch immer noch war.

  Der Dreiklang ›gestern - heute - morgen‹, der den eigentlichen Sinn dieser Erzählung verrät, kommt am Schluß (S. 79) zu voller Wirkung. Die Vollendung der Verzeihung ist von Schamahs Mutter in Aussicht gestellt worden, Thar und Schamah sollen immer beisammen sein. Der Erzähler, seine Frau und Bustani verabschieden sich mit einem sehr frohen »Auf Wiedersehen!« für morgen. Mit seinen letzten Worten, beim Anblick des Sonnenuntergangs über Jerusalem, spricht Mustafa Bustani dann die entscheidende Entwicklung, die sich in ihm und für ihn ergeben hat, an: »Noch schöner, noch tausendmal schöner als gestern zur selben Zeit! Aber diese Steigerung liegt in uns selbst. Ich bin ein ganz anderer, als ich gestern war, darum sehe und fühle ich auch ganz anders. Es liegt eine Welt zwischen gestern und heute ... Laßt mich hier, allein mit mir und allein mit dem, der mir heute verzieh, obgleich ich ihn einst verstieß!«

  Man wundert sich zunächst, daß das ›morgen‹ nicht an letzter Stelle steht. Wenn die Reihe der Zeitangaben aber mit ›heute‹ schließt, bestätigt dies die Bedeutung, die aus dem (aus Thars Sicht) verfrühten Erscheinen des Erzählers im Gartenhaus abgeleitet wurde; diese Bedeutung kann in der Tat darin gesehen werden, daß das ›heute‹ unlösbar mit der Anwesenheit des Erzählers verknüpft ist. Akzeptiert man die


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Gleichsetzung der verschiedenen Personen der Handlung mit dem Autor May, welche von den Interpreten des Spätwerks allgemein konstatiert wird, so erlöst sich Karl May demnach selbst, indem er zur rechten Zeit am rechten Ort erscheint - schreibend (zwar ohne Pferd, aber mit Sattel). Und darin erkennt man leicht den gleichen Mechanismus wie zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere: Schreibend flüchtet der Straffällige selbst vor seiner Vergangenheit, nur jetzt in wolkig-neblige Höhen, mit blaß-rot-grün-blauen, jedenfalls blassen Texten.



3.4.2 Der Autor und seine realen Leser: ›Bei den Aussätzigen‹


Ebenso eindeutig fingiert wie in ›Schamah‹ ist die Wirklichkeit in der kurzen Erzählung ›Bei den Aussätzigen‹ von 1907.151 Gleich der Anfang rückt das Geschehen mit dem zweimaligen ›damals‹ in die Vergangenheit. Die mehrfach vorkommenden Angaben ›heute, jetzt, gestern‹ sind auf diese Zeitebene bezogen und können im Leser nirgends die Vorstellung erwecken, die geschilderten Ereignisse seien ›gegenwärtig‹, also fiktive Wirklichkeit. Auch die Anrede des Lesers baut - anders als in ›Merhameh‹, wie weiter unten gezeigt werden kann - keine Fiktion auf, bzw. - besser gesagt - sie ist keine Fiktion, sondern macht das schreibende ›Ich‹ zum Aussagesubjekt und die Leser zu real existierenden Menschen. Zweimal werden sie angesprochen: Alle meine Leser kennen ihn [sc. Halef], den lieben, kleinen, prächtigen Kerl, der mich unbedingt zum Islam bekehren wollte, dabei aber einer der vortrefflichsten Christen wurde, die mir im Leben begegnet sind. Anders als bei dem Verweis auf Abd el Fadl in ›Merhameh‹ handelt es sich hier um eine inzwischen zur bekannten literarischen Figur gewordene Gestalt, an deren reale Existenz zwar im Jahr 1907 auch kein Leser mehr glaubte, um so mehr aber an ihre literarische. Noch genauer verweist die zweite Leseranrede auf die bloß literarisch-fiktive Existenz der nächsten Person, die in der Erzählung auftritt, nämlich Jacub Afarahs, wenn es heißt: Meine Leser haben ihn in dem Bande ›Von Bagdad nach Stambul‹ sehr genau kennen gelernt. Entscheidend ist hier der Hinweis auf den Titel des Romans (dies fehlt in ›Merhameh‹), in dem - wie jedermann inzwischen weiß - erfundene Ereignisse erzählt wurden; und dieser Roman ist gewiß von fast allen Lesern des Jahres 1907 rezipiert worden, was man vom ›'Mir von Dschinnistan‹ sicher nicht sagen kann. Real ist also wiederum die literarische Figur ›Jacub Afarah‹, die tatsächlich praktisch jeder May-Leser kannte. Hier spricht eindeutig der Autor May seine wirklichen Leser an, die Ereignisse werden vom Erzählzeitpunkt als vergangene geschildert, der Handlungsort wird vom Leser als ein wirklicher, geographisch fixierbarer Ort erfahren, ohne vom Erzähler in bloß Vorgestelltes erhoben zu werden.


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3.4.3 Die Fiktionalisierung des Autors: ›Abdahn Effendi‹


Das Interessanteste an der 1907 geschriebenen Erzählung ›Abdahn Effendi‹152 ist zweifellos der Anfang, in dem sich vor den Augen des Lesers die Fiktionalisierung des realen Autors vollzieht.

  Welche Bedeutung verleiht der Erzählstil dem Anfang? Was ich heut so öffentlich erzähle, war bisher ein tiefes Geheimnis. Gemeint ist die Veröffentlichung des Textes im ›Grazer Volksblatt‹, also ein historisch fixierbarer und nachprüfbarer Vorgang (22. 3. - 22. 4. 1908). Es spricht eindeutig der Autor Karl May, der vorgibt, mit diesem Text ein Geheimnis von großer Bedeutung zu lüften und damit eine neue Epoche einzuleiten. Der absolute Komparativ (so öffentlich: er benennt eine höhere Qualität als der Superlativ) betont dabei den nicht mehr zu steigernden Publizitätsgrad. Will May damit nur auf die Rolle einer Zeitung hinweisen? Dahinter muß mehr stecken: Das Öffentlichmachen ist so wichtig, wie das Geheimnis, das nun ans Licht des Tages kommt, bisher absolut war. Der nächste Satz scheint dem gänzlich zu widersprechen: Und dennoch war es keines, weil es sich vor allen Augen und Ohren vollzog, die sehen und hören wollten. Aber dabei handelt es sich nicht um etwas, was man umgangssprachlich ein ›offenes Geheimnis‹ nennt, denn der nächste Satz zeigt, daß es sich um ein Paradoxon handelt: Viele berufene und unberufene Menschen gaben sich Mühe, das Räthsel zu lösen, doch stets vergeblich, weil sie selbst mit im Geheimnis standen, ohne daß sie es glaubten oder wußten. Die Menschen waren sich selbst ein Geheimnis, sie konnten sich selbst nicht erkennen, obwohl sie einander natürlich von außen wahrnehmen konnten. Damit aber ist der Autor weit entfernt von dem realen Hintergrund, den er im allerersten Satz aufgebaut hat. Nun ist dem verstehenden Leser klar, daß es um eine Menschheitsfrage geht (das zentrale Thema des alten May), und der Autor gibt vor, als einziger in der Lage zu sein, diese Frage zu lösen: Keiner von ihnen allen brachte es fertig, sich aus diesem Geheimnisse herauszustellen, nur er vermag dies, wie er indirekt im ersten Satz verkündet hat; dies ist dem Leser aber an der späteren Stelle schon nicht mehr präsent, der Redefluß hat ihn von dem konkreten Anfang hinweggetragen, und bruchlos geht der Erzähler (wie der Verfasser des Textes jetzt schon wieder richtiger genannt werden muß) in die Gleichniserzählung über: um die ganze, unsaubere Bande zu durchschauen, die aus fünf Personen bestand ...

  Der Autor fiktionalisiert sich am Anfang seines Textes selbst. Er, der Verfasser einer Novelle für eine Zeitung, verfremdet sich im Laufe weniger Sätze fast unmerklich zu einem Gleichniserzähler, der gleichzeitig Deutender ist und ein Geheimnis gelöst hat, das ihn wie die ganze Menschheit umfaßt, wobei die Lösung - wie der letzte Teilsatz andeutet und die ganze weitere Erzählung beweist - sich in einer erfundenen Geschichte vollzieht.


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  Damit erweist sich auch der Erzähler als eine fiktive Person (nach Käte Hamburger wäre zu sagen: als reine Erzählfunktion), so daß auch der folgende Text aus der Ich-Perspektive eine fiktive Wirklichkeit aufbaut.

  Der Beginn der eigentlichen Erzählung zeigt dann, daß Elemente der Erzählweise, die normalerweise eine fingierte Wirklichkeit aufbauen, diese Funktion verlieren bzw. dem Leser nicht mehr suggerieren können. Die geographisch fixierbare Angabe türkisch-persische Grenze

(S. 12) wird entwirklicht durch den Namen der Landschaft Dschan, die auf keiner Karte zu finden ist und nach Ausweis des ›Vorworts‹ Seele bedeutet (S. 9); wer das ›Vorwort‹ gelesen hat, weiß also, daß das Geschehen in einem imaginären, eben seelischen Raum stattfindet. Dadurch verliert auch die folgende Mitteilung ihren fingierenden Charakter: Ich war mit meinem kleinen Hadschi Halef Omar ..., den jeder meiner Leser kennt, von Bagdad hier heraufgekommen, um nach Teheran zu gehen. (S. 14) Bagdad und Teheran sind für den Leser nur noch literarische Vorstellungen aufbauende Begriffe, und der Hinweis auf den allen Lesern bekannten Halef (diesmal ohne Verweis auf einen Roman, der vor Jahren erschienen ist) verstärkt diese Vorstellung. Es kann also nicht der Eindruck entstehen, der Ich-Erzähler blicke auf eine tatsächlich vergangene Handlung zurück, erzähle von Personen, die unabhängig von ihm ein Eigenleben führten; Erzähler und andere Personen werden erst durch den Akt des Erzählens bzw. Lesens in eine Schein-Existenz erhoben, sind damit aber im Bewußtsein des Lesers ›Wirklichkeit‹. Damit ist die Brücke zum Anfangssatz geschlagen: die Aufdeckung des Geheimnisses wird erst möglich, indem von ihr erzählt wird. Die eigentlich fiktionalisierenden Stilmittel werden somit überflüssig, sie kommen auch in diesem Text nur sporadisch vor, haben dann aber keine Funktion, die mit der in ›Schamah‹ vergleichbar wären.



3.4.4 Das fiktive ›Ich‹ und seine fiktiven ›Leser‹: ›Merhameh‹


Die Frage, ob die häufigen Anreden der Leser durch den Erzähler ein Beweis dafür sind, daß sich an solchen Stellen der Autor zu Wort meldet und es sich bei den Romanen in Ich-Form um eine fingierte Wirklichkeit handelt, soll jetzt noch genauer untersucht werden. Erscheint in solchen Fällen der Autor als Aussagesubjekt und blickt auf eine Vergangenheit zurück, die Objekt seines Erzählens ist und die der Leser nicht unabhängig von ihm als ›Gegenwärtiges‹ realisieren kann? Oder können in solchen Fällen beide, Erzähler und Leser, als fiktive Personen aufgefaßt werden?

  Zur exemplarischen Untersuchung dieser Frage sei die letzte Erzählung Mays - aus dem Jahre 1910 -, ›Merhameh‹, herangezogen.153 Be-


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sonders auffällig ist da der Anfang des letzten Abschnittes, der vom vorhergehenden Text durch drei Sternchen getrennt ist: Für diejenigen Leser, welche sich nicht mit dem innern, psychologischen Schluß einer Erzählung begnügen, sondern gern auch jedes äußere Fältchen ausgeplättet haben wollen, füge ich noch Folgendes hinzu... (S. 131). Vielleicht kann gezeigt werden, daß gerade dieses häufig von May verwendete erzählerische Element eine Fiktion aufbaut, zu der die ganze Erzählung mitsamt dem ›Ich‹ und seinen Lesern gehört.

  Es hängt letztlich alles davon ab, wer mit dem ›Ich‹ dieser Erzählung gemeint ist: ein fiktives, ein fingiertes oder ein reales.

  Die Erzählung spielt an einem märchenhaften, phantastischen Ort, im östlichen Teil von Ardistan (S. 117), nicht mehr in Gegenden, die geographisch genau festzulegen sind und der realen Welt angehören, etwa im nordamerikanischen Felsengebirge, im Llano estakado, in der algerischen oder arabischen Wüste, in Kairo oder Edreneh, wie in den früheren Reiseerzählungen, aber auch nicht an der türkisch-persischen Grenze, in Jerusalem oder Damaskus, wie in den drei anderen, oben besprochenen späten Erzählungen, die im Orient spielen. Wer durch dieses Märchenland reitet, ist weder ein realer Mensch noch der Autor May in einem früheren Lebensalter, auf das er beim Schreiben zurückblickt, wie er es für seine früheren Erzählungen behauptet hatte. Es kann auch kein fingiertes ›Ich‹ im Sinne Käte Hamburgers sein, denn es ist unmöglich anzunehmen, Karl May erzähle hier, ›als ob‹ er durch Ardistan reite und ein Abenteuer erlebe, wo von vornherein klar ist, daß die ganze Welt, in der die Handlung dieser Erzählung spielt, ein Reich der Phantasie ist, zu dem natürlich alle Figuren der Handlung, also auch der Erzählende, gehören. Ebenso verbietet sich eine Frage nach dem ›Wann‹ der Ereignisse, die jemand gleich im Anschluß an den ersten Satz stellen könnte, denn diese Frage kann grundsätzlich nicht beantwortet werden, da kein realer Mensch in diesem irrealen Lande Ardistan gewesen ist, sondern nur ein phantastisches ›Ich‹ mit ebenso phantastischen dritten Personen, und die Phantasie ist ort- und zeitlos. Darum ist es auch nicht möglich, in dem bestimmte Leser ansprechenden Erzähler den Autor erkennen zu wollen, der dem Leser Aufschluß über alle etwa noch offenen Fragen gäbe. Dieser Erzähler gehört eindeutig der fiktiven Welt an, die er in Form szenischer Darstellung schildert.

  Nun muß untersucht werden, wer denn die ›Leser‹ sind, welche von diesem erwiesenermaßen fiktiven Erzähler angesprochen werden, ob reale oder ebenso nur in der Vorstellung existierende.

  Gleich der dritte Satz konstatiert, daß die Leser eine bestimmte Figur, die genauso fiktiven Charakters ist wie das übrige Personal, genau kennen: Nämlich mein Freund Abd el Fadl, dessen hohe Stellung meine Leser sehr wohl kennen, hatte uns seine Lieblingstochter anvertraut, sie sicher nach dem fernen Wadi Ahza zu bringen, wo liebende Verwandte


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sie erwarteten. (Ebd.) Was sagt dieser Satz über den Realitätscharakter der sogenannten ›Leser‹ aus? Sie kennen Abd el Fadls Rang, seine hohe Stellung, also einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß sie auch die Welt kennen, in der dieser Mann lebt, wozu seine Tochter, die man auch sogleich kennenlernt, und die liebenden Verwandten gehören. Woher stammt die Kenntnis? Aus der Lektüre der Erzählungen, der Zur-Kenntnisnahme der fiktiven Welt, nicht etwa aus der realen Umwelt, zu der alle diese Personen ja nicht gehören. Zur Kenntnis genommen wird auch die Absicht, die Tochter an ein Ziel geleiten zu lassen, und die Erwartung, daß dies auch gelingt. Das alles aber gehört zur Phantasiewelt, die nun die realen Leser durch den Vollzug des Lesens in sich aufbauen müssen. Hinzu kommt, daß es gewiß Leser gibt, die die literarische Figur Abd el Fadl nicht kennen, weil sie die entsprechenden Texte noch nicht gelesen haben. Aber auch diese werden als meine Leser, die Abd el Fadls hohe Stellung sehr wohl kennen, apostrophiert, es können also nur imaginäre, oder eben fiktive, Leser gemeint sein, die hier mit dieser Anrede in den Kosmos der Mayschen Phantasie aufgenommen werden.

  Am Beginn des dritten Abschnitts wird auf eine Weise die Kenntnis von Bestandteilen der fiktiven Welt in dieser Erzählung angesprochen, die das eben Entwickelte bestätigt: Wir waren zu Pferde. Halef und ich auf unsern beiden, wohlbekannten Rappen ... Wohlbekannt (ebd.) ist doppeldeutig: sowohl die fiktiven Personen in Mays Erzählungen kennen die berühmten Pferde gut als auch die Leser wiederum, die solche Erzählungen gelesen haben. Beide: fiktive Personen der Handlung wie Leser werden also auf eine Stufe gestellt, das ist aber nur möglich, wenn die gemeinten Leser genauso fiktiv sind wie die Menschen im Orient, die Kara Ben Nemsi und Halef begegnet sind oder von ihnen gehört haben.

  Ein dritter Beleg für die Integrierung der Leser in die fiktive Welt der Erzählung stellt die begeisterte Äußerung des Scheiks der Münazah über Deutschland dar, als er erfährt, daß der Erzähler ein Effendi aus Deutschland sei: »Aus Dschermanistan bist du?« fragte der Scheik. »Das kenne ich! Da wohnen viele gelehrte Menschen und viele Christen, die wirklich Christen sind ...« (S: 120). ›Die wirklichen Christen‹, damit identifizieren sich auch die Leser, die aber einer fiktiven dritten Person, eben dem Scheik, ›bekannt sind‹. Also gehören sie auch dieser fiktiven Welt an.

  Nun muß aber noch gefragt werden, ob der Ich-Erzähler in ›Merhameh‹ wirklich kein Aussagesubjekt ist, ob er hinter dem Geschehen und den anderen Personen verschwindet. Wie oben schon ausgeführt, würde das bedeuten, daß er in dieser Geschichte wie ein Er-Erzähler agierte, daß er nach Käte Hamburger also zur reinen Erzählfunktion würde. Wenn das so wäre, würde das Geschehen ganz unabhängig vom ihm ab-


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laufen, und die Personen, einschließlich der von diesem ›Ich‹ verkörperten Figur, existierten nur, insofern und solange von ihnen erzählt wird.

  Dazu greifen wir die Ergebnisse der Interpretation dieser Erzählung von Hartmut Vollmer auf, die zeigen, daß die wichtigsten Personen der Handlung - wie es in allen späten Texten Mays der Fall ist - bestimmte Züge des Innenlebens Karl Mays, der als ›die Menschheitsfrage‹ agiert, tragen. Das aber hat zur Folge, daß der Erzähler, soweit er als Handelnder auftritt, nicht mehr wirklich Aktion ausführt; diese wird von anderen Personen getragen. Er ist sozusagen ein Katalysator, durch dessen Vorhandensein und Erzählen die ›Menschheitsfrage‹ anhand einer symbolischen Handlung erörtert wird. Auf der Ebene der vordergründigen Abenteuerhandlung ist Kara Ben Nemsi denn auch völlig passiv, er erfüllt bestenfalls eine zeitweilige Asylfunktion für eine andere Person, den gefangenen Ali Ben Masuhl (S. 124). Entsprechend anders als in früheren Romanen ist die Funktion der Worte, die er spricht. Waren sie früher aktionsbestimmend und -auslösend, so dienen sie jetzt nur noch sachlichen Erklärungen, z. B. seiner eigenen Vorstellung oder der Merhamehs; sie antworten praktisch nur noch auf Fragen dritter Personen. Auf der Handlungsebene hat das ›Ich‹ faktisch keine Aufgabe mehr; es ist bloße Erzählfunktion im Sinne Käte Hamburgers oder Erzählerfigur im Sinne Stanzels. Das aber bewirkt, daß der Leser das Geschehen nicht aus der Sicht des Ich-Erzählers als vergangenes empfindet, sondern es sich als ein gegenwärtiges vorstellt; er nimmt diese Erzählung wie einen Er-Roman auf.

  Ein letzter Beleg dafür bietet der Schluß des Textes: ... und stets hat sich dann dasselbe Resultat ergeben, das sich an dem von mir geschilderten Tag ergab: »Es sei Friede! Es sei Friede!« (S. 132)

  Der Satz das sich an dem von mir geschilderten Tag ergab scheint - wenn man ihn isoliert betrachtet - darauf hinzudeuten, daß die Handlung doch vom Erzähler aus gesehen vergangen ist. Aber eine genaue Betrachtung des Kontextes ergibt etwas anderes: Das fiktive ›Ich‹ verbindet mit dem Hinweis auf einen bestimmten Tag (wobei sich jede Frage nach dem genauen Wann als absurd erweist) den Hinweis auf das stets, das Immergleiche der Vorgänge, die auf die gegenwärtig geltende Schlußformel »Es sei Friede!« verweist. Dies bestätigt die Empfindung der Zeitlosigkeit, und das heißt nichts anderes als Gegenwärtigkeit des Geschehens für den Leser. Ganz klar wird das, betrachtet man die drei Verbformen am Schluß; zwei von ihnen haben Gegenwartsbedeutung: ›Es sei‹ und ›stets hat sich ... ergeben‹ (Perfekt; auf deutsch: vollendete Gegenwart); und sie nehmen dem eingeschlossenen ›ergab‹ die Vergangenheitsbedeutung.

  Zurück zur Ausgangsstelle. Für diejenigen Leser, welche ... füge ich noch Folgendes hinzu ... Es ist wohl zur Genüge nachgewiesen worden,


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daß in dieser Erzählung das ›Ich‹ wie die von ihm angesprochenen ›Leser‹ zu einer Schein-Wirklichkeit, zur Fiktion gehören, nicht aber zu einer Als-ob-Wirklichkeit, einer täuschenderweise vorgegebenen, also fingierten Realität; damit ist die gesamte Erzählung in den Seinsbereich der Fiktion einzuordnen, nicht zuletzt durch das Stilmittel der Leser-Anrede.



3.4.5 Zusammenfassende Wertung


Die Texte der vierten Gruppe sind bewußt schlicht erzählt und gleichzeitig ›symbolisch‹ gehalten; sie setzen Mays reale Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart literarisch in uneigentliche Handlungsfolgen um. Dies führt teils zur Fortsetzung fingierender Erzählweise (›Bei den Aussätzigen‹, ›Schamah‹), teils zu neuen Formen der Fiktion (›Abdahn Effendi‹, ›Merhameh‹).

  Wie ist diese Zweiteilung zu erklären?

  Der nächstliegende Grund ist wohl darin zu sehen, daß May mit seinen späten Texten, die nach der Orient-Reise und während der langwierigen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern entstanden, drei Ziele verfolgte, die so heterogen sind, daß sie literarisch kaum miteinander vereinbart werden konnten, schon gar nicht von einem Autor, der über Ausdrucksmöglichkeiten und Stilmittel verfügte, die seinen Absichten nicht genügen konnten: Erstens wollte er nach den Erfahrungen auf seiner Reise wirklich anders schreiben als früher (wenn sich dies auch in den späten ›Reiseerzählungen‹ kurz vor 1899 schon angebahnt hatte), anstatt dies nur seinen früheren Texten zu unterstellen,154 und suchte mit allen Mitteln zu beweisen, daß er nun sein ›eigentliches Werk‹ in Angriff genommen hatte und ›symbolisch‹ schrieb; zweitens wollte er in kunstvoll verschlüsselter Form mit seinen Gegnern abrechnen; drittens mußte er gleichzeitig deutlich machen, daß er tatsächlich ›gereist‹ war, d. h. daß er die ›Realität‹ des Orients in seine ›symbolisch‹ gemeinten Texte hineinzuholen hatte. Ganz problematisch mußte dies alles werden, bedenkt man, daß May sich gar nicht so total gewandelt hatte, wie May-Interpreten manchmal behaupten.155 Wie vor allem Sudhoff in seinen Analysen von ›Schamah‹ und ›Abdahn Effendi‹ gezeigt hat, verbinden sich die verschiedenen Ebenen der inneren und äußeren Handlung nicht bruchlos miteinander. Das Bemühen, die tolle Abenteuerhandlung durch eine weniger spektakuläre zu ersetzen, führte manchmal zu recht banalen Ergebnissen (›Schamah‹), noch dazu in arg anspruchsloser sprachlicher Form. Eine Stelle wie die folgende in ›Bei den Aussätzigen‹: Unter diesem unbeschreiblichen, heilig flammenden Sternenhimmel! Hilflos, flehend, wie nach Schutz und Rettung suchend, flackerte das irdische, vergängliche Licht zu dem ewigen Lichte


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des Firmamentes empor, und ein langer, tiefer, hörbarer Atemzug entrang sich den Herzen all der Unglückseligen, die hier im Staube lagen!156 ist die entschiedene Ausnahme. Und dazu kommen die alten Old Shatterhand- und Kara Ben Nemsi-Manierismen immer mal wieder kräftig zum Vorschein und zerstören die mühsam aufgebaute Aura der Friedensseligkeit des gewandelten (realen und fiktiven) ›Ichs‹. Aber es gelingt ihm auch ein so hervorragender Anfang wie in ›Abdahn Effendi‹, wo schriftstellerische Realität und fiktive Vorstellungswelt bruchlos ineinander übergehen.



4. Ergebnisse


Für den Roman gilt allgemein: Autor und Erzähler sind nicht identisch. Auch der Ich-Erzähler ist als eine vom Autor geschaffene Figur anzusehen, deren Haltung die innere Gestalt des Romans bestimmt. Je nachdem, wie die Einstellung des Erzählers zu seinem Stoff ist, wird sein eigenes Verhältnis zu dem fiktiven Geschehen gestaltet; dieses wird er entweder als eine von ihm erlebte Wirklichkeit, deren Konsistenz und Durchschaubarkeit ihre geschlossene Formung und Vermittlung gestattet, schildern, oder aber er wird sein Verhältnis zum Erzählten thematisieren, indem er nicht einfach Handlung, Schauplätze und Personal als logisch zusammenhängend darstellt, sondern die Darstellungsweise selbst hinterfragt und das problematische Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Welt offenlegt. Das Gewicht, das dem Erzähler als solchem zugemessen wird, kann sehr unterschiedlich sein und die Wirkung des Romans entscheidend bestimmen, indem er entweder kaum hervortritt, wie bei Theodor Fontane und Charles Dickens, oder sich immer wieder in Vorausdeutungen und Kommentaren in den Geschehensablauf einschaltet, wie bei Wilhelm Raabe und Emily Brontë, oder aber das ganze Interesse des Lesers beansprucht, wie bei Jean Paul und Laurence Sterne.

  In den beiden ersten der oben besprochenen Gruppen ist das Verhältnis des Erzählers zu seinem Stoff noch weitgehend ungebrochen und unproblematisch. Schauplätze und Personal werden aus seiner Perspektive dargeboten, teils der des Erlebens, teils des Erinnerns, im letzteren Fall fast ausschließlich mit spannungsfördernder Vorausdeutung oder beglaubigender Kommentierung aus der Situation des Erzählens heraus. Der Autor selbst mischt sich nicht ein. Die überwiegend epigonale erste Textgruppe kann im folgenden übergangen werden. In der zweiten wird die Erzählweise zunehmend eigenständiger, immer souveräner werden ihre den Leser fesselnden Stilmittel gehandhabt.

  Das wichtigste Erzählziel der zweiten Gruppe besteht darin, äußere Spannung zu erregen und dabei den omnipotenten Helden vorzu-


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führen, für den sein Begleiter Halef die konventionelle Funktion der Folie, vor der sich die Fähigkeiten der Hauptperson um so deutlicher abheben, erfüllt. Als Unterhaltung hervorragend genießbar sind diese Romane, solange man von ihrem zunächst immanent vorhandenen, später immer offener behaupteten autobiographischen Anspruch absieht; wo dieser stärker hervortritt, kippt die Erzählung allzu leicht ins Lächerliche um (Der Auftritt Karl Mays und Winnetous als ganz rührendes Paar in Dresden157 gerät zu einem einzigen Fiasko!).

  In der dritten Textgruppe unterwirft der Erzähler die alten Schauplätze der abenteuerlichen Handlung einer Prüfung (ohne daß man schon von einer Neu-Interpretation sprechen könnte), indem er sie bei einem erneuten Besuch als Erlebender einer Inspektion unterzieht und die ihnen innewohnenden Handlungsmöglichkeiten erprobt, und indem er als Erzählender die bisherige Form des Reiseromans zum Untersuchungsgegenstand erhebt und ihre aus seiner auktorialen Willkür entstandene Gestalt kritisch bewertet. Neben die weiterhin wichtige äußerliche Spannung tritt nun ein neues Erzählziel, nämlich die Ersetzung des naiv-passiven Lesens durch kritische Distanzierung des Lesers mittels einer ironischen Brechung der Handlung und ihrer Vermittlung, wobei letzteres zur im Grunde einzig angemessenen Haltung gegenüber einem Abenteuerroman in Ich-Form befähigt und dem erwachsenen Leser am ehesten ein intellektuelles Vergnügen gewährt. Dabei fällt die neue Rolle Halefs auf, der nun als kritischer Beobachter fungiert und den Anspruch der Hauptperson als alles beherrschender Held und alles arrangierender Erzähler hinterfragt und diesen zur Selbstreflexion zwingt. Hier wird indirekt der Autor sichtbar, der ja als Schreibender letztlich für diese Haltung verantwortlich zeichnet und mit ihr verschlüsselt, aber trotzdem deutlich zu verstehen gibt, daß er seine schriftstellerische Aufgabe jetzt anders auffaßt als früher.

  In der vierten Gruppe schließlich entwirft der Autor einen Erzähler, der sein Desinteresse an den alten Schauplätzen und Geschehnissen offen zur Schau trägt und sie gänzlich neu als allegorische Orte und Handlungen interpretiert. Damit desavouiert der Autor die von ihm bisher gepflegte literarische Form und Erzählweise und setzt sich selbst in den Mittelpunkt, indem er sich zur ›Menschheitsfrage‹ hochstilisiert. Das Ziel des Erzählens hat sich nun völlig gewandelt: An die Stelle der Schilderung abenteuerlicher Ereignisse, die zuletzt durch Ironisierung verfremdet wurden, tritt die Darstellung einer abstrakten Idee; statt daß der Leser in ferne Länder versetzt und in spannende Handlung verwickelt wird, wird er nun belehrt, daß alle Geschehnisse nur Gleichnisse für den Zustand der Welt und des Menschen seien und daß der Autor Karl May das Rätsel der Menschheitsfrage verkörpere. Dabei passen die vordergründige Handlung und das hintergründige Ideengebäude oft nicht zusammen; beider Ansprüche bleiben unerfüllt.


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  Diese Textgruppe unterscheidet sich in einem weiteren Punkt von der vorhergehenden, nämlich in der Wirkung, die die über das bisher Gebotene weit hinausgehende, ausdrückliche Gleichsetzung des

Autors mit dem erzählenden und erlebenden ›Ich‹ auf den Leser ausübt. Eine solche Gleichsetzung ist ein Verstoß gegen das Wesen fiktionaler Erzähltexte, die ja weder Autobiographie noch echtes Tagebuch sind.

  Für das Verhältnis der zwei Instanzen Autor und Erzähler gibt es drei Möglichkeiten (zwischen denen selbstverständlich Übergänge bestehen).

  1. Der Erzähler kann eindeutig eine fiktive Person sein, die mit dem Erzählten wiederum eine Fiktion installiert; der Leser kann sich in ihr als einer eigenständigen Wirklichkeit bewegen, ohne sie mit einer anderen Realitätsform vergleichen, ja ohne überhaupt ihren Realitätsgrad abmessen zu müssen. Da Fiktion und Realität nichts miteinander zu tun haben, braucht der Leser auch keine Erwägungen anzustellen, ob das Geschehen der Logik unserer alltäglichen Erfahrungswelt gehorcht; es muß nur innerhalb der fiktiven Welt wahrscheinlich sein, d. h. sich folgerichtig in die entworfene Handlung und den Charakter der Personen einfügen. Mit Recht machte sich Alfred Hitchcock über »unsere Freunde, die Wahrscheinlichkeitskrämer« lustig,158 die genauso fehlgehen wie die Kritiker, die May vorwerfen, daß er an den entlegensten Orten der Welt Personen sich treffen läßt, die er doch in der betreffenden Situation braucht.

  2. Im Roman kann auch eine vom Leser als fiktiv erkennbare Gleichsetzung des Erzählers mit dem Autor behauptet werden, die die Fiktion verdreifacht: erfundene Geschehnisse und erfundene Identität von Erlebendem und Erzählendem werden noch gesteigert durch das erfundene In-eins-Setzen mit dem Leben des authentischen Erzählers, d. h. des Autors. Daraus resultiert ein Schwebezustand, der für den Leser einen besonderen Reiz haben kann, indem er sich vorstellt, ein Mensch wie er selbst könne solche Erlebnisse tatsächlich gehabt haben, könne solche Gefahren bestanden haben; also könne auch er selbst sich ihnen aussetzen, was dann die für die May-Lektüre so kennzeichnende Haltung von Lesern, die nicht mehr zwischen (Wunsch-)Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden können, zur Folge hat. Je weniger erkennbar allerdings der Fiktionscharakter der angeblichen Autor-Erzähler-Identität ist, desto ärgerlicher wird sie für den verständigen Leser, der die Unwahrhaftigkeit dieser Gleichsetzung leicht gewahr wird und sich schlicht genasführt sieht.

  3. Schließlich kann der Autor in seinen Romanen wie im Leben ernsthaft behaupten, er sei mit seinem Helden identisch und habe alles wirklich erlebt, nur beim Schreiben etwas ausgeschmückt. Eine solche Behauptung zerstört die Fiktion und verführt den Leser notwendigerwei-


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se zu Überlegungen, wie wahrscheinlich das Behauptete ist, ob es tatsächlich wahr ist, und macht ein Grundgesetz der Fiktion zunichte: Wahr bzw. wahrscheinlich ist alles, was der Erzähler mitteilt, solange es nur innerhalb der entworfenen Welt widerspruchsfrei zugeht. (Die Sonderformen des historischen oder dokumentarischen Romans lasse ich hier beiseite.) Die entlarvende Wirkung solcher Behauptungen eines Autors kann man an den Widersprüchen nachvollziehen, die Mays Äußerungen zum sogenannten Zufall kennzeichnen. Wenn er ausdrücklich als Autor spricht, leugnet er den Zufall und behauptet statt dessen, alles, was herkömmlicherweise so genannt werde, sei für ihn Fügung Gottes. Sein Erzähler aber läßt oft genug Ereignisse geschehen, die er ausdrücklich als Zufall bezeichnet. Wenn bloß der fiktive Erzähler über dieses Thema theoretisierte, läge kein Verstoß gegen die Fiktionalität des Erzählten vor; dem Erzähler verzeiht der Leser solche Widersprüche, er darf irren oder inkonsequent sein, denn er hat nicht den realen Status eines auctors, eines eine Welt entwerfenden Schöpfers wie der Autor, wenn er auch manchmal (als auktorialer Erzähler) so tut. Irrtümer dieser Art können sogar sehr reizvoll sein, wie beispielsweise im ›Blau-roten Methusalem‹159 mit der versehentlichen Sie-Anrede des Leibburschen durch dessen Herrn, was nur charakteristisch ist für die Qualität des gerade laufenden Abenteuers. Wenn aber der Autor behauptet, es gebe keinen Zufall, dann darf er auch keine Zufälle zu Hilfe nehmen; denn er agiert als Schöpfer einer eigenständigen Welt, und als solcher muß er konsequent sein. Andernfalls wird der Leser ihn für unaufmerksam oder unehrlich halten, beides unverzeihlich finden und den Respekt vor dem Autor verlieren.

  Welche Auswirkungen auf die innere Geschlossenheit der Texte (neben anderen Gründen) die expressis verbis behauptete Identität von Autor und Erzähler sowie die erklärte Gleichnishaftigkeit der Handlung in den Texten der vierten Gruppe haben, ist - wie oben angemerkt - schon oft mit Recht festgestellt worden. Die gewollte Schlichtheit (man darf auch sagen: die Banalität) von Inhalt und Erzählstil, die teils den realen Hintergrund der Orientreise des Autors dokumentieren, teils die hohe Thematik hervortreten lassen soll, wirkt um so befremdlicher, je mehr die prätentiöse Intention der späten Texte betont wird. Eine hervorragend gelungene Stelle wie die Fiktionalisierung des Autors am Anfang von ›Abdahn Effendi‹ läßt nur die Verschwendung des Talentes eines begabten Autors an ein untaugliches Unterfangen bedauern.

  Sieht man nun von den tastenden Versuchen Karl Mays in seinen frühen Abenteuertexten, die außer einer auf später vorausweisenden Auswahl der Sujets keine Originalität beanspruchen können, sowie von seinem Spätwerk, das am ehesten als weltanschauliches Bekenntnis und Rechtfertigung seiner moralischen und schriftstellerischen Integrität interpretiert werden kann und besser in Traktatform hätte gefaßt wer-


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den sollen, ab, dann bleiben unter dem Gesichtspunkt der erzählerischen Qualität die Texte der zweiten und dritten Gruppe bemerkenswert, wenn auch mit den oben angeführten Abstrichen. Sie sind noch weitgehend frei von der philosophischen und theologischen Thematik, die in den späten Texten einer ganz anderen Zielen verpflichteten Form (dem Reise-Abenteuerroman) aufgepfropft ist. Daß Karl May im Alter auch seine früheren Texte so interpretiert haben wollte, ist aus mehreren Gründen verständlich. Daß moderne Interpreten diese May-Legende fleißig weiterspinnen und heute noch den ›eigentlichen‹ Reiseerzählungen religiös-metaphysische Bedeutung aufzwingen, weil sie glauben, sie müßten Mays Werk unbedingt die Weihen der hohen Dichtkunst angedeihen lassen, verrät meiner Ansicht nach eine tiefe, wenn auch ängstlich verhüllte Verachtung der weniger anspruchsvoll daherkommenden Abenteuerromane. So sehr man Mays Wendung zu neuen literarischen Ufern im Alter bewundern muß, so sehr ist zu bedauern, daß er in den ›symbolischen‹ Texten den Fehler der immer stärkeren Hervorhebung seiner Autor-Persönlichkeit in den späten Reiseerzählungen zum Thema macht, indem er seine schlichte Weltanschauung zum Romanstoff verarbeitet, für den sie einfach nicht geeignet ist, zumal sie der alten Struktur des Reiseabenteuers übergestülpt wird. Diese forderte etwas ganz anderes, nämlich die in der dritten Textgruppe an vielen Stellen zum Vorschein kommende selbstironisch-kritische Distanzierung, ohne daß damit der spannenden Handlung und holzschnittartig-kräftigen Personentypisierung Abbruch getan wurde. Allerdings hätte dieser Stil den Typus des Mayschen Abenteuerromans sehr bald ad absurdum geführt.



109 Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. In: Deutscher Hausschatz. XXIII/XXIV. Jg. (1897/98); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1981; Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898

110 Stellvertretend seien genannt: Joachim Kalka: Werkartikel ›Im Reiche des silbernen Löwen I-II‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 287f.; Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 129-43.

111 Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 98

112 Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1974. Hamburg 1973, S. 15-73 (S. 62 bzw. 56f.)

113 Vgl. Walther Ilmer: Einführung (zu ›Im Reiche des silbernen Löwen‹). In: May: Im Reiche des silbernen Löwen (Hausschatz), wie Anm. 109, S. 2ff.

114 Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Paderborn 1994, S. 290-94, mit der schon von Helmut Schmiedt in seinem Literaturbericht im Jb-KMG 1995. Husum 1995, S. 386, glossierten, unfreiwillig komischen Kapitelüberschrift: ›Die Suche nach Gott oder Die Hoffnung auf Emma‹. - Wohlgschaft macht m. E. in seinem Buch den Fehler, daß er seine psychologischen und theologischen Deutungsversuche allzusehr auf den ungeprüft übernommenen autobiographischen ›Spiegelungen‹, die v. a. Walther Ilmer konstruiert hat, aufbaut.


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115 Es erscheint mir bezeichnend für die Wertung von Mays Romanen, daß man jede positive Kritik mit Einschränkungen versehen muß.

116 Schmid, wie Anm. 110, S. 132

117 Ebd., S. 129f. (Anm. 20) und S. 132

118 Roland Schmid: Nachwort (zu ›Am Jenseits‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, S. A33

119 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 630f.

120 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 544f.

121 Ebd., S. 551

122 Ebd., S. 549

123 Ebd., S. 542

124 Ebd., S. 537

125 Ebd., S. 538

126 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 272f.

127 Ebd., S. 319

128 Ebd., S. 326

129 Oder soll man sagen: Erzählkunst? Vgl. dazu Ilmers Kritik an meinem Buch (Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman ›Der Geist des Llano estakado‹. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 15. Ubstadt 1992), in: Walther Ilmer: Mit un-sicherer Hand zum sicheren Sieg. In: Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1995.

130 Vgl. Ilmer: Einführung, wie Anm. 113, S. 12 (Anm. 67).

131 Vgl. ebd., S. 6.

132 Gert Ueding: Das Spiel der Spiegelungen. Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 30-50

133 Ebd., S. 36

134 Ebd., S. 46

135 Ich denke z. B. an die 1878 erschienene ›Erzählung aus dem Felsengebirge und den Prairien Nordamerikas‹: ›Fitzpatrick, der Trapper‹, wo neben einer Vielzahl vergleichbarer Motive ein deutscher Gelehrter namens Mewilius eine Hauptrolle spielt, die Mays ›Das Vermächtnis des Inka‹ entnommen sein könnte.

136 Daten siehe Wohlgschaft, wie Anm. 114.

137 Ueding, wie Anm. 132, S. 38

138 Ebd., S. 47f.

139 May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910); Reprint Hildesheim-New York 21982. Hrsg. von Hainer Plaul: wichtige Stellen: S. 139, 144ff., 209ff.

140 Ebd., S. 144

141 Ebd., S. 211

142 Ebd., S. 146

143 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, S. 242

144 Roxin, wie Anm. 112, S. 34ff.

145 Ebd., S. 42

146 Ebd., S. 43

147 Diese Ansicht vertritt auch Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 9-32 (S. 23).

148 Karl May: Schamah. Stuttgart 1911. In: Abdahn Effendi/Schamah. Zwei Erzählungen von Karl May. Nachdruck aus der ›Bibliothek Saturn‹. Bamberg/Braunschweig 1977; vgl. Dieter Sudhoff: Karl Mays ›Schamah‹. Eine Werkanalyse. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S. 175-230.

149 Vgl. aber Sudhoff: Schamah, wie Anm. 148, S. 212, über die gedankliche Inkonsequenz bezüglich Mustafa.

150 Dieter Sudhoff: Werkartikel ›Schamah‹. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 110, S. 529

151 Karl May: Bei den Aussätzigen. In: Grazer Volksblatt. 40. Jg. (1907). Weihnachts-


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Beilage; Reprint in: Karl May: Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May. Hrsg. von Herbert Meier. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1979, S. 257ff.; vgl. Hartmut Vollmer: Karl Mays Novelle ›Bei den Aussätzigen‹. Versuch einer Interpretation. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S. 28-43.

152 Karl May: Abdahn Effendi. Stuttgart 1909. In: Abdahn Effendi/Schamah, wie Anm. 148; vgl. Dieter Sudhoff: Karl Mays ›Abdahn Effendi‹. Eine Werkanalyse. In: Jb-KMG 1983. Husum 1983, S. 197-244.

153 Karl May: Merhameh. In: Eichsfelder Marienkalender. 34. Jg. (1910); Reprint in: May: Christus oder Muhammed, wie Anm. 151, S. 212-19 (Titel: Marhameh); vgl. Hartmut Vollmer: Merhameh. Studien zu einer Altersnovelle Karl Mays. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr.44/1983.

154 May: Leben und Streben, wie Anm. 139, z. B. S. 135ff., besonders deutlich S. 141 unten - Auch moderne May-Interpreten stricken immer noch an der Legende einer geistigen Einheit im Gesamtwerk Mays. Hermann Wohlgschaft erliegt in seiner Biographie (wie Anm. 114) der Versuchung, diese Einheit zu konstruieren, was zu unübersehbaren Widersprüchen führen muß. Mag Wohlgschafts Deutung des Nachtgesprächs Kara Ben Nemsis mit dem Ustad in Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 447, als Selbstkritik des Autors an seiner früheren Selbstsucht und ausschließlichen Weltzugewandtheit auch zutreffen, so widerspricht sie z. B. Wohlgschafts eigener Interpretation des ›Sohn des Bärenjägers‹ als »katechetische Lehrerzählung« (Wohlgschaft, wie Anm. 114, S. 212), die sich auf Old Shatterhands Dankgebet am Ende des Romans wie auf einen Kristallisationspunkt des theologischen Anliegens Mays hinbewege (was schon aus Gründen der gesamten Handlungsstruktur des Jugendromans unhaltbar ist; dazu vielleicht andernorts Genaueres).

155 Mays ›Leben und Streben‹ und sein Prozeßverhalten zeigen m. E. deutlich genug, daß er nicht der gütige alte Herr geworden war, als den man ihn gern hinstellt, und auch das Bramarbasieren in seinen Alterserzählungen konnte er nicht lassen (siehe die gewisse Art von Blick in ›Schamah‹, wie Anm. 148, S. 54).

156 May: Bei den Aussätzigen, wie Anm. 151, S. 258

157 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 250

158 So z. B. im Gespräch mit François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973, S. 108

159 Karl May: Der blau-rote Methusalem. Stuttgart o. J. (1892), S. 156





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