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HANS WOLLSCHLÄGER


Das achtundzwanzigste Jahrbuch



trägt seinem ersichtlich noch lange nicht erschöpften Thema, der Aufschließung von Werk und Leben Karl Mays, erneut gewichtige Arbeiten zu. Die gegenwärtige Literaturtheorie ist auf Distanz zur Erkenntnis des 19. Jahrhunderts gegangen, daß die Kunst-Werke - wie sehr sie auch Sozialdialoge sein mögen, in denen nicht nur ›ihre‹ Zeit, sondern die Zeit als Geschichtsgang gleichsam summarisch mitredet - zuletzt monologische Reden des Individuums sind, das in ihnen sein Leben befragt und beantwortet: sein ureigenster Ausdruck vielleicht. Das hat der Karl-May-Forschung, die es ja mit einem geradezu exemplarischen Individual-Leben als Quelle der Werkserscheinung zu tun hat, immer Kritik zugesichert - und ihr zugleich einen Neben-Auftrag erteilt, den sie gar nicht gesucht hatte, den nämlich, ihre Unabhängigkeit vom akademischen Modenwechsel und von den universitären Macht- und Rechthabereien nachgerade als Chance zu nutzen, der Sache selbst Asyl geben zu können: einem Interpretationsansatz, der sich den Sprachzeichen der Werke nicht als linguistischen oder soziologischen Gegenständen, sondern als der Lebens- und Leidensschrift besonderer und bedeutender Menschen nähert. ›Dilettantisch‹ mag das insofern sein, als es einer im Moment vergangenen Professionalität anhängt; es hat mit ihr in diesen Jahrbüchern aber Erfolge philologischer Lektüre gehabt, die durchaus ihresgleichen suchen, und so bleibt doch in Ruhe abzuwarten, ob es einer bloßen akademischen Aktualität gelingt, ihr das alt-bewährte Verfahren, das Leben und Werk mit ungeteilter Aufmerksamkeit in den Blick nimmt, bemerkenswert zu entmutigen.

  Helmut Schmiedt, der dies befürchtet, stellt in seinen ›Beobachtungen und Überlegungen aus neuerer literaturwissenschaftlicher Sicht‹ jenen neuesten Ansatz vor, der im Wissenschafts-Rotwelsch ›Diskursanalyse‹ bzw. ›Literaturanalyse als Interdiskursanalyse‹ heißt und dem er offenbar eine ähnliche Karriere zutraut, wie sie der ›Intertextualität‹ und ähnlichen Eidesformeln der akademischen Literaturbefassung beschieden war. Er stammt aus Frankreich, einer besonders nebligen Landschaft der Gegenwartsphilosophie, und gründet sich auf die Entdeckung, daß ein Mosaik im Grunde aus Steinchen besteht, die anderswo geformt und gefärbt wurden. Dieser eher schlichte Tatbestand läßt sich, ohne an Simplizität einzubüßen, auch hochkomplex ausdrücken: er bedeutet »eine Tendenz, bei der es im Umgang mit der Literatur weniger auf die beteiligten empirischen Subjekte, speziell also auf die Autoren, als vielmehr auf Dispositionen der Texte ankommt. Im Zentrum des Interesses stehen ›interdiskursive Netzwerke, in denen Schreiber


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und Archivare, Adressaten und Interpreten verschiedener Diskursformationen verschaltet sind.‹«1 So oder ähnlich, jedenfalls ›und so weiter‹.

  Der Herausgeber, nicht beruflich zur Aufmerksamkeit gegenüber den Kapriolen des Wissenschaftsgeschäfts verpflichtet, dankt dem verpflichteten Helmut Schmiedt dafür, daß er - abwägend und nicht ohne Skepsis - das neueste Credo seiner Zunft vorgestellt hat; er zögert aber nicht, die damit bekundete breite Toleranz der Jahrbücher auch für sich selber in Anspruch zu nehmen - in dem Bekenntnis nämlich, daß er das Vorgestellte für ausgemacht blödsinnig und gottverlassen hält. Es hat damit freilich alle Aussicht auf eine längere Erfolgslaufbahn und wird in der Geschichte der zunehmenden Brutalisierung des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur sicher noch laut von sich reden machen - nicht zuletzt auch als willfähriger Beitrag zu der übergreifenden Bemühung, mit der die Gesellschaft insgesamt sich dem neuen Jahrtausend empfiehlt: der um die endliche Abschaffung des Individuums überhaupt.

  Die Aufsätze dieses Jahrbuchs sind allesamt Antworten - und reiche und dankenswerte Erträge jener anderen Denkweise, der die Vergangenheit lange gehört hat und die Zukunft vielleicht doch gehören wird.




1 Helmut Schmiedt: Karl May gibt es gar nicht. Beobachtungen und Überlegungen aus neuerer literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1998. Husum 1998, S. 155




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