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MICHAEL NIEHAUS

Verfahrensmängel · Die Gerichtsverhandlung in Karl Mays Reiseerzählungen



Nur unser Zeitbegriff läßt uns das
Jüngste Gericht so nennen, eigent-
lich ist es ein Standrecht
Franz Kafka



In den Abenteuerromanen Karl Mays begegnet man einer beträchtlichen Anzahl ›Gerichtsverhandlungen‹. Die Anführungszeichen sind angebracht, weil es sich nicht um Verhandlungen im eigentlichen Sinne handelt: Sie leiden an Verfahrensmängeln. Im folgenden möchte ich untersuchen, welcher Logik diese Verhandlungen mit ihren Verfahrensmängeln folgen. Das soll durch vergleichende Lektüre exemplarischer Passagen geschehen. Es liegt nahe, diese Logik auf Ausprägungen des Motivs bei anderen Vertretern des Abenteuerromans zu beziehen. Aber dieser Bezug wird hier ausgeklammert. Und das gilt auch für den ebenso naheliegenden Bezug zu den Gerichtsverhandlungen, die der Autor am eigenen Leibe erfahren hat. Worin besteht der Grund für diese Enthaltsamkeit? Als Antwort möge man mir die Lieblingswendung Karl Mays durchgehen lassen: Es fiel mir nicht ein. Damit bringt der Ich-Erzähler der Reiseerzählungen regelmäßig zum Ausdruck, daß er nicht das Naheliegende zu tun gedenkt - oder das, was die anderen für naheliegend halten. Denn wer stets das Naheliegende greift, greift mitunter zu kurz.



I


Ich beginne mit Episoden, in denen der Ich-Erzähler selber vor Gericht gestellt wird - zunächst mit dem Kapitel ›Vor Gericht‹ aus ›Durch die Wüste‹.1 Der Mörder Hamd el Amasat befindet sich als Gast beim Statthalter der Oase Kbilli. Als Kara Ben Nemsi ihn aufsucht, einen Mann mit verschwommenen Gesichtszügen,2 konfisziert dieser als erstes seinen Paß. Nachdem er erkannt hat, daß Kara Ben Nemsi ein Christ ist, verurteilt er ihn samt seinen Begleitern kurzerhand zu Stockschlägen - die einen dafür, daß sie ihm als einem ›Giaur‹ dienen, und diesen dafür, daß er sie zu Dienern gemacht hat. Dieses Vorspiel - kein gerichtliches Verfahren, eher ein Verwaltungsakt - kündigt an, daß sich das Weitere als Travestie einer Gerichtsverhandlung herausstellen wird, die der Ich-Erzähler nicht ernst


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nehmen kann. Dem Gerichtsherrn wird ohne weiteres mit einer Ohrfeige gedroht, und die Umstände der Festnahme sind so komisch, daß ich beinahe laut aufgelacht hätte.3 Durch das Auftreten von Hamd el Amasat, der sich Kara Ben Nemsis entledigen will, bekommt die Angelegenheit in gewisser Weise Verhandlungsform: »Ja, er soll erschossen werden; vorher aber werde ich ihn verhören, denn ich bin ein gerechter Richter und mag niemand ungehört verurteilen. Bring deine Anklage vor!«4 Wo kein Kläger, da kein Richter. Anklage und Stellungnahme dazu sind die Minimalform der Verhandlung. Allerdings genügt es für den Ankläger, seine Worte zu beschwören, während der Beklagte als Ungläubiger von vornherein unglaubwürdig ist. Weitere Bemühungen zur Tatsachenfeststellung gibt es aber nicht, so daß der Richter als verlängerter Arm des Anklägers erscheint.

   Der Ich-Erzähler dreht dann mit dem üblichen Handstreich die Gewaltverhältnisse um, um »sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen«.5 Damit wird die Lachhaftigkeit des Gerichtes manifest: Es kann den von ihm verhängten Urteilssprüchen gar nicht Geltung verschaffen wegen der Ohnmacht des hierfür eingerichteten »Erzwingungs-Stabes«, der nach Max Weber das entscheidende Merkmal des ›Rechts‹ ist.6 Freilich fehlen dem Urteilsspruch nicht nur das richtige Umfeld, die geeigneten Exekutoren, es fehlt ihm das nötige Gewicht auch deshalb, weil er von innen ausgehöhlt ist. Er erfolgt aus der Defensive heraus. Der Statthalter hat sich schon zuvor als inkompetent erwiesen. Dabei fällt die offenbarte geographische Unkenntnis über das Land der Deutschen weniger ins Gewicht als die Tatsache, daß er sich auf einen Wortwechsel mit Kara Ben Nemsi eingelassen hat, in dem er ein Rückzugsgefecht liefert. Der Richterspruch ist nicht die Zusammenfassung des zuvor Verhandelten, sondern der Machtspruch des in die Ecke Gedrängten, der dem Gegenüber das Wort abschneiden soll. Das erkennt man auch daran, daß er aufschiebenden Charakter hat: »Deine Sache wird noch heute untersucht werden; zunächst aber erhaltet ihr die Bastonnade.«7 Der Rückgriff auf die Prügelstrafe demaskiert sich schon vorab durch die Niederlage auf dem Feld des Sprechens als Zeichen der Schwäche. Daher läßt sich die Szene nicht nur als Gerichtsszene, sondern auch als familiale Szene lesen. Der Statthalter gleicht einem schwachen Vater, der durch die Zufügung physischer Gewalt kompensieren will, was ihm im Symbolischen fehlt. Karl May schiebt diese familiale Dimension mit Hilfe eines komödienhaften Kunstgriffes in den Vordergrund, der ganz ähnlich auch in einer Episode im dritten Band von ›Winnetou‹ auftaucht. Der mit der Überwältigung des Statthalters verbundene Lärm ruft dessen Weib auf den Plan, die mit großer Leibesfülle ausgestattete Rose von Kbilli,8 die sich schützend vor ihren Mann stellt, aber auch den Ich-Erzähler charmant begrüßt. Und sie kündigt ihm an: »Du sollst Gerechtigkeit haben!« Da wollte sich mir die Ueberzeugung aufdrängen, daß der Pantoffel im Oriente dieselbe zauberische Kraft besitzt, wie im Abendlande. Der Wekil sah seine Autorität be-


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droht und machte einen Versuch, sie wieder herzustellen: »Ich bin ein gerechter Richter und werde - - -« »Sus-olmar-sen - du wirst schweigen!« gebot sie ihm.9

   Der Richter, der sich zu Hause das Wort verbieten läßt, kann - so wird gezeigt - sein Richteramt nicht wahrhaft ausfüllen. Er ist lächerlich. Entscheidend aber ist die vom Ich-Erzähler gleichsam erzwungene Perspektive, in der diese Lächerlichkeit offenbar wird. Das Amt wird dann überhaupt nicht mehr als Amt wahrgenommen. Ein Rechtswesen im eigentlichen Sinne scheint es in den Gegenden, die der Ich-Erzähler bereist, nicht zu geben. Das wird in der entsprechenden kleinen Szene im 3. Band von ›Winnetou‹ noch deutlicher, wo die Vorzeichen weitaus ungünstiger sind: Ein mexikanischer Ranchero hat sich dort selbst zum Richter ernannt. Die Reisegesellschaft um Old Shatterhand hat nicht die mindeste Angst vor dem zu beginnenden Gerichtsverfahren,10 das sich schon dadurch als Farce qualifiziert, daß dem Richter Frau und Tochter zur Seite sitzen. Diesem nimmt der Ich-Erzähler dann auch selbsttätig das Amt aus den Händen und überträgt es mit einer galanten Verbeugung unter Verweis auf die »Liebeshöfe früherer Zeiten« auf die Sennora: »Das Gericht, welches Don Fernando über uns halten will, kann kein gerechtes sein, da er selbst Partei ist.« Don Fernando, der seiner Donna keineswegs gewachsen ist, leistet keinen Widerstand und kommt auch als Partei nicht mehr zu Wort.11 Wenn aber Frauen das Richteramt von Männern übertragen wird, dann geht es nicht um Strafen, sondern um Auszeichnungen. Dann geht es nicht mehr ums Recht, und dann stellt sich auch die Frage des Erzwingungsstabes nicht mehr, den die Frau nicht besitzt.

   Während hier die institutionellen Rahmenbedingungen für ein gerichtliches Verfahren fehlen, also die Beteiligten nur ›Gericht spielen‹, sind sie in der Episode in ›Durch die Wüste‹ durchaus vorhanden. Und wenn auch dem Statthalter von Kbilli die ›charismatische‹ Autorität als Richter abgeht, so hat ihn dies doch nicht daran gehindert, zuvor viele Male seinen Erzwingungsstab erfolgreich einzusetzen. Erst der Held enthüllt einen Mangel in der Ausübung des Richteramtes. Das liegt daran, daß er das Gericht von vornherein nicht anerkennt, daß er dessen Tätigkeit gleichfalls als ›Gericht Spielen‹ auffaßt. Es ist für ihn nicht zuständig, obwohl oder gerade weil es von der Obrigkeit eingesetzt ist. Der Statthalter leitet das Verfahren nur ein, weil er nicht die Bedeutung der Konsulate kennt und glaubt, ungestraft tun zu können, was ihm beliebte.12 Vor allem aber sind es die in den Orientromanen häufig zum Einsatz kommenden Begleitschreiben von höchster Stelle, die den Ich-Erzähler dem Zuständigkeitsbereich der Gerichte entziehen. Dies geschieht z. B. im selben Roman nur zwei Kapitel später, als die Reisegesellschaft wieder vor Gericht gezerrt und durch einen falschen Ankläger beschuldigt wird. Und wieder ist der Richter ein schlechter Geograph,13 der Deutschland nicht kennt. Dann aber weist Kara Ben Nemsi seinen Reiseschein vor und macht den Richter auf seine Unterlassungssünde


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bei der Lektüre aufmerksam: »Wenn du ein Handschreiben des Großherrn liesest, so mußt du es vorher an Stirn, Auge und Mund drücken und alle Anwesenden auffordern, sich zu verbeugen, als ob Seine Herrlichkeit selbst zugegen wäre. Ich werde dem Khedive und dem Großwesir in Istambul erzählen, welche Achtung du ihnen erweisest.«14 Das Handschreiben weist aus, daß sich sein Besitzer einer größeren symbolischen Nähe zum Zentrum der Macht erfreut als die von diesem eingesetzten Obrigkeiten. Denen wird damit um so mehr der rechtmäßige Zugriff auf Kara Ben Nemsi verwehrt, als sie sich nicht als unabhängige Gerichte, sondern als Verwaltungs- bzw. Polizeibehörden auffassen, mittels derer die Untertanen des Großreiches regiert werden. Dem an die Verwaltung gerichteten Befehl des Großherrn, den Kara Ben Nemsi in der Tasche trägt, könnte nur durch den in umgekehrter Richtung verlaufenden ›Rechtsweg‹ begegnet werden. Im vorliegenden Fall aber ist der Richter Sahbeth-Bei oder Polizeidirektor,15 und sein Vorgehen ist ein Beispiel dafür, daß die Gerechtigkeit jener Länder von der wichtigen Erfindung der Aktenstöße noch keine Notiz genommen hat, so daß in Rechtsfällen überaus schnell und summarisch verfahren wird.16

   Dadurch ist die Verfahrensform von vornherein entwertet. Die Statthalter und Polizeidirektoren betrachten sie als mehr oder weniger notwendige Äußerlichkeit, als eine bisweilen ärgerliche, bisweilen amüsante Verzögerung des unmittelbaren Zugriffs. Mit anderen Worten: Es gibt keine klare Grenzziehung zwischen dem, was zum Verfahren, und dem, was nicht zum Verfahren gehört (hier etwa löst der Polizeidirektor seinen Fall dadurch, daß er seine Entscheidung erst auf später verschiebt und dann die Bewachung von der Reisegesellschaft abzieht, damit diese sich ungestört entfernen kann). Und dies entspricht genau der für den Abenteuerroman konstitutiven Perspektive. Die ›Gerichtsverhandlung‹ gehört in die Reihe der Abenteuer, die im Abenteuerroman erlebt werden können und die man bestehen muß, indem man die Oberhand behält. Keineswegs gelten sie als Instanz, die in irgendeiner Sache über den Abenteurer und seine Abenteuer zu befinden hat. Das Auftauchen des Abenteurers zeigt automatisch den Defekt der Ordnungssysteme an, allen voran der Gerichte und ihrer Erzwingungsstäbe.

   Der Abenteurer akzeptiert keine Grenzziehungen, keine Formalitäten. Daher nimmt er die ihm zugedachte Prozeßrolle nie wirklich an. Freilich situiert er sich auch nicht einfach diesseits des Verfahrens. Schon weil es darum geht, die Oberhand zu behalten, kann er sich dem Verfahren nicht einfach verweigern. Er muß sich - und das zeigt der Ich-Erzähler in Karl Mays Abenteuerromanen ganz vorbildlich - gleichsam ›aufspalten‹, um zugleich innerhalb und außerhalb des Verfahrens agieren zu können. In der Gerichtsverhandlung, die sich ihm als ›Gericht Spielen‹ präsentiert, muß er zugleich Mitspieler und Fremdkörper sein. Dann kann es ihm gelingen, das Verfahren umzukehren, zu ›pervertieren‹. Dann kann er das


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Verfahren gegen sich selbst kehren, indem er dessen Pervertiertheit freilegt.

   Die Eingangsepisode in ›Durch das Land der Skipetaren‹ ist ein gutes Beispiel dafür. Es wird uns eine Verhandlung vorgeführt, in der nicht das Gericht die Wahrheit über den Angeklagten, sondern der Angeklagte die Wahrheit über das Gericht ans Licht bringt. Das kündigt sich schon in den Präliminarien der Verhandlung an, die am Ende von ›In den Schluchten des Balkan‹ ausführlich geschildert werden. Der Kodscha Bascha von Ostromdscha will dort das Verhör sogleich beginnen17 und mit dem Hinweis Die Obrigkeit bin ich!18 die Angelegenheit einmal mehr auf dem Verwaltungswege entscheiden. Kara Ben Nemsi macht ihn darauf aufmerksam, daß ein Kodscha Bascha, ein Staatsanwalt, ein Stellvertreter, ein Zivilleutnant und ein Gerichtsschreiber19 zur vollbesetzten Gerichtsbank gehören. Und er gibt vor, sich dem ordentlichen Rechtsgang unterordnen zu wollen: »Ich bin bei dir angezeigt worden und erkläre mich ganz damit einverstanden, daß das Gericht die Sache untersuchen soll. Ich bin also bereit, mich diesem Gericht zu stellen; aber meiner Freiheit lasse ich mich nicht berauben.«20 Der Nachsatz läßt schon ahnen, daß die Anerkennung des Gerichtes nur bis auf Widerruf gilt. Schließlich wäre ein Freispruch das einzige Urteil, dem sich Kara Ben Nemsi ›unterwerfen‹ würde. Ein Gericht, das zu einem anderen Urteil käme, wäre ein pervertiertes Gericht, das sich der materiellen Wahrheit widersetzte.

   In der Welt des Abenteuerromans gibt es im Grunde genommen keine ›Justizirrtümer‹. Anders kann es im Kolportageroman zugehen: Vom Fehlurteil der Geschworenen, das den Helden Gustav Brandt zu Beginn von ›Der verlorne Sohn‹ aus der Bahn wirft, heißt es, daß es nach bester Ueberzeugung erfolgt sei, weil die überzeugendsten Gründe gegen den Angeklagten sprachen.21 Alles ist dort mit rechten Dingen zugegangen. Und das Urteil ist rechtskräftig, auch wenn Gustav Brandt sich seiner Vollstreckung durch Flucht entziehen kann.22 In den Reiseerzählungen hingegen darf es nicht zu rechtskräftigen Verurteilungen des Ich-Erzählers kommen. Das Problem, daß ein rechtmäßig zustande gekommenes Urteil gleichwohl falsch ist, daß zwischen der Wahrheit und dem Schein der Wahrheit unterschieden werden muß, ist hier unbekannt. Die Wahrheitsfindung selbst ist kein Problem, weil die pervertierten Gerichte nicht an ihr interessiert sind und der Ich-Erzähler schon im Besitz der Wahrheit ist. Falsche Urteile sind hier immer wissentlich und willentlich falsch und gehen zu Lasten der Richter (und nicht der außergewöhnlichen Umstände). Deshalb sind sie null und nichtig.

   Dabei geht die Frage, wer denn das Recht hat, ein Verfahren für null und nichtig zu erklären, in den allgemeinen Turbulenzen unter, die die Verfahrensform dort vollends demontieren, wo - wie die Anfangssätze von ›Durch das Land der Skipetaren‹ noch einmal erklären - von einem wirklichen ›Rechte‹ fast gar nicht gesprochen werden kann, weil die Schat-


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tenseiten der türkische(n) Rechtspflege ... um so deutlicher hervortreten, je entlegener die Gegend ist, um die es sich handelt.23 Es dauert nicht lang, bis sich die fünf Richter unter Vorsitz des Kodscha Bascha den entscheidenden Verfahrensfehler zuschulden kommen lassen. Für das erste Verbrechen (die Mißhandlung eines Polizisten durch Hadschi Halef Omar) wird nach Vorbringung der Anklage das Strafmaß ausgesprochen, ohne daß Halef angehört worden wäre. Bevor es weitergeht, bittet Kara Ben Nemsi, der sich Mühe geben (mußte), nicht laut aufzulachen,24 den Vorsitzenden Richter höflich, sich zu erheben, und setzt sich dann an dessen Platz. Es folgt die effektvolle Entlarvung des Erzschurken Mübarek, der den Amtsschreiber ›markiert‹ und damit zur Gerichtsbank gehört.25 Nach dieser schon ausreichenden Diskreditierung des Gerichts nimmt der Ich-Erzähler als frischgebackener Vorsitzender Richter seinen Vorgänger ins Verhör: »Und nun zurück zu deinem Richterspruch,« sagte ich zu dem Kodscha Bascha. »Kennst du die Gesetze deines Landes?«26 Und er belehrt ihn darüber, »daß der Richter selbst dem schlimmsten Verbrecher, bevor er ihm das Urteil spricht, die Verteidigung gestatten muß ... Euer Urteil gilt also nichts.«27

   Das ist freilich nur eine Belehrung am Rande. Im Mittelpunkt steht die Entlarvung des Mübarek. In ihr wird vorgeführt, wie man jenseits aller Verfahrensregeln gerichtliche Evidenz erzeugt. Anders als im Kapitel ›Vor Gericht‹ in ›Durch die Wüste‹ findet die Verhandlung vor zahlreichem Publikum statt. Diese Öffentlichkeit ist im Grunde die ›Jury‹, die Kara Ben Nemsi - jetzt in der Funktion des Anklägers - überzeugen muß. Er zaubert vor aller Augen - wie im englischen ›Law of Evidence‹ vorgesehen - aus der Kleidung des Mübarek die verschiedenen Mittel hervor, mit denen dieser sich bei Bedarf in einen Bettler verwandeln kann; und auch einiges Diebesgut wird zutage gefördert. Angesichts der lückenlosen Beweiskette kann das ›Volksgericht‹ der sofortigen Inhaftierung des Gerichtsschreibers Mübarek nur zustimmen (und in Anbetracht so überwältigender mündlich-öffentlicher Rechtspflege mag das Tintenfaß ruhig eintrocknen). Was aber hat der Mübarek zu seiner Verteidigung vorzubringen, die ja selbst dem schlimmsten Verbrecher zusteht? Er schreit: »Glaubt ihm nicht! Er ist ein Giaur. Er ist der Dieb. Er hat mir das Armband soeben in die Tasche gesteckt. Er - - waï' waï'!«28 Weiter kommt der Angeklagte mit seiner Verteidigung nicht, weil ihm Halef mit der Peitsche ganz formlos seine verfahrensmäßigen Rechte abschneidet. Ein Recht auf Lüge wird nicht gewährt, wenn den Herren der Situation die Wahrheit bekannt ist.

   Die Gunst des Publikums ist ein entscheidendes Kriterium in den öffentlichen Gerichtsverhandlungen der Reiseerzählungen, denn das Publikum ist, wenn schon nicht unbestechlich, so doch wenigstens im Gegensatz zu den Richtern unbestochen, und es hat ein offenes Ohr für die sprachlichen und sonstigen Kabinettstücke des Ich-Erzählers. Insofern gehören


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auch die öffentlichen Gerichtsverhandlungen in die lange Reihe jener Veranstaltungen bei Karl May, in denen der Held an den gesunden Menschenverstand oder an den Aberglauben eines größeren Publikums appelliert. So werden eben jene Einwohner Ostromdschas, die schon der Entlarvung des Mübarek beiwohnen durften, später zu den staunenden Zeugen jener Zaubervorführung, in der die Reisegesellschaft ihre Resistenz gegen Schußwaffen ›beweist‹.29 Die beiden Episoden bezeugen - sobald die Ebene verfahrensförmiger Beweisführung unter der Regie des Helden einmal verlassen worden ist - bei der Herstellung von ›Evidenz‹ diese ebenso bedenkliche wie bedenkenswerte strukturelle Nähe von gesundem Menschenverstand und Aberglauben.



II


Die kompletteste und ausführlichste Gerichtsverhandlung, der sich der Ich-Erzähler auf seinen Reisen unterziehen mußte, findet sich - wieder unter der Kapitelüberschrift ›Vor Gericht‹ - im zweiten Band von ›Im Reiche des silbernen Löwen‹.30 In ihr bündeln sich noch einmal die verschiedenen Aspekte, die ich bisher beschrieben habe. Der Ich-Erzähler streicht ihren besonderen Stellenwert selbst durch seine einleitenden Worte heraus: Es folgte nun eine Scene, welche mir unvergessen geblieben ist und auch ferner bleiben wird, eine Gerichtsverhandlung, welche ich für unmöglich halten würde, wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte.31 Und eine weitere außergewöhnliche Mitteilung läßt - um für einmal doch eine Folgerung auf den Autor zuzulassen - ahnen, wie brennend das Verlangen Karl Mays gewesen sein muß, ein gerichtliches Verfahren nicht ›ernst nehmen‹ zu müssen: Es wäre mir wohl unmöglich gewesen, mich zu erinnern, jemals in einer solchen Stimmung, wie meine jetzige war, gewesen zu sein. Es lag etwas in mir, was mich nicht dazu kommen ließ, diese Mehkeme ernst zu nehmen.32 Mit dieser ›Überheblichkeit‹ gegenüber der Mehkeme, dem Gericht, hängt auch die schon zuvor breit eingeführte Rahmenbedingung der Gerichtssitzung zusammen: Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar haben - obwohl auch hier formell von der Obrigkeit inhaftiert - beschlossen, ihrer Verhandlung vom Pferd aus beizuwohnen. Mit diesem Motiv ist auf verschiedenen Ebenen die Distanz zum Geschehen markiert. Sie werden von oben herab sprechen, und zwar nicht nur bildlich, sondern auch wirklich;33 und sie werden diese Distanz im entscheidenden Augenblick dazu nutzen, sich durch einen kühnen Sprung über die Mauer von der Sitzung zu entfernen. Denn zwar spricht der Ich-Erzähler von dem Genuß ..., den uns der Wortsieg über diese scharfsinnigen Männer des Gesetzes bereiten wird,34 aber dieser Wortsieg kann sich natürlich nicht in einem Sieg ›im‹ Verfahren, sondern nur in einem Sieg ›über‹ das Verfahren niederschlagen. Es geht einmal mehr um eine Demontage des Verfah-


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rens unter erschwerten Bedingungen, nämlich inmitten der hochfanatischen Bevölkerung der schiitischen Stadt Hilleh, vor einem Publikum, das sich von Minute zu Minute vergrößerte.35

   Auch hier wieder bringt ein verbrecherischer Ankläger, das Haupt einer Schmugglerbande, zunächst verschiedene falsche Anklagen vor, die in der Behauptung gipfeln, der Hauptangeklagte sei das Haupt einer Schmugglerbande. Der ganz unter dem Einfluß des Anklägers stehende Vorsitzende Richter, der Sandschaki, will daraufhin umgehend »diese Halunken solange auf die Fußsohlen schlagen lassen, bis sie ein Geständnis ablegen«.36 Aber schon bei der vorgeschalteten ›gütlichen‹ Befragung bekennt sich der Ich-Erzähler bereitwillig zum Christentum, was der Richter mit der Ankündigung quittiert: »Dieses Eingeständnis bringt dich um«.37 Sein Fehler besteht nun darin, daß er dieses Verdikt mit Hilfe des Korans zu ›legitimieren‹ versucht und daraufhin vom bisher folgsamen Ich-Erzähler in eine Art theologischen Disput verwickelt wird (die grundlegende Figur der Verschiebung des Verhörs auf den Disput, die in den Reiseerzählungen Karl Mays meist mit einer Gegenfrage des befragten Ich-Erzählers eingeleitet wird, findet sich nicht zufällig schon in den Ketzerverfahren der spätmittelalterlichen Inquisition38). Durch die Verschiebung auf das Feld der Begründungsdiskurse wird der vom Helden avisierte ›Wortsieg‹ möglich, da dort das (wirkliche oder unterstellte) Gewaltverhältnis des Verhörs suspendiert ist. Die Rücknahme dieser Suspension, das Eindringen der Gewalt durch Abschneiden des Wortes erscheint dann - wie auch beim Statthalter von Kbilli in ›Durch die Wüste‹ - als Schwäche, als Niederlage in den Augen des Publikums, das als informeller Richter über den ›Wortsieg‹ zu befinden hat. In diesem Falle gelingt es dem Helden zusätzlich, den Richter vor dem schiitischen Publikum als Sunniten zu diskreditieren, was, um mich so auszudrücken, ein rednerischer Handstreich von mir war, dessen Wirkung sich sofort in einem beifälligen Gemurmel39 zeigt, das sich im weiteren Verlauf zu zahlreiche(n) Beifallsrufe(n)40 steigert.

   Die Demontage der Verhandlung vollzieht sich aber nicht durch das Eingreifen des Publikums. Sie kann dem Publikum vielmehr als ein Schauspiel vorgeführt werden, weil der Verhandlung von vornherein die verbindlichen Verfahrensregeln fehlen. Und das erkennt man daran, daß sie innerhalb der Verhandlung thematisiert werden. Unter diesen Umständen sind Verfahrensfragen der wahre Gegenstand der Auseinandersetzung, für deren Ablauf es erst recht keine Verfahrensregeln, keine ›Redeordnung‹ gibt. Wenn der Ich-Erzähler in den Reiseerzählungen vor Gericht steht, geht es immer um das Verfahren und nie um die Sache. Hier belehrt schließlich sogar ein Beisitzer des Gerichts den Vorsitzenden Richter gegen Ende der Verhandlung darüber, daß die Verhandlung ›eigentlich‹ noch gar nicht begonnen hat: »Du hast Fragen gestellt; aber ein Verhör war das nicht zu nennen. Es ist ja nicht einmal eine Mazbata* [Fußnote: *Protokoll] aufgenommen worden.


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Du weißt ebenso wie ich, daß ein Verhör ohne Mazbata nur ein gewöhnliches Gespräch und also nicht gültig ist. Hier sitzt der Schreiber; aber seine Feder ist noch trocken; er hat sie noch nicht einmal in die Tinte getaucht. Und doch ist es vorgeschrieben, daß wir alle die Mazbata zu unterschreiben haben, wenn das Verhör Geltung haben soll.«41

   Aber der Versuch, nun mit einem regelrechten Verhör noch einmal von vorne anzufangen, führt endgültig zur Eskalation. Schon bei den Fragen zur Person, so weist der Ich-Erzähler jetzt nach, hätte sich ergeben müssen, daß die Voraussetzungen für eine Gerichtsverhandlung nicht gegeben waren. Nicht nur, daß ein Christ ohnehin nur von einem Strafgericht verurteilt werden dürfe, dem auch ein Christ angehört, er sei vor allem kein Untertan des Großherrn und stehe auch nicht unter seiner Gerichtsbarkeit: Nur um »mich ohne alles Recht verurteilen zu können, hast du mich lieber gar nicht gefragt, wer und woher ich bin«.42 Daß das Gericht nicht zuständig ist, beweist einmal mehr der ›Reiseschein‹, dem der Vorsitzende Richter die schuldige Ehrerbietung verweigert. Als dann einer der verbrecherischen Ankläger die Dokumente an sich reißt, um sie unter dem Vorwand zu vernichten, es handle sich um Fälschungen, ist die Demontage der Verhandlung vollendet. Kara Ben Nemsi Effendi schießt ihm in die Hand, ergreift die Dokumente und sprengt mit Halef davon.

   Wenn auch alle Gerichte, die sich seiner annehmen, nicht für ihn zuständig sind, kann sein Reiseschein den Abenteurer nicht außerhalb jeder Rechtsordnung stellen. Um gegen den Abenteurer Kara Ben Nemsi rechtmäßig vorzugehen, kann man, wie der Vorsitzende Richter schließlich einsieht, »nichts thun, als ihn nach Bagdad bringen lassen«.43 Aber das wäre ja schon genug. Es wäre genau das, was die ungebundenen Wege des Abenteurers durchkreuzen würde. Hier zeigt sich wieder, daß die Verfahrensmängel und die Figur des Abenteurers sich gegenseitig strukturell bedingen. Es ist Kara Ben Nemsis Glück, daß der ordnungsgemäße Verfahrensweg nicht eingeschlagen wird, denn die Kehrseite der Nichtzuständigkeit des anwesenden Gerichtes ist die Verlängerung dieses Weges, der nicht zum Leben, sondern zum Verfahren gehört, aber gleichwohl Lebenszeit ausfüllt. Und daher verbindet er auch die Zustimmung zur resignierten Erklärung des Vorsitzenden Richters mit jener schon bekannten Drohung, die in keiner Weise zur Sache gehört und den Rechtsweg wiederum in einen Verwaltungsweg hinüberspielt: »Ganz recht!« fiel ich ein. »Und dort wird es mein erstes sein, zu bezeugen, daß du dem Siegel und der Unterschrift des Padischah die schuldige Ehrerbietung verweigert hast.«44

   Auch hier zieht der Held die Trumpfkarte seiner ›Legitimation‹ erst am Schluß aus dem Ärmel, nachdem das ›Gericht Spielen‹ lange genug gedauert hat. Es ist aber auch möglich, daß diese Trumpfkarte überhaupt nicht sticht. Dieser Sonderfall beleuchtet die Eigenheiten der Gerichtsverhandlungen bei Karl May von einer anderen Seite. In ›Am Rio de la Plata‹ wird der Ich-Erzähler mit seinem Begleiter Monteso von einem


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Trupp uniformartig gekleideter Reiter (nicht nur formell) gefangengenommen und mitten in der Wildnis vor ein sogenanntes Militärgericht45 gestellt. Die Richter waren der Major, der Lieutenant und drei andere Kerle, welche wir Rittmeister, Oberlieutentant und Wachtmeister nennen hörten.46 Dem Ich-Erzähler wird bekannt gemacht, daß er »wegen Aufruhr und Landesverrat in Anklagestand«47 gesetzt sei. Als Ankläger wird ihm ein verdächtiges Subjekt genannt, das sich als Polizeikommissar ausgegeben hatte und vom Ich-Erzähler entlarvt worden war. Und gleich wird wieder der Versuch unternommen, das Gericht in Verfahrensfragen zu verwickeln: Anklage könne nur eine Behörde erheben, die zur Entscheidung stehenden Verbrechen dürften nur vor einem Appellationsgericht abgeurteilt werden. Aber der Major läßt sich als Vorsitzender Richter nicht davon beeindrucken. Und als Monteso das Gegenteil der lügenhaften Ausführungen des Anklägers beschwören will, entgegnet er ihm gar: »Das geht nicht, denn der Angeklagte darf nicht sein eigener Zeuge sein.«48 Während sich Monteso von solchen Erklärungen zu Verbalinjurien hinreißen läßt, bis er gefesselt wird, tritt der Ich-Erzähler dem Gericht mit ausgesuchter Höflichkeit entgegen. Er erklärt, »daß ich mich der Gewalt nur mit Einspruch fügen werde. Ich bin bereit, Ihnen meine Aussagen zu machen und wie ein Caballero zum Caballero zu Ihnen zu sprechen, stets aber nur mit dem Vorbehalte, daß ich Sie für nicht kompetent erkläre.«49

   Das selbsternannte Militärgericht aber operiert unter der Voraussetzung, »daß es vollständig genügt, daß wir uns selbst für kompetent halten«.50 Es hat sich selbst zu einem letztinstanzlichen Gerichtsverfahren ermächtigt, das niemandem Rechenschaft schuldig ist, das infolgedessen auch keines Gerichtsprotokolls bedarf - und dessen Ausgang feststeht: Der Major erklärt schon einleitend, es tue ihm »außerordentlich leid, einen Mann von Ihrer Bildung und Ihren Eigenschaften hinrichten lassen zu müssen«, aber es sei eben »beschlossen, daß Sie sterben müssen, denn man kennt Ihre Verbrechen«.51 Die Verhandlung ist also eine Scheinverhandlung, man kann auch sagen: eine ›Formalität‹. Gerade das aber ist der Grund dafür, warum die Verhandlung ›funktioniert‹. Weil es nur den Schein, nur die leere Formalität gibt, muß man den Schein, muß man die Form wahren. Beide Seiten wissen, daß sie hier nur ›Gericht spielen‹, und beide Seiten wissen, daß die andere Seite das weiß. Eine Gerichtsverhandlung ist unter diesen Voraussetzungen nichts anderes als eine Höflichkeitsform. Mit ›Justizförmigkeit‹ hat diese Wahrung der Form freilich wenig zu tun; dafür handelt es sich ja auch um ein ›Kriegsgericht‹. Höflich bringt der Ich-Erzähler seine Verfahrensrüge vor: »Die Angeklagten müssen erfahren, vor welchem Gerichte sie stehen; es müssen ihre Namen und diejenigen der etwaigen Zeugen genannt werden. Es muß ein öffentlicher Ankläger, ein Staatsanwalt vorhanden sein; den Angeklagten müssen Verteidiger zur Seite stehen. Kurz und gut, ich vermisse Verschiedenes, was eigentlich vorhanden sein sollte. Sie


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werden das gütigst entschuldigen!« Und höflich erwidert darauf der Major: »Ich entschuldige es ebenso, wie Sie uns entschuldigen werden, Sennor. Die Verhältnisse liegen leider so, daß wir keine Zeit haben, Formalitäten zu erfüllen, welche glücklicherweise nur ganz nebensächlich sind.«52

   Die Beibehaltung des Rollenspiels gewährleistet vor allem die Ausblendung des Gewaltverhältnisses aus dem sprachlichen Austausch - genau dies erscheint als die logische Minimalbedingung dafür, daß eine ›Verhandlung‹ statthat. Der Ich-Erzähler befleißigt sich der Unterscheidung zwischen seiner formellen Prozeßrolle als Partei, als Anwalt, und seinem realen Status als einem der Willkür ausgelieferten Gefangenen. Er bekommt die Gelegenheit, seine erfolglosen Einwendungen gegen das Verfahren in aller Form vorzubringen, während seinem Gefährten, der vor Wut aufschreit, das Wort entzogen wird. Er erweist sich sogar als guter Verlierer, als der Ankläger Mateo belastende Dokumente aus seiner Kleidung hervorzaubert, die er einige Zeit zuvor heimlich in sie eingenäht hatte (gegen den Evidenzeffekt dieses Hervorzauberns wäre allerdings - wie das Beispiel des Mübarek zeigt - auch bei einem wohlwollenderen Gerichtsverfahren mit Worten wenig auszurichten).

   Es wird von der Handlungslogik des Romans her nicht ganz klar, warum die Gegner des Helden so viel Wert auf dieses »Gerichtsspektakel mit gefälschtem Beweismaterial«53 legen. Klar ist aber, welche Motive der Ich-Erzähler für das ›Gericht Spielen‹ hat. Wenn der Ausgang des Verfahrens feststeht - und dies ist mehr oder weniger in allen Gerichtsverhandlungen, in die sich der Ich-Erzähler involviert sieht, der Fall -, dann ist die Verhandlung vor allem als Aufschub, als eine Verzögerung der Urteilsverkündung und der Urteilsvollstreckung aufzufassen. Das wesentliche am gerichtlichen Verfahren ist, daß es Zeit in Anspruch nimmt. Und diese Zeit kann für den einen kurz und für den anderen lang sein. Für das Kriegsgericht ist das Verfahren erklärtermaßen ein Zeitverlust - »Die Kriegsartikel verlangen ein schnelles Handeln«54 -, für den Angeklagten ein Zeitgewinn, eine Frist. Im allgemeinen kann der Ich-Erzähler bei Karl May die Zeit in den Verhandlungen - wie man gesehen hat - auf verschiedene Weise zu verfahrensfremden Zwecken nutzen: Er kann sich an ihrem Schauspielcharakter erfreuen, er kann sie zur Beeinflussung des Publikums nutzen, er kann die Verfahrensfehler sich häufen lassen. Hier tritt eine andere Nutzung in den Vordergrund - gewissermaßen die verfahrensfremde Nutzung schlechthin: Es geht um die Wahrung der Möglichkeit, den Abbruch des Verfahrens durch Flucht zu erzwingen. Solange das Verfahren noch nicht an sein Ende gekommen ist, kann etwas Unvorhergesehenes, etwa Gewaltsames von außen über es hereinbrechen. Nicht in seiner verfahrensmäßigen Sprecherrolle als Vertreter seiner selbst wird der Held durch seine gewaltsame Flucht dem Reden ein Ende machen. Sein letzter Sprechakt kündigt auf paradoxe Weise die Aufgabe seiner Verfahrensrolle an: »Passen Sie auf!«55 Das ist die sprachliche Warnung vor einer Überra-


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schung, die darin besteht, daß es mit dem Sprechen zu Ende ist, daß ›jetzt‹ die Ära der Handgreiflichkeiten beginnt - eine bei Karl May (und nicht nur dort) häufig anzutreffende Figur. Sie erinnert an eine Kriegserklärung - eine Kriegserklärung allerdings, die mehr oder weniger zeitgleich mit den ersten Bomben eintrifft und womöglich selbst die Wirkung einer Bombe hat.



III


Ich komme nun zu den ›Gerichtsverfahren‹, bei denen der Ich-Erzähler nicht vor Gericht steht, sondern zum ›Gericht‹ gehört, also gleichsam als Verfahrensveranstalter auftritt. Für solche quasigerichtlichen Situationen gibt es eine typische Ausgangslage. Wie bei der Nichtzuständigkeit der Gerichte für den Helden hängt sie auch hier mit der Logik des Abenteuerromans zusammen. Der Abenteurer-Held steht regelmäßig vor dem Problem, wie er mit den ›Schurken‹ oder ihren Handlangern verfahren soll, die ihm in die Hände gefallen sind. Zwei äußere Gründe werden genannt, weshalb es zu ihrer Übergabe an die staatlichen Strafverfolgungsorgane zumeist nicht kommt: Entweder diese erscheinen selbst als korrupt, und eine gerechte Bestrafung würde vereitelt - so in der Regel in den Orientromanen -, oder die Behörden sind praktisch überhaupt nicht erreichbar - so in der Regel in den Amerikaromanen. Dahinter steckt freilich, daß der Abenteurer »mit staatlich etablierten Gerichten nichts zu schaffen haben«56 will, daß so wie sie nicht für ihn er auch nicht für sie zuständig ist. Ein typisches Beispiel: In ›Der Oelprinz‹ wird einmal mehr eine Bande bei Raub- und Mordplänen belauscht, was es dem Helden (hier Sam Hawkens) erlaubt, sie in einer Art präventiver Maßnahme unschädlich zu machen. Und was nun? Einer der Gefährten, Master Schmidt, ist noch nicht lange im Westen und meint, es lägen »Gründe genug vor, sie alle um den Hals oder wenigstens in das Zuchthaus zu bringen. Wir werden sie also während dieser Nacht bewachen und morgen dann der Behörde übergeben.«57 Er wird vom Westmann Hawkens eines Besseren belehrt: »Wenn Euch drüben jemand einen Schafskopf nennt, so schleppt Ihr ihn schnell vor den Richter; hier aber macht man das anders. Selbst ist der Mann! Welche Behörde meinen Sie? Wo gibt es eine? Und wenn, hat sie auch die nötige Gewalt? Kann ich beweisen, was ich behaupte?«58 Das sind rhetorische Fragen. Innerhalb eines ordentlichen gerichtlichen Verfahrens wird man das nicht beweisen können, was man außerhalb des Verfahrens zweifelsfrei weiß. Auch nachdem das Verfahren viel Zeit gekostet hat, würde es seine Entscheidung nicht auf jenes Wissen gründen können, das hier und jetzt unmittelbar gegeben ist. Die Urteilsfindung fiele aber dann ganz natürlich in den Kompetenzbereich der Betroffenen, die im Grunde jedoch nicht Richter sind, sondern Partei. Und überdies verhält es sich hier und des öfteren


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so, daß es um ein Verbrechen geht, das nicht zur Ausführung gekommen ist, von dem die Betroffenen nicht betroffen wurden. Die von Hawkens vorgebrachte Devise Selbst ist der Mann! läuft daher zunächst und zumeist auf eine Entscheidung hinaus, die wie keine zweite die Unzufriedenheit der Begleiter des Ich-Erzählers in den Abenteuerromanen Karl Mays schürt: »Sie laufen lassen.«59

   Das ist nicht das Ergebnis eines Verfahrens, das ist kein gerechter Urteilsspruch und auch kein Freispruch. Man muß sich umgekehrt fragen: Zu welcher Art von Sanktion hätte denn in dieser Situation eine ›gerechte‹ Rechtsprechung führen können? Im Grunde gibt es mangels Haftstrafen, mangels eines Strafapparates nur zwei mögliche Ausgänge: laufen lassen oder töten. Höchstens kann man noch denen, die man laufen läßt, Waffen und Eigentum lassen oder nicht, kann man die Tötung durch einen Zweikampf ersetzen. In dieser Hinsicht werden wir im Reiseroman zurückversetzt in die Zeit der Jäger und Sammler, die nicht einmal Sklaven brauchen konnten. Das ›laufen lassen‹ kommt daher einem Verzicht auf Rechtsprechung gleich. Aus struktureller Notwendigkeit realisiert sich, was man im Mittelalter ›Gnade vor Recht‹ nannte. Der Ich-Erzähler läßt nicht nur die Mitläufer und die Verführten wieder laufen, die dann aus dem Romangeschehen verschwinden, sondern immer wieder auch die Verstockten, die erneut seinen Weg kreuzen und noch viel Unheil anrichten werden. Wer den Laufpaß erhält, der hat Gelegenheit, sich zu bessern. Der staatliche Strafapparat besitzt Zuchthäuser, in denen das Werk ›Besserung‹ vollbracht werden soll. Für den Ich-Erzähler der Abenteuerromane ist die ›ganze Welt‹ eine Besserungsanstalt, in der es zu Umkehr und Buße nie zu spät ist.60 Insofern der Abenteuerroman in einem exterritorialen Raum angesiedelt ist, in dem die territorialstaatlichen Institutionen des Rechts nicht greifen, kann es keine ›angemessene‹ Strafe geben. Die Devise Selbst ist der Mann! besagt letztlich: entweder die (bisweilen von den ›anderen‹ geübte) unverantwortliche ›Rache‹,61 die Selbsthilfe des Verletzten diesseits des Rechts, oder die (vom Helden geübte) unverantwortliche, der christlichen Religion gemäße ›Milde‹ jenseits des Rechts. In jedem Falle ist - wie es scheint - der Betreffende ganz der Willkür des Ich-Erzählers und seiner Reisegruppe ausgeliefert. Wenn diese entscheidet, wie sie mit dem Betroffenen ›verfahren will‹, dann hat das regelmäßig den Charakter eines ›Verwaltungsaktes‹.

   Gerade weil die Schuld zweifellos ist, kann der Ich-Erzähler nicht den Platz des Richters in einem Verfahren einnehmen, das nur ein ›Strafgericht‹, ein ›endlicher Rechtstag‹62 sein könnte. Wie die Kirche richtet der Ich-Erzähler niemanden hin.63 Er überläßt dies dem Strafgericht Gottes, das im Abenteuerroman kalkulierbarer ist als im wirklichen Leben. Das Urteil wird immer aufgeschoben; der Ich-Erzähler maßt sich nie an, die zuständige Instanz für ein Endurteil zu sein, während sich umgekehrt die korrumpierten Gerichte, deren er sich erwehren muß, stets zu Unrecht eines sofor-


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tigen Endurteils für kompetent erachten. Unter diesen Voraussetzungen gibt es zwar häufig Situationen, in denen Gefangene zum Gegenstand von ›Maßnahmen‹ werden, aber nur selten gibt es Situationen, in denen der Ich-Erzähler als Verfahrensveranstalter auftritt. Wie das geschieht und welcher Art dann die ›Verfahrensmängel‹ sind, möchte ich wieder an einigen Beispielen zeigen.

   Ich beginne mit einer Gerichtsverhandlung aus dem 3. Band›Winnetou‹, der genau die oben beschriebene Situation zugrunde liegt: Der Ich-Erzähler hat einen Mordplan gegen ihn und seine Reisegesellschaft vereitelt und die Bande festgesetzt. Einige seiner Begleiter verlangen nun den augenblicklichen Tod derselben, aber Old Shatterhand widerspricht ihnen: »Auch die Savanne hat ihr Recht und ihre Gesetze. Ständen sie uns mit den Waffen gegenüber, wo dann unser Leben an einem Augenblick hing, so könnten wir sie niederschießen; wie die Dinge aber jetzt stehen, dürfen wir keinen Mord begehen, sondern müssen eine Jury über sie bilden.«64 Bei der fälligen Verteilung der Rollen überläßt der Held unter fadenscheinigem Vorwande - »Ich bin kein Bürger der Vereinigten Staaten«65 - dem alten Westerner Sans-ear den Vorsitz. Daß die übrigen als Schöffen fungieren sollen, der Neger Bob aber den Constabel markieren wird, läßt schon ahnen, daß wir es hier wieder mit der Travestie einer Gerichtsverhandlung zu tun haben. So nimmt der frischgebackene Vorsitzende gleich eine Miene an, aus welcher deutlich zu erkennen war, daß bei diesem Savannengerichte wenigstens dieselbe Sorgsamkeit und Gerechtigkeit obwalten solle, wie bei der Jury einer zivilisierten Grafschaft.66 Die Gefangenen freilich erkennen das Gericht nicht an. Der Bescheid des Vorsitzenden auf deren Antwortverweigerung, daß nämlich »Schweigen als ein Geständnis«67 gelte, entspricht allerdings weniger dem Strafprozeßrecht als dem ›gesunden Menschenverstand‹. Schließlich haben sie auch keinen, der sie vor Gericht vertreten könnte. Sie müssen ihre Verteidigung selbst führen, die Parteien müssen - wie immer in den Reiserzählungen Karl Mays - ›für sich selbst sprechen‹.

   Erst als sie mit der - gleichsam Verfahrensgerechtigkeit verbürgenden - Identität Old Shatterhands und Sans-ears bekannt gemacht werden, löst sich ihnen die Zunge. Der Anführer gibt zu, daß man »von einem Mord gesprochen« habe, Namen seien aber nicht gefallen, und: »Ein Schluß ist kein Beweis, ist keine Tatsache. Ein Savannengericht ist ein löbliches Ding, aber auch eine solche Jury darf nur nach Tatsachen und nicht nach Vermutungen urteilen. Wir haben Sans-ear und Old Shatterhand gastfreundlich bei uns aufgenommen, und zum Dank dafür werden sie uns unschuldig töten. Das werden alle Jäger erfahren ... und alle werden sagen, daß die beiden großen Jäger Räuber und Mörder geworden sind.«68 Der Ich-Erzähler muß sich daraufhin gestehen, daß der Schurke seine Verteidigung ganz ausgezeichnet führte.69 Damit ist zunächst gesagt, daß er ähnlich gut ›Gericht spielen‹ kann wie der Ich-Erzähler selbst. Und damit ist des weiteren gesagt, daß er das tut, was alle wirklichen Schurken tun: Er verweist auf die Verfahrensgrundsätze, nach


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denen es nicht auf die außergerichtliche persönliche Überzeugung, sondern auf den gerichtlichen Beweis ankommt. Den Schurken genügt es, ›im Verfahren‹ Recht zu haben; die Unschuldigen möchten die ›wirklichen Menschen‹ von ihrer Unschuld überzeugen.

   Folgerichtig spricht das Savannengericht die Angeklagten frei. Nur dieser zu erwartende Freispruch hat dem Gericht zur Existenz verholfen, denn der Ich-Erzähler ist als Verfahrensveranstalter nicht nur mit dieser Wendung der Dinge ziemlich zufrieden, er hat sie sogar vorhergesehen und daher ... dem guten Sam den Vorsitz gelassen.70 Die Verhandlung war nur Schein, war nur eine Posse. Ihre Entscheidung wird denn auch durch die vom Ich-Erzähler als zweckmäßig erachtete ›Maßnahme‹ umgangen, deren Bekanntmachung den Status ›savannengerichtlicher‹ Jurys unmißverständlich klar macht: »Ihr werdet als unsere Gefangenen zwei Tage lang bei uns bleiben. Sind wir dann noch nicht am Flusse, so ist es um euch geschehen, denn ich selbst werde euch die Kugel oder den Riemen zu kosten geben, oder eine Jury über euch abhalten.«71

   Zwei Episoden aus ›In den Cordilleren‹ verdeutlichen den prekären Status der Gerichtsverhandlungen, in denen der Ich-Erzähler als Regisseur beteiligt ist. In der ersten Episode ist der ›Sendador‹, der schon viele Menschenleben auf seinem Gewissen hat, gefangengenommen worden. Der Ich-Erzähler hat aber nicht allein über ihn zu verfügen, sondern er muß die Interessen der Betroffenen in Rechnung stellen. Der Sendador streitet seine Taten ab und stellt im übrigen die Frage, ob der Ich-Erzähler sich für den Mann halte, »welcher über mich zu richten hat«. Darauf dieser: »Ja. Wir alle sind nach dem Brauche der Pampa berechtigt, über Sie zu Gericht zu sitzen. Und wenn Sie uns wie bisher mit Hohn und Spott bedienen, so dürfen Sie auf keine Nachsicht rechnen.«72 Der Sendador beansprucht aber auch keine Nachsicht, sondern Gerechtigkeit, und »zu dieser Gerechtigkeit gehört, daß man die Sache einem ordentlichen Richter übergiebt«.73 Einer der Betroffenen stellt ihm daraufhin ebenfalls das Recht der Pampa in Aussicht, das - da die Schuld unbezweifelbar ist - in einer »Kugel in den Leib« oder in einem »Strick um den Hals« bestehen werde.74 Sobald aber die Betroffenen außer Hörweite sind, ist keine Rede mehr vom ›Recht der Pampa‹. Die Übriggebliebenen wünschen, daß er leben bleibe, um uns seine Geheimnisse anzuvertrauen. Gegen uns hatte er ja nicht gesündigt, und so konnten wir ihn weder anklagen noch gar richten.75 Sie beschließen, dem Sendador zur Flucht zu verhelfen. Nur zum Schein macht der Ich-Erzähler noch einen Verfahrensvorschlag: »Jede Partei mag einen Sprecher wählen. Beide Sprecher bringen ihre Gründe vor, und dann wird abgestimmt.«76 Dabei fällt auf, daß der Angeklagte seinen Status als Partei offensichtlich bereits eingebüßt hat. Desgleichen scheint sich das Amt des Richters in die einfache Stimmenmehrheit der nicht näher bestimmten Parteien aufgelöst zu haben. Freilich kommt es nicht mehr zur Realisierung dieses seltsamen Verfahrens, es kommt nur zur Realisierung einer ›Maßnahme‹.


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   Der bloß aufschiebende Charakter dieser Maßnahme liegt auf der Hand. Als der Sendador das zweite Mal zum Gefangenen der Reisegesellschaft wird, befindet er sich bereits im Einzugsbereich von ›Gottes Gericht‹ - so die Überschrift des letzten Romankapitels. Wie anderen Bösewichtern naht sich ihm das Gericht Gottes am Ort seiner bedenklichsten Untat.77 Und in Sichtweite dieses Ortes hat man sich ein weiteres Mal vorgenommen, ein irdisches Gericht über den Sendador abzuhalten. Weil der Täter »bestraft, aber nicht ermordet werden« soll, müssen »verständige Männer über eine geschehene That zu Gericht sitzen«.78 Der von seiner Rache besessene Gomorra hat von diesen Gerichten des Ich-Erzählers allerdings genug - »ich kenne diese Gerichte, und ich kenne euch, besonders Sie«79 -, und sein Widerstreben erhält durch den Bescheid neue Nahrung, daß er kein Stimmrecht habe, »denn du bist der Ankläger und hast dich zur Seite zu halten und nur dann zu antworten, wenn du gefragt wirst«.80 Gomarras Befürchtungen bestätigen sich. Die beispielhafte Unentschiedenheit der ›gerichtlichen Entscheidung‹ wird dadurch verstärkt, daß der Sendador noch immer Geheimnisträger ist, daß er weiß, wo sich die ›Kipus‹ befinden, die den Weg zu einem versteckten Schatz weisen: Nur der Bruder [Jaguar] und ich waren dafür, ihn mitzunehmen und der Obrigkeit zu übergeben; die andern stimmten dagegen und betonten ganz besonders die möglichen Zwischenfälle, durch welche der Verbrecher uns entrissen werden konnte. Kein einziger war für die Begnadigung desselben. Alle aber waren darin überein, daß wir die Kipus haben müßten.81 In dem Maße, in dem man an einem Geheimnis interessiert ist, verringert sich das Interesse an einem gerechten Urteil. Und daß das Resultat der Beratung überhaupt kein Urteil ist, macht die Urteilsverkündung durch den Ich-Erzähler klar: »Sie haben den Tod vieler Menschen verschuldet, und da das Gesetz der Pampa gebietet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, so wird man kurzen Prozeß machen und Ihnen eine Kugel geben.«82 Aber diese Ankündigung ist nur die vorgebliche Grundlage für einen Schacher: »Liefern Sie uns die Kipus und die Pläne aus, so unterbleibt die Exekution!«83 Statt dessen würde man ihn dann ohne Proviant und Waffen ›laufen lassen‹ und seinen Rächer Gomarra eine Viertelstunde später hinterherschicken.

   Die Realisierung dieses abermaligen Aufschubs wird dann glücklicherweise durch ›Gottes Gericht‹ verhindert, das dem hartnäckigen Sünder freilich noch die Gelegenheit zu seiner schließlichen Läuterung gibt, bevor er an der Seite seines Sohnes in den Tod hinübergleitet: Und ob er noch so schwer gefehlt habe, niemand ist Richter als Gott, der Herr, allein!84 Der Ich-Erzähler hat dies freilich immer gewußt. Daher hat er die Richterrolle immer abgelehnt, und daher sind die ›Gerichtsverfahren‹ für den Ich-Erzähler der Abenteuerromane stets ein Kompromiß. Er läßt sich auf sie ein, weil der Verbrecher nicht in seine Gewalt allein gegeben ist, weil er auf andere Rücksicht zu nehmen hat (dort, wo er selbst der Verletzte ist, wie bei den Attentaten von Old Wabble in den ›Surehand‹-Bänden, kommt es daher zu


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keiner Gerichtsszene). Aber das wirft auch ein anderes Licht auf die ›Verfahrensmängel‹. Nur aus der Perspektive der irdischen Gerichtsbarkeit sind sie zu rügen. Denn wer wollte behaupten, daß sich die strafende Gerechtigkeit Gottes, deren Vorwegnahme der irdischen Gerichtsbarkeit mißlingen muß, an Verfahrensformen zu halten habe?



IV


Die erste Hälfte des 3. Bandes ›Winnetou‹ - genauer: die frühere Erzählung ›Deadly dust‹,85 aus der später die ersten vier Kapitel dieses Bandes wurden - ist nicht zuletzt dadurch auffällig, daß sie durch fünf sehr unterschiedliche Gerichtsszenarien skandiert wird.86 Neben zwei mehr oder weniger komischen Episoden, in die der Ich-Erzähler selbst involviert ist, und der oben beschriebenen Jury-Travestie gibt es zwei ›Strafgerichte‹, die tatsächlich mit einer Hinrichtung enden. Bezeichnenderweise fungiert in beiden Fällen Winnetou als Richter - und zwar ein Winnetou, der erkennbar noch nicht vollends nach dem Modell des ›edlen Wilden‹ durchkomponiert ist.87 Winnetou hat einen Gefangenen gemacht. Sein Kommentar »Böses Auge!«88 verheißt nichts Gutes für den Mann, der als Holfert identifiziert wird und, von Old Shatterhand mit der Waffe bedroht, seine Verstrickung in einen Mordfall gestehen muß, dem der Vater eines zur Reisegruppe gehörigen Kaufmanns zum Opfer gefallen war. Ein schlechtes Vorzeichen ist weiterhin, daß Holfert zwar alles offen bekannte, daß aber im Tone seiner Stimme ... nicht viel von Reue und innerer Bewegung zu hören (war).89 Dennoch möchte ihn der Sohn des Ermordeten, in dessen Herzen die Rache mit dem Mitleid kämpft, nachdem er ihm noch einige Fragen vorgelegt hat, laufen lassen.90 Der Ich-Erzähler wendet ein, daß der Mann allein, ohne Waffen und ohne Pferd ebenfalls dem sicheren Tode entgegengeht, erklärt dann aber: »Auch ich will sein Richter nicht sein. Wir können ihm eines unserer Packpferde geben und einige Waffen dazu. Frage Winnetou!«91

   Dieser veranstaltet nun ein ›hochnotpeinliches Halsgericht‹ besonderer Art. Zuerst verlangt er dem Delinquenten ein förmliches Schuldbekenntnis ab, dann verweist er ihn auf einen Zweig am Flußrand: »Er gehe hin und hole ihn. Wenn er ihn abzubrechen vermag, so soll er leben dürfen, denn der Zweig ist das Zeichen des Friedens und der Gnade.«92 Die Zeugen, zunächst einigermaßen überrascht über diese leicht zu erfüllende Bedingung, können dann mit ansehen, wie Winnetou den Delinquenten in dem Moment durch den Kopf schießt, in dem dieser die Hand nach dem Zweig ausstreckt. Bemerkenswert ist die Erklärung, die Winnetou dazu abgibt: »Der weiße Mann hat den Zweig nicht gebracht; er muß sterben! Der Geist der Savanne ist gerecht und barmherzig; er gibt nicht Gnade, die in das Verderben führt. Der weiße Mörder wäre getötet worden von den Comanchen, von den Stakemen und aufgefressen von den Coyoten.«93 Hier wird also die Hinrichtung


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gleichsam als ›Gnadenschuß‹ ausgegeben. Die Alternative ›laufen lassen‹ versus ›hinrichten‹ bleibt erhalten, nur die Bewertung ist vertauscht. Die Hinrichtung ist der schnelle Tod, der dem langsamen des Laufenlassens vorzuziehen ist. Ist das nun ein Prozeß, wenn auch ein kurzer? Das Verfahren folgt gewissermaßen dem römischen Rechtssatz ›confessus pro iudicatus est‹, nach dem bei einem formellen Geständnis als einer Selbstverurteilung keine Verhandlung mehr stattfindet.94 Daß die Prozeßform aber nur fingiert ist, erweist die Umkehrung der kausalen Verknüpfung bei der Urteilsvollstreckung (der Delinquent wird nicht hingerichtet, weil er den Zweig nicht bringen konnte, sondern er konnte den Zweig nicht bringen, weil er hingerichtet worden ist). Der Verurteilte wird im alles entscheidenden Augenblick als Verfahrenssubjekt hintergangen. Das widerspricht den Prinzipien des die Richterposition abwehrenden Ich-Erzählers. Aber es setzt sie andererseits auch fort, insofern nun sogar das Urteil über den Delinquenten gleichsam in einem Verwaltungsakt vollzogen wird - nicht nur ohne Mitspracherecht des Betroffenen, sondern auch buchstäblich hinter dessen Rücken.

   Der Betrug wird einleuchtender, wenn man nach Alternativen fragt. Das Todesurteil läßt sich nämlich nicht vertreten oder begründen. Man kann dem Delinquenten nicht ›ins Gesicht‹ sagen, daß er hingerichtet wird, weil ihm der Tod auch gewiß wäre, wenn man ihn laufen ließe, und auf der anderen Seite gibt es keinen Ankläger, der eine Verurteilung zum Tode fordert und auch bereit wäre, das Urteil zu vollstrecken. Der Betrug, dessen durch Fernschuß erlegtes Opfer ein schon nicht mehr Anwesender ist (an dem man sich nicht mehr ›die Hände schmutzig machen muß‹), spiegelt daher genau die grundlegende Aporie der ›Gerichtsverfahren aus dem Stegreif‹, in denen die Alternative ›laufen lassen‹ als nicht gangbar dargestellt wird. Würde man den Delinquenten ohne jeden ›Anschein‹ eines Verfahrens einfach töten, so wäre das ›Mord‹. Umgekehrt erscheint aber ein vorgeschaltetes Verfahren als bloßes Alibi, als scheinbar legitimierter Mord, da der Ausgang des Verfahrens schon feststeht. Denn - um es noch einmal zu sagen - die Gerichtsverfahren, in denen der Ich-Erzähler in irgendeiner Weise als Verfahrensveranstalter auftritt, haben nicht den Zweck, eine Wahrheit ans Licht zu fördern, die Aufklärung eines Sachverhalts zu betreiben (dafür steht dem Ich-Erzähler im Vorfeld das ganze Arsenal ›kriminalpolizeilicher‹ Untersuchungsmethoden zur Verfügung). Es geht nicht einmal mehr darum, den Delinquenten gerichtlich zu beweisen, was beide Seiten ohnehin schon wissen. Das könnte nur zu jener folgenlosen Posse führen, die der Ich-Erzähler sozusagen spaßeshalber im ›Savannengericht‹ unter dem Vorsitz von Sans-ear aufführen läßt. ›Gericht Spielen‹ schlägt in der Darstellung Karl Mays folgerichtig stets ins komische Fach, aber jemanden vom Leben zum Tode zu befördern ist nicht komisch. Die Imitierung eines regulären Verfahrens, zu dessen Begriff die Entscheidungsoffenheit gehört, ist daher keinesfalls statthaft. Dann aber bleiben von der Verfahrensform


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nur noch die Beratung des Urteils und seine Verkündung übrig. Das Verfahren läuft über den Kopf des Angeklagten hinweg. Und hier gibt es noch nicht einmal die Möglichkeit einer Einrede, da der Verurteilte das Urteil nicht kennt.

   Die zweite - explizit Gerichtsszene95 genannte - Episode in demselben Werk, die mit einer Hinrichtung endet, führt die Probleme mit dieser Verfahrensweise und die Schwierigkeit ihrer legitimierenden Darstellung noch einmal vor Augen. Inzwischen hat man die Anführer der Bande von Stakemen und den Erzschurken Fred Morgan samt seinem Sohn Patrik gefangengesetzt. Der Ich-Erzähler schiebt wieder einmal formale Gründe vor, um das ihm angesonnene Richteramt Winnetou übertragen zu können: »Wir sind hier alle Partei, nur Winnetou ist unberührt. Er ist ein Häuptling der Prairie und soll das Wort haben!«96 Dafür kommen die Angeklagten im folgenden nicht mehr zu Wort. Sie sind, schon bevor sie ›totgemacht‹ werden sollen, ›mundtot gemacht‹. Die Verfahrensform, die Winnetou als ein »gerechter Richter über die Söhne der Bleichgesichter«97 einhält, sieht so aus, daß er den die Anklage vertretenden Sans-ear z. B. über den Anführer fragt: »Wer ist dieses Bleichgesicht?« »Der Anführer der Stakemen.« »Das ist genug; er soll sterben! Denken meine Brüder anders?«98 Keiner seiner Brüder macht sich zum Fürsprecher des Delinquenten. Und auch der von Kara Ben Nemsi bei der Gerichtsverhandlung in ›Durch das Land der Skipetaren‹ vertretene Grundsatz, »daß der Richter selbst dem schlimmsten Verbrecher, bevor er ihm das Urteil spricht, die Verteidigung gestatten muß«,99 wird nicht beherzigt. Keine Rede davon, daß das Urteil - wie Kara Ben Nemsi dort erklärt - wegen dieses Verfahrensmangels nichts gelte. Die Delinquenten haben keine Sprache mehr, sie sind degradiert. Lautlos ist auch der Urteilsvollzug nach den Anweisungen des Richters. Da hier wie bei Holfert kein ›Rächer‹ zur Urteilsvollstreckung bereit steht, wird Patrik Morgan (der wie sein Vater der eigenen Exekution durch die Dazwischenkunft der Comanchen entrinnen wird) dazu auserkoren, die zum Tode Verurteilten zu ertränken. Diese waren so fest gebunden, daß sie sich nicht im mindesten zu wehren vermochten. Sie versuchten dies auch gar nicht, und dennoch mußte ich mich abwenden; ich konnte den Blick unmöglich auf die Stätte richten, welche zwei Menschen eines zwar zehnfach verdienten, aber immerhin gewaltsamen Todes sterben sehen sollte.100 Eine psychoanalytische Lektüre mag dieses beim Ich-Erzähler Karl Mays häufiger auftauchende ›zwanghafte Abwenden des Blicks‹ in ein Begehren übersetzen, in einen ›faszinierten Blick‹. Gerade das zeigt aber die rein visuelle Logik dieser Szene. Sie muß lautlos sein, weil man das Ohr nicht wie den Blick in eine andere Richtung lenken kann - man rufe sich nur das so eindringlich beschriebene Brüllen des von Gott gerichteten ›Generals‹ am Schluß vom dritten Band des ›Old Surehand‹ in Erinnerung.101 Würden die Verurteilten ihre Stimme erheben, würden sie den Ich-Erzähler anrufen und um Gnade betteln, so wäre es um die Exekution geschehen. Denn der Ich-Erzähler kann sein Ohr vor diesem


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Anruf - diesem ›Ruf in das Gewissen‹ - nicht verschließen. Daher kann bei Karl May der auf Milde hoffen, der als ein erbärmlicher Feigling um Gnade winselt wie beispielsweise der Erzschurke Abd Asl, als ihm im zweiten Band von ›Im Lande des Mahdi‹ sozusagen das Messer an die Brust gesetzt wird.102

   Daraus resultiert die merkwürdige Dramaturgie dieser Gerichtsszene. Die Hinzurichtenden dürfen sich weder innerhalb des Verfahrens als Rechtssubjekte verteidigen noch außerhalb des Verfahrens an den Ich-Erzähler als Gnadeninstanz appellieren. Sie müssen - von der Darstellungslogik des Textes her - ihrer Sprachwerkzeuge beraubt werden. Das stellt sie den Tieren gleich. Und dementsprechend vollzieht sich die Hinrichtung - die Stakemen werden ersäuft wie überzählige Tiere;103 Holfert bekommt den ›Gnadenschuß‹ wie ein verletztes Tier, dem man eine qualvolle Agonie ersparen will.104



V


In dem ›Gnadenschuß‹, mit dem Holfert ›gerichtet‹ wird, liegt die Essenz der Verfahrensfrage. Das vorgebliche Gottesurteil mit seiner sophistischen Rechtfertigung umgeht die Minimalbedingung der Verfahrensform. Der ›Gnadenschuß‹ ereilt sein Opfer ›ohne Vorwarnung‹, mitten im Lauf, als unvorhergesehener Einbruch der Gewalt. Damit ist gegen ein Prinzip verstoßen, das der Ich-Erzähler der Abenteuerromane ansonsten einhält. Jedem Leser Karl Mays wird geläufig sein, daß das Geschäft des Warnens vom Helden in verschiedenen Zusammenhängen überaus häufig verrichtet wird. Die Warnung kann in eine Drohung übergehen, etwa wenn jemand unter vorgehaltener Waffe zum Sprechen gebracht wird. Dann ist sie Mittel zum Zweck. Aber die Warnung geht in dieser Funktion nicht auf. Sie funktioniert auch als ein formaler Akt, mit dem sich das sprechende Subjekt zu einer Gewaltmaßnahme autorisiert. Man kann auch sagen: Mit der Warnung erklärt sich der Ich-Erzähler für ›berechtigt‹, im Falle der Zuwiderhandlung auf eine bestimmte Weise zu ›verfahren‹. Im Grunde hat jedes ›Laufenlassen‹ eines Delinquenten den Charakter einer solchen Warnung. Am Ende des ersten ›Old Surehand‹-Bandes z. B. wird der ›General‹ für ein ›todeswürdiges‹ Verbrechen zu einer (bezeichnenderweise vom Mittäter Old Wabble zu vollstreckenden) Prügelstrafe verurteilt. Und dem Urteil wird die Warnung hinzugefügt: »Wer sich dann wieder hier sehen läßt, wird erschossen.«105

   Wer Gnade vor Recht ergehen läßt, verbindet diese Nachsicht mit der Warnung, daß es beim nächsten Mal anders kommen könnte. Einen Status als Verfahrensbestandteil haben Warnungen insofern, als sie vor einer Aktion warnen, die gegebenenfalls von dem Warnenden selbst ausgeht. Zugleich spricht sich der Warnende damit die Eigenschaft zu, die Situation zu


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kontrollieren, d. h. die Mittel zu besitzen, die Ankündigung auch wahr zu machen. Die Verschränkung dieser beiden Aspekte läßt sich anhand einer Stelle aus dem zweiten Band von ›Im Lande des Mahdi‹ illustrieren, die überdies vor Augen führt, daß man mit dem formalen Akt der Warnung durchaus betrügen kann. Kara Ben Nemsi sieht bei einem gerichtlichen Zweikampf mit Messern voraus, daß der Gegner Ben Nils, seines jungen Gefährten, die Gelegenheit zur Flucht benutzen wird. Auf seine kurze Warnung106 an diesen Gegner, seine Beine in acht zu nehmen, antwortet dieser herablassend, daß sein Gegner ihn wohl kaum in die Beine stechen wolle. Beim Fluchtversuch bekommt er dann eine Kugel ins Bein, und der Ich-Erzähler belehrt ihn: »Du lachtest mich aus, als ich dich warnte. Und doch hatte ich recht, als ich dich aufforderte, auf deine Beine acht zu haben. Du erkennst von neuem, daß es nicht allzu leicht ist, einen christlichen Effendi zu überlisten.«107

   Die Warnung stellt eine spezifische Art von ›Verfahrensgerechtigkeit‹ her, die sicherstellt, daß der Gegenstand der jeweiligen Maßnahme nicht unvorbereitet von dieser betroffen wird. Wer sie ausspricht, erklärt sich damit zum Herrn der Situation, auch wenn die anderen, die er dominiert, das anders sehen mögen. Die Dominanz realisiert sich aber nicht nur in der Macht, die Warnung auszusprechen und sie wahrzumachen. Denn die Warnung enthält keine Verpflichtung dazu, sie gegebenenfalls wahrzumachen. Sie ist kein Versprechen - kein Verfahrensschritt, mit dem man sich bindet -, sondern eine Art Freibrief. Man kann zum Beispiel mehr als einmal Gnade vor Recht ergehen lassen, wie sich am Verhalten des Ich-Erzählers gegenüber Old Wabble in den ›Surehand‹-Bänden beispielhaft ersehen läßt.

   Die Warnung ist zwar ein ›Verfahrensschritt‹, der gesetzlich vorgeschrieben sein kann - der Polizist muß den Flüchtenden warnen, bevor er schießt -, aber in ihm wird kein ›Gesetz‹ formuliert. Eher geht es um die Mißachtung eines ›Befehls‹, um die Zuwiderhandlung und den Ungehorsam. Das ist die Sphäre, die man eine Zeitlang unter dem Begriff des ›Verwaltungsstrafrechtes‹ subsumiert hat.108 Das ist die Sphäre, die der Ich-Erzähler Karl Mays in den Abenteuerroman einbringt (als Gegenstück zur korrupten Verwaltung, der er in den Orientromanen begegnet). Das immer wieder von Romanfiguren in Anspruch genommene Gesetz der Wüste, der Pampa oder der Savanne mag zwar das der Wiedervergeltung, der gerechten Rache sein, deren Durchsetzung sich in einen ›kurzen Prozeß‹ einkleidet. Der Ich-Erzähler aber führt mit dem Prinzip der Warnung ein anderes ›Gesetz‹ ein, das Gesetz des Aufschubs (das mit dem Strukturgesetz des Abenteuerromans vollkommen harmoniert).

   Nach diesem Gesetz gibt es keine gerichtlichen Verhandlungen, die bindende Entscheidungen hervorbringen. Höchstens können gerichtliche Entscheidungen ihrerseits als Warnungen fungieren, wie vieles andere auch. Denn eine Warnung ist mehr als ein Sprechakt. Alles mögliche kann


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durch begleitende Sprechakte mehr oder minder explizit zur Warnung erklärt werden. Warnungen sind relativ, und man muß sie verstehen. Man kann vor einem Beinschuß warnen, aber man kann auch den Beinschuß als eine Warnung verstehen. Schließlich wurde nicht auf den Kopf gezielt. Der Gewarnte kann daher zum Adressaten weiterer Warnungen werden. Solange man nicht tot ist, kann man noch gewarnt werden. Das Gesetz des Aufschubs, die allgemeine Idee der Warnung als einer Art Verfahrensgerechtigkeit ist daher bei Karl May mit der Konzeption des Letzten Gerichtes verknüpft. In seiner Theologie wird die bekannte Weisheit, daß es zur Reue nie zu spät ist, auf die Spitze getrieben. Karl May hat nicht nur christliche Abenteuerromane geschrieben, sondern er hat dabei auch die Affinität der Gattung Abenteuerroman zum Christentum zum Vorschein gebracht. Am Ende des zweiten ›Old Surehand‹-Bandes wird der Ich-Erzähler aufgefordert, Old Wabble das Urteil sprechen. Und er sagt: »Ja, ich werde es sprechen.« Das Urteil lautet aber auf einen Aufschub besonderer Art: »ich werde ihm aber Gelegenheit geben, zu erfahren, daß jede Sekunde des Lebens einen Wert hat, an den alle Reichtümer der Erde nicht reichen. Er soll um eine einzige Minute der Verlängerung seines Lebens zu Gott wimmern; wenn er sich nicht bekehrt, soll seine Seele zetern aus Angst vor der göttlichen Gerechtigkeit ...«109 Und als diese Warnung gegen Ende des dritten Bandes Wirklichkeit wird, kann sie der Ich-Erzähler noch wörtlich zitieren.110 Man versteht dieses Gesetz des Aufschubs aber nur, wenn man sieht, daß es sich auf den Ich-Erzähler selbst anwenden läßt - nur eben in ganz und gar diesseitiger Form. Der Ich-Erzähler warnt nicht nur, er wird auch gewarnt. Und bekanntlich befindet er sich ja nur allzuoft in der Gewalt der Erzschurken, die mit ihm ähnlich grausam ›verfahren wollen‹ wie die Indianer mit Old Wabble. Der Tod soll den gefangenen Helden von vorn ereilen, als die Exekution eines Urteils, nicht von hinten durch eine Kugel in den Kopf. Er soll sich auf seinen Tod vorbereiten können wie Old Wabble - aber aus entgegengesetzten Motiven. Das Gesetz des Aufschubs ist in dieser Hinsicht wertneutral. Solange das Urteil noch nicht vollstreckt ist, solange noch eine Minute Frist bleibt, ist noch Rettung möglich. Und so wie diejenigen, die ihr Urteil am Helden vollstrecken wollen, nicht an seiner Seele interessiert sind, so geht es auch diesem selbst nicht um die Rettung seiner Seele, sondern seines Lebens. Es gäbe keinen Abenteuerroman, wenn es anders wäre.



1 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 1: Durch die Wüste. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988

2 Ebd., S. 54

3 Ebd. S. 63

4 Ebd.

5 Ebd., S. 65

6 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie.


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Studienausgabe herausgegeben von Johannes Winckelmann. Köln-Berlin 1964, S. 25

7 May: Durch die Wüste, wie Anm. 1, S. 64

8 Ebd., S. 67

9 Ebd., S. 69

10 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 14: Winnetou III. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1991, S. 244

11 Ebd., S. 245f.

12 May: Durch die Wüste, wie Anm. 1, S. 58

13 Ebd., S. 145

14 Ebd., S. 146

15 Ebd., S. 144

16 Ebd., S. 143; bei einer anderen Episode in ›In den Schluchten des Balkan‹, die ganz ähnlich verläuft (das ›Verhör‹ des Kriminalrichters besteht aus einer einzigen Frage, von einem Erzwingungsstab keine Spur, nachträgliches Vorzeigen des Reisescheins usw.), wird das Motiv des eingetrockneten Tintenfasses entfaltet. (Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 4: In den Schluchten des Balkan. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 264-69.)

17 May: In den Schluchten des Balkan, wie Anm. 16, S. 498

18 Ebd., S. 499

19 Ebd.

20 Ebd., S. 500

21 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 14: Der verlorne Sohn I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1995, S. 105

22 Man kann durch einen Justizirrtum zum Abenteurer werden; wenn man aber zum Abenteurer geworden ist, kann man nicht mehr Opfer eines Justizirrtums werden; als Abenteurer kann man höchstens zu dumm gewesen sein, um sich der Justiz zu entziehen.

23 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 5: Durch das Land der Skipetaren. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 9

24 Ebd., S. 11

25 Die Verfertigung des gerichtlichen Protokolls wird auch hier implizit in Zweifel gezogen: Zwischen ihm und seinem Nachbar stand ein kleiner Topf. Da eine Gänsefeder in demselben steckte, so vermutete ich, daß er die Tinte enthalte. (Ebd., S. 10)

26 Ebd., S. 17

27 Ebd., S. 17f.

28 Ebd., S. 16

29 Ebd., S. 100-104; in ›Winnetou III‹ (wie Anm. 10, S. 208-13) kehrt Old Shatterhand, als bei den Comanchen »Gericht über ihn gehalten werden soll«, die Situation um, indem er erst von ihm gezeichnete Porträtskizzen der Häuptlinge mit seinem Gewehr in die Luft zu schießen droht und dann zwei in die Sonne geworfene Knöpfe durch zwei Schüsse wieder herunterholt.

30 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII: Im Reiche des silbernen Löwen II. Freiburg 1898

31 Ebd., S. 129

32 Ebd., S. 128

33 So heißt es in ›In den Schluchten des Balkan‹, wie Anm. 16, S. 497, wo dasselbe Motiv in bezug auf den Kodscha Bascha vorkommt.

34 May: Im Reiche des silbernen Löwen II, wie Anm. 30, S. 128

35 Ebd., S. 129

36 Ebd., S. 137


//189//

37 Ebd., S. 140

38 Dort gab man den Ketzern oft Gelegenheit, nach der Urteilsverkündung und der Verlesung ihrer Irrlehren öffentlich zu diesen Stellung zu nehmen. Der Inquisitor mußte dabei freilich beanspruchen, die Irrlehre nicht nur verurteilen, sondern auch widerlegen zu können. Daraus konnte sich ein Disput entwickeln, bei dem sich der Inquisitor bemühen mußte, nicht schlecht dazustehen. Vgl. Paul Flade: Das römische Inquisitionsverfahren in Deutschland. Leipzig 1902, S. 107f.

39 May: Im Reiche des silbernen Löwen II, wie Anm. 30, S. 141

40 Ebd., S. 142

41 Ebd., S. 147f.

42 Ebd., S. 152

43 Ebd., S. 160

44 Ebd.

45 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 7: Am Rio de la Plata. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 179

46 Ebd., S. 178

47 Ebd.

48 Ebd., S. 181

49 Ebd., S. 185

50 Ebd.

51 Ebd., S. 186

52 Ebd., S. 185f.

53 Reinhard Tschapke: Werkartikel ›Am Rio de la Plata‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 231

54 May: Am Rio de la Plata, wie Anm. 45, S. 191

55 Ebd., S. 201

56 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt a. M. 21987, S. 123

57 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 6: Der Oelprinz. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992, S. 79

58 Ebd.

59 Ebd.; vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 56, S. 114: »Es übersteigt bei weitem das Fassungsvermögen seiner Begleiter, wenn Shatterhand / Kara Ben Nemsi mit monotoner Regelmäßigkeit auch die gefährlichsten Gegner, deren er habhaft wird, wieder laufen läßt (...).«

60 Vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 56, S. 115.

61 Vgl. ausführlich Wolfgang Hammer: Die Rache und ihre Überwindung als Zentralmotiv bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1994. Husum 1994, S. 51-85.

62 Dies war im weltlichen Inquisitionsverfahren der frühen Neuzeit der einzige öffentliche Abschnitt des Verfahrens. Die ›Hegung des hochnotpeinlichen Halsgerichtes‹ auf dem ›endlichen Rechtstag‹ fand nur statt, wenn eine Todesstrafe zu verkünden war (das Urteil ›an den Hals ging‹). Vgl. dazu Wolfgang Schild: Der »entliche Rechtstag« als das Theater des Rechts. In: Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina. Hrsg. von Peter Landau/Friedrich-Christian Schroeder. Frankfurt a. M. 1984, S. 119-44.

63 Natürlich gilt dies nur nominell: In der mittelalterlichen Ketzerinquisition etwa war die Verbrennung eine ›Übergabe an den weltlichen Arm‹, der dann die Hinrichtung vollzog. Vgl. etwa Henry Charles Lea: Die Inquisition. Frankfurt a. M. 1992, S. 90ff.

64 May: Winnetou III, wie Anm. 10, S. 102f.


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65 Ebd., S. 103

66 Ebd., S. 104

67 Ebd.

68 Ebd., S. 106

69 Ebd.

70 Ebd., S. 107

71 Ebd., S. 108

72 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 8: In den Cordilleren. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 76

73 Ebd.

74 Ebd.

75 Ebd., S. 77

76 Ebd., S. 83

77 Vgl. für weitere Beispiele Schmiedt: Karl May, wie Anm. 56, S. 115.

78 May: In den Cordilleren, wie Anm. 72, S. 450

79 Ebd.

80 Ebd.

81 Ebd., S. 451

82 Ebd.

83 Ebd.

84 Ebd., S. 489

85 Karl May: Deadly dust. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80)

86 Vgl. dazu auch Hammer, wie Anm. 61, S. 60f.

87 Vgl. Helmut Schmiedt: Werkartikel ›Winnetou I-III‹. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 53, S. 216.

88 May: Winnetou III, wie Anm. 10, S. 148

89 Ebd., S. 152

90 Ebd.

91 Ebd.

92 Ebd., S. 153

93 Ebd.

94 Vgl. Wolfgang Kunkel: Prinzipien des römischen Strafverfahrens. In: Wolfgang Kunkel: Kleine Schriften. Weimar 1974, S. 11-32.

95 May: Winnetou III, wie Anm. 10, S. 182

96 Ebd., S. 178

97 Ebd. S. 179

98 Ebd.

99 May: Durch das Land der Skipetaren, wie Anm. 23, S. 17f.

100 May: Winnetou III, wie Anm. 10, S. 180

101 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 564f.

102 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVII: Im Lande des Mahdi II. Freiburg 1896, S. 341

103 May: Winnetou III, wie Anm. 10, S. 180

104 Ebd., S. 153

105 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 641

106 May: Im Lande des Mahdi II, wie Anm. 102, S. 87

107 Ebd., S. 87f.

108 Vgl. grundlegend James Goldschmidt: Das Verwaltungsstrafrecht. Eine Untersuchung der Grenzgebiete zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht. Berlin 1902.

109 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895, S. 646f.

110 May: Old Surehand III, wie Anm. 101, S. 491




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