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DIETER SUDHOFF

Obsessionen eines Malers
Rudolf Schlichter und Karl May



Was war das für ein Mensch? (...) Er hatte eigene Gedanken und Worte, er lebte wärmer und freier, litt seltsame Leiden und schien seine ganze Umgebung zu verachten. Er verstand die Schönheit der alten Säulen und Mauern. Und er trieb die geheimnisvolle, sonderbare Kunst, seine Seele in Versen zu spiegeln und sich ein eigenes, scheinlebendiges Leben aus der Phantasie zu erbauen. Er war beweglich und unbändig (...). Er war schwermütig und schien seine eigene Traurigkeit wie eine fremde, ungewöhnliche und köstliche Sache zu genießen.

Hermann Hesse, Unterm Rad (1906)



Als 1984 die Staatliche Kunsthalle Berlin die erste große Retrospektive Rudolf Schlichters veranstaltete,1 wurde ein Maler, Graphiker, Illustrator und Schriftsteller wieder ins Licht der interessierten Öffentlichkeit gerückt, der nach seinem Tode im Jahre 1955 in nahezu völlige Vergessenheit geraten war. Zwar waren Teile seines Werkes, besonders aus dem Bereich der Porträtmalerei, schon in früheren Jahren auf allen wichtigeren Ausstellungen zum Realismus und zur Kunst der Weimarer Zeit zu sehen gewesen,2 doch bot sich erstmals in Berlin die Gelegenheit, Einblick in das vielfältige Gesamtwerk Schlichters zu gewinnen, von seinen futuristischen und dadaistischen Anfängen bis zum surrealistischen Spätwerk, mit dem Hauptakzent auf seinen zahlreichen und bedeutenden veristischen Arbeiten der zwanziger Jahre, die ihn in der Kunstgeschichte neben George Grosz, Otto Dix, Karl Hubbuch und Christian Schad einreihen.

   Die Berliner Retrospektive, die auch zahlreiche May-Bezüge eröffnete, war für mich der äußere Anlaß zu einem ersten Aufsatz über ›Rudolf Schlichter und Karl May‹, der noch im selben Jahr in den ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ erschien.3 Damit hätte es sein Bewenden haben können, alles Wichtige schien gesagt, doch ist das (nicht nur kunsthistorische) Interesse an diesem eigentümlichen Maler seither erfreulicherweise nicht mehr erlahmt und hat einige neue, teils überraschende Ergebnisse erbracht, die es wohl rechtfertigen, sich hier erneut dem Thema zuzuwenden. Anfang der neunziger Jahre gab Curt Grützmacher in der Berliner Edition Hentrich die beiden zuerst 1931 und 1933 im Ernst Rowohlt Verlag er-


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schienenen Bände der Autobiographie Schlichters, ›Das widerspenstige Fleisch‹ und ›Tönerne Füße‹, in sorgfältigen Neueditionen heraus,4 und 1995 legte Dirk Heißerer - gewissermaßen als Ersatz für den fehlenden dritten Band - ebenda die kommentierte Sammlung ›Die Verteidigung des Panoptikums‹ vor, mit teilweise zum ersten Mal veröffentlichten autobiographischen, zeit- und kunstkritischen Schriften sowie Briefen der Jahre 1930 bis 1955.5 Vor allem dieser Band ist auch aus unserer Sicht hochbedeutsam, erweist sich darin doch, daß Schlichters Obsession für Karl May tatsächlich noch weit länger währte als bisher schon von uns angenommen - wenn sie sich auch in einer Weise fortsetzte, die nicht nach dem Geschmack der meisten May-Freunde sein dürfte. Von der Wiederentdeckung des Malers und Schriftstellers Rudolf Schlichter zeugen schließlich gerade in den letzten Jahren mehrere Neuausgaben seiner Schriften und Zeichnungen, nicht zuletzt auch die ausführlich kommentierte Edition seines Briefwechsels 1935-1955 mit dem späten Freund Ernst Jünger.6 An den überaus produktiven Buchillustrator erinnerte zudem im Herbst 1998 eine Ausstellung in seiner Heimatstadt Calw.7 Den vorläufigen Höhepunkt in der Rezeption Schlichters aber bildete zuletzt eine zweite große Retrospektive seiner Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die 1997/98 in Tübingen, Wuppertal und München zu sehen war.8 Hätte es überhaupt noch einer weiteren Anregung zur erneuten Beschäftigung mit dem Maler bedurft, in den Räumen dieser Ausstellung wäre sie zu finden gewesen.

   Beide Schlichter-Retrospektiven veranschaulichten eindrucksvoll, daß es neben dem Großstadt-Motiv vor allem zwei Themen waren, die den Maler in seinen ersten Schaffensphasen wie unter Zwang zu künstlerischer Auseinandersetzung drängten: seine eigene etwas abwegige und sadistisch-masochistisch gefärbte Sexualität9 und seine nicht zuletzt von Karl May genährte Wildwest-Leidenschaft. Schlichters May-Vorliebe wurde schon lange vor seiner kunsthistorischen Wiederentdeckung vom - jedenfalls in dieser Hinsicht - geistesverwandten Carl Zuckmayer kolportiert, der ihn in seiner Autobiographie den »gründlichste(n) Karl-May-Forscher dieser Zeit« (um 1920) neben Ernst Bloch und sich selbst nennt.10 Die etwas hochgestapelte Bemerkung verdeckt freilich, daß diese Trias der »Karl-May-Forscher« (zu denen sich noch George Grosz, Egon Erwin Kisch, Leonhard Frank und andere gesellen ließen) doch einen eher naiven, nostalgisch-verklärten oder revolutionär-abenteuerlichen Zugang zu May besaß - womit sich die drei nicht allzu sehr und wesentlich nur im Grade von den vielen May-Begeisterten der Zeit unterschieden. Beachtenswert für die Rezeptionsgeschichte Karl Mays aber ist ihr Enthusiasmus in jedem Fall, besonders dann, wenn er sich auch in ihrem künstlerischen Werk niederschlug. Von Rudolf Schlichter läßt sich sogar sagen, daß außer Sascha Schneider wohl kein bildender Künstler von Rang ein so enges, auch konfliktreiches Verhältnis zu dem ›Radebeuler Phantasten‹ ent-


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wickelte wie er.11 Angeblich soll er »den ganzen Karl May fast auswendig« gekannt haben.12

   Die folgenden Ausführungen beruhen im ersten Teil auf meinem Aufsatz von 1984, der jedoch gründlich überarbeitet und um neuere Erkenntnisse erweitert wurde; im zweiten Teil wird Material vorgestellt, das mir damals noch unbekannt oder unzugänglich war und das meine voreilige Annahme korrigiert, Schlichter habe Karl May in den dreißiger Jahren gänzlich aus den Augen verloren. Vielleicht wäre es manchem lieber, es wäre so gewesen, denn am Ende wurde es - zumindest auf einem Auge - ein ›böser Blick‹.

   Für die Idee, ein zweites Mal das Verhältnis Rudolf Schlichters zu Karl May zu besichtigen, und für manche weitere Unterstützung danke ich Herrn Ruprecht Gammler, Bonn. Daneben gilt mein besonderer Dank Herrn Dr. Dirk Heißerer, München, Herrn Helmut Bauer, München, Herrn Dipl.-Ing. Alexander Perrot, Pforzheim, und Herrn Dr. Klaus Rudolf Wenger, Straßburg, die mir mit wichtigen Hinweisen halfen. Frau Viola Roehr-v. Alvensleben, München, danke ich für die Erlaubnis zum Abdruck der Texte und Bilder Schlichters, für Bildvorlagen Frau Dr. Dorothee Höfert (Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe), Frau Susanne Becker (Galerie Brockstedt, Hamburg), Frau Dr. Ulrike Gauss (Staatsgalerie Stuttgart) und Herrn Volker Huber (Galerie Huber, Offenbach am Main).



BIOGRAPHISCHE DATEN


1890Am 6. Dezember wird Rudolf Schlichter als jüngstes von sechs Kindern des katholischen Lohngärtners Franz Xaver Schlichter (1852-1893) und der evangelischen Näherin Rosine Pauline, geb. Schmalzried (1857-1942) im Gartenhaus der Villa Doertenbach in der württembergischen Kleinstadt Calw geboren.
1893Nach dem frühen Tod des Vaters und einer Schwester zieht die Mutter mit ihren fünf Kindern, den Töchtern Klara und Gertrud und den Söhnen Max, Franz und Rudolf, ins ›Biegel‹, eine kleine Calwer Gasse.
1895Umzug in das große Haus des Uhrmachers Louis Rist und des Bäckers Heugle an der Nikolausbrücke in Calw
1896 - 1904Katholische Volksschule und Lateinschule (bis zur sechsten Klasse) in Calw


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1904 - 1906Lehre als Emailmaler in der Pforzheimer Schmuckfabrik Herion; Schlichter wohnt aber weiterhin in Calw bei der Mutter.
1906 - 1909Kunstgewerbeschule in Stuttgart; Schlichter wohnt bei seiner Schwester Gertrud und ihrem Mann, dem Kaufmann Karl Wassmannsdorff, im Vorort Zuffenhausen.
1910 - 1911Vorbereitung auf die Akademie in der Karlsruher Malerschule von Ludwig Wilhelm Plock
1911 - 1916Studium an der Großherzoglichen Badischen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe; Schlichter wohnt mit seiner Mutter bei der ältesten Schwester Klara und ihrem Mann Emil, einem Bäcker, im ›Dörfle‹, dem Armenviertel der Stadt. Studienkollegen sind u. a. Willi Egler, Egon Itta (in der Autobiographie gen. Egon T.), Julius Kasper (gen. Zack, auch Juller), Willi Müller-Hufschmid (gen. Willy N.), Wladimir Lukianowitsch Zabotin (gen. Wladimir Stepanowitsch Nikenin). Studium: zwei Jahre Zeichenklasse bei Walter Georgi, zwei Jahre Malklasse bei Caspar Ritter (verm. gen. Herzog), anschließend Meisterschüler bei Ritter und Wilhelm Trübner, Abendakt bei Hans Thoma; bei Walter Conz erlernt Schlichter die Techniken der Radierung und der Lithographie. Verschiedene Studienreisen ins Ausland (Mailand, Venedig, Straßburg); über den Libertin Julius Kasper Kontakte zur Unterwelt; Zusammenleben mit der Gelegenheitsprostituierten ›Fanny Hablützel‹ und Verkauf pornographischer Graphik, meist unter dem Pseudonym ›Udor Rétyl‹
1916 - 1917Einziehung zum Militärdienst; 1917: Munitionsfahrer an der Westfront. Nach einem Hungerstreik Abschiebung in ein Heimatlazarett
1918Soldatenrat in Karlsruhe
1919Januar / Februar: Erste Ausstellung, zusammen mit dem russischen Freund Wladimir Zabotin, in der Karlsruher Galerie Moos; Frühjahr: Mitbegründer der ›Gruppe Rih‹ in Karlsruhe, zusammen mit Zabotin, Itta, Georg Scholz (gen. Wolfgang Fuchs), Walter Becker, Oskar Fischer und Eugen Segewitz; im April erste Gruppenausstellung in der Galerie Moos; Spätsommer: Übersiedlung nach Berlin; Schlichter wird Mitglied der ›Novembergruppe‹ und der Berliner Secession. Er schließt sich den Berliner Dadaisten um George Grosz, Wieland Herzfelde, John Heartfield und Raoul Hausmann an.


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1919 - 1927Mitglied der KPD; extraordinäre, teilweise kriminelle Revolutionseskapaden (»Expropriationen«); zeitweises Zusammenleben mit der Prostituierten ›Jenny‹ (seit etwa 1922)
1920Mai / Juni: Erste Einzelausstellung in der Galerie Dr. Otto Burchard am Lützowufer in Berlin; Juli / August: Teilnahme an der von Grosz, Heartfield und Hausmann veranstalteten ›Ersten Internationalen Dada-Messe‹ in der Galerie Burchard; in den folgenden Jahren Illustrationsaufträge von mehreren Verlagen (u. a. Verlag Richard Weissbach, Gustav Kiepenheuer Verlag, Orchis Verlag, O. C. Recht Verlag, Malik-Verlag, Elena Gottschalk Verlag)
1922Illustrationen zu Charles Sealsfields ›Das blutige Blockhaus‹ (Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam)
1924Illustrationen zu Bret Hartes ›Kalifornischen Erzählungen‹ (Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam); Juni: Gründungsmitglied und Schriftführer der ›Roten Gruppe‹, einer ›Vereinigung kommunistischer Künstler‹ in Opposition zur ›Novembergruppe‹; weitere Mitglieder u. a.: George Grosz (Präsident), John Heartfield, Otto Dix und Otto Schmalhausen; Schlichters Adresse wird mit Berlin-W. 30 (Schöneberg), Neue Winterfeldstraße 17a, angegeben. Kontakte zu zahlreichen Linksintellektuellen, darunter Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Erich Kästner, Egon Erwin Kisch und Oskar Maria Graf; Beteiligung an der ersten deutschen Kunstausstellung in der UdSSR
1925Beteiligung an der Ausstellung ›Neue Sachlichkeit‹ in der Städtischen Kunsthalle Mannheim
1927Beteiligung an der Ausstellung ›Das Problem der Bildnisgestaltung in der jungen Kunst‹ in der Galerie Nierendorf, Berlin; folgenreiche Begegnung mit der späteren Frau Speedy (Elfriede Elisabeth Koehler, 1. 9. 1902 - 3. 3. 1975), einer Kokotte und Filmstatistin (›Die freudlose Gasse‹, 1925) aus Genf, im Restaurant des Bruders Max; fundamentale Krisis; unter Speedys Einfluß Beginn des Rückzugs aus dem politischen Leben und der Rückkehr zur katholischen Kirche (»geistige Wandlung und Umkehr«)
1928Eingeschriebenes Mitglied der ›Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands‹ (ASSO); Einzelausstellung ›Rudolf Schlichter‹ in der Galerie Neumann-Nierendorf in Berlin


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1929Kontakte zu Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Arnolt Bronnen, Ernst Niekisch und anderen Nationalisten; 23. Dezember: Heirat mit Speedy (im selben Jahr Nebendarstellerin im Film ›Das Tagebuch einer Verlorenen‹ von Georg Wilhelm Pabst); einer der Trauzeugen ist George Grosz.
1931Frühjahr: Im Ernst Pollak Verlag Berlin-Charlottenburg erscheint ›Zwischenwelt. Ein Intermezzo‹, die Geschichte der Beziehung zu Speedy, vom Verlag annonciert als »das leidenschaftliche Bekenntnis einer erotisch abwegigen Natur«. November: Der erste Band der Autobiographie, ›Das widerspenstige Fleisch‹, erscheint im Berliner Ernst Rowohlt Verlag, vordatiert auf 1932.
1932Schlichter verläßt »großstadtmüde« Berlin und zieht sich in die schwäbische Bischofsstadt Rottenburg am Neckar (bei Tübingen) zurück; Wohnung in der Seebronner Straße 1/II, gegenüber dem Dom.
1933»Abschneidung jedes öffentlichen Wirkens«; der zweite Band der Autobiographie, ›Tönerne Füße‹, kann noch erscheinen, wird aber im Juli vom ›Kampfbund für Deutsche Kultur‹ zusammen mit dem ersten Band als »pervers-erotische Selbstdarstellung« auf die ›Schwarze Liste für öffentliche Büchereien und gewerbliche Leihbüchereien‹ gesetzt. Ende des Jahres werden beide Bücher auch offiziell ›ausgemerzt‹.
19351. Juni: Beginn des Verfahrens zum Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer wegen der beiden autobiographischen Bücher und der Zeichnung ›Goliath verhöhnt das Volk Israel‹ in der ›Jungen Front‹ (1934), einer katholischen ›Wochenzeitung junger Deutscher‹; 1. Oktober: Ausschluß aus dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller und der Reichsschrifttumskammer
19361. April: Umzug nach Stuttgart, Neue Weinsteige 5; November: Weitgehend geheimgehalten eröffnet Schlichter in den Räumen der Privatkunstsammlung von Hugo Borst in Stuttgart eine Ausstellung seiner Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle.
1937Verweis der Reichskammer der Bildenden Künste wegen des allegorischen Bildes ›Blinde Macht‹; aus den Museen werden siebzehn Werke Schlichters entfernt, in der Münchener Ausstellung ›Entartete Kunst‹ ist er mit vier graphischen Blättern vertreten.


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193827. Januar: Ausschluß aus der Reichskammer der Bildenden Künste; November: aufgrund anonymer Verleumdungen wegen »unnationalsozialistischer Lebensführung« und »Kuppelei« inhaftiert (weil das Ehepaar Schlichter mit zwei jungen Freunden, den katholischen Juristen Otto Blessing und Dieter Sekler, zusammenwohnt); Anfang 1939 Verurteilung zu zwei Monaten Gefängnis, verbüßt durch dreimonatige Untersuchungshaft in Stuttgart
1939Januar: Wiederaufnahme in die Reichskammer der Bildenden Künste; April: Übersiedlung nach München, Pettenkoferstraße 25/III; in den folgenden Jahren Kontakt zu einem Kreis maßgeblicher Katholiken, die sich um die (1941 verbotene) Zeitschrift ›Hochland‹ und ihren Herausgeber Carl Muth in München-Solln gruppieren, darunter die christlichen Philosophen Theodor Haecker und Alois Dempf. 1943 lernt Schlichter hier auch den Studenten Hans Scholl kennen.
1940Beginn der Arbeit an einem Illustrationszyklus zu ›Tausendundeine Nacht‹
194219./20. September: Verlust von Wohnung und Atelier durch einen Bombenangriff; ein Teil der Werke verbrennt. Notwohnungen in Althengstett bei dem befreundeten Calwer Fabrikanten Heinrich Perrot und in München, Fraunhoferstraße 38/I
1943Januar: Umzug nach München-Laim, Egetterstraße 17/II, der letzten Wohnung; zeitweises Zusammenleben des Ehepaars mit dem jungen Medizinstudenten Horst Richard Münnich
1946Beteiligung an der ›Ersten Deutschen Kunstausstellung‹ in Dresden, in der Schlichter mit seinem surrealistischen Spätwerk an die Öffentlichkeit tritt. Gründung der ›Neuen Gruppe‹ in München (mit Edgar Ende u. a.)
1947Juni / Juli: Erste Ausstellung der ›Neuen Gruppe‹ in der Städtischen Galerie München; Schlichter stellt in den folgenden Jahren regelmäßig im Rahmen der ›Neuen Gruppe‹ in der ›Großen Münchner Kunstausstellung‹ (Haus der Kunst) aus und beteiligt sich an Ausstellungen in München, Stuttgart, Mannheim, Köln, Heidelberg, Konstanz und anderen Städten.
1949Illustrationen zu Friedrich Gerstäckers Erzählungen ›Aus dem Wilden Westen‹ (Verlag Deutsche Volksbücher, Rottenburg am Neckar); die Schrift ›Das Abenteuer der Kunst‹ er-


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scheint im Ernst Rowohlt Verlag, Stuttgart-Hamburg-Baden-Baden. Schlichter begründet darin und in zahlreichen Artikeln seine Hinwendung zum Surrealismus und verurteilt die einseitige Vorherrschaft der abstrakten Malerei.
1953Februar - April: Ausstellung ›Rudolf Schlichter‹ in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München
1955April: letzte Ausstellung zu Lebzeiten im Kunstverein München; gezeigt werden u. a. die Illustrationen zu ›Tausendundeine Nacht‹. Am 3. Mai stirbt Rudolf Schlichter an einer Urämie als Folge einer Darmkrebsoperation in einem Münchener Krankenhaus. Begräbnis am 6. Mai auf dem Waldfriedhof (Alter Teil, Grabstätte 108-W-69, 1984 aufgelassen und neu belegt)



I.


Rudolf Schlichter wuchs, wie vor ihm schon der dreizehn Jahre ältere Hermann Hesse, im schwäbischen Pietistenstädtchen Calw an der Nagold auf.13 Es waren die »Kindheits- und Jugenderfahrungen in einer proletarischen und subproletarischen Umgebung einer verlogenen Kleinstadtidylle im wilhelminischen Deutschland«, die in ihm früh die »Sehnsucht nach Abenteuer und großer Welt« schürten.14 Beflügelt wurde das »brennende Interesse« an den »fernen mysteriösen Welten der Historie und Exotik« durch Erzählungen vom ruhmreichen Schicksal des Onkels Wilhelm, eines Bruders der Mutter, der 1870 nach Nordamerika ausgewandert war und fünf Jahre als Soldat der US-Miliz »im fernen Westen« gewesen sein soll, wo er den »letzten großen Indianerkrieg gegen den Siouxhäuptling Sitting Bull im Jahre 1876« mitmachte und »verschiedene Scharmützel gegen die vereinigten Dakotas« unter dem prominenten Kommando von Major Reno, Texas Jack und Oberst Cody alias Buffalo Bill erlebte.15 Mag der Wahrheitsgehalt dieser Familienlegende auch mehr als fragwürdig sein, so versteht man doch, wie sehr dem jungen Rudolf Schlichter eine solche heroische Alternative zur bieder-langweiligen Wirklichkeit in Calw imponiert haben muß. Auch in ihm war der »Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will«,16 von allem Anfang an lebendig, und Autoren wie Karl May sollten ihm den besten Stoff dazu liefern.

   Um der verhaßten engstirnig-kleinbürgerlichen und beengenden Welt wenigstens zeitweise in Gedanken zu entfliehen, wandte der Knabe seine finster-skurrilen Wunschphantasien erst den blutrünstigen Ereignissen des Alten Testaments, dann der wild-exotischen Kolportage- und Triviallitera-


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tur zu. In seiner schonungslos selbstanalytischen Autobiographie schreibt der Maler zu dieser Phase seiner Kindheit: »Eine ungeheure Lesewut befiel mich, ich las wahllos alles, was mir in die Hände geriet, vorwiegend natürlich, wie das in diesem Alter üblich ist, Räuber- und Indianergeschichten.«17 Anders aber als »in diesem Alter üblich« tat er dies in einer derart übersteigerten Weise, daß er schon bald die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit aus den Augen verlor:


(...) der Fanatismus, mit dem ich mich auf diese Dinge stürzte, (rief bei mir) Erscheinungen hervor, die an ein zeitweiliges Irresein erinnerten und die absolut den Charakter einer schweren Gemütserkrankung aufwiesen. Zwar betätigte auch ich mich wie die andern Jungen in wilden Streifzügen durch die schönen Wälder unserer Heimat, aber ich steigerte das Spiel sofort ins Gesetzlose, ich begnügte mich nicht mit dem einfachen Kriegspielen, sondern versuchte, durch regelrechte Einbrüche in Gartenhäuschen, wilde Zerstörungsakte in Höfen und Anlagen durch das Anlegen von Böschungsbränden der ganzen Indianerei erst das richtige Gesicht zu geben. Ich erfand grausame Foltern, führte geheimnisvolle Riten ein, versuchte auch einmal, einem meiner zärtlich geliebten Oberklassenjungen Blut abzuzapfen; ich sammelte fleißig Bilder von Hinrichtungen, Menschenopfern, Sklavenjagden und wühlte mich auf diese Weise in einen Orkus von Greueln ein; ich verlor mich in einem Gestrüpp peinigender Vorstellungen, in einem Irrgarten brennender Qualen, aus dem ich vergebens nach Rettung brüllte. In der Hauptsache war es die Lektüre Karl May's, Wörishöfers, Coopers und Rinaldo Rinaldinis, die mich immer wieder in einen wilden Paroxysmus versetzte; ich lebte in einer wirren Traumwelt, die Wirklichkeit wurde blaß und schemenhaft, Schule, Aufgaben, Mutter, Geschwister, Kameraden existierten für mich nur noch als lästige Störungsmomente. Ich saß nachmittagelang in irgendeinem Winkel hinter unserem Haus und las vier bis fünf Stunden wie besessen; mit offenen Augen träumend wandelte ich nach solchen Leseexzessen in den Straßen umher und murmelte, geschüttelt vom Rausche des Gelesenen, während mir eine angenehme Gänsehaut nach der andern den Rücken herunterlief, die Illustrationsunterschriften oder besonders eindrucksvolle Sätze des Textes vor mich hin.18


Die Beschreibung dieses »Paroxysmus« wäre Wasser auf die Mühle so manchen zeitgenössischen Pädagogen gewesen, der in Karl May den ›Jugend- und Volksverderber‹ schlechthin sehen wollte (tatsächlich blieb Schlichter dann in der Schule ›sitzen‹); sie erinnert nicht zufällig aber auch an ähnliche Stellen in Mays eigener Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹, so vor allem an seine Schilderung der verheerenden Wirkung der Ritter- und Räuberromane aus der Hohensteiner Leihbibliothek, die den Knaben schließlich sogar dazu brachten, nach Spanien auswandern zu wollen, um bei einem edlen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Schlichter und May besaßen offenbar - zumindest in jungen Jahren - eine vergleichbare psychische Disposition, die sie beide für Rinaldo Rinaldini begeisterte und ihre Wirklichkeitsbegriffe verwirrte. Schlichters May-Faszination erklärt sich gerade auch von daher.


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   Harmlos und wohl jedem kindlichen Leser von Indianerabenteuern vertraut wirken dagegen Schlichters Erinnerungen an seine »wilden Streifzüge« durch die heimischen Wälder: »Als Schuljunge verglich ich diese, mich phantastisch anmutende Umgebung der Stadt, mit den durch Karl May und andere Indianergeschichten berühmt gewordenen Canyons des amerikanischen Felsengebirges. Die großen, weitausgedehnten Wälder gemahnten mich an die durch Coopers Lederstrumpf so vertrauten Jagdgründe der Mingos und Delawaren. Es konnte ja auch für uns Buben kaum etwas Schöneres geben, als im Hochsommer in den Wäldern herumzutoben, Wigwams und Felsenburgen zu bauen, Kartoffeln zu stehlen, sie über selbstgemachten Feuerchen zu braten; überhaupt jeden nur möglichen phantasiebefruchtenden Unfug zu treiben.«19 Auch hier kann man eine Parallele zu Karl May selbst sehen: fand nicht auch er seine Rocky Mountains in der Sächsischen Schweiz und die indianischen Jagdgründe im lieblichen Lößnitzgrund? Die Wege der Phantasie sind so verschieden nicht.

   Ganz und gar im Banne Karl Mays stand der junge Rudolf Schlichter während seiner ihn quälenden Lehrzeit in einer Pforzheimer Emailfabrik in den Jahren 1904 bis 1906. Aus dem »Zustand grauer Bedrängnisse und lähmender Einengung« rettete er sich immer wieder »in die bunte Welt (seiner) geliebten Bücher«, wobei auch hier auffällt, daß er sich ganz so in diese Phantasien hineinsteigerte wie einst der nächtlich traumschreibende Autor selbst:


Vor allem war es Karl May, der mir unzählige Stunden sublimster Träumerei, fantastischster Aufschwünge bescherte. Ich war so befangen in den Schilderungen der fremden exotischen Welten seiner Romane, daß ich alles andere rings um mich her vergaß; seine Gestalten wurden so sehr lebendige Wirklichkeit, daß ich in den nächtlichen Träumen oft vermeinte, sie leibhaftig sprechen und agieren zu sehen. Dabei war ich noch so naiv, daß ich alles, was er berichtete, wörtlich glaubte. Mit leidenschaftlichem Fanatismus verteidigte ich ihn gegen alle Angriffe auf die Glaubwürdigkeit seiner Geschichten; ich wollte einfach glauben und so wies ich auch alle bei mir etwa auftauchenden Zweifel hartnäckig von mir. Jeden Pfennig sparte ich mir vom Munde ab, um meine Sammlung an Maybänden zu erweitern und zu vervollständigen, jeder Tag, an dem ich in der Lage war, mir einen neuen Band zu erwerben, war für mich ein Festtag.20


Er verschaffte sich »genaue Landkarten«, um Mays fiktive »Reiserouten bis in die letzten Einzelheiten« zu verfolgen, »suchte für seine Schilderungen fremder Länder und Völker Bestätigung in allen möglichen ausgefallenen ethnographischen Werken und Lexika« und »stöberte jede erreichbare Bildersammlung von Trachten und Kostümen auf, um die Echtheit seiner Angaben nachzuprüfen«: »Auf diese Weise eignete ich mir ein ziemlich großes Wissen an auf allen Gebieten der Geographie und Völkerkunde, ein Wissen, mit dem ich sogar oft weitgereiste Menschen verblüffte, die


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sich darüber baß verwunderten und gar nicht begreifen konnten, woher ich, der ich nie über meine enge Heimat hinausgekommen war, eine so genaue Detailkenntnis wohl her haben möchte.«21

   In der Zeit der erwachenden Sexualität, deren erstes - von Schlichter als unnormal empfundenes - pubertär-onanistisches Ausleben ihn mit schweren Schuldgefühlen belastete, wurde May ihm zur moralischen Instanz.


Im Gegensatz zu den meisten meiner Altersgenossen, die sich über die christlichen Tugenden und die allzuweit getriebene Nachsicht Old Shatterhands-Kara ben Nemsis ärgerten und an seiner Langmut auch mit den ärgsten Verbrechern heftig Anstoß nahmen, fesselten mich gerade diese Stellen der Bekehrung im letzten Moment am meisten; solche Szenen riefen bei mir allemal eine tiefe Rührung hervor, ja ich erwischte mich oft bei einem quälenden Mitleid mit diesen schwarzen Schurken, dunkel fühlte ich, daß auch in mir ein solcher Verbrecher schlummerte, der allen Grund hatte, ein nicht zu hartes Strafgericht gegen andere zu befürworten. Wie, dachte ich oft, wenn du nach Verübung feiger Freveltat in die Hände Winnetous oder Old Shatterhands geraten solltest, wie würdest du bestehen? Würde er nicht auch dir, wenn du gefesselt am Boden liegst, mit einem verächtlichen »Pshaw« den Rücken kehren? Würde nicht der edle Winnetou dir sein vernichtendes »Uff, die Bleichgesichter sind jammernde Coyoten« ins Gesicht schleudern, wenn er deinen gnadeflehenden Blick bemerken würde? Angesichts solcher Möglichkeiten erschrak ich ernsthaft; ich gelobte mir, sobald ich meine Lehre beendet hätte, durch fleißiges Üben im Reiten, Schießen und Lassowerfen jenen Grad von Geschicklichkeit zu erwerben, der mich jederzeit in die Lage versetzen würde, die gemeinen Schwächen meiner Natur in Gefahrsmomenten so in Schach zu halten, daß die Möglichkeit eines Versagens beinahe ausgeschlossen war.22


Derartige moralische Bedenken hinderten den jungen Lehrling freilich nicht, auch mit Hilfe Karl Mays um erotische Gunst zu werben. Als ihm einmal eine stille Emailleuse auffiel, die »in den Vesperpausen eifrig in merkwürdigen, mit bunten Umschlagbildern versehenen Heftchen las«, und er »zu schüchtern war, mit ihr eine Unterhaltung anzufangen«, griff er »zu einer List, um ihr Interesse zu erwecken«: »Ich ließ abends wie aus Zufall einen Karl-May-Band auf dem Hocker, der vor ihrem Arbeitsplatz stand, liegen und tat am andern Morgen so, als ob ich das Buch suchte. Richtig, sie meldete sich auch prompt, wir kamen ins Gespräch und sie erklärte mir sogleich, daß auch sie eine große Verehrerin von Karl May sei, aber fügte sie gleich hinzu, es gäbe noch schönere und spannendere Geschichten wie die von Karl May: z. B., ob ich schon ›Lips-Tullian, der große Räuberhauptmann Schlesiens‹ oder ›Hans Rudolf Zimmermann, der kühnste Räuberhauptmann Sachsens‹ gelesen hätte?«23 Mehr als eine »kindische Liebe« wurde allerdings nicht aus diesem verheißungsvollen Anfang, auch wenn das Mädchen den nicht nur in dieser Hinsicht Unerfahrenen endlich über die »Vorgänge des Schändens und Vergewalti-


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gens« aufklären konnte, was bei ihm zu »groteske(n) Vorstellungen« führte: »eine große Furcht befiel mich oft, wenn ich mir ausmalte, daß ich einmal in die Zwangslage geraten könnte, eine Frau schänden zu müssen.«24

   Daß es auch das (wenngleich »monarchisch-staatstreu« verdeckte) freiheitlich-revolutionäre Element in den amerikanischen Reiseerzählungen Mays war, das ihn innerlich an den Schriftsteller band, erkannte Schlichter, der sich damals ebenso begeistert und intensiv mit jeglicher Literatur über die französische Revolution und die jüngste russische Revolution von 1905 beschäftigte, seltsamerweise nicht; er meinte vielmehr, sich »krampfhaft« vor dem heimlich in ihm wachsenden Gedanken schützen zu müssen, Mays Haltung sei finster reaktionär und stünde ganz und gar im Widerspruch zu seinem eigenen Rebellentum.


Nur ein Umstand fiel mir an den sonst so geschätzten Erzählungen unangenehm auf: das war die Abwesenheit jeglicher revolutionärer Idee. Mich quälte diese mir immer wieder peinlich aufstoßende, monarchisch-staatstreue Gesinnung seiner Helden entsetzlich; daß auch nirgends in keiner Zeile das Hohelied des Empörers gesungen wurde, daß nirgends auch nur ein leichter Hauch der Freiheit wehte, ja im Gegenteil jede auch die leiseste Form von politischer Opposition hart verdammt und der Revolutionär mit dem infamsten Schurken auf eine Stufe gestellt wurde, das konnte ich nicht schlucken, dagegen bäumte sich alles in mir auf. Viele seiner Bücher wurden mir durch diese mir ganz unbegreifliche Ablehnung auch des edelsten Umsturzwillens verekelt. Ich half mir, um mein Idealbild nicht zu sehr getrübt zu sehen, einfach damit darüber weg, daß ich krampfhaft die Augen vor dieser Tatsache verschloß und mir einredete, das wäre ja im Grunde nicht so wichtig, damals wäre das auch anders gewesen, er hätte doch auch an andern Stellen wieder ein warmes Herz für's Volk bewiesen, usw. Nach außen hin verheimlichte ich natürlich diese meine betrübliche Entdeckung seiner finster reaktionären Haltung, um ja keinen Schatten auf das leuchtende Bild meines Helden fallen zu sehen.25


Jahrzehnte später sollte dieser ungerechte, nie wirklich korrigierte ideologische Vorbehalt noch durch äußere Einflüsse bestärkt werden und Schlichter am Ende endgültig gegen seinen »Rocher de bronze« aufbringen, den er sich »in (seiner) Seele errichtet hatte«.26 Den Ursprung hiervon kann man schon in diesem frühen Mißverständnis sehen, durch das der Knabe in einen »argen Widerspruch« geriet, weil es ihm nicht gelang, die »Ideenwelt« Karl Mays mit seiner »exaltierte(n) Begeisterung« für die vermeintlich entgegengesetzten Tendenzen der Revolution in Einklang zu bringen: »Vergebens suchte ich die Brücke zwischen dieser Welt idealer ritterlicher Christlichkeit und jener nicht minder idealischen meiner vergötterten Freiheitshelden.«27 Es scheint, daß dieser unechte »Widerspruch« sich für Schlichter erst dann löste, als er sich in späteren Jahren von beiden Idealwelten verabschiedete.


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   Bedroht war das »leuchtende Bild« Karl Mays für den jungen Schlichter auch durch »böse Verdächtigungen«, die ihn (wohl Ende 1906) dazu bewegten, sich persönlich an den Schriftsteller zu wenden. Die Anekdote in seiner Autobiographie ist interessant genug, um hier etwas ausführlicher zitiert zu werden:


Ich mußte meinen Helden gegen böse Verdächtigungen in Schutz nehmen, üble Gerüchte und Verleumdungen tauchten auf; als sich gar noch einer in meiner Gegenwart erlaubte, die Behauptung aufzustellen, Karl May wäre gar nicht in jenen Ländern gewesen, da faßte ich den heroischen Entschluß, selbst an ihn zu schreiben und an ihn die vertrauensvolle Frage zu richten, ob er wirklich all das erlebt hätte, was er geschrieben habe. An einem Sonntag setzte ich mich mit einem gleichgesinnten C....r [Calwer] Schulfreund, der allerdings schon in einem bedenklichen Ausmaße vom Zweifel angefressen war, zusammen, um den Plan eines Schreibens an unsern Heros in die Tat umzusetzen. Man kann sich kaum die Spannung vorstellen, mit der wir auf die Antwort, die ziemlich lange auf sich warten ließ, lauerten. Endlich nach Wochen bangen Wartens traf ein großes dickes Couvert bei uns ein. Voll Neugier, mit dem Gefühl, als ob Seligkeit und Verdammnis davon abhingen, öffneten wir die umfangreiche Sendung; aber wie enttäuscht wurden wir durch die betrübliche Feststellung, daß das Couvert nichts weiter enthielt als langwierige gedruckte Prospekte mit dunklen Philosophastereien über das »Ich«, über Babel und Bibel, über den symbolischen Gehalt der May'schen Werke, über seine geistig-religiösen Ziele usw.; sonst aber nichts, aber auch gar nichts von dem, was wir eigentlich wissen wollten. Da war nirgends die Rede vom Henrystutzen, vom Bärentöter, von Tah-tscha-schtunga, von Iben Aßl, von Begegnungen mit Texas-Jack oder Buffalo-Bill; kein Bild war zu finden, das unsern Helden in seiner berühmten Farwestausstattung oder in seinem arabischen Kostüm zeigte; nur die simple Photographie eines alten gütig blickenden Mannes in schlichtem Zivilröckel war auf einem der Prospekte aufgedruckt. Das war er, unser mit heiliger Einfalt verehrter Held. Lange fanden wir keine Worte für unsere Enttäuschung; endlich meinte mein Schulfreund mit bedauerndem Achselzucken: »do schtimmt was net, mit dene G'schichte, i glaub, dös muß mer älles ganz anders verschteh'!« Ich protestierte natürlich dagegen, denn ich wollte mir den empirischen Wahrheitsgehalt der Reiseschilderungen nicht rauben lassen; ich versuchte, ihm zu beweisen, daß diese Sendung auf einem Mißverständnis beruhen müsse, daß wahrscheinlich sein Sekretär daran schuld wäre, wenn wir nicht das Richtige bekommen hätten, außerdem wisse ich genau, daß Bilder von ihm in mexikanischer Tracht existierten, sogar eine Photographie gäbe es von ihm mit Winnetous Silberbüchse! Ich hätte das Bild selbst gesehen, mir könnte er doch glauben! Schließlich nach langem Hin und Her einigten wir uns dahin, daß der größte Teil der Geschichten doch wahr sein müsse, was durch die Bilder hinlänglich bewiesen sei und daß vielleicht nur ein kleiner Teil erdichtet wäre. Diese Übereinkunft beruhigte mich wieder; mein Glaube an Old Shatterhand ging neu gestärkt aus diesem Feuer der Prüfung hervor, bereit, neuen Zweifelsstürmen auch weiterhin mit beharrlicher Treue zu trotzen.28


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Das Erlebnis ist bezeichnend für die gläubige May-Begeisterung (und das gänzliche Spätwerk-Desinteresse) der meisten damaligen Leser, nicht nur für die Naivität des jungen Schlichter. Anders aber als seine Alterskollegen setzte dieser die faszinierenden Leseabenteuer in den freien Stunden, die ihm nach der Fabrikarbeit blieben, auch kreativ in zeichnerische Versuche um - wenn er nicht gerade seiner Mutter die »langen, einsamen Abende« damit verkürzte, »Karl May vorzulesen«.29 Schon während der Schulzeit hatte er ›Bildle‹ mit teils selbsterfundenen Abenteuergeschichten angefertigt, sie an die Schulkameraden verkauft und sich durch seine zeichnerische Begabung manchen Respekt verschafft. Nun wucherten vielfach auch blutrünstig-sadistische Sexualphantasien in seine exotische Bildwelt hinein. Im Rückblick schrieb Schlichter später zu seiner künstlerischen Initiation, dabei zweifellos auch an Karl May denkend: »Das ursprüngliche Erlebnis, das meinen ersten zeichnerischen Versuchen, die in die frühesten Jahre der Kindheit zurückreichen, zugrunde liegt, war der Drang, die Taten der Menschen festzuhalten, ihre Fahrten und Abenteuer auf der Erde Rücken, das Wirken unbekannter Mächte, die Schönheit und den Schrecken der Naturgewalten, wie sie die heimischen Berge und Wälder und die Berichte aus fernen Zonen dem kindlichen Gemüte einprägten.«30 Und in einem Brief an Ernst Jünger, der Ende 1939 einmal nach Pforzheim gekommen war, erinnerte er sich, träumend noch einmal »in jenes ferne u. doch so nahe Jugendland« zurückkehrend: »Trotz äußerer widriger Umstände begann damals der Traum u. die wilde Sehnsucht nach einer verlorenen Welt, nach einem irgendwo u. nirgendsheim seine Gestalt zu gewinnen; er trieb die ersten exotischen Blüten in den bezaubernden Figuren von Kreuzfahrern, Rothäuten, Cowboys, zarten Mädchen u. exzentrischen U.S.A.bürgern hervor. So begann ich die Grauzeit eines Fabrikalltags mit bunten Guirlanden zu schmücken. (...) Schönheit, dich will ich preisen, schrie meine Seele, nicht im faden maßvollen Gehrock eines würdig in Bildungsstätten verstorbenen Klassizismus, sondern in den bunten Improvisationen einer abenteuernden Außenseiterwelt.«31

   In Stuttgart, nach dem Abbruch seiner Lehre, entdeckte Schlichter während seiner Zeit an der Kunstgewerbeschule (1906-1909) ein weiteres Stimulans für seine Kreativität: das Kino, dessen Niveau sich damals noch ganz auf der Ebene der Kolportage bewegte. Ein schauriger Film, der in der Pariser Unterwelt spielte und sogar einen echten ›Apachentanz‹ zeigte, erweckte in ihm jetzt das »Ideal der großen Dirne, der alles zerstörenden, männerfressenden, Unheil verbreitenden Venus vulgivaga«,32 das fortan in seinem Kopf genauso herumspukte wie die Verbrecherhöhlen der Großstadt, die sich nun langsam zu den amerikanischen Canyons Old Shatterhands und Winnetous gesellten. Auf der Kunstgewerbeschule wurde Schlichter in seinem May-Glauben vom Lehrer Hötzer und vom Mitschüler Bruno von Sanden verunsichert,33 erhielt aber zu dieser Zeit auch einen vorübergehenden unerwarteten Auftrieb. Sein ältester Bruder Max,34


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»selbst ein eifriger Leser dieser faszinierenden Bücher«, hatte eine »Stellung in einem großen englischen Hotel in Chartum im ägyptischen Sudan« bekommen, und »mit fanatischem Eifer« machte ihn Rudolf darauf aufmerksam, »was für ein großes Verdienst um Karl May er sich erwerben könnte, wenn er versuchte, durch genaue Nachforschungen herauszukriegen, wie weit die Schilderungen (seines) verehrten Helden auf Wahrheit beruhten«: »Beim Abschied bat ich ihn noch, ja nicht die Nilpferdpeitsche zu vergessen, denn dieses Instrument war mir durch den Eifer, mit dem Hadschi Halef Omar sich seiner bediente, besonders ans Herz gewachsen.« Das Ergebnis dieser »Nachforschungen« verlieh Rudolfs »Optimismus betreffs des Wahrheitsgehaltes der May'schen Romane einen neuen Schwung«:35 »Nach ungefähr einer halbjährigen Abwesenheit war Max von der Tropensonne gelbgebrannt zurückgekehrt (...). Zunächst wollte ich wissen, wie es mit den Schilderungen Karl Mays bestellt sei! Zu meiner Freude bestätigte er fast alles, was May über das mysteriöse Land des Mahdi berichtet hatte, nur meinte er, das liege schon alles sehr weit zurück, heute würde keine Sklavenjagd mehr abgehalten, auch sei durch die englische Verwaltung ziemlich Ordnung geschafft worden, mit Abenteuern sei es deshalb nicht mehr weit her, da müßte man schon weit in das Innere des Sudans eindringen, wo die Dinkas, Schilluks und Niam-Niam, die noch Menschenfresser wären, hausten. Aber den Fanatismus der Mohammedaner hätte er ganz richtig dargestellt, wäre es ihm doch selbst beinahe passiert, von den fanatischen Moslems gesteinigt zu werden, als er mit einigen andern zusammen einen Ausflug nach Omdurman machte.« Max brachte auch allerhand exotische Waffen aus dem Sudan mit, von denen Rudolf sich »außer der Nilpferdpeitsche einen schönen arabischen Dolch reserviert(e), den (er) eine Zeitlang dauernd mit (sich) herumtrug«.36

   Seiner Schwester Gertrud und ihrem Mann, die ihn in ihrem neuen Heim in Zuffenhausen wohnen ließen, las Schlichter jetzt wie schon der Mutter allabendlich aus Karl May oder Gerstäcker vor; von seinem Schwager Karl wurde er nur noch »Rih, der Rappenhengst« (bzw. »Rih, Rappehengscht«) genannt, »nach dem famosen arabischen Renner Kara ben Nemsis«.37 Selbst darüber, daß er wegen seiner Kurzsichtigkeit jetzt einen Zwicker tragen mußte und deshalb wohl »kein Westmann mehr werden könnte« (»von einem Trapper mit einem Zwicker hatte ich noch nie gehört«), vermochte Karl May ihn noch hinwegzutrösten: »ich erinnerte mich, auch ihn mit einer Brille abgebildet gesehen zu haben. Wenn schon ein solcher Held sich seiner Augengläser nicht zu schämen brauchte, um wieviel weniger kam es mir zu, mich über meinen Zwicker unnötigen eitlen Grübeleien hinzugeben.«38 Dennoch begann für Rudolf bald eine Phase längerer Distanzierung von seinem Idol. Der Kunstgewerbeschüler entdeckte nämlich, »daß es nicht genüge, nur Karl May oder Gerstäcker zu kennen, sondern daß eine große Literatur existiere, die man als die gute oder klassische bezeichnete«. Wieder las er »mit einer Wut und Leidenschaft, die ans Pathologische grenzte«,


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nur hießen die Autoren jetzt Grimmelshausen (›Simplizius Simplizissimus‹), Goethe (›Werthers Leiden‹) oder - Gustav Frenssen (›Peter Moors Fahrt nach Südwest‹).39 Später kamen sämtliche Klassiker hinzu, außer Goethe und Schiller auch Wieland, Heine, Lessing und viele andere. Wirksam war hier der Einfluß seines Mitschülers Bruno von Sanden, unter dem er sich für einige Zeit »aus einem begeisterten Apologeten Mays in einen ziemlich heftigen, ja sogar ablehnenden Kritiker seiner Werke verwandelt(e)« - übrigens nicht eben zur Freude der Mutter: »Karl May gefiel ihr entschieden besser.«40 Mehr und mehr hatte Rudolf auch trotz allen inneren Widerstrebens erkennen müssen, daß Mays Erzählungen tatsächlich nur phantasiegeboren waren, eine Desillusionierung, die er wohl nie ganz verwinden konnte und die ihn später zu manchen ungerechten Urteilen verleitete.

   Liest man Rudolf Schlichters Autobiographie und betrachtet seine oft ›literarisch‹ wirkenden Bilder, so erscheint er als der vielleicht belesenste Maler seiner Zeit;41 dabei war die Auswahl seiner Lektüre höchst willkürlich, so daß von literarischer ›Bildung‹ im strengen Sinn bei ihm genausowenig die Rede sein kann wie beim jungen Karl May. Beide stammten aus dem Proletariat, beide suchten der Wirklichkeit in abenteuerliche Fluchtlandschaften zu entkommen, konstruierten heroische (mitunter sadistische) Ich-Phantasien oder eigneten sich wahllos Wissen an, um sich über ihre verhaßte Klasse zu erheben und sozial aufzusteigen. Für die erwachende ›Lesewut‹ Schlichters war Karl May sehr direkt mitverantwortlich, aber auch später, während seines 1911 begonnenen Studiums an der Kunstakademie in Karlsruhe, als der Maler sich in der Rolle eines ausschweifenden Unterwelt-Bohemiens gefiel und die Jugendlektüre vorerst überwunden schien, wirkte der frühe Einfluß Mays zumindest unbewußt noch in seinen literarischen Interessen nach. Um sich »wenigstens zeitweise der tristen Gegenwart der kleinen, mesquinen Bürgerwelt zu entziehen«, betrieb Schlichter jetzt »eifrig historische Studien«, aber daß diese vor allem der versunkenen Welt des alten Orients galten, dürfte nicht allein den Romanen Flauberts zu schulden sein (wie er angibt), sondern eben auch der Erinnerung an die orientalischen Abenteuerfahrten Kara Ben Nemsis - die bloße Erwähnung Mays verrät hier genug: »Mit Begeisterung versenkte ich mich in die Geschichte des alten Sassanidenreichs, las mit brennendem Interesse alles Erreichbare über die Entstehung des Islam und des Kalifats, beschäftigte mich eingehend mit den religiös-kommunistischen Bewegungen des Orients, wie der Mazdakismus und Mahdismus. Aber auch die Dichtung jener Epochen zog mich in ihren Bann. Firdusis herrliche Heldengedichte aus dem Schahnameh übten einen geheimnisvollen Zauber auf mich aus. Die Gestalten von Rostem und Schurab gewannen wie ehemals die Gestalten Karl Mays sprühendes Leben, der Zug des Kai Kawus nach Massenderan beschwor eine Fülle merkwürdiger Assoziationen herauf.«42


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   Am stärksten wirkten in dieser Zeit aber die Erzählungen Scheherezades auf Schlichter; in ihnen schienen sich all seine anarchischen, von Mays eurozentrischen Reiseromanen nur ungenügend befriedigten Phantasien von Eros, Gewalt und Tod endlich zu erfüllen. Als er eine »Originalausgabe« von ›Tausendundeine Nacht‹ entdeckte, verschlang er sie »gierig wie ein Evangelium«: »Hier fand ich, was ich schon lange suchte. Diese nicht endenwollende Kette von Abenteuern, Märchen, Geschichten, Schwänken, Anekdoten und Romanen überwältigte mich. Wie betrunken taumelte ich durch diesen Irrgarten, genoß ich dieses unwahrscheinliche Gemengsel von heiterer Sinnlichkeit und starrer Orthodoxie, von fröhlicher Nichtswürdigkeit und melancholischem Weltschmerz, von grober Sexualität und zartester Liebesleidenschaft, von krassem Realismus und ausschweifender Phantastik. Gleich dem Gluthauch der Wüste durchdrang der scharfe Odem des Orients mein ganzes Wesen. Ich dachte und fühlte orientalisch, die Weisheit des Ostens leuchtete wie ein helles Fanal über meinem Weg.«43 Ersten Niederschlag fand diese dekadente Orientbegeisterung in einer Reihe von Radierungen und Lithographien, die Schlichter im Graphikatelier der Karlsruher Akademie anfertigte; die wenigen erhaltenen Blätter zeigen vor allem »Folterszenen, Martern aller Art, Leichenhaufen aus vorzugsweise weiblichen, noch zuckenden oder wollüstig hingestreckten Akten«.44 Noch 1941/42 entstanden an die fünfzig detailgenaue Tuschzeichnungen zu ›Tausendundeiner Nacht‹, auch sie voller abenteuerlicher Exotik, dämonischer Gewalt und persönlicher Obsession, zugleich aber - besonders in den Illustrationen zur ›Geschichte von der Messingstadt‹ - auch die dunkle Abgründigkeit ihrer Entstehungszeit verratend.45

   Bemerkenswerter noch als Schlichters erneuertes Interesse für den Orient, den er zuerst durch die Bibel und Karl Mays Reiseerzählungen kennengelernt hatte, erscheint uns seine jetzige »Bekanntschaft mit Nietzsche und Richard Wagner«, die er selbst als das »stärkste Erlebnis dieser Zeit« bezeichnet.46 Auf den ersten Blick wird man hier vielleicht keinen Zusammenhang mit Karl May vermuten, oder allenfalls in dem Sinne, daß Nietzsche und Wagner in durchaus generationstypischer Weise an die Stelle des abenteuernden Jugendidols traten. Bei näherer Betrachtung jedoch zeigt sich, daß Schlichter bei allen drei Autoren (und später bei Stendhal oder Oscar Wilde) von derselben Weltsicht begeistert wurde, nämlich von ihrem vitalistischen Elan, ihrem Protest gegen bürgerliche Ordnung und vor allem von ihrer Idolatrie des überlegenen Einzelnen, die zu beglückender Identifikation einlud. Nur das »autonome Ich als Maßstab und Regulator menschlicher Handlungen«47 schien hier zu regieren, mochte es nun Old Shatterhand, Zarathustra oder Siegfried heißen. Inwieweit Schlichter sich nicht nur im Verständnis Mays, sondern auch in seiner damaligen Bewertung Nietzsches und vor allem Wagners irrte (den er für den »personifizierte(n) Widerspruch gegen die erstickende Enge und plumpe Vertraulichkeit des muffigen deutschen Kleinbürgers« hielt48), kann hier getrost dahingestellt blei-


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ben. Wesentlich ist nur, daß alle drei aus denselben Motiven eine Zeitlang seine erklärten Vorbilder waren, an denen er sogar sein Alltagsleben ausrichtete: erst solche hemmungslose Verehrung in der Jugend erklärt die späterhin ebenso heftige Ablehnung, als ausgerechnet diese Idole der Antibürgerlichkeit vom »deutschen Kleinbürger« okkupiert wurden. Deutlicher noch als in seiner Autobiographie wird Schlichter dann Nietzsche und Wagner in einem Atemzug mit May nennen, alle drei Opfer seiner ›enttäuschten Liebe‹.

   Etwas überraschend erwachte Schlichters Amerikakult und damit auch sein Interesse für Karl May in den letzten Jahren seines Karlsruher Studiums aufs neue und verwirklichte sich nun auf einer anderen, dezidiert künstlerischen Ebene. Karlsruhe scheint dafür gerade der rechte Ort gewesen zu sein, hatte die Indianerbegeisterung hier doch schon seit 1896 Tradition, als Buffalo Bill mit seiner Wild-West-Show auf der Schützenwiese nahe der Südstadt gastierte und dort sogar überwinterte.49 Das Erlebnis amerikanischer Wildwest-Filme ließ in Schlichter »alte, halbvergessene Jugendträume« wachwerden:


Die elementare Lust, die lange verdrängte Leidenschaft für die wilde, schöne Welt des Farwest brach mit Macht hervor und schwemmte alle durch ein besorgtes Kunstphilistertum angehäuften Vorurteile und Hemmungen gegen die Zulässigkeit solcher Stoffe in der bildenden Kunst hinweg. Warum sollten derartige Sujets nicht ebenso geeignet für die Kunst sein wie die reichlich abgedroschenen Gestalten des klassischen Altertums. War nicht das Leben des Unkas ein ebenso großes Beispiel edler männlicher Tugend wie das Leben Achills oder Hektors! Was war die Rache des Odysseus gegen die Rache Carlos des Ciboleros, des weißen Häuptlings, der nicht nur eine kleine Anzahl schäbiger Freier, sondern gleich eine ganze Stadt seiner Rache opferte! Welche Heroengalerie, angefangen von den weißen Vätern Kanadas, den Gründern Montreals über Sieur de Lasalle, dem prächtigen Marquis Frontenac, Falkenauge, Steinherz bis zu Old Firehand, Buffalo Bill, der Miß Admiral und Texasjack; wahrlich gegen diese lebensnahen Helden der Wildnis verblaßten die ohnehin nicht sehr farbigen Gestalten der griechischen Mythologie. Begeistert zog ich die alten Schmöker wieder hervor. Mit Wonne vergrub ich mich in die Geschichte der Eroberung und Kolonisierung Amerikas, wie damals von derselben heißen Sympathie für das tragische Geschick des roten Mannes erfüllt. Namen wie Conanchet, Metakom, Tekumseh jagten mir wie einst Schauer der Begeisterung durch den Leib und gar Worte wie Susquehanna, Llano Estakado, Rio Grande del Norde, Santa Fé und Frisko wirkten wie magische Zeichen auf mich ein.50


Neben den »alten Schmökern«, zu denen natürlich auch wieder Karl May zählte, verschlang Schlichter jetzt die für ihn noch ›neuen Schmöker‹ von Sir John Retcliffe und Captain Mayne Reid; nicht zuletzt machte er wichtige literarische Neuentdeckungen, las erstmals Charles Sealsfield, Gustave Aimard, Bret Harte und Coopers ›Lederstrumpf‹ in der originalgetreuen


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Übersetzung. »Die gebotenen Gegenbilder zum ›öden Werkeltag‹, die ausfabulierte Flucht und mit verführerischen Bildern illustrierte Flucht aus der Enge der eigenen Umwelt, die Möglichkeit Gewalt, Leidenschaft, Aggressivität und Begierden, die Schlichter nur zu drängend in sich verspürte, wenigstens in der nachvollziehenden Phantasie ausleben zu können, zogen ihn magisch an.«51 Bemerkenswert ist dabei, gerade im Hinblick auf Schlichters spätere, mehr als zwiespältige Beurteilung Karl Mays, daß diese nachpubertäre Lektüre von Abenteuerbüchern (sofern sie nicht wie Coopers ›Lederstrumpf‹ oder auch Sealsfield und Harte literarisch sanktioniert waren) offenbar in ambivalenter Weise mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden war, weil sie eine Zeitlang die gesellschaftlich anerkannte und auch von ihm selbst inzwischen auf einer höheren Ebene gesehene ›Bildungsliteratur‹ verdrängte; so geriet er durch das »Lesen solcher Machwerke« in einen »eigenartigen Zustand«: »Ich hatte dabei die angenehme Empfindung eines sich allmählich steigernden Alkoholrausches, dem auch regelmäßig ein Katzenjammer wie nach dem Genuß schlechten Fusels folgte. Neben dieser neuerstehenden Welt der ›Großen Schlange im Wigwam kriegsgewohnter Mohigans‹ versank alles, was ich mir an klassischem Bildungsgut erworben hatte.«52 Schlichter befand sich also gewissermaßen in der klassischen Situation eines Bildungsbürgers, der sich seiner trivialen Lesebedürfnisse schämt, mit dem großen Unterschied allerdings, daß er seine Lektüre nicht verheimlichte, sondern sie - umgesetzt in anarchische Bildphantasien - im Gegenteil sogar dazu nutzte, gegen die kulturellen Normen des Bildungsbürgertums zu protestieren. Vom Antagonismus zwischen ›niedriger‹ und ›hoher‹ Kultur ausgenommen blieb interessanterweise Richard Wagner, den Schlichter an dieser Stelle erstmals, wenn auch nur indirekt, in einen Bezug zu Karl May setzt; vom Bildungsbürgertum mehr als anerkannt, vermochten Wagners übersteigerte Musikdramen doch zugleich auch die triebhaften Sehnsüchte des Kunststudenten zu befriedigen, ohne daß er den Widerspruch damals schon erkannt hätte: »Nur Wagner und einige Franzosen hielten dieser Flut stand, ja die Welt Wagners verschwamm mit der amerikanischen Urwaldpoesie zu einem seltsamen Mythos legendärer Abenteuer.«53

   Zu vitalistisch wirkten die Bücher und Filme auf Schlichter, um nur passiv rezipiert zu werden. Wie es den Knaben zu spielerischer Imitation der Abenteuer gedrängt hatte,54 wollte der Maler sie nun in seinem ureigenen Medium lebendig werden lassen. Vehement transponierte er seine neue Farwest-Begeisterung mit Feder, Bleistift und Kreide in zum Teil direkt von der Kinoleinwand übernommene Zeichnungen. »Ich fing an, im Dunklen Skizzen nach den rasch vorüberwirbelnden Bildern anzufertigen. Diese Skizzen verwendete ich zu Hause für meine selbsterfundenen Abenteuergeschichten, die ich entweder auf zehn bis fünfzehn Meter langen Papierrollen in einer Reihe von Bildern nach Art der Moritaten zeichnete oder in Schulheften verewigte. Auch auf Aquarellen und Lithographien tobte ich


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meine Lust an blutrünstigen und abenteuerlichen Wildwestszenen aus, zum großen Staunen meiner Mitschüler, von denen keiner den Mut zu solchen verpönten Themen aufbrachte. Ich ahnte damals noch nicht, daß diese Indianerei einstmals als Äußerungen eines originellen Zeitgeistes museumsfähig würden, allerdings auch nicht, daß der Ruhm der Urheberschaft Leuten zufallen sollte, die viel später als ich mit diesem Stoff bekannt wurden.«55 Die meisten dieser Bilder - frühe Zeugnisse des Kino-Einflusses auf die bildende Kunst - sind leider mit vielen anderen Arbeiten Schlichters aus der Karlsruher Zeit verschollen. Einen ungefähren Eindruck ihres flüchtigen und zugleich wild-expressiven Stils geben die Zeichnungen ›Reiterskizze‹ (Lithographie, 1913; Abb. 10)56 und ›Cowboy zu Pferd‹ (Lithokreidezeichnung, 1914; Abb. 12).57

   War es in Schlichters frühen Jahren die instinktive Auflehnung gegen die dumpfe kleinstädtische Enge gewesen, die ihn zu Karl May und anderen Indianer-Autoren hingezogen hatte, so kam jetzt die eher kognitive Rebellion gegen eine überholte traditionalistische Kunstauffassung hinzu, wie sie seine Lehrer an der Akademie vertraten. Mit seiner »Indianerei«, von der vor allem die tumultuarischen Aquarelle ›Wild-West‹ (1916-18; Abb. 3) und ›Der schwarze Jack‹ (1916) eindrucksvolle Zeugnisse geben,58 beschritt er dabei einen ›dritten Weg‹, denn auch die neuen »Formalisten« um Picasso und selbst die farbensprühenden Bilder van Goghs blieben ihm fremd: »Mein angeborener Hang zum Fabulieren, die schwäbische Eigenschaft des Spintisierens und die Neigung zur endlosen Erzählung sträubten sich gegen den Zwang der Entdinglichung, wie ihn die modernen Formalisten forderten. Aus all diesen Zweifeln rettete ich mich in die wiederentdeckte Welt der Exotik und des Abenteuers. Ich glaubte dort meine ureigenste Domäne gefunden zu haben. Ohne mich allzuweit in den Van-Gogh-Rummel einzulassen, widmete ich mich ganz der Ausgestaltung technischer und graphischer Mittel, um die farbenfrohen Phantasien, die ich in mir trug, möglichst eindrucksvoll darzustellen.«59 Der hier angesprochene narrative Zug ist, von Porträts und Landschaften abgesehen, typisch für die meisten Bilder Rudolf Schlichters, auch wenn sie nicht die »Welt der Exotik und des Abenteuers« thematisieren. Die Ablehnung der Abstraktion ist geradezu konstitutiv für seine Kunst und sollte ihn ein Leben lang begleiten, bis hin zu seinem polemischen ›Kampfbuch‹ über ›Das Abenteuer der Kunst‹ von 1949, dessen Titel allein schon verrät, woher er (zumindest in den Anfängen) seine Inspiration bezog.

   Eine direkte ikonographische Beeinflussung Schlichters durch Karl May ist indes nur schwer nachzuweisen, da schon die Szenerien des Schriftstellers meist den gebräuchlichen Topoi des Wildwest-Genres entsprechen und seine ureigene, leserorientierte Beschreibungskunst natürlich nicht in das bildnerische Medium übertragbar ist. Wilde Szenen zwischen Cowboys, Trappern und Indianern können, müssen aber keineswegs auf das Vorbild Mays verweisen, und die exponierte Rolle, die der Maler vielfach Frauen


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einräumt, seiner sexuellen Veranlagung entsprechend meist als Opfer männlicher Gewaltakte, markiert sogar einen fundamentalen Unterschied. Immerhin gibt es aber besonders aus der Zeit um 1918 einige Arbeiten Schlichters, die sich auf Karl May beziehen lassen. Eindeutig der Fall, wenn auch nur des Titels wegen, ist dies bei der Kohlezeichnung ›Die Miß Admiral‹ (1918; Abb. 4),60 einer Illustration zum Kapitel ›Ein Korsar‹ im zweiten Band ›Old Surehand‹. Das transsexuelle und sadistische Wesen der piratesken Miß Admiral mußte den Maler natürlich besonders anziehen.61 Auch schon das erwähnte Aquarell ›Wild-West‹ (1916-18), in erster Linie wohl eine Umsetzung eigener Gewaltphantasien, mutet wie eine Illustration zu Karl May an, erinnert der weißhäuptige Indianer in der Bildmitte doch emblematisch an Parranoh alias Tim Finnetey, den ›weißen Häuptling‹ der Poncas aus der Old-Firehand-Geschichte im zweiten Band ›Winnetou‹. Ähnlich illustrativ wirken zwei Kampfszenen, die vermutlich ebenfalls 1918 entstanden: In der rechten, weiblichen Figur der lithographierten Reiterszene ›Die Mormonenbraut‹ (Abb. 5)62 wiederholen sich Attribute der Miß Admiral, und das Gemetzel der Kreidezeichnung (Abb. 7; von der Galerie Brockstedt wohl fälschlich als Illustration zu Sealsfields ›Das blutige Blockhaus‹ katalogisiert63), dem eine junge Indianerin zum Opfer fällt, enthält (wenn auch in freier Gestaltung) fast die ganze Konfiguration der mörderischen Szene am Nugget-tsil in ›Winnetou I‹, in der Santer Winnetous schöne Schwester Nscho-tschi tötet. Bemerkenswert bei diesem Blatt ist überdies die Typisierung des tomahawkschwingenden Indianers im Hintergrund: Mögen Streitaxt und Kriegsbemalung auch irritieren, so weisen die Bärenklauenkette und vor allem der ungewöhnliche helmartige Haarschopf (den auch eine Figur der Zeichnung ›Die Miß Admiral‹ trägt) ihn doch deutlich genug als Porträt des edlen Winnetou aus. Ansonsten aber sind derart eindeutige Entsprechungen selten, kommen als ›Vor-Bilder‹ des Malers im Einzelfall genausogut andere Indianer-Autoren oder Wildwest-Filme in Frage. Daß Karl May für Schlichter immerhin eine besonders wichtige Quelle der Inspiration war, belegen hinlänglich seine schriftlichen und biographischen Zeugnisse.

   Aus demselben rebellischen, ja anarchischen Impetus heraus, mit dem Rudolf Schlichter während der Akademiezeit seine ›abenteuerliche Kunst‹ dem ›Bürgerkitsch‹ und der als leidenschaftslos empfundenden impressionistischen Pleinair-Malerei entgegenstellte, gründete er wenige Monate nach dem Krieg, Anfang 1919, zusammen mit seinen ehemaligen Studienkollegen und Künstlerfreunden Wladimir Zabotin, Georg Scholz, Walter Becker, Oskar Fischer, Egon Itta und Eugen Segewitz die Karlsruher ›Gruppe Rih‹, die man verstanden wissen wollte als Ortsgruppe der Berliner ›Novembergruppe‹. »Eine der treibenden Kräfte dabei war sicher Rudolf Schlichter; darauf verweist schon der Name der Gruppe, der Schlichters Karl-May-Begeisterung entsprang: ›Rih‹, arabisch für ›Wind‹ nannte Karl May den Rapphengst Kara Ben Nemsis. Schlichter selbst wurde in sei-


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ner Familie ›Rih‹ genannt.«64 »Der Mythos der ungebändigten Lebenskraft des Hengstes Rih von Kara Ben Nemsi, der aus dem Karl-May-Spleen von Schlichter entsprang, sollte mit der Vitalität der Gruppe assoziiert werden.«65 Ein Nachlaßtext Schlichters bestätigt diese Namensdeutung: »der Name stammte aus Karl May; bekanntlich hieß der arabische Rapphengst, der den famosen Kara ben Nemsi durch die Länder des Orientes trug, Rih, d. h. Wind. Der Name sollte Programm u. Fanfare sein. Ein Kritiker in der badischen Post schrieb nach der ersten Ausstellung, eigentlich wäre das, was hier geboten würde, weniger ein Wind als vielmehr ein leichtes Säuseln. Trotz dieses gehässigen Anwurfes hatte die Gruppe einen ziemlichen Erfolg, sie erzeugte in dem badischen Kunsttümpel wenigstens einen Wellenschlag.«66 Für den Kenner mußte der Gruppenname außerdem Analogien zum radikalen Avantgardestil des Berliner ›Sturm‹-Kreises um Herwarth Walden nahelegen, dem in abgeschwächter Form vielleicht Schlichter, Zabotin, Scholz und Becker, kaum aber die übrigen Mitglieder entsprachen.

   Die erste Ausstellung der inhomogenen, nur in ihrem Protest gegen den »Kunst-Philister« verbundenen Gruppe67 fand vom 1. April 1919 an in der Karlsruher Galerie Moos statt, in der Schlichter und Zabotin schon zuvor - vom 25. Januar bis 15. Februar - die erste umfangreichere Präsentation ihrer Werke erlebt hatten.68 Beide Ausstellungen wurden von Wilhelm Fraenger, dem damaligen Direktor des Heidelberger Kunsthistorischen Instituts, mit einführenden Vorträgen begleitet. Carl Zuckmayer, der damals in Heidelberg studierte und mit Ernst Bloch zum Kreis Fraengers (der ›Gemeinschaft‹) gehörte, erinnert sich in seiner Autobiographie:


Besonders häufig fuhren wir nach Karlsruhe, wo es eine Vereinigung moderner Maler gab, die sich die ›Gruppe Rih‹ nannte - nach Karl Mays unvergleichlichem, über die arabische Steppe dahinfliegendem Rapphengst. Doch hätte sich der keusche May nicht träumen lassen, welch erotomane Bedeutung seinem braven, ehrbaren Schammar-Hengst dort beigelegt wurde. Wenn man um diese Zeit die biedere Stadt Karlsruhe betrat, gleich ob vom Bahnhof her oder aus irgendeiner ländlichen Umgebung, fand man überall, an Häuserwänden und Mauern, ein mit farbiger Kreide gezeichnetes - allerdings kubistisch verschlüsseltes - phallisches Symbol, in seinen Grundformen unmißverständlich, darunter ein Pfeil mit der in kindlichen Schriftzügen angebrachten Weisung:  Z u r  G r u p p e  R i h!

   Folgte man diesem Wegweiser, so gelangte man zu den in einer stillen Seitenstraße gelegenen Ateliers der befreundeten Maler.69


Von Wilhelm Fraenger wurde Schlichter wegen seiner »Vorliebe für die Indianer« angeblich »Der große Häuptling Wigwamglanz« genannt,70 ein Name, den man ihm allerdings schon in der Heimat spöttisch angehängt hatte. Tiefer geht der exotische Vergleich, wenn er sich auf künstlerische Aspekte bezieht. So ließ der affektive, das Wesentliche oft schon im ersten Strich erfassende Zeichenstil Schlichters den Kunsthistoriker später von Formen


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und Linien sprechen, die »ihren Gegenstand - fast sagt man ihre Opfer - wie auf geräuschlosem Mokassin umschleichen. Plötzlich, wie Lassos aus tückischem Hinterhalt zielsicher geschleudert.«71 Fast immer sind es ja Momente der Aggressionsentladung, des Überfalls oder des Kampfes, die der Maler und Zeichner zum Sujet wählte.

   Obwohl die ›Gruppe Rih‹ mit weiteren Ausstellungen, etwa in Berlin, Frankfurt am Main und Darmstadt, auch über Karlsruhe hinaus Aufsehen erregte - Schlichter wurde durch seine futuristischen und teilweise schon dadaistisch collagierenden Arbeiten, vor allem aber durch seine Behandlung von kruden Themen wie Bordell, Metzelei und Lustmord regelrecht zum Bürgerschreck -, löste sie sich bereits im Verlauf des Jahres 1920 wieder auf. Schlichter war schon 1919 nach Berlin übergesiedelt, wo er sich den politisch aktiven Dadaisten um George Grosz und John Heartfield anschloß. Wie die erste Einzelausstellung in Berlin, vom 20. Mai bis 15. Juni 1920 in der Kunsthandlung Dr. Otto Burchard, zeigte, waren es auch in der Großstadt zunächst noch die durchs Kino genährten Wildwest-Themen, die ihn am meisten bewegten.72 Dabei dürfte ihn die Begegnung mit George Grosz, mit dem er sich zeitweise dessen Wilmersdorfer Gartenhaus-Atelier in der Nassauischen Straße 4 teilte und dort nach denselben Modellen zeichnete, erneut gerade auch für Karl May entflammt haben, hatte Grosz doch im Herbst 1910, während seines Studiums an der Dresdner Kunstakademie, den ›Radebeuler Phantasten‹ sogar noch persönlich in der Villa »Shatterhand« kennengelernt, wenn auch am Ende mit sehr gemischten Gefühlen.73 Und mit wem hätte Schlichter seine amerikanischen Träume bunter träumen können als gerade mit diesem europamüden Maler, der sich auf Fotos und Bildern großspurig zum ›Abenteurer‹ stilisierte und sein früheres Atelier in Berlin-Südende einst gar in den »Wigwam eines Sioux-Häuptlings« umgestaltet hatte?74 Dabei standen Grosz und Schlichter mit ihrem Wildwest-Enthusiasmus keineswegs allein: Auch andere Berliner Dadaisten gefielen sich in der Rolle städtisch-moderner ›Apachen‹, so Raoul Hausmann, der als »der Häuptling der Dadaist ›brauner Mistkäfer‹ seinen Blutsbruder ›rote Wolle‹ (John Heartfield)« grüßte, oder Heartfield selbst, der sich unter einem Brief von Grosz an Hausmann (auf dem des weiteren auch Schlichter als »Balkandada« unterschrieb) gleich »Old Shatterhand« nannte - wobei er das »O« ungeniert zu einem ejakulierenden Penis auszeichnete, dadurch etwas von dem sexuellen Vitalismus verratend, der diese ›Dada-Apachen‹ bei ihrer wild-exotischen Maskerade umtrieb.75

   Aber natürlich konnte der schwäbische Hinterwäldler Rudolf Schlichter sich nicht lange der eigenartigen Faszination der Großstadt entziehen. Schon während eines ersten Berlin-Besuchs im Frühjahr 1913 hatte er sie als Kolportage-Welt, als »große verwegene Metropole« erlebt, »in die er als Asphaltcowboy eintauchte«:76 »Ein Märchenland war das, voll von schauerlichen Höhlen, Kellern, unterirdischen Gängen, Menschenfallen und Hin-


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richtungsplätzen.«77 Das Großstadt-Thema mit seinen Straßen-, Café- und Bordellszenen wurde nun mehr und mehr bestimmend und schob den Wilden Westen und damit auch Karl May etwas beiseite. Zugleich wandte Schlichter sich nach seinen dadaistischen Experimenten zunehmend wieder einer realistischeren Darstellungsweise zu. Zwar war er noch auf der ›Ersten Internationalen Dada-Messe‹ (15. Juli - 15. August 1920) in der Kunsthandlung Burchard vertreten und sorgte hier für einen gehörigen Skandal mit gerichtlichem Nachspiel,78 doch hatte Carl Einstein bereits im April des Jahres schreiben können: »Schlichter, früher unbekümmert folgerichtig dem Abstrakten folgend, geht jetzt dem Gegenständlichen minutiös veristisch nach.«79 In den zwanziger Jahren wurde er neben Grosz und Dix zu einem der führenden Vertreter der veristischen Richtung innerhalb der Neuen Sachlichkeit.

   Wurden May-Themen nun auch seltener, erst verdrängt durch die Motive Großstadt und Sexualität und später durch zunehmende politisch-satirische Arbeiten für die kommunistische Presse (›Der Knüppel‹, ›Der Gegner‹, ›Die Rote Fahne‹ u. a.) - ab 1924 war Schlichter sogar Schriftführer der ›Roten Gruppe‹ -, so verschwanden sie doch nicht ganz aus seinem Werk, und die Sätze, mit denen Theodor Däubler Ende 1921 einen Artikel über den Maler einleitete, behielten noch bis weit in die Dekade hinein ihre Gültigkeit: »Er ist aus dem Indianerspiel noch nicht heraus! Rothäute sind ihm auch heute das Gleichnis eines ungestümen wilden Lebens. So ein Sioux und seine Squaw bleiben für ihn der Inbegriff des Malenswerten«.80 Augenfällig wird Schlichters immer noch nicht ganz vergessener Wildwest-Kult durch die Bücher, die er in den zwanziger Jahren illustrierte. Neben Werken von Christoph Martin Wieland, Oscar Wilde, Peter Paul Althaus oder Walter Mehring81 waren das auch Charles Sealsfields ›Das blutige Blockhaus‹ (aus dem Roman ›Nathan, der Squatter-Regulator‹) und die ›Kalifornischen Erzählungen‹ von Bret Harte;82 als ›östliche Entsprechung‹ dazu könnten die Zeichnungen zu Rudolf Geists kommunistischem Abenteuerroman ›Nijin, der Sibire‹ gelten.83 Für eine erste Ausstellung der Buchillustrationen im Oktober 1924 in der Galerie der Berliner Malik-Buchhandlung (›Galerie Grosz‹) wurde auf den Plakaten mit vier Zeichnungen zu Bret Harte geworben.84 Einen (sehr) entfernten May-Bezug kann man schließlich darin sehen, daß Schlichter 1921 den Einband zu Robert Müllers Roman ›Camera obscura‹ zeichnete85 - ob der Maler wußte, daß May gerade diesem Schriftsteller den letzten großen Triumph seines Lebens, den Wiener Vortrag ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ (22. 3. 1912), zu verdanken hatte, ist allerdings fraglich.

   Zeichnungen wie ›Die Miß Admiral‹ machen es nach unserer Überzeugung mehr als wahrscheinlich, daß Schlichter wenigstens zeitweise auch gerne Bücher Karl Mays illustriert hätte; ebenso wahrscheinlich ist aber auch, daß der eher konservative Radebeuler Karl-May-Verlag dankend auf eine Mitarbeit des erotomanen Malers verzichtet hätte (ganz abgesehen da-


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von, daß die Bildabstinenz im Innern der ›grünen Bände‹ längst obligat geworden war und also allenfalls eine Deckelbildgestaltung in Frage gekommen wäre).86 Pragmatische, nicht programmatische Gründe, wie sie Dirk Heißerer annimmt,87 dürften es also gewesen sein, die es in den zwanziger Jahren nicht zu einem ausgesprochenen May-Zyklus Schlichters kommen ließen. Die Annahme jedenfalls, der Maler habe die »konkreter gefaßten, dramatischer und grausamer gestalteten Geschichten« Hartes, Sealsfields oder Geists deshalb vorgezogen, weil sie seinen heimlichen Obsessionen mehr entsprachen,88 wird rasch hinfällig, wenn man an die blutige Old-Firehand-Geschichte, an den grauenhaften Tod Old Wabbles und anderer Schurken oder auch nur an die Peitschenorgien Hadschi Halef Omars denkt. Eine indirekte May-Reminiszenz findet sich im übrigen noch in Egon Erwin Kischs Reportagebuch ›Wagnisse in aller Welt‹ (1927): Schlichters Zeichnung zum einleitenden ›Ritt durch die Wüste und über den Schott‹ (Abb. 13)89 könnte ohne weiteres auch die Schott-el-Dscherid-Episode in Mays Reiseerzählung ›Durch die Wüste‹ illustrieren und trifft sich in dieser Hinsicht genau mit Kischs eigener Intention.90

   Gegen Ende der zwanziger Jahre verlieren sich dann jedoch die May-Spuren im malerischen und zeichnerischen Werk Rudolf Schlichters. Die Gründe dafür scheinen auf der Hand zu liegen: Schlichter verließ zur selben Zeit resigniert die Rolle als Revolutionär und Bürgerschreck und zog sich, darin bestärkt durch seine abgöttisch verehrte und daher nun vielfach von ihm porträtierte Frau Speedy, eine Madonna und Domina zugleich, aus dem Politischen ins Private zurück.91 Äußerlich sichtbar wurde dieser Rückzug 1932 durch die Übersiedlung aus der Großstadt Berlin in die heimische Provinz, nach Rottenburg am Neckar. Er fand wieder zur katholischen Kirche und umgab sich bald mit konservativen Nationalisten wie Ernst Jünger, Arnolt Bronnen oder Ernst von Salomon. Der aufkommende Faschismus tat ein übriges, Schlichter und die meisten seiner neuen Bilder, unter denen nun vor allem realistische Landschaftsdarstellungen der Schwäbischen Alb hervortraten, harm- und belanglos werden zu lassen. Da war offenbar kein Platz mehr für Karl May, für den Autor, bei dem er einst »auf die Unmittelbarkeit der Affekte, auf existentielle Betroffenheit, die unter die Haut geht«, gestoßen war, der in ihm die »lebendige Sprengkraft« aktiviert hatte, »die notwendig war, um sich gegen die kleinbürgerliche Engstirnigkeit aufzulehnen« und »gegen den bürgerlichen Kulturbetrieb und dessen Normen«.92

   Aktuelle ideologische Vorbehalte, von denen noch zu reden sein wird, verstärkten später die Distanz zu Karl May. Schlichters Vorliebe für James Fenimore Cooper und Friedrich Gerstäcker hingegen blieb von seiner Wandlung bemerkenswert unberührt. So machte der Maler dem Rowohlt Verlag 1938 den Vorschlag, Coopers ›Die Grenzbewohner oder die Beweinte von Wish-ton-Wish‹ zu illustrieren (heute vor allem durch die ›Conanchet‹-Übersetzung Arno Schmidts bekannt); der Plan, wohl weniger


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aus innerem Enthusiasmus als aus dringend notwendigen finanziellen Erwägungen geboren, zerschlug sich freilich schon deshalb, weil der Lektor Friedo Lampe Coopers Roman für »altmodisch und romantisch-sentimental« hielt.93 Ebensowenig kam es wegen der Kriegswirren zu einer illustrierten Ausgabe der ›Lederstrumpferzählungen‹, für die Schlichter im November 1943 bereits einen Vertrag mit dem Züricher Atlantis Verlag geschlossen hatte. In seinem Nachlaß sind lediglich drei Zeichnungen zum Thema erhalten.94 Aus derselben Zeit dürfte aber auch ein in Privatbesitz überliefertes Aquarell stammen, das in sehr genauer Zeichnung (bis hin zu den ziselierten Körpertätowierungen der Indianer) eine Szene aus der ›Lederstrumpf‹-Erzählung ›Der letzte Mohikaner‹ (mit dem weisen Tamenund, Hawk-eye, Major Heyward und Unkas) wiedergibt.95 Etwas glücklicher war Schlichter, wohl auch dank persönlicher Beziehungen, mit seinen Illustrationen zu Friedrich Gerstäcker. 1949 erschienen im Rottenburger Verlag der Deutschen Volksbücher Gerstäckers Erzählungen ›Aus dem Wilden Westen‹ mit einer kurzen ›Einführung‹ des Malers; seine Zeichnungen zu diesem Bändchen sind freilich nur noch konventionell.96

   Weder in der Zeit seiner inneren Emigration noch nach 1945, als er sich zum Surrealisten gewandelt hatte, fand Rudolf Schlichter als Künstler wieder den Weg zu Karl May und zur alten Kraft. Im Dezember 1943, unter dem Eindruck der Bombenhagel, schrieb er dem Freund Paul Wilhelm Wenger, es sei »nicht uninteressant, daß sich, je mehr die Drohung wächst, der Wille u. die Lust zu dem festigt, was man im Grunde seines Herzens von Jugend auf liebte«: »So ist die Welt, die ich in meinen Jünglingsjahren mit aller Kraft liebte u. die meine Seele formte in einigen Erscheinungen verankert, die nach wie vor meinen Traum nähren (...). Das war zuerst die Hl. Schrift u. 1001 Nacht, später Dostojewsky, Flaubert, Cooper, um die typischen Exponenten bestimmter Kulturlandschaften zu nennen. Darum herum gruppieren sich die andern für mich liebenswerten Geister.«97 Zu diesen »liebenswerten Geistern« hatte vor allem Karl May gehört. Daß der Maler ihn dennoch nicht mit Namen nennt, ist kein Zufall.



II.


Rudolf Schlichters Leben und Werk erweisen ihn als eine zutiefst ambivalente Persönlichkeit. Obschon er seine Herkunft leidenschaftlich haßte, blieb er ihr ein Leben lang verbunden; obwohl er alles Kleinbürgerliche zornig verachtete, wurde er nicht müde, es immer wieder neu zu thematisieren. Sein Weg führte ihn aus der Provinz in die Weltstadt und wieder zurück; ideologisch bewegte er sich von einem mühsam errungenen revolutionären Linksintellektualismus hinein in das Lager kulturkonservativer Katholiken und Nationalisten. Auch sein künstlerisches Werk ist so uneinheitlich, von


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so unterschiedlichen Stilrichtungen bestimmt, daß man mitunter glauben könnte, hier seien verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Maler tätig gewesen. Konstanten lassen sich erkennen: das uneingelöste Primat des Individuums in allem gesellschaftlichen Wandel, die bis zur Destruktion reichende Erfahrung der Entfremdung, die jeden bloßen Formalismus meidende realistische Darstellungsweise, nicht zuletzt die sexuellen Obsessionen, die selbst noch im surrealistischen Spätwerk durchschlagen. Insgesamt aber steht Rudolf Schlichter als ein Künstler zwischen allen gängigen Fronten da, nirgends endgültig einzuordnen und zerrissen auch in sich selbst. Er selbst diagnostizierte für sich sogar eine schizophrene Disposition, die »erstaunliche Tatsache einer vollständigen Spaltung (seines) Gefühlslebens«,98 die er auf typisch deutsche und besonders schwäbische Befindlichkeiten zurückzuführen suchte: »Eine solche Aufspaltung des Gut- u. Bösekomplexes stürzt mich (...) immer wieder von neuem in Wirrnis u. schwerste Bedrängnis. Ist diese Dualität doch das fruchtbare Substrat meiner Produktion mit einer leider nicht unbedenklichen u. hemmungslosen Akzentuierung des Negativen. Das Wandern an Abgründen u. lustbetontes Schauen in die Tiefen der Verderbnis bezahlt sich teuer. Aber was will man machen, hier giebt es kein Kneifen, dem Zwang von Thesis u. Antithesis kann keiner entrinnen.«99 Von hier aus ist es nicht weit zur Dualität von Ardistan und Dschinnistan und zum Selbstbefund Karl Mays als »gespaltene(r) Persönlichkeit«100 in der »Abgrund«-Zeit seiner Verfehlungen, wofür ihm nach seinem Bekenntnis in ›Mein Leben und Streben‹ das fiktive Buch ›Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt‹ zur erklärenden Chiffre wurde.101 Beide Autobiographien, die des Schriftstellers wie des Malers, gehören zu den eindrucksvollsten Offenbarungen einer neurotischen Charakterstruktur im 20. Jahrhundert.

   Wie wir bereits sahen, war auch Schlichters Verhältnis zu Karl May ambivalent, zwischen Faszination und Ablehnung schwankend. Nirgends wird dieser Dualismus deutlicher als in zwei Texten, die erst jüngst bekannt wurden (›Karl Mays Gestalten‹ und ›Karl May. Ein deutsches Phänomen‹). Anlaß war in beiden Fällen der 100. Geburtstag des Radebeuler Dichters am 25. Februar 1942, und doch könnte man annehmen, die Aufsätze stammten, wenn schon nicht von verschiedenen Autoren, so doch aus ganz unterschiedlichen Zeiten.

   An Ernst Jünger schrieb Rudolf Schlichter am 19. Januar 1954: »Mich beschäftigt (...) immer wieder das 19. Jahrh., dieses ungeheuer profanierende, gefühlsbeladene u. zugleich an geistigen Teufeleien so reiche Säkulum. Auch der Beginn des 20igsten, wo die Früchte seiner Denkequilibristik der Ernte entgegen reiften. Ich selbst wurzle ja noch im 19. u. verstehe so gut die Anziehungskraft, die heute noch von seinen Spitzenerscheinungen ausgeht. Auf höherer Ebene die Zauberer Wagner und Nietzsche, auf der populären Karl May, alle drei deutsche (spez. sächsische) Phänomene, Erfinder von


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Übermenschen - Siegfried, Zarathustra, Old Schatterhand - Kara ben Nemsi. Das ist einmalig, nur hier denk- u. schauerlich vollziehbar. Mir läuft's manchmal kalt u. heiß den Rücken hinunter, kalt vor Grausen, heiß vor Begeisterung.«102

   Schlichters Antagonismus in der Rezeption Karl Mays ist in der zuletzt zitierten Formel auf den kürzesten Nenner gebracht. »Heiß vor Begeisterung« scheint der Aufsatz mit dem doppelsinnigen Titel ›Karl Mays Gestalten‹ geschrieben, der am 22. Februar 1942 in der Sonntagsausgabe der ›Berliner Börsen-Zeitung‹ erschien und hier zum ersten Mal wiederveröffentlicht werden kann:103



Karl Mays Gestalten
Zur Wiederkehr seines 100. Geburtstages am 25. Februar


»Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund [widerlicher als eine Ratte, die nur verfaultes frisst]?« Wer unter uns Karl-May-Lesern erinnerte sich nicht mit pietätvoller Lust dieser von dem unvergeßlichen Hadschi Halef Omar seinem Herrn Kara ben Nemsi gehaltenen Bekehrungsrede, womit das erste Buch der ersten sechsbändigen Romanreihe anhebt. Sogleich sind wir entrückt in die heiße Welt des islamischen Orients, und voll Spannung verfolgen wir den Ablauf der tollen Abenteuer, die fast sämtliche Provinzen des alten türkischen Reiches zum Schauplatz haben. Gleich einem neuen Cid oder Amadis von Gallien hetzt der intelligente und glaubensstarke Kara ben Nemsi hinter einer Unterwelt von Nachtalben her [deren fleckenlose Bösartigkeit allein schon seinem Erfinder alle Ehre macht]. Ich glaube kaum, daß man noch irgendwo in der europäischen Literatur so vollkommene Bösewichter auftreiben kann. Ihnen entgegen steht die [ebenso] fleckenlose Lichtgestalt Kara ben Nemsis, die nicht nur mit einer unüberwindlichen Körperkraft ausgestattet ist, sondern die auch noch alle Tugenden und Vorzüge eines deutschen Mannes und Christen besitzt. Auch diese Erschaffung [Schöpfung] des völlig sündlosen, von aller Schuldverstrickung freien und keiner menschlichen Leidenschaft unterliegenden Helden ist einmalig. Doch nicht nur hierin unterscheidet er sich von seinen älteren Vorgängern. Er hat es beispielsweise nicht mehr nötig, mit geweihten oder verzauberten Waffen den Gegner zu besiegen. Seine Zauberwaffe ist ein Wunder der Technik und seine körperliche Ueberlegenheit ist einfach die eines Zirkusartisten, erreicht durch pausenlose Ertüchtigung. Denn er handhabt den Lasso wie ein Mustercowboy, schleudert die Bolas fixer als ein Gaucho, wirft den Czakan gewandter als der Skipetar, reitet mit dem Sioux um die Wette, ficht wie ein altfranzösischer Edelmann und schwimmt wie ein Polynesier. Und er macht kein Geheimnis daraus, wie er in den Besitz der Wunderwaffen gelangt und wie man die stupenden Eigenschaften erwirbt, womit er vor der staunenden Welt brilliert. Da gibt es keine geheimnisvollen Zwerge, Hexen oder


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mächtige Zauberer, die im Dunkel der Erde unzerbrechliche Schwerter oder Zauberspeere anfertigen. Sein Zauberer ist ein nüchterner amerikanischer Büchsenmacher und seine Lehrmeister sind brave Indianer und Beduinen. Alles geht im hellen Tageslicht des 19. Jahrhunderts vor sich. Und doch sind wir bei seiner Lektüre weit stärker von einem geheimnisvollen Zauber gefesselt als bei allem Zauberbrimborium der alten Geschichten. Es scheint, daß die hier proklamierte Selbstherrlichkeit und Mächtigkeit eine unwiderstehliche Anziehung auf eine Jugend ausübte, die in der Drangsal des unablässigen Lernens und Bemühens endlich dies lohnende Ziel hingestellt sah: die Welt mit kraftvollem Arm zu befrieden. Der Allmächtige, als dessen Weltpolizist er sich mit so erfolgreichen Taten in Szene setzte, war nicht mehr der alte magische Donnerer, sondern bereits der väterliche Weltgeist der neuen Zeit.

   Außer der ihn von den Draufgängern alten Stils unterscheidenden Sündlosigkeit und Freiheit von aller tragischen Problematik - hierher gehört auch das völlige Gefeitsein gegen die Fallstricke des anderen Geschlechts - fällt bei seinem Helden noch zweierlei auf: das versteckte soziale Ressentiment und ein merkwürdiger naiver und zugleich exzentrischer Humor. Das soziale Ressentiment läßt er als echter Volksschriftsteller bei jeder sich bietenden Gelegenheit - wenn auch sehr versteckt - aus dem Sack. So sind die Reichen und Vornehmen meist entweder hochmütige Protzen oder spleenige, äußerst tapsige englische Lords; oft sind sie aber auch böse Machthaber, deren Hauptsport in der Erniedrigung braver Seelen aus dem armen Volke besteht. Eine derartige triviale Klassifizierung könnte störend wirken (und manchmal streift sie auch hart an die Grenze des Peinlichen), würde sie nicht aufgehoben durch einen bezaubernden Ton von Gemütswärme, der diese Gestalten [aus dem Volke] mit der Aura einer sympathischen Menschlichkeit umgibt. Bezeichnenderweise sind es fast immer dem dienenden Stande angehörige Personen, denen seine ganze Zuneigung gehört: so der wackere Halef, Omar ben Sadek, Janik, Anka, Nebatja usf. Indes hier bewegt sich die Anwaltschaft für die Bedrückten immer noch in den üblichen Bahnen. Dagegen schlägt die soziale Revolte wahrhaft geniale Purzelbäume, wenn der Held mit den miserablen Vertretern einer tyrannischen, ungerechten Obrigkeit in Konflikt gerät. Was er uns hier an witziger Verhöhnung aufgeblasener, sich nur auf brutale und stupide Gewalt stützender Scheinautorität bietet, gehört zum Schönsten, was je in dieser Hinsicht geleistet wurde. Eine ausgelassene Situationskomik, die auch vor den gewagtesten Bildern nicht zurückschreckt, wetterleuchtet durch diese Szenen. [Welche Wonne erfüllt uns, wenn wir sehen, wie er mit der korrupten Obrigkeit umspringt.] Wie wohl tut es uns, wenn die Kurbatsch des guten Halef auf den [Hintern und] Rücken der bösartigen ärarischen und fiskalischen Quälgeister tanzt, die als faule Kawassen, anmaßende Kiajas, alberne Wekils und schurkische Kodscha Baschas sein türkisches Szenarium bevölkern. Hier waltet ein wirklich echter Humor, der unmittelbar aus dem Volksempfinden wächst. [Wie oft mochte er sich dabei der heimatlichen Lokaltyrannen erinnert haben. Wie sehr kommt er da den unausgelebten Süchten seiner Leser entgegen. Oh-


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ne Gefahr für ihre bürgerliche Existenz können sie im verschwiegenen Kämmerlein ihre unterdrückten Rachegefühle abreagieren.]

   Nicht weniger anregend sind seine Darstellungen subalterner Beamter und närrischer Berufsmaniker nebst ihren verschiedenen Wirkungsbereichen. Manchmal erreicht er in den Schilderungen von Barbierstuben, Apotheken und anderer Lokalitäten durch die Häufung oder Aneinanderreihung der unmöglichsten Gegenstände eine geradezu umwerfende Wirkung. Man lese z. B. einmal die folgende Aufzählung im 2. Band »Durchs wilde Kurdistan«, Seite 209: »Ich trat in die kleine Budika und sah mich von einem Chaos von allerlei nötigen und unnötigen Dingen umgeben. Ranzige Pomaden, Pfeifenrohre, alte vertrocknete Pflaster und Talglichter, Rhabarber und brauner Zucker in einem Kasten, Kaffeebohnen neben Lindenblüten, Pfefferkörnern und geschabter Kreide, Sennesblätter in einer Büchse, auf welcher Honig stand; Drahtnägel, Ingwer und Kupfervitriol, Seife, Tabak und Salz, Brillen, Essig, Scharpie, Spießglanz, Tinte, Hanfsamen, Gallizenstein, Zwirn, Gummi, Knöpfe, Schnallen, Teer, eingemachte Walnüsse, Teufelsdreck und Feigen.«

   Ich muß gestehen, angesichts eines solchen Aufzugs wandelt mich die Lust an, Kopf zu stehen und mit den Beinen zu winken.104 Und nicht minder stark zwickt mich die Lust zu solchen Kapriolen bei seinen prächtigen Dialogen mit den verschiedenen dunklen und hellen Gestalten seiner exotischen Panoramen. Wenig Autoren fürwahr gibt es in unserer Zeit, die wie er imstande wären, eine so köstliche Mischung von burlesker Groteske und atemraubender Spannung zu erzeugen. Gewiß, seine Erzählungen weisen viele sprachliche Saloppheiten und Unzulänglichkeiten auf; auch geraten sie oft bedenklich in die Nähe einer billigen Kolportage. Aber all dies wiegt nicht schwer gegen sein großes Talent, Junge wie Alte seiner zahlreichen Leserschaft den trüben und toten Stunden des verdrießlichen Alltags zu entreißen und in das schimmernde Phantasiereich seiner buntscheckigen Figuren und Staffagen zu entführen. Dafür sei ihm immerdar Dank gesagt mit den schönen Worten seines treuen Beschützers und Freundes Halef: »Kara ben Nemsi Emir el baracki, el muhab'bi, lilistiskar, es sallah!«, auf deutsch: »Kara ben Nemsi Emir sei Segen, Liebe, Andenken und Gebet!«



Abgesehen vielleicht von einigen (für den Zeitungsdruck zum Teil gestrichenen) Stellen, die eher unfreiwillig etwas von den sexuellen Obsessionen des Autors verraten (etwa seiner Vorliebe für Prügelszenen), dürfte es an diesem Text kaum etwas geben, mit dem nicht auch heute noch jeder begeisterte May-Leser ohne weiteres einverstanden sein könnte. Schlichters Perspektive ist hier noch einmal ganz die des jugendlichen Fanatikers; die von ihm beschriebenen Gefühle der »Lust« und »Wonne«, »Spannung« und ›Entrückung‹ wurden und werden von allen abenteuerhungrigen Lesern geteilt, und der »geheimnisvolle Zauber« entzündet sich tatsächlich immer wieder an den von ihm genannten Elementen, an »tollen Abenteuern«,105


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»vollkommenen Bösewichtern«, der »fleckenlosen Lichtgestalt« des aufgeklärten Ich-Helden mit ihrem »sozialen Ressentiment« gegenüber den Reichen und Mächtigen und der »sympathischen Menschlichkeit« gegenüber den »Bedrückten«, an »ausgelassener Situationskomik« und »prächtigen Dialogen«, kurzum: an der »köstlichen Mischung von burlesker Groteske und atemraubender Spannung«. Daß Schlichter auch (mit einigem Recht) auf literarische Schwächen hinweist, die gelegentliche Nähe zu »billiger Kolportage« bemängelt, die allzu »triviale Klassifizierung« oder die »sprachlichen Saloppheiten und Unzulänglichkeiten«, verringert keineswegs die von ihm postulierte und selbsterfahrene Wirkkraft, im Gegenteil bekräftigen solche Einschränkungen die emotionale Echtheit seines insgesamt enthusiastischen Urteils, das in der vom »unvergeßlichen« Hadschi Halef Omar entliehenen Danksagung gipfelt.106

   Schlichters warmherzige Eloge auf Karl May bedürfte also weiter keines Kommentars, gäbe es nicht noch den zweiten Text aus annähernd derselben Zeit (›Karl May. Ein deutsches Phänomen‹), der im krassen Gegensatz dazu »kalt vor Grausen« geschrieben scheint, und hätte dieser nicht noch das Verständnis des ersten innerhalb der Schlichter-Forschung negativ beeinflußt. Eine verzeihliche Unkenntnis über Karl May107 und eine Unterschätzung seiner Bedeutung für den Maler dürften mit dazu beigetragen haben, daß der im übrigen sehr verdienstvolle Schlichter-Herausgeber Dirk Heißerer die Lobeshymne in der ›Berliner Börsen-Zeitung‹ nicht ernst nehmen, sondern nur ironisch auffassen konnte als ein Beispiel für die ›Doppelsprache im Dritten Reich‹. Als »Subtext« nimmt er bereits im Jubiläumsartikel »kritische Ansätze« zu einem »Bild deutschen Totschlagwesens« wahr,108 die dort in Wahrheit allenfalls rudimentär angelegt sind. Die von Heißerer ansonsten durchaus anerkannte Widersprüchlichkeit Schlichters scheint für ihn ausgerechnet in der Beziehung zu Karl May keine Geltung zu haben, so daß für ihn der spätere Text der ›gültigere‹ der beiden ist. Nicht nur Karl May, auch Schlichter muß man hier in Schutz nehmen.

   Schon Heißerers Hinweis, bei dem Artikel der ›Börsen-Zeitung‹ handele es sich um »eine ›offizielle‹ Variante« eines für die Schublade geschriebenen »Klartext(es)«, eben des ›Phänomen‹-Aufsatzes,109 ist mindestens irreführend, da suggeriert wird, beide Texte unterschieden sich nur in der Deutlichkeit der Aussage - was der Leser der Schlichter-Ausgabe nicht überprüfen kann, weil ihm lediglich innerhalb des Kommentars einige wenige Zitate der »offizielle(n)« Version geboten werden. Tatsächlich stimmen die beiden höchst unterschiedlichen Texte im wesentlichen nur in der Beschreibung der außerordentlichen Fähigkeiten Old Shatterhands, hier allerdings zum Teil sogar wörtlich, überein. Wenn Heißerer dann feststellt, der »Vergleich« der beiden »Variante(n)« zeige »Schlichters Begabung, sein Thema als Subtext zwischen den Zeilen zu formulieren und dabei die ›sich nur auf brutale und stupide Gewalt stützende() Scheinautorität‹ doppeldeutig


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ebenso allgemein wie mit konkret aktuellem Bezug zu benennen«,110 so zeigt sich eher, daß eine vorgefaßte Meinung auch zu selektiver Lesewahrnehmung führen kann. Nicht Karl May resp. sein Alter ego wird ja von Schlichter als »Scheinautorität« denunziert, die Rede ist vielmehr ganz im Gegenteil von der »witzigen Verhöhnung« der Antipoden Kara Ben Nemsis, den »miserablen Vertretern einer tyrannischen, ungerechten Obrigkeit«, den in den Orient projizierten »heimatlichen Lokaltyrannen«, mit denen May nur zu sehr seine Erfahrungen hatte. Das Beispiel zeigt nebenbei, daß Schlichter auch über die Biographie Karl Mays inzwischen einigermaßen Bescheid wußte, wobei er offenbar dennoch weiterhin Autor und Protagonist miteinander identifizierte. Wenn er aber - was durchaus anzunehmen ist - bei der »aufgeblasenen, sich nur auf brutale und stupide Gewalt stützenden Scheinautorität« insgeheim an die Nazischergen dachte, so stand für ihn Karl May zumindest in diesem Zusammenhang auf der richtigen Seite.

   Wenig geeignet für eine Interpretation als »Subtext« ist auch Heißerers Hinweis auf die vermeintliche »Kernthese« Schlichters, es scheine, daß Mays »proklamierte Selbstherrlichkeit und Mächtigkeit eine unwiderstehliche Anziehung auf eine Jugend ausübte, die in der Drangsal des unablässigen Lernens und Bemühens endlich dies lohnende Ziel hingestellt sah: die Welt mit kraftvollem Arm zu befrieden«. Zwar ist den Begriffen »Selbstherrlichkeit« und »Mächtigkeit« bereits etwas Pejoratives immanent, das spätere Aussagen Schlichters antizipiert, aber sie werden hier doch gleich mehrfach abgeschwächt, indem sie etwa mit »geheimnisvollem Zauber« konnotiert sind und der Ich-Held als »Weltpolizist« bezeichnet wird, der im Auftrag eines »väterlichen Weltgeists« mit seinen »erfolgreichen Taten« die Welt eben nicht - wie der Interpret möchte - unterjochen oder bekriegen, sondern vielmehr »befrieden« will, was bei dem Pazifisten May wörtlicher zu nehmen ist, als Schlichter wohl selbst wußte. Entscheidender für die richtige Bewertung dieser Stelle scheint jedoch noch etwas anderes, das auch für den von Heißerer angeführten, ungedruckt gebliebenen Passus über die »heimatlichen Lokaltyrannen« und die »unausgelebten Süchte« der Leser gilt, die sie »ohne Gefahr für ihre bürgerliche Existenz (...) im verschwiegenen Kämmerlein (...) abreagieren«. Daß es sich bei diesem letzten Zitat um »eine zu deutliche kritische Anspielung«111 handelt, ist zweifellos richtig, aber sie gilt ebenso wie auch der vorige Passus nicht in erster Linie allgemein der wilhelminischen »Jugend« oder dem kleinbürgerlichen »Leser« als Wegbereitern des Faschismus, sondern Schlichter spricht hier überdeutlich von sich selbst und der eigenen Leseerfahrung: Wie seine Bekenntnisse in der Autobiographie hinreichend belegen, waren es eben »Selbstherrlichkeit und Mächtigkeit«, die für ihn (nicht nur bei May) eine »unwiderstehliche Anziehung« in der Drangsal des Alltags ausübten und ihm zur heimlichen Befriedigung »unterdrückter Rachegefühle« dienten.


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Diese kritische Selbsterkenntnis vor dem Hintergrund des aktuellen Faschismus könnte erklären, weshalb Schlichter nach psychischer Entlastung suchte und in einem zweiten Anlauf Karl May nun nicht nur für die eigenen, sondern gleich für die Verstrickungen des ganzen deutschen Volkes verantwortlich machte.

   Während Schlichters Artikel in der ›Berliner Börsen-Zeitung‹ eigentlich erst durch seine heutige Rezeption problematisch wird, vermag die Tendenz des undatierten Nachlaßtyposkripts ›Karl May. Ein deutsches Phänomen‹ tatsächlich zu irritieren. Daß er nur kurz nach dem Jubiläumsaufsatz entstanden sein soll, ist schwer vorstellbar; solange es jedoch keine anderen Datierungshinweise gibt, müssen wir uns der Ansicht des kundigen Schlichter-Forschers Dirk Heißerer anschließen, der aufgrund der Typoskriptbeschaffenheit (Papierqualität, Stockflecken, Rostflecken einer Büroklammer etc.) und inhaltlicher Zusammenhänge mit anderen zeitkritischen Texten112 fest davon überzeugt ist, daß auch dieser Text 1942 anläßlich des 100. Geburtstages von Karl May entstand.113 Immerhin halten wir es aber für wahrscheinlich, daß mindestens mehrere Monate zwischen den beiden Aufsätzen liegen. Ausgeschlossen werden kann eine Entstehung nach 1945, und zwar nicht nur aus inhaltlichen Gründen (aktuelle Bezüge zu Faschismus und Weltkrieg). Der Text ist im Original und als Durchschlag (mit identischen handschriftlichen Korrekturen) erhalten, war also erkennbar für die Schublade geschrieben. Der Aufsatz erschien erstmals 1995 im Sammelband ›Die Verteidigung des Panoptikums‹:114



Karl May
Ein deutsches Phänomen


Die Bedeutung Karl Mays für die seelische Formung des deutschen Volkes im letzten halben Jahrhundert ist, wie mir scheint, bis jetzt noch nicht genügend erkannt worden. Es ist kein Zufall, daß zur selben Zeit, als Nietzsche seinen Übermenschen konzipierte, Old Shatterhand-Kara ben Nemsi im dunstigen, gewitterschwangeren Zwielicht des neuen Deutschlands das Licht der Welt erblickte. Er wuchs rasch und eroberte sich die Herzen und Hirne nicht nur der Jugend, sondern auch zahlloser Erwachsener. Wie hätten auch einem solchen Helden, der die unausgesprochenen Sehnsüchte von Millionen schnell aufgeschossener, von einem unstillbaren Appetit befallener deutscher Gründerzeitflegel verkörperte, die Klassiker standhalten können. Diese armen Klassiker, deren nüchternes Menschenbild sich neben der sieghaften christlich-germanischen Schmetterhand in ein wesenloses Nichts auflöste, hatten einer Rasse, der die Kleider oben und unten zu eng wurden und deren Muskeln so zu schwellen begannen, daß sie in keinen Rock mehr hineinpaßten, nichts mehr zu geben. Sie waren auf den Altenteil gesetzt und dienten höchstens noch als Aushängeschilde oder Warenmarken für expansionstrunkene Emporkömmlinge. Ganz


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zu schweigen von jenen erhitzten Köpfen und empfindsamen Nervenbündeln, die, von düsterem Pessimismus heimgesucht, abseits vom großen nationalen Aufbruch der erwachten Massenseele einen leidenschaftlichen, dieser aber völlig unverständlichen und gleichgültigen Kampf um Naturalismus, Symbolismus oder sonst einen Ismus führten. Sie wurden einfach nicht bemerkt, oder man begegnete ihnen mit offener Feindschaft. Der im pubertären Stadium steckengebliebene deutsche Allerweltsbramarbas brauchte für seine juvenile Phantasie einen idealen Helden, in dem er sich spiegeln konnte und der ihn erfolgreich an der ihm so lästigen kritischen Einkehr und reifemachenden Einsicht zu hindern vermochte. Denn sein Trieb ging in die weite Welt; er hatte Hunger, und voll Gier schielte er abenteuerlustig nach den Schätzen der Erde. Er ertrug die Enge seines Vaterlandes nicht mehr, er fühlte sich ihr entwachsen und über alle Maßen leistungsfähig. Auf jedem Gebiet trachtete er die andern niederzukonkurrieren oder sie seine starke Schmetterhand fühlen zu lassen. Nicht umsonst hatten alle diese nach Macht und Reichtum gierenden schnurr- und knebelbärtigen Eisenköpfe auf dem Pennal ihren Winnetou oder den Ölprinzen in sich hineingeschlungen und in ihrer Seele einen unvergänglichen Altar der Selbstherrlichkeit und des unausweichlichen Erfolges errichtet. So wurden der Henrystutzen und der Bärentöter für sie zum Symbol überlegener Waffenhandhabung; zwar im Auslande erfunden und von dort bezogen, wurden sie doch erst in der kundigen Hand des deutschen Überhelden zu jenen furchteinflößenden Wunderwaffen, die den Schrecken zurückgebliebener Völkerschaften bildeten. Sein Ehrgeiz, es allen andern nicht nur gleichzutun, sondern sie auch noch auf ihrem ureigensten Gebiet zu übertreffen, wurde mächtig angefeuert durch die stupenden Fähigkeiten Shatterhands, der besser reitet als ein Apache, sicherer trifft als Lederstrumpf, den Lasso gewandter wirft als ein Cowboy, die Bolas fixer schleudert als der Gaucho, im Tomahawkwerfen den Sioux beschämt, in der Handhabung des Czakan den Skipetar übertrifft und im Speerkampf über den Beduinen obsiegt; der ficht wie ein altfranzösischer Edelmann und schwimmt wie ein Polynesier; der hohe Politik treibt wie ein Bismarck und Feldherrngaben entwickelt wie ein Moltke. Mit einem Wort, er wurde das Urbild jenes deutschen Tausendsassa, der mit seinem schnoddrigen »können wir ooch« die Welt aus den Angeln zu heben vermeint. Er vereinigte alle Trivialitäten und Gemeinplätze der deutschen Spießerseele in sich, aber er versah sie mit den Riesenflügeln einer dichterischen Phantasie von ungewöhnlichem Ausmaße. Er eroberte sich im Geiste Kontinente und zwang die Großen der Erde in seinen Dienst. Vorwegnehmend zeigte er, wie eine Neuordnung der Welt durch Deutschland aussehen würde: bedingungslose Gefolgschaft unter Ausschaltung jeder selbständigen Willensäußerung. Was Old Shatterhand unternimmt oder was unter seiner Leitung unternommen wird, gelingt und trägt die Garantie des Erfolges in sich; alles, was andere aus eigener Initiative unternehmen, mißlingt oder trägt zum mindesten den Keim des Mißlingens in sich. Er ist der geborene Führer, und wehe dem, der ihm widerstrebt: die Hand des Allmächtigen kommt in Gestalt der schmetternden Faust wie ein rächender


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Blitz über ihn. Eine Gestalt, so schwindelerregend sündlos und so frei von jeder Schuldverstrickung wie dieser absolute, pure Lichtpinkel findet sich in keinem Werke der Weltliteratur. Sie ist eine einmalige, originale Erfindung made in Germany, in einem andern geistigen Klima nicht vorstellbar; weder vor noch nach ihm wird es je wieder möglich sein, eine solche Gestalt aufzufinden. Sie gehört zum Mythos des deutschen Volkes, und sie trägt alle jene Züge, die dieses Volk den andern Erdenbewohnern so schwer verdaulich macht: den unstillbaren Machthunger, die prahlerische Selbstgefälligkeit, die unnaive Überheblichkeit und die daraus entspringende verletzende Taktlosigkeit; das Ressentiment, die völlige Kritiklosigkeit dem eigenen Wesen gegenüber und - die fatalste Frucht einer lange gezüchteten Schizophrenie - die idealistische Verlogen- und Verbogenheit als Tarnkappe für seinen uferlosen Egoismus. Diese Eigenschaften, verquickt mit einem größeren Aufstiegswillen, ermöglichten es ihm, vor sich selbst und vor anderen die wirklichen Beweggründe seiner dunklen Süchte mit dem dicken Weihrauch frömmelnder Sprüche geschickt zu vernebeln. Für alle Fußtritte, Demütigungen und Entwürdigungen, die er als armseliger, nach dem Lichte strebender Nachtalbe von den einheimischen Machtgötzen in Kauf nehmen mußte, rächte er sich, indem er die Angehörigen fremder Nationen mit all den üblen Lastern versah, die er in so reichlicher Auflage bei den großen und kleinen Tyrannen seiner Heimat vorfand. So entstand aus dem Mangel an Zivilcourage jenes üble Völkerzerrbild, das noch die Enkel beflügelt und das als Rechtfertigung dient für die tobsüchtige, ressentimentgeladene Vernichtungswut, die heute den europäischen Kontinent in Schutt und Asche zu legen droht. Darüber hilft auch die dickwattierte christliche Humanität, womit sein Held dem geduldigen Leser auf Schritt und Tritt auf die Nerven geht, nicht hinweg, zumal sie sich bei näherem Hinsehen nur als die geschickte Verkoppelung eines alten, sehr lukrativen Kolportagetricks mit der guten Witterung für Konjunktur erweist. Man vergesse nicht, seine Zeit hallte wider von den Forderungen nach Humanität und sozialer Ethik. Wollte er bei seinen Zeitgenossen Erfolg haben, so mußte er diesen Ton sogar zum dominierenden in seinem abenteuerlichen Orchester machen. Auch der in späteren Werken so konzessionsfreudig unternommene Versuch, die lockende Fata Morgana eines planetarischen Friedensreiches auf den verdüsterten Horizont Europas zu zaubern, mildert dieses Bild nicht. Gewiß, er war nicht der alleinige Urheber dieses Monumentes von Schiefheit und Ignoranz; Hunderte von nationalen Soldschreibern jeglichen Formats waren an dem unlöblichen Werk beteiligt. Aber keiner hat es so wie er verstanden, die berauschenden Narkotika exotischer Figuren und Landschaften mit dem tödlichen Gift des deutschen Wahnes zu einem solch gefährlichen Zaubertrank zu manschen. Ich glaube, jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, welch maniakalische Wirkung diese einprägsamen Gestalten auf die jugendliche Psyche ausübten; sie lassen manchen guten Mann das ganze Leben lang nicht mehr los. Wahrlich, weit mehr als je ein Werther, Faust oder Tasso hat die fatale Schmetterhand den seelischen Habitus des Deutschen zwischen 1880 und 1914 bestimmt. Wenigstens des


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Deutschen, auf den es im politischen Raume ankam und den wir jetzt wieder so prächtig am Werk sehen.

   Eine ebenso eigenartige Schöpfung wie seine Schmetterhand sind seine Bösewichter. Nirgendwo in der Weltliteratur wird man je wieder eine so vollkommene Schwarzweißtechnik finden wie in den Schöpfungen dieses sächsischen Kriminalfalls. Seine Schurken sind sozusagen vollkommene Schurken, Inkarnationen des Bösen von einer geradezu unirdischen, übermenschlichen Größe. Man stöbere alle Romane von der ältesten bis in die neue Zeit durch, vergeblich wird man nach solch fleckenlosen Nachtgestalten suchen. Ihre Wirkung auf unausgereifte Gemüter ist auch dementsprechend; sie gleicht der von konzentriertem Alkohol. Und hier komme ich auf das wesentlichste Merkmal seiner seltsam unwirklichen Fabelwesen. Diese Bösewichter entbehren genau wie seine Guten jedes menschlich rührenden Zuges. Sie sind absolut und unmenschlich. Und sind auswechselbar. Denn der vor seinem Tode bekehrte Verbrecher wird genauso unvermittelt zu einem vollkommenen Tugendbolde, wie er vorher ein vollkommener Lasterknecht war. Und ist nachher genau so unfaßbar unausstehlich wie zuvor. Die Bekehrung geschieht von seiten des Guten mit scharfsinnig ausgeklügelten Folterungen jeglichen Grades; nur daß Mister Shatterhand die Anwendung der Folter gnädig dem ihm hörigen lieben Gott überläßt, nachdem dieser vorher die Befehlsgewalt in seine nervichte Faust gelegt hat. Dieses erstaunliche Zuckergemüt voll triefender Edelnis offenbart eine Fähigkeit, das absolut Böse frei von allen Schlacken menschlicher Gefühle so erschreckend körperhaft werden zu lassen, daß man sich unwillkürlich fragt, bis in welche Unterwelt des Unbewußten reichen die Wurzeln eines solchen Vermögens. Bei dem Gedanken, zu welch absurden Auswüchsen der zwiespältige Genius einer derart beschaffenen Rasse noch zu führen vermag, wird es einem leicht unbehaglich zumute. Denn inzwischen erlebten wir die Fleischwerdung jener trüben Entlassungen; die Nachtmahr des Radebeuler Phantasten ist zu einer gleichmütig hingenommenen Tageswirklichkeit geworden. Wir können nun einmal dem Verhängnis der Leibwerdung gedanklicher Emanationen im irdischen Raum nicht entrinnen. So erleben wir sicherlich in den zahllosen Mördergestalten, die heute in unserer zerbröckelnden Kulturwelt herumwimmeln, nichts anderes als die Volkwerdung jener schauerlichen Homunkuli, die sein Gehirnkasten ausbrütete. Hinter diesem unscheinbaren, gütigen Schulmeistergesicht brodelte ein Slum von beträchtlicher Abgründigkeit. Sein Anteil an der geistigen Vorbereitung einer Bereitschaftsstellung zum blutigen Run auf die europäische Kulturwelt ist nicht hoch genug anzuschlagen, zumal bei einem Volke, das darauf brannte, seine aufgestauten Kräfte an einer fiktiven Welt von Feinden auszutoben. Doch die Generation, der er angehörte, fühlte sich noch unsicher; sie hatte Gewissensskrupel, deren Zwang die Söhne und Enkel sich hohnlachend und leichten Herzens entledigten. Sie brauchte noch gut frisierte Lügen, sie konnte dem inneren Schweinehund nicht ohne einen Rest von Scham ins nackte Antlitz schauen. Es war notwendig, sich mit einem Missionsgedanken eine höhere Weihe und damit ein gutes Gewissen


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zu geben, sonst bot das geplante Unternehmen einen allzu schäbigen Anblick. Nun, diese ideale, gut frisierte Lüge lieferte er ihnen und besonders ihrer heranwachsenden Jugend in der Gestalt des faustgewaltigen Befriedungsapostels Shatterhand. Und zwar nach dem Grundsatz: je platter, desto wirksamer. Und da wir gerade bei der Lüge sind, möchte ich hier gleich noch eine andere Seite dieser genuin deutschen Lügenhaftigkeit erwähnen, eine Seite, die besonders aufreizende Züge trägt. Ich meine die beharrliche, offizielle Verleugnung der menschlichen Hinfälligkeit, die dumme Eskamotierung kreatürlichen Jammers, den man nur deshalb nicht wahrhaben will, weil er mit dem flachköpfigen Optimismus der holdblumigen, frohgemuten Siegfriedfressen zu unliebsam kontrastiert. Daß unser wackerer Autor auch hierin den Wünschen seines Publikums weitgehend entgegenkommt, zeigen seine oft wiederholten Schilderungen größerer kriegerischer Unternehmungen. Hier hat er den Stil der Frontberichte vorweggenommen. Wie bei ihnen spielen auch bei ihm die Toten und Verstümmelten keine erhebliche Rolle. Sie werden mit einer kurzen bedauernden Geste beiseite geschoben. Die Verluste seiner Gefolgsleute sind immer gering; die wenigen, die der Tücke feindlicher Kriegsführung zum Opfer fallen, sterben in Schönheit und würdiger Pose; wohingegen das Sterben der Feinde meist jämmerlich oder in schäumender Wut und bar jeglicher Würde vor sich geht. Sie verrecken ganz einfach, wie das bei Untermenschen so üblich ist. Ausnahmen werden nur denjenigen gestattet, die sich vor ihrem letzten Japser noch zum Glauben Schmetterhands bekehren. Die einzige Anerkennung, die dem bösen Feind vom Autor gezollt wird, ist dieselbe, die der Frontbericht dem überwundenen Gegner zubilligt: Sie wehrten sich zäh und verbissen!

   Man sieht, der verdrängte und anpassungssüchtige Geltungsdrang des proletarischen Emporkömmlings bricht bei dieser Gelegenheit hemmungslos hervor; jeder vielleicht noch vorhandene Ansatz zu intellektueller Redlichkeit ersäuft im Schmutzwasser einer großsprecherischen, publikumsläufigen Selbstverherrlichung. Die verhängnisvolle Gabe des Deutschen, sich unter Verzicht auf Befriedigung der natürlichen, triebhaften Regungen um jeden Preis mit der Maske der Persona, in die er je nach Bedarf schlüpft, zu identifizieren, findet in dem krankhaften Legalitätswahn dieses Mannes einen wahrhaft symbolhaften Ausdruck. Um die Rolle des triebfreien erhabenen Halbgottes, die er sich nun einmal erwählt hatte, überzeugend zu spielen, mußte er alles Anrüchige, dunkel Triebhafte in die Unterkellerung seiner vieldeutigen Persönlichkeit verbannen. Kein schwarzes Fleckchen durfte das strahlende Wunschbild seiner millionenköpfigen Leserschaft trüben.

   Doch Triebe und gerade die schlechtesten lassen sich nicht ohne böse Folgen in die unterirdischen Kavernen und Nachtlokale der Seele sperren. Sie schaffen sich Luft, und oft an den unerwartetsten Stellen. Meist pflegen sie, einmal wieder an der Oberfläche, die Funktion von Rachegeistern zu übernehmen. Unser Heldenbarde aus dem Sachsenlande fühlte wohl das Rumoren der schlecht gebändigten Gesellen. Er versuchte auf seine Art mit ihnen fertig zu


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werden. Als echter deutscher Krähwinkler verleugnete er sie zunächst; als dies nicht gelang, verabreichte er ihnen reichliche Dosen Moralin, um sie zu betäuben. Jedoch auch dies mißlang, die Revolte war nicht zum Schweigen zu bringen. Da positivierte er sie. Und siehe, eine Zeitlang hielt der Trick vor. Mit großem Geschick verwendete er die trüben Abwässer seiner mißhandelten Pariaseele als Treibstoff für das klappernde Mühlwerk einer christlich getarnten sozialen Revolte gegen ein ebenfalls getarntes und zwar exotisch getarntes Herrentum. Da er krumme Wege liebte, wagte er selten einen offenen Angriff. Je versteckter er die Tugenden des kleinen Mannes herauskehrte, desto mehr spendete er den offiziellen Stützen von Thron und Altar Weihrauch. Er schmeichelte ihren Machtinstinkten in allen Tonarten, ja er schuf eigens für sie die Legende vom unbesiegbaren Deutschen. Damit legte er Balsam auf die heimliche Wunde fast eines jeden Deutschen, auf den aus innerer Unfähigkeit zu Maß und Vornehmheit geborenen Minderwertigkeitskomplex, der nur durch einen überlebensgroßen Anspruch ausgeglichen werden konnte. Er bemühte sich, den Träger eines solchen Anspruchs zu finden, und fand er ihn nicht, zu erfinden. Und nach einigen Kreuz- und Querfahrten im düsteren Dschungel der Kolportage gelang ihm der große Wurf. Er stellte jene von allem Menschlich-Allzumenschlichen gereinigte, glattlackierte, saubere Schießbudenfigur neudeutsch idealistischer Prägung auf die Beine, die auf den Doppelnamen Old Shatterhand-Kara ben Nemsi hörte und die sich, so weit die deutsche Zunge klingt, alle Herzen vom Etsch bis zum Belt im Sturme eroberte. Sie war die Krönung seines Werkes, keiner konnte ihm diese Schöpfung streitig machen. Allerdings wurde ihm diese Tat schlecht gelohnt. Der Neid wachte auf und machte sich ebenfalls auf die Beine. Man nahm ihm die im Taumel des Erfolges immer peinlicher hervortretende Identifizierung der eigenen Person mit dem glanzvollen Helden seiner Bücher übel. Zwar ließ er hin und wieder seinen Heros ein generelles Bekenntnis zur allgemeinen Fehlerhaftigkeit der menschlichen Natur aussprechen, wohl aus dem dunklen Gefühl heraus, daß auch die Tragfähigkeit einer deutschen Seele ihre Grenzen habe. Aber er hatte sich schon zu sehr übernommen, man betrachtete ihn mit Mißtrauen. Seine immer zahlreicher werdenden Feinde und Neider ruhten nicht. Sie gingen zum Angriff über. Sie untersuchten sein Vorleben, und als man entdeckte, daß hinter dem edelgefirnisten patriotischen Sänger ein ehemaliger Zuchthäusler steckte, ließ man ihn fallen wie einen heißen Pfannkuchen. Er fiel in das Brackwasser ihrer heuchlerischen Verachtung, und trotz eifrigsten Bemühens konnte er sich nie wieder ganz von den Schmutzflecken reinigen, die von nun an seine Erscheinung verunzierten. Als lädiertes Mahnmal eines mißglückten Höhenfluges schied er von uns. Doch sein Werk bestand und wirkte im Stillen weiter. Die Saat, die er gesät hatte, ging auf und zeitigte blutige Früchte.


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Es kann hier nicht der Ort für eine ausführliche Thesendiskussion sein. Schlichter selbst hat seinen Aufsatz offenbar auch nach 1945, als es gefahrlos geschehen konnte, nirgends zur Veröffentlichung angeboten. Zum einen lag dies sicherlich daran, daß das Thema für ihn an Aktualität eingebüßt hatte und ihn nun ganz sein publizistischer Kampf gegen die abstrakte Kunst in Anspruch nahm (der selber Züge krankhafter Ich-Behauptung zeigt); man kann sich aber auch vorstellen, daß er inzwischen selber nicht mehr hinreichend hinter seinem polemischen Angriff auf Karl May stand. In jedem Fall wäre es falsch, ihn (wie es in der neueren Schlichter-Forschung bisweilen geschieht) einzig hierauf festlegen zu wollen.

   Schlichters ›Phänomen‹-Aufsatz reiht sich auf den ersten Blick ein in eine ganze Kette publizistischer Anfeindungen Karl Mays während des Dritten Reiches, in denen der Schriftsteller als geistiger Wegbereiter des Faschismus denunziert wurde.115 Am bekanntesten ist das Verdikt Klaus Manns, der sich 1940 zu der ungeheuerlichen Aussage verstieg, die nationalsozialistische Schreckensherrschaft sei »Karl May's ultimate triumph, the ghastly realization of his dreams«: »A whole generation in Germany grew brutish and ran wild - partly through the evil influence of Karl May. (...) He had poisened their hearts and souls with hypocritical morality and the lurid glorification of cruelty. (...) He anticipated, in a quasi-literary sphere, the catastrophic reality that is now before us; he was the grotesque prophet of a sham Messiah.«116 Der Vorwurf selbst wirkt so grotesk, allein schon in der hybriden Annahme, Literatur könne tatsächlich den historischen Weltengang beeinflussen, daß zumindest heutzutage jede Diskussion darüber überflüssig scheint. Daß dennoch ein Klärungsbedarf besteht, weil der Kenntnisstand der Karl-May-Forschung offenbar noch lange nicht Allgemeingut ist, erhellen freilich die Kommentare zu Schlichters tendenziell ähnlichen Angriffen. Während Dirk Heißerer ein »Bild deutschen Totschlagwesens«117 wahrnimmt, geht der Kunstkritiker Günter Metken noch darüber hinaus und paraphrasiert Schlichters »gnadenlosen« Essay mit Umschreibungen, die auch eigene Vorbehalte verraten: »Parallel zu Nietzsches Übermenschen entwickelt, entsprechen die Mayschen Doppelgänger Old Shatterhand und Kara ben Nemsi als Superhelden den Sehnsüchten von Millionen rasch aufgeschossener, doch von der Reife her im pubertären Stadium stehengebliebener ›Gründerzeitflegel‹. Machtgierig und merkantil drängt es sie in die weite Welt, welche sie sich - wir schreiben 1942 - mittels ›Wunderwaffen‹: Bärentöter und Henrystutzen, unterwerfen, taktlos und voller ideologischer Verlogenheit, durch höhere Weihen gerechtfertigt und ohne Mitleid für die Besiegten. Es ist eine Verblendung - und nun sind wir in Schlichters unmittelbarer Gegenwart -, welche die ›Nachtmahr des Radebeuler Phantasten‹ zum blutigen Run auf die europäische Kulturwelt ausufern läßt, dabei den Kontinent und das eigene gelobte Land in Schutt und Asche legend.«118 Mag Schlichters Kritik historisch erklärlich und psychologisch nachvollziehbar sein, so ist Metkens distanzlose und zudem re-


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dundante Verurteilung eines ihm offenbar im doppelten Wortsinn fremden Autors nur noch ärgerlich; wie voreingenommen und inkompetent sein Urteil ist, zeigt sich schon daran, daß er Schlichter als einen »Allesleser« bezeichnet, der »auch Fenimore Cooper, Friedrich Gerstäcker, Kolportagehefte und Karl May nicht verschmäht« habe119 - was anscheinend als eine absteigende Linie gedacht ist. Hier gilt es einiges geradezurücken.

   Im Vergleich mit anderen antifaschistischen Pamphleten gegen Karl May stellt Schlichters Aufsatz doch in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Das beginnt augenfällig mit der stilistischen Brillanz, die der Maler aufbietet und die von keinem der Schriftsteller, schon gar nicht von Klaus Mann, auch nur annähernd erreicht wurde. Beispielhaft hierfür ist, wie es Schlichter nach dem themastiftenden Einleitungssatz über »die Bedeutung Karl Mays für die seelische Formung des deutschen Volkes« sprachlich gelingt, fortan konsequent den Namen des behandelten Autors zu vermeiden und durch charakterisierende Synonyme zu ersetzen.120 Indem er dem Schriftsteller seinen Namen, also seine Identität verweigert und statt dessen vom »wackeren Autor«, »proletarischen Emporkömmling«, »Heldenbarden aus dem Sachsenlande«, »echten deutschen Krähwinkler«, »edelgefirnisten patriotischen Sänger« und - besonders schön und auch treffend - vom »lädierten Mahnmal eines mißglückten Höhenfluges« spricht oder indem er die Ich-Figur als »deutschen Überhelden«, »Tausendsassa« und »puren Lichtpinkel« bezeichnet, gewinnt seine Polemik nicht nur an prägnanter Schärfe, die manche Argumentation erspart, sondern auch an einer Allgemeingültigkeit der Charakteristik, die mit dem konkreten Autor zugleich auch das ›deutsche Wesen‹ schlechthin kennzeichnen will - und an einigen Stellen sogar den Kritiker selbst mit einzuschließen scheint. Karl May als historische Person wird so indirekt entlastet; worum es Schlichter eigentlich geht, ist das »deutsche Phänomen« des »im pubertären Stadium steckengebliebenen (...) Allerweltsbramarbas«, das er in den Romanen des »Radebeuler Phantasten« ebenso manifestiert glaubte wie im Werk Nietzsches oder Wagners (hier assoziiert durch die »Siegfriedfressen«).

   Beinahe singulär ist Schlichters Angriff gegen Karl May aber auch deshalb, weil er aus dem konservativen Lager der inneren Emigration geführt wurde. Ansonsten waren es (bis auf Erich Kästner) fast ausnahmslos linksorientierte Exilschriftsteller (Klaus Mann, Friedrich Sally Grosshut, Leo Lania u. a.), die May als Präfaschisten denunzieren wollten. Ihre Artikel veröffentlichten sie in namhaften Exilzeitschriften, während der in Deutschland gebliebene Maler seine Polemik nur für die Schublade schreiben konnte. Anders als Schlichter waren die meisten auch nie begeisterte May-Leser gewesen; sie wußten wenig über das Werk und noch weniger über das Leben des Radebeuler Schriftstellers. Was sie gegen May aufbrachte, war denn auch eher seine fortdauernde Wirkung im Dritten Reich, die ihn ins nazistische Establishment erhob, und hier besonders die Tatsache, daß May der erklärte ›Lieblingsschriftsteller des Führers‹ war. Mit der


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Erniedrigung Karl Mays zum ›infantil-aggressiven Popanz‹ konnte auch der getroffen werden, dessen Lektüre sich auf solch desavouierende ›Trivialliteratur‹ zu beschränken schien. Von den internen kulturpolitischen Angriffen gegen den Abenteuerschriftsteller, von verordneten Bearbeitungen und dem indirekten Verbot einzelner Bücher wegen ihres pazifistischen und religiösen Inhalts konnten sie nichts wissen. In einigen Fällen führte die nationalsozialistische Vereinnahmung sogar zu einer Revision früherer positiver Urteile, so etwa bei Ernst Bloch; hatte der Philosoph 1929 in seinem Aufsatz ›Die Silberbüchse Winnetous‹ noch einen flammenden Appell für Karl May und seine rauschhaften Phantasien gehalten,121 so meinte er nun, auf die politische »Kehrseite der Kolportage« hinweisen zu müssen: »Denn Glücksbilder können auch stillen und irreal berauschen; dazu kommt, im eigentlich nationalsozialistischen Zweck und Gebrauch: Old Shatterhand trägt einen sehr deutschen Bart und seine Faust schmettert imperialistisch herab. So daß hitlerisch ertüchtigter Gebrauch nicht fern scheint (und Hitler in der Tat auch diese Art Karl May liebt und dem ›Volk‹ erfüllt).«122 Selbst George Grosz wurde nachdenklich, als er im Exil las, daß Mays Bücher zur »bevorzugten Lektüre Adolf Hitlers« gehörten: »Und ich dachte mir: vielleicht hatte er doch mehr Einfluß, und nicht bloß auf die Phantasie der heranwachsenden Jugend?«123

   Auch Schlichters Aufsatz ist nur zu begreifen vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Okkupation Karl Mays, einem Schicksal, das der Schriftsteller mit Friedrich Nietzsche und Richard Wagner zu teilen hatte und das ihn ebenso wie diese noch jahrzehntelang im ›antifaschistischen‹ Staat der DDR diskreditieren sollte. Ein aktueller Auslöser für Schlichters Polemik könnten Artikel zum 100. Geburtstag Mays gewesen sein, in denen Old Shatterhand nicht selten zum Vorbild des deutschen Frontsoldaten erklärt wurde.124 Bei einem derart widersprüchlichen Menschen wie Rudolf Schlichter war eine solche Meinungsrevision indes wohl gar nicht nötig: Ist der veröffentlichte Beitrag in erster Linie eine emotionale Jugendreminiszenz, so wird Karl May im zweiten Aufsatz ganz ebenso wie von den Emigranten kognitiv instrumentalisiert im Kampf gegen die Nazibarbarei. Gefühl und Intellekt gingen bei Schlichter auch sonst häufig getrennte Wege, geschärft durch die Überzeugung, daß man »auch seine Träume überwachen (muß), sonst gerät man ins Dickicht«.125

   War der Ausgangspunkt für Schlichters Kritik des »deutschen Phänomens« also der gleiche wie bei den Schriftstellern im Exil, so befand er sich doch in einer sehr verschiedenen Position. Die umfassende Werkkenntnis zeigt sich etwa in der schon aus dem ersten Artikel bekannten Aufzählung der »stupenden Fähigkeiten Shatterhands« (hier bezeichnenderweise ergänzt um die »hohe Politik« und »Feldherrngaben«), bei der kaum ein Schauplatz der Reiseerzählungen ausgelassen ist, oder im Hinweis auf das Spätwerk, in dem May versucht habe, »die lockende Fata Morgana eines planetarischen Friedensreiches auf den verdüsterten Horizont Europas zu



Abb.1: Rudolf Schlichter: Selbstporträt, Aquarell (60x45), undatiert (Privatbesitz)


Abb.2: Der Künstler als junger
Mann: Rudolf Schlichter (Galerie
Alvensleben, München)


Abb.3: Wild-West, Aquarell (29,9x35,9), undatiert, 1916-18 (Privatbesitz)



Abb.4: Die Miß Admiral, Kohlezeichnung (38x37), 1918 (Richard und Carol Selle, New York)



Abb.5: Die Mormonenbraut, Lithographie (42,6x53), undatiert, verm. 1918 (Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe)



Abb.6: Reitergruppe (Wildwest-Szene), Aquarell über Tusche (52x65), undatiert, um 1919 (Galerie Huber, Offenbach am Main)



Abb.7: Ohne Titel, Kreidezeichnung (45x33), undatiert, verm. 1918 (Galerie Brockstedt, Hamburg)



Abb.8: Indianerüberfall (Illustration zu Carl Zuckmayer, ,Frauenraub', 1925), Kreidezeichnung (55,7x45,6), undatiert, um 1925 (Staatsgalerie Stuttgart)



Abb.9: Cowboy mit Gewehr, Tuschfederzeichnung (16,5x20), undatiert, um 1919 (Galerie Huber, Offenbach am Main)



Abb.10: Reiterskizze, Lithografie (53x41), 1913 (Privatbesitz)

Abb.11: Zielender Mann, Tuschfederzeichnung (13x9), undatiert, um 1919 (Galerie Hasenclever, München)



Abb.12: Cowboy zu Pferd, Lithokreidezeichnung (27,2x37,1), 1914 (Staatsgalerie Stuttgart)


Abb.13: Illustration zu Egon Erwin Kisch, ,Wagnisse in aller Welt', Berlin: Universum-Bücherei für Alle, 1927


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zaubern« - was für ihn freilich das »Bild« nicht »mildern« konnte, weil er gerade diese Bücher, die ohnehin kein größeres Publikum fanden, nie mit derselben Begeisterung gelesen hatte wie die Abenteuerromane. War er hierin den meisten Emigranten überlegen, so hatten diese ihm etwas Wesentliches voraus, nämlich das (mitunter selbstgefällige) Gefühl literarischer und moralischer Überlegenheit: Anders als Schlichter war Klaus Mann nie ein begeisterter May-Leser gewesen, anders als er hatte er das Regime von Anfang an abgelehnt und war rechtzeitig ins Ausland gegangen. Eine literarisch-moralische Abrechnung mit dem ›deutschen Volksschriftsteller‹ war für ihn daher ohne jede Gefahr, während Schlichter sich damit nicht nur gegen das verhaßte »neue Deutschland«, sondern auch gegen sich selbst und die eigene Vergangenheit stellte. Sein Aufsatz ist auch eine fast masochistische Selbstdestruktion.

   Anders als es Schlichters Kritik des »deutschen Phänomens« vermuten läßt, hatte er anfänglich aus kunstpolitischen und leider auch antisemitischen Motiven den Umbruch des Jahres 1933 durchaus begrüßt.126 Symptomatisch für seine Annäherung an die nun herrschende Ideologie ist sein im Herbst 1933 gemeinsam mit dem jungen Rottenburger Freund und Nachbarn Paul Wilhelm Wenger verfaßter Aufsatz ›Grundsätzliches zur deutschen Kunst‹, in dem er ein religiös-nationales Realismus-Konzept entwarf, mit dem er als »Träger einer neuen totalen Kultur« an der »nationalen Revolution« teilhaben wollte; die »heutige Kunst« schien ihm »eine pädagogische Aufgabe« zu haben: »Sie muß in der Gestaltung des kommenden Menschen erst die Grundlage einer neuen, deutschen und weltgeltenden Volkskultur schaffen.«127 Schlichter hat den Aufsatz, der auch sprachlich hochpathetisch ist (hierin zeigt sich wohl der Einfluß Wengers) nicht veröffentlicht. Ernst Bloch hätte sich durch ihn bestätigt gefühlt, hielt er doch bereits den Jugendbericht ›Das widerspenstige Fleisch‹ für »das bezeichnendste Stück Hitlerpubertät ante rem«, und zwar mit klarem Bezug zu Karl May und zur Kolportage:


Der Maler Schlichter beschreibt seine jämmerliche Jugend, ihre Minderwertigkeit und Verschwültheit, ihre Niederlagen kameradschaftlich, sozial und erotisch, er beschreibt die vergebliche Werbung um ein Mädchen und fährt fort: ›Auf dem ganzen Weg versuchte ich nun, sie in meine Ideenwelt einzuweihen, ich schwärmte ihr von der Französischen Revolution vor, schilderte die Ruchlosigkeit des Reichtums, klärte über indische Mördersekten und chinesische Geheimbünde auf, erzählte von den Heldentaten Karl Mays und daß auch für mich einst der große Tag komme, wo ich an der Spitze zahlloser Reiterheere  d i e  v e r w o r f e n e  W e l t  e i n e r  G o t t  e n t f r e m d e t e n  Z i v i l i s a t i o n  i n  T r ü m m e r  s c h l a g e n  werde.‹ Der subjektive Ernst dieser Phrasen liegt ebenso vor Augen wie der unverkennbare, der von Schlichter eigens zitierte Einfluß der Kolportage: nämlich ihrer wilden und wirren, dazu kleinbürgerlich-moralisch interpretierten Freiheitsirratio auf ein Milieu, das dem Nationalsozialismus, wie er dann kam, nicht günstiger sein kann. Ohne Zweifel ist Schlichters Bericht für viele Kolpor-


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tage-Einflüsse auf Pubertät, ja, noch auf jugendliche Erwerbslose typisch; sowohl was den unnachahmlichen Spiegelberg-Tonfall wie die Überkompensierung angeht, welche nationalsozialistische Phantasterei und ›Idealismen‹ aufweisen. Nicht einmal der furchtbare Geheimbund fehlt im Kolportagesystem des deutschen Fascismus (...).128


Schlichter dürfte diese Einlassungen Blochs kaum gekannt haben. Interessant sind sie, weil der marxistische Philosoph ihm hier zwar einerseits denselben Vorwurf faschistischen Denkens macht, den der Maler dann als »deutsches Phänomen« beschreibt, ihm andererseits aber mit der Betonung der »nationalsozialistische(n) Wirkung von Kolportage«129 zugleich auch schon eine Entschuldigung für solche Verirrung liefert.130

   Schlichter distanzierte sich von der »nationalen Revolution« erst von dem Moment an, als er zunehmend selber unter Repressionen, unter persönlichen Schikanen, Schreib- und Ausstellungsverbot, zu leiden hatte und so den barbarischen Kleinbürgergeist ihrer Führer am eigenen Leib erfuhr. Dabei schlug sich diese Abkehr von der herrschenden Ideologie in seiner Malerei erst sehr verspätet mit der Hinwendung zum Surrealismus nieder, erinnern viele der Bilder aus den dreißiger Jahren, vor allem die heroisch gestalteten Landschaften, das markige Porträt Ernst Jüngers (1937)131 oder das fast monumentale Gemälde ›An die Schönheit‹ (1935), das die schlafende Speedy in all ihrer splitternackten Herrlichkeit malerisch hingegossen vor grünender Hegaulandschaft zeigt,132 mitunter doch fatal an den idealistischen Realismus der verordneten Nazikunst oder gar an die berüchtigten ›Schamhaar-Bilder‹ Adolf Zieglers. In seinem ›Geheimen Tagebuch‹ von 1942/43 rechnete Schlichter denn auch schonungslos mit seinen Gemälden aus der Zeit nach 1933 ab und beschuldigte sich sogar, mit seiner »dummen ideologisch unterbauten Schönfärberei« dem »Teufel« gedient zu haben: »Wenn ich mir so gewisse Bilder der Zeit zwischen 33 u. 39 ansehe, so faßt mich der Ekel. Wie schwach war ich doch! Wie bin ich doch diesen [!] scheußlichen Spießergeist der Teufel entgegengekommen, u. wie habe ich meine wahre Natur verleugnet. (...) Ich wurde, leider durch eigene Schuld, ein Opfer der deutschen Dummheit.«133 In eben dieser Phase einer bis zum Selbstekel reichenden Persönlichkeitskrise entstand auch Schlichters ›Phänomen‹-Aufsatz. Der ungerechte Furor gegenüber dem einstigen Jugendidol wird psychologisch noch verständlicher, wenn man um die Eheprobleme weiß, die den Maler gerade um 1942/43 zusätzlich bedrängten und wohl zugrunde gerichtet hätten ohne seine extreme masochistische Leidensfähigkeit. Zwar hatte er nach der Hochzeit 1929 mit der von ihm selbst als ›Hetäre‹ bezeichneten Speedy eine ›Josefsehe‹ (ohne geschlechtliche Vereinigung) vereinbart und duldete seither ihre zahlreichen wechselnden Verehrer in seinem Haus (u. a. den Journalisten Richard Masseck, den Dichter Erich von Salomon und die Juristen Otto Blessing und Dieter Sekler), während des Krieges aber stürzte ihn die fast völlige finanzielle Abhängigkeit


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von Speedys jungen und zahlungskräftigen Liebhabern immer mehr in heftige Selbstzweifel und Depressionen. Das bisher unveröffentlichte ›Geheime Tagebuch‹ aus dieser Zeit spricht hier eine überdeutliche Sprache (mit Überschriften wie ›Aus der Hölle‹ und Sätzen wie: »Was fürchte ich so an Speedy: das Böse des Weibes!«134); außer im Werk August Strindbergs wird man ähnlich erschütternde Szenen einer entwürdigenden Ehe vielleicht nur noch einmal finden: in Karl Mays ›psychologischer Studie‹ ›Frau Pollmer‹ (1907).135 Daß Schlichter in einer solchen Situation grundsätzlichen Unbehagens an der Welt Befreiung auch durch bissige, fast blindwütige Aphorismen und Polemiken suchte, ist mehr als begreiflich.

   Als Schlichter seinen ›Phänomen‹-Aufsatz schrieb, war er sich seines persönlichen Versagens und vor allem seiner schuldhaften Verstrickung in den Ungeist der Epoche also nur zu bewußt. Auf der Suche nach einer Erklärung seiner Verführbarkeit, die ihn entlasten könnte, fand er aus eigenem Erkennen oder in Gesprächen mit Carl Muth, der schon 1898 auf die ›jugendverderbende‹ Wirkung der Reiseerzählungen hingewiesen hatte,136 einen ›Sündenbock‹ für seine »seelische Formung« in Karl May. Wenn seine Sozialisation eine Rolle dabei gespielt haben sollte, daß auch bei ihm der bereits in der Autobiographie beschriebene »Geltungsdrang des proletarischen Emporkömmlings« hervorgebrochen war, dann mußten vor allem die »berauschenden Narkotika exotischer Figuren und Landschaften« des »Radebeuler Phantasten« mitverantwortlich sein, die einst eine unvergleichliche »maniakalische Wirkung« auf ihn ausgeübt hatten und die - auch hier denkt Schlichter an sich selbst - »manchen guten Mann das ganze Leben lang nicht mehr los(lassen)«. Schlichter selbst war einst einer dieser »Millionen schnell aufgeschossener, von einem unstillbaren Appetit befallener deutscher Gründerzeitflegel« gewesen, er selbst hatte noch vor kurzem an eine »Neuordnung der Welt durch Deutschland« geglaubt, an der er mitwirken wollte. Um sich von diesem Schuldkomplex zu befreien, mußte er den ›Vatermord‹ an Karl May begehen, der zum ›Sündenbock‹ noch weit mehr geeignet war als die geistesverwandten Nietzsche und Wagner: diese hatten zwar seine persönliche Psyche ähnlich okkupiert wie May, ihre allgemeine Wirkung war aber doch auf eine elitäre Bürgerclique begrenzt geblieben. Der ›Übermensch‹ Nietzsches mochte vielleicht in den Gehirnen einiger Naziführer und ihrer Stichwortgeber herumspuken, die »Herzen und Hirne« des deutschen Volkes und besonders der Jugend aber hatte allein Old Shatterhand besetzt.

   Wenn Karl May im Aufsatz Schlichters auch zum Opfer einer Selbstläuterung wird, so sollte das doch nicht unkritisch den Blick dafür verstellen, daß der Maler vieles sehr richtig beobachtet hat. Zwar wird heute kein vernünftiger Mensch mehr auf die Idee kommen, ausgerechnet Karl May, der in seinem Werk so oft für die Völkerverständigung eingetreten ist und in seinem Alter nur noch Liebe und Frieden predigen wollte, für den faschistischen Wahnsinn verantwortlich zu machen. Daß er indes unter dem Ein-


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druck der Reichsgründung eine moralische Überlegenheit des Deutschen postulierte, die dann nur zu leicht nationalistisch instrumentalisiert werden konnte, läßt sich ebensowenig leugnen wie seine neurotische, sich in pseudologischen Fluchten und Allmachtsphantasien äußernde Disposition. Mays psychische Struktur korrespondiert in solcher Hinsicht tatsächlich mit der Adolf Hitlers, aber auch mit der Rudolf Schlichters, und vielleicht geht der Maler doch nicht ganz fehl, wenn er in solchem Zusammenhang ein »deutsches Phänomen« zu erkennen glaubt. Auch Einzelbeobachtungen Schlichters, etwa zur dominanten Rolle Old Shatterhands, zur Gruppenhierarchie, Schwarzweißtechnik oder Austauschbarkeit absoluter Charaktere, wurden von der Forschung seither durchaus bestätigt. Wenn das von Schlichter entworfene Bild Karl Mays dennoch auch hier schief wirkt, dann nicht, weil es Falsches zeichnet, sondern weil es Eigenheiten ausblendet, die dem Maler in seinem früheren Aufsatz mit Recht noch ganz wesentlich schienen: die aufklärerische Haltung, die Solidarität mit dem einfachen Volk und vor allem den »naiven und zugleich exzentrischen Humor«, der sich in der Charakteristik eines Hadschi Halef Omar, in »ausgelassener Situationskomik« oder auch nur in der additiven Reihung inkommensurabler Gegenstände äußern kann. Vollständig wird das Bild erst, wenn wir beide Aufsätze zusammen betrachten und eine Ambivalenz anerkennen, die sowohl für Karl May wie für seinen Interpreten Rudolf Schlichter konstitutiv und ein wesentlicher Faktor ihrer literarischen oder künstlerischen Kreativität war. Nur dialektisch kann man beiden gerecht werden.

   Wenngleich Schlichter seinen Aufsatz über das »deutsche Phänomen« nicht veröffentlichte, war er doch nicht gänzlich ohne Wirkung. Der Rottenburger Freund Paul Wilhelm Wenger137 schloß Weihnachten 1946 das Manuskript zu seinem ersten Buch ›Geist und Macht‹ ab, das 1948 dann im Augsburger Verlag von Johann Wilhelm Naumann erschien. Wenger unternimmt darin zwei ›Versuche einer Entschleierung des deutschen ›Idealismus‹‹ (›Hegel und der deutsche Geist. Die Mythologisierung des deutschen Denkens durch den philosophischen Idealismus‹ und ›Die Philosophie des deutschen Idealismus im Gericht der Geschichte‹) und besichtigt dabei in der ersten Abhandlung auch die ›Werkstatt der Übermenschenkonstrukteure: Wagner, Nietzsche, Karl May‹ (Kapitelüberschrift). Wie er im Vorwort schreibt, ging es ihm darum, »die vom idealistischen Denken [namentlich von Hegel, D. S.] mitbewirkte Verzerrung des nationalen Empfindens der deutschen Gegenwart aufzuhellen« und einen »Beitrag zur Ursachenforschung über den deutschen Irrweg der letzten hundert Jahre« zu leisten.138 Inwieweit auch diese Abrechnung mit dem deutschen Idealismus seit Hegel durch einen persönlichen Schuldkomplex motiviert war, sei dahingestellt. Karl May jedenfalls wird dabei kaum eine Rolle gespielt haben, dazu ist Wengers Kenntnis des Schriftstellers denn doch zu dürftig. Daß er ihn überhaupt in seine Argumentation einbezog, dürfte sich einer Anregung Schlichters verdanken und der Absicht, den deutschen Idealismus


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durch solch scheinbar unerhörte Korrespondenz noch besonders zu diskreditieren.

   Wenger sieht die »für Hegel bezeichnende Form der inhumanen geistigen Hybris« im 19. Jahrhundert in einer ganzen »G a l e r i e  v o n  Ü b e r m e n s c h - K o n s t r u k t i o n e n«139 wiederholt, von denen er »vier Gestalten« für die bedeutendsten hält; an ihnen glaubt er, »von Stufe zu Stufe fallend, den Sturz des deutschen Geistes aus der ethischen Wirklichkeit in den Abgrund idealistisch verbrämter Inhumanität« sichtbar machen zu können: »An der Spitze der unseligen deutschen Übermensch-Bilder steht (...) der mißverstandene Faust des Zweiten Teiles. Ihm folgen in  R i c h a r d  W a g n e r s  S i e g f r i e d  sowie in  N i e t z s c h e s  Z a r a t h u s t r a - Ü b e r m e n s c h  zwei idealistisch ausstaffierte und überzüchtete Idole, denen a priori das Gewissen herausgeschnitten ist. Den zur unmittelbaren Vergangenheit hinüberführenden Schluß bilden die  L i c h t b o l d e  der  K a r l  M a y-Romane«. Natürlich unterläßt Wenger es nicht, auf die »verschiedenen Ebenen« dieser »Selbst- und Welterlöser« hinzuweisen, und sieht allein schon in der »Nennung dieser vier Gestalten in einem Atemzug« ein »Ärgernis« voraus; gerechtfertigt scheint ihm diese seltsame Zusammenschau denn auch allein durch die ihnen gemeinsame »Ausstrahlung in die mythenhungrige deutsche Seele der letzten Generationen«.140

   Auf Karl May geht Wenger trotz großspuriger Ankündigung nur kurz am Ende seiner Vivisektion der »idealistischen Übermenschen-Konstrukteure«141 ein; obwohl er in ihm den Tiefpunkt »idealistischer« Entwicklung und den direkten Übergang zur »Inhumanität« der Nationalsozialisten sieht, scheint er ihm näherer Betrachtung offenbar denn doch nicht wert. Eine Anmerkung verrät: »Wertvolle Anregungen zu der geistesgeschichtlichen Einordnung und kulturpolitischen Bedeutung des Werkes von Karl May verdanke ich einem bislang unveröffentlichten Manuskript meines Freundes, des Malers und Graphikers  R u d o l f  S c h l i c h t e r.«142 Wengers Ausführungen, für die er »eine gewaltige Stufe tiefer« steigen zu müssen meint, folgen denn auch tatsächlich der Bewertung in Schlichters ›Phänomen‹-Aufsatz, ohne ihnen noch Eigenes hinzusetzen zu können. Karl May ist für Wenger »im Verhältnis zu seinen Vorgängern gewissermaßen der Großkonfektionär unter Propheten«; mit ihm meint er »im unmittelbaren Mythen-Vorhof des Dritten Reiches«143 zu stehen:


Es wäre (...) eine quälende Wiederholung alles schon Gesagten, wenn wir die unverwüstlichen, unübertrefflichen, unüberwindlichen und unnachahmlichen »Tugend- und Lichtbolde« Karl Mays im Einzelnen schildern wollten. Da er der meistgelesene deutsche »Idealist« ist, sind ja alle seine von »Edelnis« strotzenden Moralhelden bis in die letzte deutsche Hütte bekannt. Der ahnenstolze Kara ben Nemsi, der große Effendi mit der unfehlbaren Silberbüchse und Moraltrompete, der Pionier des Pangermanismus mit dem unverbrüchlichen Gottvertrauen, - Herrgott gleich Herrgott! - mit der haushohen Überlegenheit über seine sämtlichen, nie zuviel sein könnenden Bösewichter von Gegnern zwischen


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den Schluchten des Balkan, der Wüste Gobi und den Kordilleren - welch ein geographischer Imperialismus! ... - was ist dieser unausstehliche Lichtbold anderes als ein Vetter von Groß-Siegfried!

   Hier sei nur das Eine hervorgehoben: in den Romanen Karl Mays, die jeder Deutsche gelesen hat, wurde alles »Ideen-Gut«, das sich seit den Tagen des klassischen Idealismus auf dem Boden des weltpolitischen Ungenügens in den deutschen Gehirnen angesammelt hatte, auf breiter Massenbasis in das Bewußtsein des deutschen Mittelstandes gehoben, der dann alsbald mit Hitler, dem Matador des »Kleinen Mannes«, die Weltbühne betreten sollte. In Mays Romanen lag dasselbe idealistische Rüstzeug des deutschen Größenwahns zur Ausstaffierung der Massen bereit, das Hegel den Philosophen, den Historikern und den Generalstäblern der Armee und der Schwerindustrie, »Faust« und »Siegfried« den aus dem Bildungsbürgertum rekrutierten Stabsoffizieren und Rüstungsdirektoren, »Zarathustra« den Machtästheten der »SS-Elite« vermittelt haben. Aus dem Phrasennebel der Karl-May-Romane heraus schwang sich der »größte deutsche Idealist aller Zeiten« - der diesen unredlichen Titel sogar großmütig an einen seiner trübsten Unterführer abtrat! - in die politische Arena: - vollgepfropft bis zum Erbrechen mit der phrasenwiederkäuenden Arroganz des großen Effendi, gestützt auf den ihm übereigneten Degen Nietzsches, legitimiert durch die Schutzherrschaft über Wagners Walkürentempel in Bayreuth, schrieb er, von Mephisto trefflichst sekundiert, seinen unnachahmlichen »Faust-Kommentar« in das Buch der Geschichte ein.144


Es hieße mit Windmühlenflügeln fechten, wollten wir Wengers Attacken gegen den deutschen Idealismus und besonders gegen Karl May widerlegend parieren. Abgesehen davon, daß die Befolgung seiner eigenen Schlußaufforderung, die »berührten Geister und ihre Werke« »höchst aufmerksam im Original zu lesen«,145 ihn vielleicht wenigstens davor bewahrt hätte, dem Effendi die Silberbüchse in die Hand zu drücken oder ihn in die Wüste Gobi zu schicken, unterliegt auch er dem Irrtum, Autoren, Bücher und Geisteskonzepte, die gerechterweise in ihrer Zeit bewertet werden müssen, wegen ihrer bewußt mißverstehenden Instrumentalisierung im Dritten Reich zu diskreditieren. Entlarvend ist in dieser Hinsicht die eine Ausnahme, die er bei dem persönlich geschätzten Goethe macht, dem er zwar »eine gewisse ethische Indifferenz« vorwirft, den er ansonsten aber von Schuld freispricht, weil der von ihm geborene Faustmythos durch Fehlinterpretation und Textverstümmelung ein Eigenleben als »großes deutsches Mißverständnis« gewonnen habe, für das der Autor nicht mehr verantwortlich zu machen sei.146 Daß Ähnliches auch für Karl May und den deutschen Idealismus gelten könnte, scheint Wenger nicht in den Sinn gekommen zu sein, oder es widersprach seinem Konzept, die schuldhafte Verstrickung der eigenen Generation durch Urheberschaften in der Vergangenheit zu mildern. Rudolf Schlichter scheint sich seiner persönlichen Verantwortung da weitaus bewußter gewesen zu sein.

   Man könnte annehmen, daß für Rudolf Schlichter das Kapitel Karl May


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mit seiner ›Abrechnung‹ im ›Phänomen‹-Aufsatz endgültig erledigt war. Aber noch in einer um 1949 entstandenen surrealistischen Erzählung, ›Der Skulpteur‹, findet sich eine kleine Reminiszenz an den Autor, der ihm im guten wie im schlechten soviel bedeutete. Der Erzähler besucht dort einen etwas merkwürdigen, kafkaesk anmutenden Bildhauer und hört in einer dunklen Ecke der Werkstatt etwas »schwer und leidensvoll« grunzen. Er bekommt die Aufklärung: »›Lassen Sie sich nicht stören (...), das ist der Drache Ischtach, den ich dort an die Kette gelegt habe. Wir können diesen Gesellen nicht brauchen, wenn Schmalhans Küchenmeister ist.‹ ›Ischtach‹, sagte ich, ihn nachdenklich anstierend, ›was ist das nur?‹ ›Na, Sie haben doch auch Karl May gelesen!‹ Er lachte blechern. ›Das ist arabisch und heißt Appetit.‹ Während er sprach, hatte sich dort etwas erhoben und war blitzschnell durch eine kleine Seitentür hinausgewischt. Ich sah gerade noch ein paar schwarzbehaarte Beine und einen sonderbar gebuckelten fetten Rücken in der Öffnung verschwinden ...«147

   Dieses monströse Szenario und manch andere Traumtexte Schlichters korrespondieren natürlich mit seiner späten surrealistischen Bilderwelt; der May-Kenner aber dürfte sich ebenso erinnert fühlen an die Phantasmagorien des alten Hakawati in den letzten beiden Bänden des ›Silberlöwen‹ oder in ›Ardistan und Dschinnistan‹ und ganz besonders an die symbolistischen Traumbilder Sascha Schneiders zu den Reiseerzählungen. Es scheint, daß Rudolf Schlichter, ohne es auch nur entfernt zu ahnen, selbst mit seiner religiös motivierten Altershinwendung zum Surrealismus noch in den Spuren Karl Mays ging, mit dem Unterschied freilich, daß der Schriftsteller sich am Ende seines Lebens in der Nähe Dschinnistans wähnte, während der Maler nach zwei Weltkriegen und inmitten des Atomzeitalters die Menschheit immer mehr den dämonischen Kräften Ardistans ausgeliefert sah. Die Zeit der Indianer war längst vorbei, aber wenn wir Schlichters apokalyptische Landschaften oder auch schon seine Illustrationen zu den Märchen aus ›Tausendundeiner Nacht‹ betrachten, etwa seine eindrucksvolle Zeichnung der Totenstadt,148 müssen wir bedauern, daß er nicht auch einmal das Land der Sternenblumen für sich entdeckte. Vielleicht hätte sich seine negative Utopie dann noch einmal verwandelt, und sein letztes großes Bild wäre nicht die schaurig-trostlose Phantasie ›Strandleben am Styx‹ (1955)149 geworden, sondern eine ideale Traumlandschaft am ›Fluß des Friedens‹, Ssul. Denn beide Möglichkeiten waren in ihm angelegt, wie das künstlerische Credo zeigt, das er in seinem letzten, im Monat nach seinem Tod veröffentlichten Artikel formulierte: »Die Schöpfung spricht zu uns in Gleichnissen, denn in mir selber finde ich alles das vor, wovon ich durch das Sinnbild in der äußeren Natur erschüttert Kenntnis nehme: Die Glorie und Tragik unseres Hierseins.«150


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1 Die Ausstellung wurde in Berlin vom 1. 4. bis 16. 5. 1984 gezeigt und war anschließend vom 23. 5. bis 1. 7. 1984 noch im Württembergischen Kunstverein Stuttgart zu sehen. Die Kunsthalle Berlin gab einen umfangreichen, über die Ausstellung hinaus relevanten Katalog heraus, der neben dem eigentlichen Katalog-Teil und dem Ausstellungsverzeichnis eine Reihe grundlegender Aufsätze zum Leben und Werk des Malers enthält: Rudolf Schlichter 1890-1955. Berlin 1984 (Frölich & Kaufmann); künftig abgekürzt: Katalog 1984.

2 Innovativ war hier eine 1970 vom Mailänder Galeristen Emilio Bertonati veranstaltete Porträt-Ausstellung Schlichters in der Galleria del Levante, die auch in München (Villa Stuck) zu sehen war. Vgl. zu dieser Ausstellung den Katalog: Rudolf Schlichter. Prima mostra retrospettiva. Erste Retrospektiv-Ausstellung. Milano-München 1970 (Galleria del Levante). Bertonati war Nachlaßverwalter Schlichters und hat sich einen bleibenden Namen durch die Wiederentdeckung und Neubewertung der Neuen Sachlichkeit, insbesondere Christian Schads, gemacht. Berühmt sind vor allem Schlichters Porträts von Bertolt Brecht (in der Lederjacke, 1927), Egon Erwin Kisch (vor einer Litfaßsäule am Romanischen Café, 1928) und Ernst Jünger (mit nacktem Oberkörper vor einer rauhen Felsenlandschaft, dem Albtrauf, 1937).

3 Dieter Sudhoff: Die langwährende Obsession des Malers. Rudolf Schlichter und Karl May. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 62/1984, S. 25-36 (4 Abb.) - vgl. im selben Heft auch Erwin Müller: »Grenzenlos war seine Begeisterung für Karl May«, S. 23f. (2 Abb.).

4 Rudolf Schlichter: Das widerspenstige Fleisch. Hrsg. und mit einem Nachwort von Curt Grützmacher. Mit 11 Zeichnungen von Rudolf Schlichter. Berlin 1991; Rudolf Schlichter: Tönerne Füße. Hrsg. von Curt Grützmacher mit einem Beitrag von Günter Metken. Mit 10 Zeichnungen von Rudolf Schlichter. Berlin 1992

5 Rudolf Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums. Autobiographische, zeit- und kunstkritische Schriften sowie Briefe 1930-1955. Hrsg. von Dirk Heißerer. Essay von Günter Metken. Mit 13 Zeichnungen von Rudolf Schlichter. Berlin 1995

6 Ernst Jünger / Rudolf Schlichter: Briefe 1935-1955. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer. Stuttgart 1997 (Klett-Cotta); Rudolf Schlichter: Tausendundeine Nacht. Federzeichnungen aus den Jahren 1940-1945. Textauswahl und Einführung von Günter Metken. Berlin 1993 (Edition Hentrich); Rudolf Schlichter: Drohende Katastrophe. Gedichte 1931-1936 mit sieben Zeichnungen. Hrsg. und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer. Warmbronn 1997 (Verlag Ulrich Keicher); Rudolf Schlichter: Das Abenteuer der Kunst und andere Texte. Hrsg. von Dirk Heißerer. München 1998 (Matthes & Seitz). Rezeptionsgeschichtlich erwähnenswert ist außerdem Günter Metken: Rudolf Schlichter: Blinde Macht. Eine Allegorie der Zerstörung. Frankfurt a. M. 1990 (Fischer Taschenbuch Verlag).

7 Die Ausstellung ›Rudolf Schlichter: Buchillustrationen 1920-1950‹ fand vom 18. 9. bis 25. 10. 1998 in der Galerie der Stadt Calw statt und gehörte zum Programm der 15. Baden-Württembergischen Literaturtage (18. 9. bis 4. 10. 1998), die unter dem Motto ›Heimat und Ferne - Provinz und Welt‹ standen. Anläßlich der Ausstellung erschien eine erste bibliographische Zusammenstellung der literarischen und illustrativen Arbeiten Schlichters: Rudolf Schlichter. Bibliographie. Literarische, zeit- und kunstkritische Publikationen. Illustrierte Bücher. Schriftstellerportraits. Sekundärliteratur. Briefe. Schriften von Speedy Schlichter. Mit drei Texten von Rudolf Schlichter und zahlreichen Abbildungen. Bearbeitet und mit einem Nachwort hrsg. von Dirk Heißerer. Flein bei Heilbronn 1998 (Verlag Werner Schweikert). Vgl. Dirk Heißerer: »Bilderbogen für Erwachsene«. Rudolf Schlichter als Buchillustrator. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 77 (25. 9. 1998), Beilage: Aus dem Antiquariat Nr. 9. Frankfurt a. M., S. A634-A644. Ein umfassendes Werkverzeichnis des Malers ist hingegen noch immer ein Desiderat.


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8 Die Ausstellung wurde vom 13. 9. bis 23. 11. 1997 in der Kunsthalle Tübingen gezeigt, vom 7. 12. 1997 bis 1. 3. 1998 im Von der Heydt-Museum Wuppertal und vom 11. 3. bis 10. 5. 1998 in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München. Auch zu dieser Retrospektive erschien ein ausführlicher Katalog: Rudolf Schlichter. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Mit Beiträgen von Dirk Heißerer, Andreas Kühne, Günter Metken. Hrsg. von Götz Adriani. München 1997 (Klinkhardt & Biermann); künftig abgekürzt: Katalog 1997.

9 Schlichters Schuhfetischismus, sein Hang zu hautengen, glänzenden Knopfstiefeln (zu dem noch eine Vorliebe für Strangulationsphantasien kam), offenbart sich geradezu manisch in zahlreichen seiner Bilder, Zeichnungen und Skizzen. Er hat dem obskuren Thema (und seiner vergötterten Frau Speedy) ein nur wenig verhülltes autobiographisches Buch gewidmet: Zwischenwelt. Ein Intermezzo. Berlin-Charlottenburg 1931 (Ernst Pollak Verlag). Auch dieser Band liegt inzwischen als Reprint der Erstausgabe wieder vor (Hrsg. und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer. Berlin 1994 (Edition Hentrich)).

10 Carl Zuckmayer: Als wär's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft (1966). Frankfurt a. M. 1981, S. 255; vgl. Dieter Sudhoff: Als wär's ein Stück von ihm. Carl Zuckmayer und Karl May. In: M-KMG 38/1978, S. 21-25; dort auf S. 23 auch eine von May inspirierte Szenenzeichnung Schlichters zu Zuckmayers 1925 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführten ›Stück aus dem fernen Westen‹ ›Pankraz erwacht oder Die Hinterwäldler‹ (Abb. aus: Berliner Börsen-Courier, 16. 2. 1925).

11 Motivische Einflüsse Karl Mays lassen sich indes bei einer ganzen Reihe von modernen Malern nachweisen, so vor allem bei George Grosz, aber auch bei Otto Dix und sogar bei August Macke (vgl. Erwin Müller: Karl May ist nicht fern. August Mackes Vision vom irdischen Paradies. In: M-KMG 87/1991, S. 39-42). Als Illustratoren wären Max Slevogt und Josef Hegenbarth zu nennen: Von Max Slevogt sind außer seinen berühmten Zeichnungen zum ›Lederstrumpf‹ (1909) auch einzelne May-Illustrationen bekannt (vgl. Volker Griese: Spuren Karl Mays in Leben und Werk Max Slevogts. In: M-KMG 70/1986, S. 12-15, und Ders.: Nochmals Max Slevogt. In: M-KMG 71/1987, S. 45; zu ergänzen ist, daß auch einige Zeichnungen Slevogts zu W. Claires blutrünstiger Indianergeschichte ›Coranna‹, 1907, ikonographisch von May, besonders von seiner Beschreibung Winnetous mit Haarschopf, abhängig sind); Hegenbarth schuf Mitte der dreißiger Jahre eine Reihe von Zeichnungen zu Mays Jugendroman ›Der Schatz im Silbersee‹, die erstmals 1984 in einer Sonderausgabe des Ost-Berliner Verlags Neues Leben erschienen. Zur Wildwest-Begeisterung von George Grosz und Zeitgenossen vgl. grundsätzlich Beeke Sell Tower: Asphaltcowboys and Stadtindianer: Imagining the Far West. In: Envisioning America. Prints, Drawings, and Photographs by George Grosz and his Contemporaries 1915-1933. (Edited by) Beeke Sell Tower with an essay by John Czaplicka. Harvard University (Busch-Reisinger Museum) 1990, S. 16-35.

12 Nach einer Angabe Heinrich Perrots, in: Dorothea Bauer Perrot / Heinrich Perrot: Ile Perrot. Rendezvous mit meinem Vater. Selbstverlag (München 1989), S. 118

13 Vgl. Dirk Heißerer: »Die Stadt selbst ist außerordentlich schön.« Rudolf Schlichter in Calw. Marbach am Neckar 1998 (Deutsche Schillergesellschaft, Spuren 39). In Calw, wo man ansonsten eher stolz auf Hermann Hesse ist, gedachte man anläßlich Schlichters 100. Geburtstags erstmals des lange Zeit ungeliebten Malersohnes. So stellte Uli Rothfuss eine Broschüre mit den in Calw spielenden Kindheits- und Jugendkapiteln des Bandes ›Das widerspenstige Fleisch‹ zusammen: Zwischen den Fronten. Der Maler, Illustrator und Schriftsteller Rudolf Schlichter. Calw 1990 (Kreissparkasse); obwohl die regional verbreitete Schrift daneben nur zwei andernorts bekannte Beiträge von Gabriele Horn (›Rudolf Schlichter - Eine Biographie‹) und Günter Metken (›Zwischen den Fronten‹) enthält, ist sie durch das teilweise seltene Bildmaterial auch für den Schlichter-Kenner interessant. Von einem


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gewandelten Verhältnis Calws zu Schlichter zeugte zuletzt 1998 die Ausstellung seiner Buchillustrationen in der Stadtgalerie; sie wurde außer durch einen Vortrag Dirk Heißerers und einen von ihm geführten literarischen Spaziergang ›auf den Spuren von Rudolf Schlichter‹ auch durch eine Inszenierung des Landestheaters Tübingen begleitet, die den Zuschauern (laut Programmheft der 15. Baden-Württembergischen Literaturtage) »einen Einblick in die geheimen Leidenschaften und Begierden« des Malers und seiner Frau geben sollte: ›Das widerspenstige Fleisch. Musikalisch-szenische Obsessionsforschung über Rudolf Schlichter‹ (Regie Petra Stötzel, mit Kathrin Becker und Hans-Rudolf Spühler).

14 Gabriele Horn: Rudolf Schlichter - Eine Biographie. In: Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 3a-16a (3a); vgl. zum unduldsamen protestantischen Milieu in Calw auch Hermann Hesses autobiographisch gefärbte Erzählung ›Unterm Rad‹, Berlin 1906.

15 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 26f. Die beiden autobiographischen Bände ›Das widerspenstige Fleisch‹ und ›Tönerne Füße‹ erschienen 1931 und 1933. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden sie bald verboten, ein geplanter dritter Teil mit dem Titel ›Die Verteidigung der Folterkammer‹ konnte nicht mehr erscheinen. (Ursprünglich sollten die Fortsetzungen des ersten Bandes ›Die Unterwelt‹ und ›Die Wandlung‹ heißen; vgl. die entsprechenden Entwürfe von 1931 in: Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 11f. u. 13f.) Im schriftlichen Nachlaß Schlichters, den das Deutsche Literaturarchiv in Marbach 1999 von der Münchener Galerie Alvensleben erwarb, befindet sich aber eine undatierte (Anfang 1936 in Rottenburg begonnene) Handschrift des ersten Kapitels ›August 1914‹ und des Beginns des zweiten Kapitels ›Das Hinterland‹, die (zusammen mit weiteren Fragmenten zu einer noch 1955 geplanten »Malerbiographie«) 1995 in dem Band ›Die Verteidigung des Panoptikums‹ (wie Anm. 5, S. 9-48) erschienen. Da der Abschlußband der autobiographischen Trilogie über die Jahre 1914 bis 1933 auch die ›Gruppe Rih‹ behandelt hätte, ist sein Verlust für unser Thema besonders zu bedauern.

16 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935). Frankfurt a. M. 1962, S. 172

17 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 160

18 Ebd., S. 161

19 Ebd., S. 35; vgl. auch Rudolf Schlichter: Kleine Stadt Calw. In: Das Kunstblatt 12 (1928), Nr. 12, S. 374. Dieses Erlebnis eines »eigenwillige(n) / Wilde(n) Knabe(n)« erinnert Schlichter auch in der verklärten ›Hymne an den Schwarzwald‹ (Germania, 20. 9. 1931), wo vor seinem »Inneren Gesicht« noch einmal »Die Welt / Der großen Schlange, / Das Tepée / Kriegsgewohnter / Mohigans« ersteht. Vgl. Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 75f., und Ders.: Drohende Katastrophe, wie Anm. 6, S. 28f.

20 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 207f.

21 Ebd., S. 208

22 Ebd., S. 208f.; bezeichnend für den normativen Charakter, den Schlichter während seiner Pubertät May zuschrieb, ist auch eine Stelle in der Autobiographie, wo er beschreibt, wie er sich mit Hilfe der »zierlichen Knopfstiefel« seiner Schwester Gertrud sexuell zu befriedigen suchte und dabei masochistische Lust empfand: »Ich fühlte mich auf einmal als Mädchen, ein schreckliches Verlangen nach männlicher Gewalt ergriff mich, am liebsten hätte ich mich aufs Bett werfen lassen, bereit, jeden Mißbrauch meines Körpers zu erdulden. (...) Es schien, als ob meine ganze männliche Willensbetontheit untergegangen wäre in dem einen Wunsch, Gewalt zu erleiden. Obgleich ich keine genaue Vorstellung von den Dingen hatte, die bei der Vereinigung der beiden Geschlechter vor sich gingen, erschrak ich doch vor den Konsequenzen meines Wunsches, eine fürchterliche Angst ergriff mich, mich ganz in diesem Ozean verkehrter Lüste zu verlieren. Heiße Scham überfiel mich plötzlich bei dem blitzartig auftauchenden Gedanken, was wohl Winnetou oder


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Old Shatterhand oder sonst einer meiner Helden, dazu sagen würden, wenn sie mich in diesem Zustand vom Jenseits aus beobachteten. Voll Ekel riß ich die Stiefel wieder herunter und brachte sie leise nach der Küche. Ich gelobte mir, mich nie wieder einer derartigen Schwäche zu überlassen und schlief, durch diesen festen Vorsatz getröstet, in bleierner Ermattung bis in den hellen Morgen. Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« (Ebd., S. 269f.) Das Erlebnis, das bereits in Schlichters Stuttgarter Zeit an der Kunstgewerbeschule (1906-1909) fällt - er lebte damals im Zuffenhausener Haushalt seiner wenige Jahre älteren Schwester und ihres Mannes Karl - ist trotz fetischistischer Besonderheit symptomatisch für die pubertäre May-Rezeption überhaupt. Die scheinbar von Sexualität freie May-Welt wird als ›heile‹ Gegenwelt zur eigenen belastenden sexuellen Wirklichkeit empfunden, wirkt normativ oder dient der Kompensation. Für den nur psychoanalytisch erkennbaren sexuellen Hintergrund der Mayschen Texte hat der Jugendliche - und wohl nicht nur er - kein Sensorium.

23 Ebd., S. 187f.

24 Ebd., S. 188f.

25 Ebd., S. 209

26 Ebd., S. 209f.

27 Ebd., S. 211

28 Ebd., S. 210f.; nach Auskunft Lothar Schmids (Karl-May-Verlag, Bamberg) ist kein Brief Rudolf Schlichters an Karl May im Nachlaß des Schriftstellers erhalten, was weiter nicht verwundert, da May täglich Dutzende solcher Anfragen erhielt.

29 Ebd., S. 242; als noch ein Lehrmädchen hinzukam, das bei Schlichters Mutter Schneiderei lernte, wurden diese Leseabende zur »ständige(n) Einrichtung«: »Jeden Abend las ich den beiden Frauen aus meinen geliebten Büchern vor und oft genug ging die Anteilnahme am Schicksal der May'schen Helden so tief, daß wir alle drei vor Rührung Rotz und Wasser heulten.«

30 Rudolf Schlichter: Worte der Einführung. In: Ders.: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 217-22 (217); der Text entstand 1936 anläßlich einer Ausstellung in der Stuttgarter Privatgalerie von Hugo Borst.

31 Brief Rudolf Schlichters an Ernst Jünger vom 6. 12. 1939. In: Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 149

32 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 276

33 Zitat des ansonsten nicht unüblen Lehrers Hötzer, der ein »lebenslustiger, humorvoller jüngerer Mann von kleiner untersetzter Statur« war: »›Was, sie leset noch Karl May, saufe se lieber Blausäure, dös ischt g'scheiter! Wissens' denn net, daß dös alles fauler Schwindel ist!‹« (Ebd., S. 255) Schlichter half sich mit der Vorstellung, daß »so ein kleiner, dicker, unbeholfener Knopf wie Herr Hötzer (...) bald erledigt (wäre), wenn man ihn ein paar Tage allein in die ›blutigen und finsteren Gründe‹ stellen würde«. (Ebd., S. 256) Weniger leicht konnte Schlichter sich über die Ansicht seines geliebten Mitschülers Bruno von Sanden hinwegsetzen: »›Aber das sind doch keine heldischen Eigenschaften, was dieser Karl May predigt, (...) das sind höchstens die Eigenschaften eines größenwahnsinnigen, frömmelnden Schulmeisters, außerdem ist alles Schwindel!‹« (Ebd., S. 257) Der Einfluß von Sandens wirkte mit der Zeit.

34 Max Schlichter (1882-1933) wurde in den zwanziger Jahren bekannt als Inhaber des berühmten Berliner Künstler-Restaurants ›Schlichter‹ (1926 erst in der Ansbacher Straße 46, dann in der Martin-Luther-Straße 33), nachdem er zunächst Küchenchef des Hotels ›Kaiserhof‹ und dann Mitbesitzer des mondänen Weinrestaurants ›Willys‹ gewesen war; das Restaurant ›Schlichter‹, das auch als Verkaufsgalerie für die Werke des Bruders Rudolf diente, wurde nach dem Tod Max Schlichters von seinem Neffen Karl Wassmannsdorff, dem Sohn der Schwester Gertrud, weitergeleitet. Vgl. George Grosz: Berliner Künstlerwirte. Max Schlich-


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ter. In: Der Querschnitt, Berlin, 2 (1931), Nr. 9, S. 645f.; Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café ... Künstler und ihre Lokale im Berlin der zwanziger Jahre. Braunschweig 1988, S. 84-97.

35 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 285

36 Ebd., S. 289f.

37 Ebd., S. 284

38 Ebd., S. 252

39 Vgl. ebd., S. 312f.

40 Ebd., S. 333

41 Vgl. George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt (1955). Reinbek bei Hamburg 1983, S. 132: »Er ist einer der belesensten Maler, von geradezu enzyklopädischem Wissen.«

42 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 44

43 Ebd., S. 45f.

44 Günter Metken: Einführung. In: Schlichter: Tausendundeine Nacht, wie Anm. 6, S. 7-13 (11); siehe etwa die undatierte Radierung ›Die Eroberung von Bagdad‹, in: Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 9, Abb. 10.

45 Die Zeichnungen zu den ›Erzählungen aus den Tausendundein Nächten‹ (nach der zwölfbändigen Insel-Übersetzung Felix Paul Greves, 1907-12) wurden erst 1993 veröffentlicht (Anm. 6); es handelt sich um Illustrationen zu den Geschichten des ersten, zweiten und dritten Bettelmönchs, des blinden Baba Abdullah und den Geschichten von Sîdi Nu'mân und der Messingstadt. Bemerkenswert ist, daß auch Karl May offenbar von der Messingstadt-Legende so fasziniert war, daß er sich (laut einem ersten Hinweis Arno Schmidts) von ihr zu seinem Totenstadt-Szenario in ›Ardistan und Dschinnistan‹ anregen ließ; vgl. Christoph F. Lorenz: Von der Messingstadt zur Stadt der Toten. Bildlichkeit und literarische Tradition von »Ardistan und Dschinnistan«. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 222-43, bes. S. 227-33 (Sonderband text + kritik). Bei diesem Zusammenhang überrascht es nicht, daß manche von Schlichters Landschafts- und Architekturphantasien zu ›Tausendundeiner Nacht‹ wie Illustrationen zu Mays Sitara-Kosmos wirken. Bisher unveröffentlicht sind Zeichnungen Schlichters (1947/48) zu der ›Geschichte des Prinzen Fadlallah, des Sohnes Bin Ortoks, des Königs von Mosul‹ aus der Sammlung ›Tausendundein Tag. Orientalische Erzählungen‹ (nach dem ersten Band der vierbändigen Insel-Übersetzung Felix Paul Greves, 1909/10).

46 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 47

47 Ebd., S. 267

48 Ebd., S. 52

49 Als äußeres Zeichen dieser Indianer-Euphorie der Karlsruher ›Südstadtindianer‹ entstand in den Jahren 1924-1927 auf dem Werderplatz unter der Leitung des Bildhauers August Mayerhuber ein noch heute bestehender ›Indianerbrunnen‹, janusköpfig bekrönt durch die federgeschmückten Bildnisse des Stadtbaurats und Ideengebers Friedrich Beichel und eines Sioux-Indianers, der damals mit der Völkerschau des Zirkus »Krone« in Karlsruhe gastierte. 1946/47 gründeten sich in Karlsruhe zudem zwei konkurrierende Indianervereine, die sich 1952 zu den immer noch aktiven ›Indianerfreunden e. V.‹ zusammenschlossen; vgl. Michael Scholz-Hänsel: Indianer im deutschen Südwesten. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg, München, Berlin, 23 (1986), S. 128-44; dort auch Hinweise auf Rudolf Schlichter, Max Slevogt und andere indianerbegeisterte Künstler, bis hin zu Horst Antes und seinen Adaptionen der Hopi-Kultur.

50 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 271f. Schon Karl May sah den Wilden Westen reich an Heldenthaten, welche dem, was von unsern klassischen Heroen berichtet wird, getrost und vollgültig an die Seite gestellt werden können. (Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895, S. 118)


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51 Karl-Ludwig Hofmann / Christlust [recte Christmut] Präger: Rudolf Schlichter in Karlsruhe 1910-1919. In: Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 17a-32a (32a)

52 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 273; Schlichter zitiert hier aus seiner ›Hymne an den Schwarzwald‹, wie Anm. 19.

53 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 273

54 Auch später fiel Schlichter gelegentlich in diese kindliche Rezeptionsform zurück. So berichtet er in seiner Autobiographie, daß er während des Karlsruher Studiums dem Sohn seiner Schwester Klara nicht nur in Fortsetzungen selbsterfundene Abenteuerromane erzählte, sondern ihm auch Pfeile und Bogen, Tomahawks und Skalpmesser schnitzte und »zu seiner Belustigung wie ein Junge Indianer (spielte)«: »Ich wurde zeitweise richtig kindisch, ergab mich hemmungslos einem infantilen Rausch.« (Ebd., S. 215)

55 Ebd., S. 274 - der Schluß des Zitats dürfte sich vor allem auf George Grosz beziehen, der ähnlich wildwestbegeistert war. Aber auch an Otto Dix wäre zu denken, der 1922 ein exotisches ›Wild-West‹-Bild (Mischtechnik; Abb. bei Beeke Sell Tower, wie Anm. 11, S. 29) malte.

56 Siehe auch Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 15, Abb. 16.

57 Weitere Beispiele aus dieser Zeit finden sich bei Michael Karl Albert Rabe: Linien, die ihre Opfer wie auf Mokassins umschleichen. Zur ästhetischen und politischen Funktion des Tagtraums im Werk Rudolf Schlichters. Phil. Diss. Hamburg 1987: ›Cowboy / Indianer‹ (Lithographie, um 1914; S. 232, Abb. 6), ›Mexikaner beim Kartenspielen‹ (Bleistift, um 1914; S. 241, Abb. 36) und ›Indianer und Cowboys in der Großstadt‹ (Bleistift und Tusche, um 1914; S. 232, Abb. 7).

58 Siehe Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 18f., Abb. 19f., und Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 76f. und 79, Kat.-Nrn. 10 und 12. Im Katalog 1984 ist das Aquarell ›Wild-West‹ wohl fälschlich auf 1922/23 datiert. Der Titel ›Der schwarze Jack‹ bezieht sich auf die auch von George Grosz geschätzte Romanheftreihe ›Texas Jack, der berühmteste Indianerkämpfer‹ (1906-10).

59 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 278

60 Siehe auch Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 37, Abb. 38; dort fälschlich auf 1919 datiert.

61 Nicht auszuschließen ist, daß sich in Schlichters noch immer nicht vollständig katalogisiertem Nachlaß, vor allem aber in Privatbesitz, noch eine Reihe ähnlich eindeutiger May-Illustrationen befinden. Die meisten dürften freilich verloren gegangen sein. Im Katalogprospekt zur Ausstellung ›Rudolf Schlichter (1890-1955)‹ der Galleria del Levante (München-Milano-New York 1970/71) ist eine undatierte Federzeichnung ›Reiterszene aus Karl May‹ angeführt, leider ohne Abbildung und bisher nicht identifizierbar.

62 Das von uns wiedergegebene Blatt der Karlsruher Akademie der Bildenden Künste ist unbenannt, doch ist auch eine Fassung mit dem an Möllhausens ›Mormonenmädchen‹ erinnernden Titel überliefert; vgl. Marco Vallora: Rudolf Schlichter (1890-1955). Omaggio a Emilio Bertonati nel 15° anniversario della morte. Brescia 1996, S. 25 (Galleria dell'Incisione).

63 Katalogprospekt zur Ausstellung ›Rudolf Schlichter. Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken der 20-er Jahre‹ (Hamburg 1978)

64 Hofmann / Präger, wie Anm. 51, S. 28a; vgl. zur ›Gruppe Rih‹ auch die Zusammenstellung im Ausstellungskatalog: Kunst in Karlsruhe 1900-1950. Karlsruhe 1981, S. 50-62 (Staatliche Kunsthalle), und Christine Rebmann: »Der Einbruch der Moderne in Karlsruhe«. Die Gruppe »RIH« 1919-1920. Masch. Magisterarbeit, Stuttgart 1992. Ein spielerisch veranlagtes Gemüt könnte im Namen  ›R i h‹  auch ein Kürzel für Rudolf Schlichter sehen.

65 Hanne Bergius: »Lederstrumpf« zwischen Provinz und Metropole. In: Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 33a-46a (33a); eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes (››Lederstrumpf‹ Rudolf Schlichter‹) findet sich in: Hanne Bergius: Das


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Lachen DADAs. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen 1989, S. 260-69.

66 Handschriftlicher Entwurf Schlichters, um 1930; zit. nach Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 11.

67 Davon zeugt indirekt auch das kurze Manifest der Gruppe, das in der Ausstellung verteilt wurde: »Freiheit des Subjekts als Korrektiv gegenüber der mit labiler Ethik Geschäftsinteressen wahrenden Gesellschaftskunst. Freiheit und Selbstleben des Einzelnen. Aberkennung aller Phantasieformen, die dem Philister das Genießen ermöglichen. Freiheit in den Mitteln, diese Ziele zu erreichen. Sie geht von ebenso festen Gesetzen und Wertvorstellungen aus, wie jede andere wahrhafte Kunst. Sie will die Konvention überwinden, das bedeutet Abgrenzung. Sie ist bestrebt, die Ausdrucksformen der gesellschaftsfeindlichen, der vermeintlichen Kinder- und Krankenkunst, nach ihren Gesetzen anzuerkennen, nicht als rationale Bewußtseinsleistung, sondern als eigenem Gesetz unterworfener Ausdruck, zu dessen Erkennung und Wertschätzung das Organ freigelegt werden soll.« (Zit. nach Hofmann / Präger, wie Anm. 51, S. 28a)

68 Die beiden Ausstellungen sind nicht durch Kataloge dokumentiert.

69 Zuckmayer: Als wär's ein Stück von mir, wie Anm. 10, S. 247f.

70 Ebd., S. 249

71 Wilhelm Fraenger: Der Maler Rudolf Schlichter. In: Der Zweemann, Hannover, 2 (1920), S. 40

72 Einschlägige Bilder (z. T. wohl Illustrationen) dieser Zeit sind u. a. ›Reitergruppe (Wildwest-Szene)‹ (Aquarell über Tusche, um 1919; Abb. 6), ›Cowboy mit Gewehr‹ (Tusche, um 1919; Abb. 9), ›Zielender Mann‹ (Tusche, um 1919; Abb. 11, auch im Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 17, Abb. 18), ›Zwei Reiter‹ (Bleistift, um 1919; Kunsthalle Karlsruhe), ›Mädchen aus dem Westen‹ (Bleistift und Tusche, 1919; Das Kunstblatt 4, 1920, Nr. 4, S. 106), ›Wild West‹ (Lithographie, um 1919; Galerie Hasenclever, München).

73 Vgl. Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein, wie Anm. 41, S. 79-82; Grosz besuchte May zusammen mit seinem Malerfreund Erwin Liebe, der interessanterweise schon damals von »jenen drei unsterblichen Genies« schwärmte - »von Friedrich Nietzsche, dem Philosophen, Richard Wagner, dem Musiker, und Karl May, dem Epiker des germanischen Mythos« (S. 78). Liebes Begeisterung für den ›Symbolisten‹ May vermochte Grosz allerdings nicht zu teilen. Wenige Monate vor Grosz, im Mai 1910, war übrigens auch Egon Erwin Kisch zu einem Interview in Radebeul gewesen.

74 Vgl. das Foto, das Grosz 1917 in verwegener Western-Pose mit Hut und Revolver zeigt, bei Lothar Fischer: George Grosz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 40, und das damit korrespondierende (seit der Ausstellung ›Entartete Kunst‹ 1938 verschollene) Gemälde ›Der Abenteurer‹ (1917), im Katalog: George Grosz. Berlin - New York. Hrsg. von Peter-Klaus Schuster. Berlin 1995, S. 326, Kat.-Nr. IX.11 (Nationalgalerie) (dort als »Reminiszenz auch an Karl Mays Old Shatterhand« gewertet). Beeke Sell Tower, wie Anm. 11, S. 18f. und 27, konfrontiert Grosz' ›Abenteurer‹ außerdem noch mit einem Foto Mays als Old Shatterhand von Alois Schießer (1896) und mit Schlichters Zeichnung ›Zielender Mann‹ (um 1919); dort auch ein Foto von Grosz mit ›Indianerdecke‹ (S. 26). Vom »Wigwam« berichtet u. a. Paul Westheim: Legenden aus dem Künstlerleben. In: Das Kunstblatt 15 (1931), S. 149f.

75 Hausmanns Gruß an Heartfield datiert vom 28. 5. 1920, Grosz' Brief an Hausmann vom 25. 1. 1921; vgl. Bergius: Das Lachen DADAs, wie Anm. 65, S. 186 und 174 (dort ein Faksimile des Grosz-Briefes).

76 Bergius: »Lederstrumpf« zwischen Provinz und Metropole, wie Anm. 65, S. 37a

77 Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 221


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78 Schlichter hatte zusammen mit John Heartfield einen ›Preußischen Erzengel‹ montiert, eine an der Decke hängende ausgestopfte Puppe mit Offiziersuniform und einer Schweinskopf-Maske; Abb. im Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 44a, und Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 13. Wegen dieser Plastik und wegen Grosz' Mappe ›Gott mit uns‹ kam es 1921 zu einem Prozeß, in dem Schlichter, Grosz, John Heartfield, Wieland Herzfelde, Johannes Baader und Otto Burchard wegen Beleidigung der Reichswehr angeklagt wurden; Grosz und Herzfelde als Verleger der Mappe wurden zu Geldstrafen verurteilt, Schlichter und die übrigen Angeklagten freigesprochen. Eine Dokumentation der ›Ersten Internationalen Dada-Messe‹ findet sich im Katalog: George Grosz. Berlin - New York, wie Anm. 74, S. 140-45; eine Rekonstruktion der Deckenplastik (1988) ebd., S. 143, Kat.-Nr. IV.12.

79 Carl Einstein: Rudolph Schlichter. In: Das Kunstblatt 4 (1920), S. 105-108 (106)

80 Theodor Däubler: Rudolf Schlichter. In: Die Bunte Bienentruhe, Bremen (8. 12. 1921). Däubler vergleicht hier weiter den »Amerikataumel« Schlichters mit dem von George Grosz: »Groß und Schlichter leben beide in Berlin und sind, jeder auf seine Weise, vom Amerikataumel erfaßt. Im übrigen gleichen sie sich nur streckenlang; seltener als man vielleicht auf den ersten Blick annehmen möchte. Auch das Amerikanertum ist für beide Künstler verschieden: Schlichter lebt mit Cooper, mehr noch mit dem entflohenen, österreichischen Mönch Postel, der unterm Namen Sealsfield sein prächtiges Kajütenbuch veröffentlicht hat! Ihn illustriert Schlichter auch: und zwar mit einem Hang ins Romantische. Groß hingegen lassen die Prärien und Rothäute vollkommen kühl: er sieht nur Newyork.« Daß indes auch Grosz (von der Indianerfreundin Else Lasker-Schüler nicht zufällig ›Lederstrumpf‹ genannt) eine Zeitlang dem romantischen Traum vom abenteuerlichen Wilden Westen erlag, wie ihn noch vor May gerade Cooper verkörperte, zeigt expressis verbis seine Lithographie ›Texasbild für meinen Freund Chingachgook‹ (1915/16) aus der ›Ersten George Grosz-Mappe‹ (1916/17). Abb. im Katalog: George Grosz. Berlin - New York, wie Anm. 74, S. 452, Kat.-Nr. X.151.2, und bei Beeke Sell Tower, wie Anm. 11, S. 23.

81 Christoph Martin Wieland: Auszug aus Lucians Nachrichten vom Tode des Peregrinus. Heidelberg 1920 (Verlag Richard Weissbach) (10 Lithographien); Oscar Wilde: The Ballad of Reading Gaol. München 1923 (O. C. Recht Verlag) (61 Radierungen); (Peter) Paul Althaus: Jack der Aufschlitzer. Rund zwei dutzend Lieder. Berlin 1924 (Elena Gottschalk Verlag), Nachdruck München 1982 (5 Zeichnungen); Walter Mehring: In Menschenhaut. Aus Menschenhaut. Um Menschenhaut herum. Phantastika. Potsdam 1924 (Gustav Kiepenheuer Verlag), Nachdruck Berlin-Darmstadt 1977 (25 Zeichnungen). Zu Mehrings ›Phantastika‹ gehört auch die Erzählung ›Lederstrumpf‹ (S. 142-61); in der grotesken Geschichte einer Reise des Motorpaddlers ›Walt Merin‹ auf die Insel Ixtochtlhude, wo seine Tante ›Daisy, die kleine Präsidentin der Republik der Weiberken Piß‹, unter dem wohlbekannten Namen ›Wa-ta-wah‹ einen Kinderstaat regiert, verbinden sich geradezu idealtypisch exotische mit erotischen Phantasien. Siehe Schlichters Illustration im Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 126, Kat.-Nr. 50. Ein sorgfältiges Verzeichnis sämtlicher Buchillustrationen Schlichters, mit zahlreichen Abbildungen, bietet Heißerer in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 22-63.

82 (Charles) Sealsfield (d. i. Karl Postl): Das blutige Blockhaus. Mit 20 Steinzeichnungen (recte 22 Tuschfederzeichnungen) von Rudolf Schlichter. In neuer Fassung hrsg. durch Walter von Molo. Potsdam 1922 (Gustav Kiepenheuer Verlag: Der graphischen Bücher 8. Band) (Abb. der umlaufenden Einbandzeichnung in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 52f., Nr. C4; Auszug ›Der Kampf um das Blockhaus‹ mit 5 Illustrationen in: Das Kunstblatt 6, 1922, Nr. 5, S. 209-18); Bret Harte: Kalifornische Erzählungen. Mit 66 Bildern von Rudolf Schlichter. Deutsch von Paul Baudisch. Potsdam 1924 (Gustav Kiepenheuer Verlag: Das Neue Buch)


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(Abb. der Einbandzeichnung in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 54, Nr. C14), Neuausgaben Köln-Berlin 1965 und (mit 54 Illustrationen) Leipzig-Weimar 1988. Vgl. auch Schlichters drei Illustrationen zu Carl Zuckmayers ›Frauenraub‹, einem Fragment des unvollendeten Romans ›Sitting Bulls Ende‹ (Das Kunstblatt 9, 1925, Nr. 1, S. 10-12); die Kreidezeichnung ›Indianerüberfall‹ (ebd., S. 11) ist als Originalblatt überliefert (Abb. 8, auch im Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 24, Abb. 25, Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 83, Kat.-Nr. 17, und in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 64, Nr. D12). Dem ältesten Sohn Ernst Jüngers, Ernst jr. (1926-1944 gefallen), schenkte Schlichter 1937 eine (nicht erhaltene) Illustration zum ›Blutigen Blockhaus‹ (»übrigens eine vorzügliche Erzählung«, Brief an Ernst Jünger vom 19. 11. 1937, in: Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 122).

83 Rudolf Geist: Nijin, der Sibire. Roman. Illustriert von Rudolf Schlichter. Berlin 1925 (Der Malik Verlag) (16 Zeichnungen)

84 Abb. in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 12

85 Robert Müller: Camera obscura. Roman. Berlin 1921 (Erich Reiß Verlag). Abb. des Einbands in: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 22, Nr. C2; die Neuausgabe des Igel Verlags (Paderborn 1991) hat leider auf diese Zeichnung verzichtet.

86 Zu den May-Illustrationen allgemein vgl. Hans-Martin Lohmann: Der Traum von einer Sache oder: Das Glück an der Oberfläche. Freie Assoziationen zu den Buchdeckel-Illustrationen der Bamberger Karl-May-Ausgabe. In: Karl May - der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. M. 1987, S. 213-22; Volker Klotz: Erzählte und bebilderte Abenteuer. Bündnisse zwischen Illustration und Text in mehrerlei Karl-May-Ausgaben. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1993. Husum 1993, S. 92-115; Hans Ries: Die Helden im Bild. Die Illustrationen in den Werken Karl Mays. In: Karl May. Leben - Werk - Wirkung. Ein Handbuch. Hrsg. von Heinrich Pleticha / Siegfried Augustin. Stuttgart 1996, S. 203-23.

87 Vgl. Dirk Heißerer: Nachwort. In: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 117-20 (118): »Es ist (...) nicht verwunderlich, daß Schlichter Karl May selbst nicht ausführlich illustriert hat.«

88 Vgl. ebd. und Ders.: »Bilderbogen für Erwachsene«, wie Anm. 7, S. A635.

89 Egon Erwin Kisch: Wagnisse in aller Welt. Berlin 1927 (Universum-Bücherei für Alle), S. 11; vgl. dazu den Text, S. 12: »Nach einer Stunde sprengen von der Welle am Horizont zwei Reiter heran. Das Pferd des einen ist ein Schimmel, prachtvoll aufgezäumt, die Steigbügel sind Häuschen aus getriebenem Silber, Turban und Haïk des Reiters aus Seide und der Burnus aus goldbesticktem blauem Stoff.« Der Band enthält 12 Zeichnungen Schlichters.

90 Vgl. ebd., S. 12: »Hinter dem See: der Schott, eine silberglänzend-trügerische Fläche. Der Weg, beiderseitig durch breite Gräben von ihr geschieden, führt festgestampft entlang, doch ist die aufregende Jugendlektüre von Verfolgungen davonjagender Wüstenräuber über Salz- und Sandgelände nicht ohne nachhaltigen Eindruck geblieben, und man muß die Gefahr verkosten. Der Hengst scheint gleichfalls seinen Karl May gelesen zu haben, er will nicht über den Graben, er bockt, ihm das Zauberwort ›Rih‹ ins Ohr zu flüstern oder die Sure des Todes aufzusagen, würde kaum etwas fruchten, selbst die wütendsten Fersenhiebe fruchten ja nichts, er bockt nur. Erst die niederklatschende Nilpferdpeitsche zwingt ihn zum Sprung.«

91 Es scheint denkbar, daß auch Schlichters Abwendung von May durch Speedy beeinflußt war; schließlich sind von ihr Sätze überliefert wie: »Eure Dichter sind keine heiligen Kühe, die auf der fetten Weide Eurer Phantasie grasen, wo Ihr sie allesamt hütet und melkt. (...) Man muß jeden Augenblick bereit sein, aufzuwachen und seine heiligen Tiere zu töten!« (Bauer Perrot / Perrot, wie Anm. 12, S. 139).


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Karl May war für Schlichter solch eine »heilige Kuh« gewesen; daß Speedy, die auch selber dichtete (Polyphem [Prosa]. München 1947, Hans von Weber Verlag; Hinter der Mauer [Lyrik]. [Nürnberg 1952], Verlag der Neuen Presse), irgend etwas mit dem Abenteuerschriftsteller anzufangen wußte, scheint ausgeschlossen.

92 Bergius: »Lederstrumpf« zwischen Provinz und Metropole, wie Anm. 65, S. 35a

93 Vgl. Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 363 (Anmerkung Heißerer).

94 Vgl. Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 78. Im Atlantis Verlag, der 1944 eine von Schlichter illustrierte Ausgabe der ›Schatzinsel‹ von Robert Louis Stevenson (34 Zeichnungen) brachte, sollten auch Wilhelm Hauffs ›Märchen‹ mit seinen Bildern erscheinen. Eine von Speedy Schlichter angelegte Liste nennt 82 Illustrationen, von denen viele als Andrucke überliefert sind, darunter auch eine Zeichnung ›In der Wasserleitung‹ zur ›Errettung Fatmes‹, die den Maler unbedingt an die Senitza-Episode in ›Durch die Wüste‹ erinnern mußte. Vgl. ebd., S. 77f.

95 Das Bild befindet sich im Besitz von Alexander (Rudolf) Perrot, Pforzheim (Jg. 1932); der Sohn des mit Schlichter befreundeten Calwer Fabrikanten (Beregnungsanlagen) Heinrich Perrot erinnert sich noch gut daran, daß der Maler dem als Kind begeisterten Karl-May-Leser des öfteren Indianergeschichten erzählte (Brief an den Verf. vom 27. 8. 1998). Nach einer Mitteilung Helmut Bauers (Brief an den Verf. vom 30. 9. 1998) erzählte Schlichter auch Alexanders älterer Schwester Dorothea (Elisabeth) (verh. Bauer, 1930-1993), als diese im Juni 1940 längere Zeit krank war, Karl-May-Geschichten, darunter eine von einem ›weißen Häuptling‹, und aquarellierte dem Kind zur Erinnerung ein Blatt ›Der weiße Häuptling‹; das eindrucksvolle Porträt eines mexikanischen Reiters auf einer Anhöhe, der gebieterisch seine Hand gegen eine im Tal liegende Stadt ausstreckt, dürfte allerdings nicht Mays Parranoh, sondern den auch in der Autobiographie erwähnten Carlos des Ciboleros darstellen. Vgl. Dorothea Bauer, in: Bauer Perrot / Perrot, wie Anm. 12, S. 144: »Mich in meine Kinderjahre zurückversetzend throne ich auf den Schultern des Vaters und schaue mir die schöne Welt an. Aber bald sitzt da zu meinen und seinen Füßen ein anderer Mann, ein Zauberer für mich und für ihn, sein Freund Rudolf Schlichter nämlich. Fabulierend hebt er das Dach meines Kinderhauses, bläst es in den Wind und spannt darüber seinen weiten Regenbogen.«

96 Friedrich Gerstäcker: Aus dem Wilden Westen. Erzählungen. (9) Zeichnungen von Rudolf Schlichter. Rottenburg Neckar 1949 (Verlag Deutsche Volksbücher: Wiesbadener Volksbücher 320); der Band enthält die Erzählungen ›Der Osage‹, ›Der erkaufte Henker‹, ›Die Rache des weißen Mannes‹ und ›Flatbootmen‹. Eine gekürzte Fassung der ›Einführung‹ erschien separat auch unter dem Titel ›Gerstäcker, der ideale Abenteurer‹ in den ›Nürnberger Nachrichten‹ (Nr. 160, 21. 1. 1949, S. 13).

97 Brief Rudolf Schlichters an Paul Wilhelm Wenger vom 7. 12. 1943. In: Rudolf Schlichter. Bibliographie, wie Anm. 7, S. 113

98 Schlichter: Das widerspenstige Fleisch, wie Anm. 4, S. 170

99 Brief Rudolf Schlichters an Ernst Jünger vom 25. 7. 1936. In: Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 66f.; weiter heißt es in diesem aufschlußreichen Brief, in dem Schlichter die »Wurzeln (seiner) Gestaltung« (S. 69) offenlegt: »Kennen Sie den Zustand, eine Notwendigkeit erkannt haben u. sich doch mit der rasenden Wut eines Kaliban dagegen sträuben? Die Schönheit lieben u. sie töten wollen, dem satanischen Hang zur Zerstörung aller Bindungen mit blindem Trotz fröhnen, auf dunkelsten Schleichwegen Lust schinden, in Tort u. Tücke wohl erfahren, besessen von kannibalischer Besitzesgier, und dabei sich selbst u. alle andern belügen mit der Miene des Unschuldspinsels, das ist das Grunderbe, das man in diesem Lande mitbekommt. In Fachkreisen nennt man das Schizophrenie, was ich schlichter mit dem guten deutschen Wort Herzlosigkeit belegen würde. Ich möchte jedem, der Ein-


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blick in dieses merkwürdige Wesen gewinnen will, raten, eine Zeitlang unter Schwaben zu leben. Dieser begabte Stamm ist vielleicht das erschreckendste u. einleuchtendste Beispiel jener seltsamen Spaltung, es ist sein Fluch u. seine Berufung, im mitteleuropäischen Raum das Ahriman und Ormudz grinzig in seiner reinsten Ausprägung darzustellen.« (S. 68) Vgl. auch einige der Gedichte im Band ›Drohende Katastrophe‹, wie Anm. 6, S. 19 und 41f.

100 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 111; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

101 Vgl. ebd., S. 177.

102 Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 267f.; vgl. Erwin Müller: Karl May und Rudolf Schlichter. In: M-KMG 115/1998, S. 42f. Zum Verhältnis Ernst Jüngers zu Karl May vgl. Günter Scholdt: Sitara und die Marmorklippen. Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 158-69.

103 Rudolf Schlichter: Karl Mays Gestalten. Zur Wiederkehr seines 100. Geburtstages am 25. Februar. In: Berliner Börsen-Zeitung (22. 2. 1942), S. 6. Im schriftlichen Nachlaß Schlichters (Deutsches Literaturarchiv, Marbach) hat sich der Durchschlag des Originaltyposkripts mit dem schlichten Obertitel ›Karl May‹ (4 S.) erhalten; einige Stellen des Typoskripts, die für den Druck (offenbar von der Redaktion der ›Berliner Börsen-Zeitung‹) gestrichen wurden, sind von uns in eckigen Klammern eingefügt worden. In dieser vollständigen Form erscheint der Text hier erstmals. Bemerkenswert ist, daß Schlichter den Untertitel ›Zur Wiederkehr seines 100. Geburtstages am 25. Februar‹ im Typoskript strich: ein deutlicher Hinweis darauf, daß er den Text später noch einmal separat veröffentlichen oder zur Grundlage erneuter Beschäftigung mit dem Thema machen wollte. Daraus könnte sich dann der ›Phänomen‹-Aufsatz entwickelt haben.

104 Mit demselben Bild kommentiert Schlichter in einem Brief an Ernst Jünger vom 24. 1. 1942 (Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 180f.) eine Stelle aus dessen Tagebuch ›Gärten und Straßen‹ (Berlin 1942), wo ein Geflügelkauf in Baden-Oos beschrieben wird, bei dem eine »Zudringliche« sich nicht scheut, einer von Jünger erworbenen gebratenen Ente unter dem Vorwand kulinarischer Ratschläge mit gekrümmtem Zeigefinger in die Hinteröffnung zu fahren, um dort ein Stückchen Eingeweide zum eigenen Schmause hervorzuholen: »Hier ist durch die eine Darstellung eines alltäglichen Vorgangs eine Wirkung von solcher Komik erreicht, daß man Kopf stehen, u. mit den Beinen winken möchte.« Gegenüber Jünger vermerkt Schlichter, »solche Kostbarkeiten« gäbe es sonst »wenige in der deutschen Literatur« und eigentlich nur bei Cervantes oder in »guten amerikanischen Exzentrikfilmen«; offenbar fand er sie aber auch bei Karl May. Das Parallelbild ist ein klarer Hinweis auf die Entstehungszeit des ersten May-Aufsatzes Anfang 1942.

105 Dieses und die folgenden kurzen Schlichter-Zitate erfolgen in einer dem Text angepaßten Flexion.

106 Schlichters Text ist wohlkomponiert; er bezieht sich vor allem auf Mays sechsbändigen Orientzyklus, beginnt daher sinnfällig mit Halefs Eingangszitat zum ersten Band (Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem, Freiburg 1892, S. 1) und schließt mit einem (ungenauen) Zitat aus Halefs hochinteressante(m) Schreibebrief am Ende des letzten Bandes (ohne ›Anhang‹, Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 533f.).

107 Symptomatisch hierfür ist das Register im Band ›Die Verteidigung des Panoptikums‹ (wie Anm. 5, hier S. 415), wo Schlichters Spitzname »Rih, der Rapphengst« als Werktitel Karl Mays auftaucht.

108 Dirk Heißerer: Nachwort. In: Ebd., S. 375-92 (383f.) - vgl. auch Dirk Heißerer: Eros und Gewalt. Schlichters »Liebesvariationen«. In: Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 27-36 (34).


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109 Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 350 (Anmerkung Heißerer)

110 Ebd.

111 Ebd.

112 Vgl. Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 177-205.

113 Die Datierung auf 1943 in seinem Kommentar zum Briefwechsel mit Ernst Jünger (wie Anm. 6, S. 505) hat Heißerer in einem Brief an mich (14. 2. 1998) ausdrücklich korrigiert.

114 Rudolf Schlichter: Karl May. Ein deutsches Phänomen. In: Ders.: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 181-88; Typoskript (10 S.) im Nachlaß Schlichters (Deutsches Literaturarchiv, Marbach)

115 Vgl. Günter Scholdt: Hitler, Karl May und die Emigranten. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S. 60-91.

116 Klaus Mann: Karl May. Hitler's Literary Mentor. In: The Kenyon Review 2, Autumn 1940, S. 399f.

117 Heißerer: Nachwort, wie Anm. 108, S. 383

118 Günter Metken: Nähe zum Gegenstand. Theater der Physiognomik. In: Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 393-409 (396)

119 Ebd., S. 394

120 Dasselbe gilt schon für den Aufsatz in der ›Berliner Börsen-Zeitung‹, ist wegen der relativen Kürze des Textes dort aber weniger auffällig und erstaunlich.

121 Vgl. Ernst Bloch: Die Silberbüchse Winnetous. In: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt (31. 3. 1929) - auch in: Ders.: Erbschaft dieser Zeit, wie Anm. 16, S. 169-73.

122 Bloch: Erbschaft dieser Zeit, wie Anm. 16, S. 173-81 (179) (Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage)

123 Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein, wie Anm. 41, S. 82

124 Exemplarisch ist etwa der Gedenkartikel Jenkners im Goebbels-Blatt ›Der Angriff‹ (Er lebt - wenn ich nicht irre. Karl May zum 100. Geburtstag am 25. Februar 1942, 25. 2. 1942), in dem May als ein  »v o r b i l d l i c h e r  D e u t s c h e r«  gepriesen wird, der »den Mannestod (...) mannhaft echt geschildert hat«: »Fragt einmal bei den Kameraden im Felde, was sie von Karl May denken. Sie werden sich ihre Karl-May-Gesinnung nicht nehmen lassen.«

125 Brief Rudolf Schlichters an Ernst Jünger vom 6. 12. 1939. In: Jünger / Schlichter, wie Anm. 6, S. 150

126 Vgl. Schlichters Brief an den Malerkollegen Franz Radziwill vom 24. 4. 1933: »Heil u. Sieg. Endlich ist so geräumt worden, wie wir es schon lange wünschten. Nunmehr werden sich die frechen Schmutzer in ihre Löcher verkriechen u. die Zugehörigkeit zu irgend einem alljüdischen Kunsttrödelgeschäft ist Gott sei Dank nicht mehr als Legitimation für Begabung nötig.« In völliger Verkennung der nationalsozialistischen Ziele glaubte er, seine zuvor bekundete »Bejahung der religiösen u. nationalen Wurzel der Kunst« könnte ihm als »Legitimation« dienen. Zit. nach Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 353 (Anmerkung Heißerer).

127 Rudolf Schlichter / Paul Wilhelm Wenger: Grundsätzliches zur deutschen Kunst. In: Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 213-16, hier S. 213, 214 und 216

128 Bloch: Erbschaft dieser Zeit, wie Anm. 16, S. 180; vgl. Günter Metken: Zwischen den Fronten. Die Autobiographie des Malers Rudolf Schlichter - ein verdrängtes Dokument. In: Schlichter: Tönerne Füße, wie Anm. 4, S. 333-44 (342f.) (zuerst in: Merkur 42, 1988, Nr. 5, S. 371-79).

129 Bloch: Erbschaft dieser Zeit, wie Anm. 16, S. 179

130 Zur Kritik an Blochs These vgl. Andreas Kühne: Von der Dada-Revolte zur Neuen Sachlichkeit. In: Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 37-44 (37f.).


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131 Siehe Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 266-69, Kat.-Nr. 153.

132 Siehe ebd., S. 257-60, Kat.-Nr. 148. Bei genauerer Betrachtung bewahrt selbst dieser Akt die für viele Bilder Schlichters typische Ambivalenz von Schönheit und Vernichtung, denn Speedy liegt buchstäblich am Abgrund.

133 Rudolf Schlichter: Tagebuch, Landsberg, 4. 10. 1943; zit. nach Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 25.

134 Tagebucheintrag ›Aus der Hölle‹, undatiert, etwa Ende 1943; zit. ebd., S. 36.

135 Vgl. Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Prozeßschriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982. Das Thema kann hier nicht ausgeführt werden. Ähnlichkeiten in den Ehen von Schlichter und May sind immerhin frappant. Auch May, dessen literarisches Werk eher sadistische Züge zeigt, verrät in der ›Studie‹ eine masochistische Veranlagung, und die (vermuteten oder tatsächlichen) erotischen Eskapaden Emmas mit ›Hausfreunden‹ von Heinrich Gotthold Münchmeyer bis Max Welte erinnern doch sehr an Speedys Mehrmännerhaushalt. Ansonsten sind kaum gegensätzlichere Frauentypen denkbar als die immer etwas plump wirkende Emma und die französisch parlierende Demimonde-Dame Speedy mit ihrem wirr sprühenden Intellekt. Von der Wirkung dieser modernen Lilith auf Männer jeglicher Art zeugt hinreichend ein einziger Satz Heinrich Perrots: »Oh, wie sie mich zu mißhandeln verstand!« (Bauer Perrot / Perrot, wie Anm. 12, S. 135; ebd., S. 147, nennt Perrot Speedy treffend »die weniger himmlische als allzuirdische Tochter der Aphrodite Pandemos«.)

136 Vgl. Veremundus (Carl Muth): Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Mainz 1898, S. 71f.; Reprint in: Für und wider Karl May. Aus des Dichters schwersten Jahren. Hrsg. von Siegfried Augustin. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 16. Ubstadt 1995, S. 244f. Bemerkenswert ist, daß Muth schon damals »Sealsfields (Karl Postl's) exotische Novellen und Romane« und »Bret-Hartes Kalifornische Erzählungen« über »Karl Mays auf rein stoffliche Wirkungen berechnete Reiselitteratur« stellte (ebd., S. 72), also eben die Werke, die von Schlichter dann 1922 bzw. 1924 illustriert wurden. Muth kritisierte May später noch in einem Artikel ›Ein entlarvter Jugendschriftsteller‹ (Die Zeit, 14. 6. 1902) und in seinem ›Nachruf auf Karl May‹ (Hochland, 1912, S. 249-52, auch in: Jb-KMG 1975. Hamburg 1974, S. 220-26). Weitere Angriffe Muths gegen May sind nicht bekannt, es ist aber wahrscheinlich, daß er sein negatives Urteil auch in späterer Zeit nicht mehr grundsätzlich revidierte und sich darüber mit Schlichter verständigte.

137 Paul Wilhelm Wenger (1912 Gundelsheim am Neckar - 1983 Bonn) lernte das Ehepaar Schlichter bereits um 1930 während seiner Zeit als Student der katholischen Theologie am Tübinger Wilhelmsstift kennen. Nach 1933 studierte er in Tübingen Rechtswissenschaft und Geschichte; 1937 Referendarexamen, 1941 Assessorexamen. Im Zweiten Weltkrieg war Wenger als Pionier eingezogen und wurde 1942 in der Winterschlacht vor Moskau schwer verwundet. 1945 wurde er Landgerichtsrat in Tübingen, 1946 gründete er die CDU in Südwürttemberg mit, und 1948 schied er aus dem Justizdienst aus. Im selben Jahr trat er in die Redaktion der Wochenzeitung ›Rheinischer Merkur‹ ein, der er bis zu seinem Tode ein markantes unorthodox-katholisches, konservativ-liberales und zugleich europäisches Profil gab. Außer dem Erstlingswerk ›Geist und Macht‹ sind in der Bibliothek Schlichter noch die Bücher ›Irische Miniaturen. Zwölf farbige Bilder aus Handschriften irischer Mönche erläutert von Paul Wilhelm Wenger‹ (Hamburg 1957) und ›Die Falle. Deutsche Ost-, Russische Westpolitik‹ (Stuttgart 1971) erhalten. Wichtiger ist jedoch seine umfangreiche politische Analyse ›Wer gewinnt Deutschland? Kleinpreussische Selbstisolierung oder mitteleuropäische Föderation‹ (Stuttgart 1959). In den ›Blättern des Schwäbischen Albvereins‹ veröffentlichte Wenger 1936 (Jg. 48, Nr. 3, S. 50f.) einen hymnischen Artikel ›Rudolf


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Schlichter - der Meister der schwäbischen Landschaft‹. Gruppenfotos mit Wenger sind abgebildet im Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 13a, und bei Heißerer: »Die Stadt selbst ist außerordentlich schön«, wie Anm. 13, S. 13.

138 Paul Wilhelm Wenger: Geist und Macht. Versuche einer Entschleierung des deutschen Idealismus. Augsburg-Göggingen 1948, S. 9 - auch Schlichter hielt Hegel für »des Weltenunheils düstren Wegbereiter«; vgl. sein undatiertes, vermutlich während der Stuttgarter Zeit entstandenes Gedicht ›Stuttgart‹, im Band ›Drohende Katastrophe‹, wie Anm. 6, S. 41f. (42).

139 Wenger: Geist und Macht, wie Anm. 138, S. 23

140 Ebd., S. 31

141 Ebd., S. 51

142 Ebd., S. 99; das Exemplar in der Bibliothek Schlichter (Privatbesitz) trägt die entsprechende Widmung: »Für Speedy und Rudolf Schlichter mein Opus 1 als Weihnachtsgruss 1949 / Koblenz am Rhein / Euer Willy / Zitat Seite 99!«.

143 Ebd., S. 50f.

144 Ebd., S. 51f.

145 Ebd., S. 52

146 Ebd., S. 31

147 Rudolf Schlichter: Der Skulpteur. In: Ders.: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 161-69 (164); vgl. May: Der Schut, wie Anm. 106, S. 66.

148 Siehe Schlichter: Tausendundeine Nacht, wie Anm. 6, S. 105, und Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 282f., Kat.-Nr. 165.

149 Siehe Katalog 1984, wie Anm. 1, S. 144, Abb. 167, und Katalog 1997, wie Anm. 8, S. 298-300, Kat.-Nr. 179.

150 Rudolf Schlichter: Kurzer Versuch über mich und mein Schaffen. In: Die Kunst und Das schöne Heim, München, 53 (Juni 1955), Nr. 9, S. 334-37 (334); unter dem Typoskripttitel ›Versuch über mich selbst‹ auch in Schlichter: Die Verteidigung des Panoptikums, wie Anm. 5, S. 269-74 (269)




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