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WERNER KITTSTEIN

Briefe in Karl Mays Abenteuerromanen



I. Zur Einführung: Von den Vorzügen des genauen Lesens


Das Motiv, dass Verbrecher durch eigenes Fehlverhalten ihre Entlarvung und Bestrafung durch den Helden provozieren, hat Karl May oft verwendet, so auch im Zusammenhang mit Briefen. Im Dschesidi-Abenteuer schickt der Mutessarif von Mossul ein Schreiben an Ali Bey, das weltliche Oberhaupt der ›Teufelsanbeter‹, dem ein weiteres für den Kaimakam, einen türkischen Offizier, beigefügt ist; um dieses zweite Schreiben geht es hier.1 Es zeigt beispielhaft, dass für die Vorgänge um einen Brief drei Instanzen von wesentlicher Bedeutung sind: der Absender, der Brief selbst und der Empfänger. Das Zusammenwirken der drei Elemente der Sprechakt-Struktur verleiht der Handlung erst einen bestimmten Effet.

   Der Brief an den Kaimakam, der mit den Truppen des Mutessarif in die Hände der Dschesidi geraten ist, enthält die knappe Anweisung für den Offizier, sich friedlich zu verhalten und mit den Feinden freundschaftlich zu verkehren; er wird aufgefordert, diesen Befehl recht genau zu lesen.2 Mit unsichtbarer Tinte geschrieben ist noch die Mitteilung Ich komme übermorgen, um zu siegen.3

   Der äußere Vorgang ist unauffällig. Der Absender macht die wichtigste Botschaft an seinen Untergebenen unsichtbar; der zusätzliche Befehl soll die Kenntnisnahme der geheimen Information sichern. Der Bote überbringt den Brief seiner Aufgabe entsprechend und händigt ihn mitsamt dem für den Kaimakam bestimmten Schreiben dem Bey aus, und der Adressat dieses Zusatzschreibens setzt alles daran, es in seine Hand zu bekommen, um es genau zu lesen.

   Aber welche Absichten das Verhalten der beteiligten Personen leiten, was an den daraus resultierenden Verhaltensweisen abzulesen ist und was sich auf den verschiedenen Ebenen des Briefinhaltes, seiner sprachlichen Struktur und seiner Form abspielt, ist umso bemerkenswerter:

   Form und Inhalt des Schreibens an den Kaimakam sind dreigeteilt: Unter der harmlosen Oberfläche des Befehls, sich ruhig zu verhalten (1), verbirgt sich eine für die Dschesidi gefährliche, aber mit unsichtbar gewordenem Harnstoff geschriebene Nachricht (3), die durch die eigentlich unverdächtige Anweisung zum genauen Lesen (2), welche dem Bey auch durchaus angemessen erscheint, aktiviert werden soll und unter dem offiziellen Befehl die geplante Schurkerei verrät. Der Vorgang der Kommunikation ist ebenfalls dreifach strukturiert, wobei das zweite Element doppeldeutig ist: Der


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Schein-Befehl (1) deutet dem Bey und dem Kaimakam ein Einlenken des Mutessarif an, der Zusatzbefehl (2) untermauert für den Bey scheinbar die friedliche Gesinnung des Absenders, weist aber in Wirklichkeit den eigentlichen Adressaten, den Untergebenen, auf das Vorhandensein einer anderen Absicht hin, deren Inhalt und Ziel mit dem geheimen Text (3) offenbart werden sollen. Die beabsichtigte Wirkung besteht darin, dass der Kaimakam die Dschesidi in Sicherheit wiegt (1); außerdem soll er sich auf die insgeheim beabsichtigte militärische Auseinandersetzung vorbereiten (3), so dass die Dschesidi beim Angriff des Mutessarif zwischen zwei Fronten geraten. Die Art der Verschlüsselung (unsichtbarer Schreibstoff), der Wortlaut des Zusatzbefehls (2) und der Wortlaut der geheimen Botschaft (3) scheinen für die gegebenen Verhältnisse im Orient völlig ausreichend.

   Woran liegt es, dass die Absicht des Mutessarif durchkreuzt wird? Schuld daran sind die Anwesenheit eines - für die Geheimbotschaft - unbefugten Empfängers, des Helden Kara Ben Nemsi, und das Fehlverhalten des Adressaten, aber auch das des Absenders. Bei dem Helden, der gewohnt ist, auf jede Einzelheit zu achten, erregt gerade der unverfänglich erscheinende Zusatzbefehl, genau zu lesen, Verdacht, da er innerhalb der militärischen Befehlsstruktur überflüssig ist. Die Hast, mit der der Kaimakam nach dem Schreiben greift, beweist, dass der Verdacht begründet ist, und als Kara Ben Nemsi, der zudem über weitreichende naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt, den Brief ins Wasser halten will, verrät ihm die übertrieben zur Schau gestellte Sicherheit des Offiziers den richtigen Weg zur Sichtbarmachung der Geheimschrift. Aber auch der Absender hat sich zumindest leichtsinnig verhalten. Er konnte zwar nicht damit rechnen, dass sich bei seinen Gegnern ein kenntnisreicher Europäer befindet; aber er hätte aus dem an ihn gerichteten Brief erkennen müssen, dass er es auf der Gegenseite mit einem schreibkundigen, also jedenfalls gebildeten Mann zu tun hat, und die geheime Botschaft besser verschlüsseln müssen.

   Die kurze Episode um dieses Schreiben ist spannend und garantiert durch ihre präzise Gestaltung, die keinen überflüssigen Zug enthält, großes Lesevergnügen. Sie charakterisiert darüber hinaus in komplexer Form die handelnden Personen und skizziert die sozialen und moralischen Verhältnisse, die den Hintergrund des abenteuerlichen Geschehens bilden. Damit breitet sie ein anschauliches multikulturelles Panorama aus. Drei unterschiedliche Verhaltensmuster treten nebeneinander: die arglose, fast naive Denk- und Handlungsweise des Anführers der Dschesidi und die arglistige Aggression des türkischen Statthalters und seines Untergebenen; der Ausgleich erfolgt durch das stets wache Misstrauen des reisenden Europäers. Begründet sind diese Muster im jeweiligen kulturellen Horizont, der die Anschauungen und Aktionen der Figuren prägt. Die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Türken und Dschesidi, wie sie von May erzählt wird, ist bestimmt von Machtstreben und Ausbeutungspolitik auf


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osmanischer Seite, von Nachgiebigkeit und Schwäche auf Seiten der als angebliche ›Teufelsanbeter‹ diskriminierten Sekte. Die Aggressivität der einen Partei wird verstärkt durch die Herrschafts- und Verwaltungsstruktur des türkischen Reiches, die den Statthalter dazu zwingt, zuerst für sein eigenes politisches und materielles Wohl zu sorgen, da seine Position stets gefährdet ist. Bei der anderen Partei haben die lange Zeit der Verfolgung und Unterdrückung sowie ihre religiösen Überzeugungen die Kampfmoral geschwächt und den klaren Blick so sehr getrübt, dass auch ihr hervorragender Anführer ohne die Hilfe eines Dritten auf verlorenem Posten stünde, weil seine Redlichkeit der hinterlistigen Brutalität der Gegenseite nicht gewachsen ist. Der weit in der Welt herumgekommene Kara Ben Nemsi dagegen kann aufgrund seines überlegenen Bildungs- und Kenntnisstandes sowie seiner Erlebnisse auf der Reise durch das Türkenreich wenigstens kurzfristig die Katastrophe von den Schwächeren fernhalten. Ungeachtet der kritikwürdigen Ideologie vom selbstherrlichen Walten des Europäers, der den gut- wie böswilligen Orientalen in militärstrategischer und taktischer Hinsicht überlegen erscheint und fremde Lebensart umso eher akzeptiert, als sie deutschem Reinheitsgebot verpflichtet ist, kann man in dem Geschehen um den Brief des Mutessarif, das auf den ersten Blick keiner besonderen Aufmerksamkeit wert zu sein scheint, eine komplexe Bedeutungsstruktur erkennen - wenn man nur ›recht genau zu lesen‹ versteht.

   Im Folgenden soll unter Rückgriff auf die Sprechakttheorie gezeigt werden, welche Funktionen der Einsatz von Briefen in Abenteuerromanen Karl Mays hat.4 Dabei wird sich ergeben, dass May die lediglich aus einem Satz bestehende schriftliche Mitteilung des Hamd el Amasat an seinen Bruder Barud im Orient-Zyklus nicht nur gezielt aus arbeitsökonomischen Gründen erfand; diesem Brief kommt vielmehr erzählerische Bedeutung als Kompositionselement zu, da er nicht nur die zweite Hälfte des Romans strukturiert, sondern das Sinngefüge des ganzen, sechs Bände umfassenden Geschehens transparent macht. Vor allem dem Verständnis des Geschehens um dieses Schreiben sollen einige allgemeine Überlegungen dienen.



II. Zu Wesen und Funktion des Briefes5


Der Brief ist eine schriftliche Mitteilung eines Senders an einen Empfänger mit einer bestimmten äußeren und inneren Struktur. Er steht im Mittelpunkt von drei aufeinander bezogenen äußeren Vorgängen, die in der empirischen Wirklichkeit wie in fiktionalen Texten grundsätzlich gleich sind:

-Der Verfasser bzw. Absender übermittelt eine Botschaft, die in irgendeiner Weise auf den Adressaten - damit ist der intendierte, also rechtmäßige Empfänger und Leser des Briefs gemeint - Einfluss nehmen will, etwa


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durch Informationen, Fragen, Warnungen, Appelle, Ratschläge oder Befehle. Das Ergebnis dieses intentionalen, also mit einer Wirkungsabsicht versehenen Schreibvorgangs ist unabhängig vom Umfang des Textes: ein einziger Satz, wie die Anweisung des Hamd el Amasat im Orient-Zyklus, kann ebenso gut wie ein mehrere Seiten langes Schreiben, etwa Jonathan Meltons Brief an seinen Onkel im 2. Band von ›Satan und Ischariot‹ (›Krüger Bei‹),6 brieflichen Charakter haben.
-Der endgültig fixierte Text wird über eine räumliche und zeitliche Distanz hinweg zum Empfänger gebracht, sei es technisch durch eine Institution wie die Post, sei es persönlich durch einen Boten, den z. B. Ali Manach für die Ein-Satz-Nachricht im Orient-Roman abgibt.
-Der intendierte Sinn des Briefes wird verwirklicht im Akt des Empfangens und Lesens durch den Adressaten und der sich anschließenden Reaktion, z. B. in der Erfüllung der Wünsche oder Befehle des Absenders, in der Beantwortung seiner Fragen usw., vorausgesetzt, beide Personen verfügen über denselben Kode, d. h. über einen gemeinsamen Vorrat sprachlicher oder sonstiger Zeichen, die der Verständigung dienen.


Diese drei Vorgänge können nun mehr oder minder erschwert oder gestört werden, wobei die Möglichkeit, dass der Brief gar nicht abgeschickt wird oder unterwegs verloren geht, hier außer Acht gelassen werden soll. Der Schreiber kann den Briefinhalt verfälschen, indem er z. B. die Identität einer anderen Person vortäuscht; dies tut Franz Moor in Schillers Drama ›Die Räuber‹, wenn er unter dem Namen eines Gewährsmannes Briefe an den alten Moor über dessen Sohn Karl verfasst und sie dem Vater selbst vorliest; ebenso handelt der Schauspieler Larkens in Mörikes Roman ›Maler Nolten‹, indem er heimlich unter Noltens Namen Liebesbriefe an dessen Verlobte Agnes schreibt. Der Urheber des Briefes kann diesen auch einer anderen Person diktieren, die er als Verfasser ausgibt; er benutzt damit den Schreibenden als bloßes Medium zum Zwecke der Täuschung, wie etwa der Sekretär Wurm mit Luise Millerin verfährt; Oskar Seidlin hat für solche Briefe, wie sie Franz Moor und Wurm verfassen, den Begriff ›trügerische Zeichen‹ geprägt.7 Der Absender kann den Text schließlich verrätseln, etwa mit Hilfe einer Art Geheimschrift. Wie eine solche wirken für die Adressatin die indianischen ›Schriftzeichen‹ des Lederbriefs in ›»Weihnacht!«‹,8 was der Absender gewiss nicht beabsichtigt hat. Hamd el Amasat verwendet eine Mischung aus verschiedenen Sprachen als Geheimkode, weil die Gefahr besteht, dass der Brief in fremde Hände gerät. In solchen Fällen muss ein mit dem Adressaten abgestimmter Kode benutzt werden, damit dieser die Botschaft verstehen kann; im 4. Band des ›Silbernen Löwen‹,9 wo das offenbar nicht geschehen ist, liegt der ›Schlüssel‹ sinnigerweise sogar dem Geheimbrief bei.

   Der Übermittlungsvorgang kann gestört werden, indem der Brief durch fehlerhaftes Verhalten der Beteiligten, aus Versehen oder rein zufällig in


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falsche Hände gerät oder aber indem ein Unbefugter den Brief absichtlich abfängt, liest, vielleicht verändert oder ersetzt und den fingierten weiterleitet wie Larkens in Mörikes ›Maler Nolten‹; Larkens spielt sogar der Gräfin Constanze Antwortbriefe der Agnes zu, um die sich abzeichnende Verbindung zwischen Nolten und der Gräfin zu torpedieren. Es ist auch möglich, dass der Brief richtig beim Adressaten ankommt und gelesen, aber nachträglich noch von Unbefugten eingesehen wird, ohne dass es der Adressat bemerkt. So geschieht es zweimal in ›Satan und Ischariot‹.10 Der Brief kann von dem Boten aus Unachtsamkeit unbrauchbar gemacht werden, wie es z. B. einem Liebesbrief in Tobias Smolletts ›Die Abenteuer des Peregrine Pickle‹ zustößt; das in Fetzen aufgelöste Schreiben wird von einem Dritten durch ein neues ersetzt, das allerdings eine zart erblühende Liebesbeziehung beinahe zerstört. In allen Fällen geht entweder der Empfangs- und Lesevorgang oder die dadurch in Gang gesetzte Handlung auf Seiten des Adressaten entgegen der Absicht des Absenders vonstatten.

   Gerade dadurch, dass die briefliche Mitteilung durch ihre schriftliche Fixierung einen materialen Träger besitzt, ist sie gefährdet, verfälscht und missbraucht zu werden, da sie eben aufgrund ihrer Materialität dem Zugriff Fremder ausgesetzt ist. Wird der Gegenstand ›Brief‹ entwendet, widerfährt dies auch seinem Inhalt, der ›Botschaft‹.

   Betrachtet man die innere Struktur des Geschehens um den Brief, d. h. die Absicht des Schreibers, Inhalt und Form des Brieftextes sowie die Reaktion des Adressaten, so lassen sich zunächst drei wesentliche Merkmale erkennen: Der Brief hat im Allgemeinen die Struktur des lokutiven, des illokutiven und des perlokutiven Sprechaktes; er ist in dieser dreifachen Hinsicht als Handlung aufzufassen.

   Der Brief als lokutiver Sprechakt wird in einer bestimmten Form verfasst und unterliegt einer gewissen Logik. Der Brieftext kann mehr oder weniger eindeutig etwas mitteilen oder aber seine Aussage verschlüsseln, je nachdem, welchen Inhalt er hat; dies hängt auch von den beiden anderen Vorgängen, dem des Schreibens und dem des Empfangens, bzw. von den Situationen, in denen sich Absender und Adressat befinden, ab.

   Als illokutiver Sprechakt zielt der Brief auf Kommunikation, also auf die Übermittlung einer irgendwie gearteten Nachricht. Oskar Seidlin definiert ihn als »ein kommunikatives Zeichen«.11 Der Schreiber stellt Fragen und gibt dadurch zu erkennen, dass er etwas erfahren will, oder er gibt Antworten, die dem Empfänger Wissen vermitteln sollen; er warnt und teilt mit, dass er etwas für den Empfänger Wichtiges weiß, oder er formuliert Befehle, weil er eine bestimmte Handlung des Adressaten erwartet, usw. Dabei unterliegt der illokutive Akt bestimmten formalen Normen, d. h. er muss den Anforderungen des lokutiven Aktes entsprechen, soll er die ihm immanenten kommunikativen Absichten erreichen.

   Die perlokutive Struktur des Briefes besteht darin, dass er beim Adressaten eine bestimmte Wirkung erzielen will. Gelingt ihm dies, dann beein-


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flusst er das Verhalten des rechtmäßigen Empfängers im Sinne der Absenderabsicht: Der Adressat beantwortet die Frage oder er ändert aufgrund der Warnungen sein Verhalten, er befolgt den Befehl oder unterlässt eine geplante Handlung usw. Um die Funktion des perlokutiven Aktes zu erfüllen, muss der Absender des Briefes wiederum bestimmte, konventionelle Normen einhalten, damit seine Botschaft wie geplant wirkt. Handelt es sich z. B. um eine geheime Botschaft, dann muss die Verschlüsselung des Textes, etwa in Form einer Geheimschrift, so gestaltet sein, dass der berechtigte Empfänger sie eindeutig und der Absicht entsprechend entschlüsseln kann, aber auch so, dass einem unbefugten Empfänger das Verständnis unmöglich gemacht wird.

   Zu diesen drei Merkmalen der inneren Struktur des Briefgeschehens kommt ein weiteres für den Fall, dass der Brief in falsche Hände gerät, also von jemandem empfangen und gelesen wird, an den ihn der Schreiber nicht gerichtet hat. In diesem Fall wird die perlokutive Struktur des Briefes in doppelter Hinsicht pervertiert, indem sie ein Verhalten des unbefugten Empfängers bewirkt, das vom Schreiber nicht einkalkuliert war, und indem sie das intendierte Verhalten des rechtmäßigen Empfängers be- oder gar verhindert.



III. Zur besonderen Funktion des Briefs im Roman


Ist der Brief Bestandteil eines Romans, so hat er neben den bisher behandelten Aufgaben auch eine poetische Funktion. Er kann nicht allein die Handlung mehr oder weniger stark beeinflussen, sondern ein wichtiges Kompositionselement darstellen. Dabei gibt es mehrere Varianten:

   Der Brief vermag die Handlung in neue Bahnen zu lenken, indem er die Aktionen eines unbefugten Empfängers, eventuell auch die des Absenders oder Adressaten, anders als geplant beeinflusst; er kann die Handlung beschleunigen oder verlangsamen, ja ganz zum Stillstand bringen. Er kann ein Element der Spannungssteigerung sein, vor allem wenn er den intendierten Empfänger nicht oder nicht allein erreicht. Dann stellen sich dem Romanleser die Fragen: Bemerkt der Adressat, dass ein Fremder Einblick in den Brief genommen hat, und wie wird er reagieren? Was fängt der unbefugte Empfänger mit den Informationen, die ihm der Brief liefert, an? Kann er den Inhalt des Briefes entschlüsseln? Macht er Fehler und wird vielleicht in die Irre geführt? Wie reagieren Verbündete des Adressaten, wenn sie die verschlüsselte Information in der Hand eines Unbefugten wissen; verraten sie ungewollt den Sinn der geheimen Botschaft oder wollen sie den Brief - eventuell mit Gewalt - wieder in ihren Besitz bringen? In jedem dieser Fälle werden die Beteiligten unterschiedlich reagieren, um den erlittenen Nachteil auszugleichen bzw. den errungenen Vorteil auszunutzen.


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   Da der Brief mindestens zwei Personen, die räumlich und - entsprechend der ›Laufzeit‹ des Briefes - auch zeitlich voneinander getrennt sind, miteinander verknüpft, verbindet er auch die auseinander liegenden Räume sowie Vergangenheit und Gegenwart der Romanhandlung; er schafft somit als Kompositionselement Einheiten, die mit anderen Mitteln nur sehr umständlich zu erzielen wären. Diese Einheit stiftende Funktion des Briefes kann nun im Roman als einem fiktionalen Text leichter aktiviert werden als in der Realität, da der Erzähler den mit dem Brief umgehenden Personen charakterliche Eigenheiten verleihen darf, die die oben besprochenen Ereignisse innerhalb des brieflichen Geschehens motivieren. Um wieder ein bekanntes Beispiel aus einem Drama zu geben: In Schillers ›Kabale und Liebe‹ kann der Hofmarschall von Kalb deshalb zum Adressaten eines angeblichen Liebesbriefs der Luise gemacht werden und ihn auch noch zum rechten Zeitpunkt Ferdinand zuspielen, weil dieser vom Autor mit Eigenschaften ausgestattet worden ist, die ihn für die Realität und jede Wahrscheinlichkeit blind machen, so dass er auf die plumpe Intrige hereinfällt. Innerhalb der von Schiller entworfenen dramatischen Handlung mit ihren Charakteren ist der Vorgang plausibel.



IV. Das über-verschlüsselte Medium - ein Stückchen Leder in ›»Weihnacht!«‹12


Der Brief, den im Roman ›»Weihnacht!«‹ der Häuptling der Kikatsa, Yakonpi-Topa, in Form eines Leders mit indianischer Zeichenschrift an Frau Hiller, deren Mann er gefangen genommen hat, sendet, kann zur Veranschaulichung der äußeren und inneren Struktur des Briefgeschehens dienen. Der äußere Vorgang läuft scheinbar ganz normal ab: Ein Absender verfasst eine briefliche Botschaft mit Informationen und Appellen, ein Bote überbringt ihn, eine Adressatin empfängt ihn. Aber die intendierte Wirkung ist doppelt erschwert. Die Adressatin erkennt das Medium, scheinbar nur ein Stückchen Leder, überhaupt nicht als Brief; doch auch der Text würde ihr unverständlich bleiben, da er in einem ihr fremden Kode verfasst ist: »rote Punkte, Striche und Figuren«13 kann Frau Hiller nicht mit Bedeutungen verknüpfen. Das gänzliche Verkennen des Leders als Brief entspricht keineswegs der Absicht des Absenders, nur dem Boten nach der Ablieferung Zeit zur Entfernung zu geben. Das Nicht-Verstehen der Schrift läuft seiner Absicht ganz und gar zuwider; wenn die Botschaft nicht entschlüsselt werden kann, erhält der Indianer nicht die gewünschten Gewehre. So sind auch schon fast vier Wochen vergangen, ohne dass der Brief irgendwelche Konsequenzen zeitigte.

   Da aber glücklicherweise Old Shatterhand, der selbstverständlich mit indianischen ›Briefen‹ und Gewohnheiten vertraut ist, das Leder in die Hand


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bekommt, wird auch die innere Struktur des Briefes aktiviert. Sie ist recht komplex. Bei ihrer Analyse muss unterschieden werden zwischen der intendierten Empfängerin, der Adressatin Frau Hiller, und dem nicht intendierten Empfänger, Old Shatterhand, der die Botschaft zu entschlüsseln vermag. Der lokutive Sprechakt ist in jedem Falle zweischichtig: Zum einen teilt der Text unmissverständlich die Botschaft, die der Absender vermitteln will, mit; zum anderen aber hält er eine große Menge an Informationen zurück, die geeignet wären, die Adressatin und Old Shatterhand zur richtigen Einschätzung der Situation und zu angemessenem Handeln zu befähigen. Der Indianer verschweigt, ob er die Pelze zurückgeben wird, er sagt nichts von Hillers Gefährten, vor allem stellt er - wie Old Shatterhand vermutet - die Angelegenheit mit der Vorgeschichte, die zur Gefangennahme führte, »nicht ganz richtig«14 dar. Offenbar hat er Hintergedanken, die fast betrügerisch zu nennen sind. Old Shatterhand bezeichnet den Brief als »kleines diplomatisches Meisterstück«,15 mit Seidlin könnte man ihn eher ein ›trügerisches Zeichen‹ nennen.

   Von daher lässt sich die illokutive Struktur, d. h. die kommunikative Absicht des Briefs und deren Wirkung bestimmen. Sie ist darauf gerichtet, alle möglichen Empfänger über entscheidende Faktoren im Unklaren zu lassen. Die Adressatin würde diese Lücke gar nicht bemerken; Old Shatterhand aber erkennt gerade aus den offen bleibenden Fragen, ob z. B. Hiller, einer seiner Gefährten oder gar keiner im Tausch gegen die Gewehre freikommt, die Problematik des von dem Indianer vorgeschlagenen Handels und kann seine Gegenmaßnahmen ergreifen. Das bedeutet: Bezogen auf die Adressatin, Frau Hiller, ist auf der illokutiven Ebene alles getan, die Interessen des Absenders zu wahren; bezogen auf den nicht intendierten Empfänger aber hat der Text Schwächen, indem er in auffälliger Weise wichtige Informationen unterschlägt und damit Zweifel an der Ehrlichkeit des Absenders erregt.

   Auf der perlokutiven Ebene soll die Adressatin zur Lieferung der Gewehre veranlasst werden. Old Shatterhand aber durchkreuzt den vermutlichen Plan des Indianers, nach dem Erhalt der Waffen den Gefangenen doch nicht freizulassen, indem er nicht nur die Lieferung verhindert, sondern sich mit Winnetou aufmacht, den Gefangenen zu befreien. Damit wird die Absicht des Briefs ins Gegenteil verkehrt.

   Woran liegt das? Es gibt zwei Gründe. Erstens ist die Botschaft in zweifacher Hinsicht zu gut verschlüsselt worden. Ein Brief in der Form, wie ihn die Weißen schreiben, und in englischer Sprache verfasst, hätte schon längst die von dem Indianer erwartete Aktion in Gang gesetzt. Stattdessen wurde ein Medium benutzt, das von der Adressatin nicht als solches erkannt wird, das darum die vom Absender intendierte Wirkung nicht erzielt und schließlich von Old Shatterhand zur Gegenaktion benutzt werden kann. Zweitens ist der Text selbst so lückenhaft und zumindest missverständlich formuliert worden, dass auch nach der von einer eigentlich unbe-


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fugten Person erfolgten Entschlüsselung des Kodes das Ziel der Botschaft nicht erreicht wird.

   Auf der Handlungsebene des Romans hat dieser Brief allerdings keine rechte Funktion. Der Ritt zu den Shoshonen und den mit ihnen im Kriegszustand befindlichen Krähenindianern, zu denen die Kikatsa gehören, findet nicht wegen des Briefes, sondern aus einem anderen Grund statt: Winnetou hat diese Unternehmung schon beschlossen, bevor er von der Gefangennahme Hillers erfährt;16 er will den befreundeten Shoshonen Hilfe leisten. Gewiss käme es auch ohne den Brief zu der Befreiungsaktion. Wenn Old Shatterhand später Hiller gegenüber behauptet,17 er und Winnetou seien durch den Brief veranlasst worden, ihre Pläne zu ändern und zur Befreiung Hillers aufzubrechen, so dürfte dem Autor May (nicht zum ersten Mal) ein Irrtum unterlaufen sein. Auch für die religiöse Aussage des Romans spielt der Brief keine tragfähige Rolle; dem seelisch blind(en)18 Hiller wird auf ganz andere, drastische Weise der Star gestochen. Die Botschaft des Indianerhäuptlings ist also in jeder Hinsicht ein blindes Motiv, wenn auch ein spannendes und für die Struktur der brieflichen Kommunikation bezeichnendes Element.



V. Unnötige Spuren - Die Briefe in ›Deadly dust‹


In ›Deadly Dust‹ kommen mehrere Briefe vor - man kann nicht sagen, sie spielten eine wesentliche Rolle. Ein kurzes Schreiben, das Patrik Morgan an seinen Vater Fred gerichtet hat (die beiden werden von Sans-ear als Mörder seiner Familie gesucht), wird ganz zitiert,19 ein anderes, von Allan Marshall an seinen Bruder Bernard, in Ausschnitten.20 Alle Briefe haben fast ausschließlich die Qualität bloßer Informationen, die dem Ich-Erzähler und seinen Gefährten Aufschluss über den Aufenthaltsort der verfolgten Gegner oder den Weg dorthin geben. So erfährt man aus Patrik Morgans Brief außer einigem, was der Leser schon weiß (dass die Banditen auf verbrecherische Weise zu Reichtum kommen wollen), den Ort, an dem Patrik seinen Vater treffen will. Dass der Zeitpunkt, an dem der Brief geschrieben wurde, nicht bestimmt werden kann, weil das Datum abgerissen ist, erweist sich schon an dieser Stelle als blindes Motiv; das Datum spielt überhaupt keine Rolle, da sich einer der Verfolgten bereits im Umkreis der Verfolger befindet. Der Brief als besonderes Kommunikationsmittel bleibt hier bedeutungslos, die Information, die aus ihm zu gewinnen ist, könnte genauso gut auf andere Weise vermittelt werden, wie es auch an mehreren Stellen der Erzählung geschieht: Später verraten fünf Comanchen dem Erzähler den Weg, den die fliehenden Morgans genommen haben;21 kurz darauf machen die Navajos weitere Angaben;22 eine Mexikanerin23 und der Wirt eines Gasthauses24 beschreiben ebenfalls Weg und Ziel der Verbrecher. Weitere Andeutungen über die Funktion von Briefen als Erkennungszeichen oder


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die Unsicherheit der Briefbeförderung in dieser Gegend bleiben bedeutungslos. Allan Marshall hat sogar seinen geschriebenen Reiseplan25 achtlos weggeworfen, so dass die Verbrecher ihn leicht verfolgen und schließlich ermorden können. Ganz überflüssigerweise bestätigen die Passagen, die noch aus einem Brief Allans zitiert werden, nur das, was Verfolger und Leser längst wissen (das Reiseziel) bzw. bald auf anderem Weg erfahren (den ›Reiseplan‹). Dazu passen die Stellen, an denen der Erzähler versichert, er kenne alle Gegenden und Orte, die man aufsuchen müsse;26 mit den Indianerstämmen, denen man gegen Ende der Erzählung begegnet, leben die Apachen in Freundschaft oder Winnetou und Sans-ear sind mit ihnen persönlich befreundet. Keinerlei Spannung kommt auf, keine Rätsel sind zu lösen, im Gegenteil: Dem Leser wird durch die ganze Anlage der Erzählung auf Schritt und Tritt versichert, alles laufe planmäßig ab - nur mit den üblichen Verzögerungen, damit die Seiten gefüllt werden. Solche Handlungsteile sind typische Elemente von Trivialliteratur, weshalb diese auch als Konformliteratur bezeichnet wird: der Roman geht mit den Erwartungen des Lesers so konform, dass nicht die geringste Irritation stattfindet. Es trifft sich alles ausgezeichnet! Auch dies ist natürlich eine interessante Funktion der Briefe, die aber eine genauere Analyse nach den oben dargestellten Kriterien überflüssig macht.

   Die einzige darüber hinausgehende Bedeutung der Briefe klingt in der Bemerkung des Erzählers an, für Gott seien auch weit auseinander liegende Orte nah beieinander,27 weshalb es dem Helden möglich ist, ein auch räumlich weit entferntes Verbrechen zu bestrafen. Aber wenn dies wirklich von Belang wäre, müsste der Brief Patrik Morgans, der immerhin ganz zitiert wird, später noch eine Rolle spielen - er wird aber nicht mehr erwähnt. Die gleiche Leistung erfüllen eben auch die mündlichen Mitteilungen, die verschiedene Personen dem Helden machen, und deshalb sind die Briefe nichts weiter als die üblichen Versatzstücke eines Abenteuerromans und haben nur die Funktion von auffälligsten Spuren, die eine hektische, an keiner Stelle verweilende, ohne jede Raffinesse geschilderte lineare Verfolgungsjagd weitertreiben. Typisch für die frühen exotischen Erzählungen Mays ist ja nicht allein die atemlose Hetze durch exotische Gegenden, sondern auch die überwiegend flüchtige Erzählweise, die von einer Episode zur nächsten hüpfend äußere Ereignisse aneinander reiht, ohne dass eine übergeordnete Idee als verbindendes Element erkennbar wäre.



VI. Sorge um Leser und Abonnenten - Jonathans Brief in ›Die Felsenburg‹


Auch ›Die Felsenburg‹ und ›Krüger Bei‹28 enthalten mehrere Briefe; aus dreien werden längere Passagen zitiert. Aber die beiden Briefe Thomas


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Meltons an Jonathan29 sind von keinem besonderen Interesse; sie bestätigen nur, was die Verfolger und die Leser schon ahnen, oder sie enthalten umständliche Informationen, die fast ausschließlich den Zweck haben, den Leser über Einzelheiten des geplanten Verbrechens in Kenntnis zu setzen, ohne dass dem Medium Brief hierbei eine weitergehende Bedeutung zukäme. Allein der Brief Jonathans30 ist es wert, genauer betrachtet zu werden.

   Als Old Shatterhand in Almaden Alto den ›Satan‹ Harry Melton gefangen genommen hat, findet er in dessen Brieftasche unter mehreren Briefen, die Meltons verbrecherische Pläne belegen, einen besonders bemerkenswerten, der von Meltons Neffen Jonathan, dem Sohn des ›Ischariot‹ Thomas Melton, geschrieben wurde. Jonathan berichtet dem Onkel, er habe einen etwas leichtgläubigen Millionärssohn namens Small Hunter kennen gelernt, der ihm zum Verwechseln ähnlich sehe; er wolle sich diese Ähnlichkeit zunutze machen, um an Hunters Erbe zu kommen; demnächst werde er mit dem jungen Mann eine Reise in den Orient unternehmen. Er bittet nun seinen Onkel, ihn zu beraten, wie er sich am besten des Millionenerbes bemächtigen könne. Nebenbei verrät Jonathan, dass sich Thomas Melton jenseits des Mittelmeeres31 verborgen halte. Dieser Brief liefert demnach Informationen, die für Old Shatterhand und den Leser ganz neu sind; sie scheinen der gesamten Handlung des Romans eine andere Richtung zu geben und einen zweiten geographischen Raum zu eröffnen, in dem der Held ein weiteres Verbrechen zu verhindern suchen wird.

   Allerdings reicht dies nicht aus, den Einsatz eines Briefes zu rechtfertigen. Ein belauschtes Gespräch z. B., in dem Harry Melton das, was Jonathan ihm anvertraut hat, einem Komplizen (oder der Jüdin) berichtet, würde den gleichen Effekt erzielen; schon im Anfangsteil von ›Die Felsenburg‹32 hat Old Shatterhand auf dem Schiff auf diese Weise einen (wenngleich unvollständigen) Einblick in Harry Meltons Pläne erhalten. Der äußere Vorgang um den Brief Jonathans, die Lektüre durch einen Unbefugten, hat keine ausschlaggebende Bedeutung. Auch die innere Struktur des Geschehens, bei der im vorliegenden Fall in erster Linie die perlokutive, d. h. die ein bestimmtes Empfängerverhalten auslösende Absicht wichtig sein könnte, bleibt unbedeutend. Erstens erfolgt zunächst gar keine Reaktion des unbefugten Lesers; zweitens ist es auch gar nicht der Brief, der später das Handlungsgeschehen auf der Verfolgerseite in Gang setzt, sondern er wird nur als Bestätigung für die Angaben Winnetous genommen, der in Dresden auftaucht, um mit seinem weißen Freund die Rettungsaktion für Small Hunter zu unternehmen.33 Damit kann man auch nicht behaupten, die perlokutive Seite des Briefes werde pervertiert; dass Old Shatterhand den Brief liest (und der Ich-Erzähler ihn in der Zeitschriftenfassung gleich zweimal in voller Länge zitiert), bleibt genau besehen auf der Handlungsebene ohne Folgen.

   Um also einen darüber hinausgehenden, erzählstrategischen Sinn des


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Briefes zu erfassen, muss man ihn in den Kontext der gesamten - später drei Bände füllenden - Abenteuerhandlung einordnen.

   Jonathans Brief verknüpft kolportagehaft weit auseinander liegende Schauplätze der Handlung; diese verlagert sich viel später tatsächlich vom amerikanischen auf den afrikanischen Kontinent und kehrt schließlich wieder nach Amerika zurück. Old Shatterhand fürchtet mit Recht, er werde dem Millionärssohn nicht helfen können, da er sich an einem weit von dem geplanten Verbrechen entfernten Ort befindet und den Aufenthaltsort des jungen Hunter nicht kennt.34 In der Tat gibt der Brief keineswegs den Anlass zur Verschiebung des Handlungsschauplatzes. Seine handlungsimmanente Bedeutung ist nicht die einer Gelenkstelle zwischen verschiedenen Abenteuerketten. Welchen Sinn kann also das Brief-Motiv haben? Bedenkt man, dass die Handlung des Gesamt-Romans auf drei Kontinenten spielt, fällt die formale Kongruenz auf, die zu dem Brief als Medium der Kommunikation besteht: Er vermag es sui generis, weit auseinander liegende Räume zu verbinden. Im vorliegenden Fall erhält dies durch das Motiv der fehlenden Orts- und Datumsangabe zusätzliches Gewicht: Die Frische der Tinte zeigt dem unbefugten Leser Old Shatterhand an, dass der Brief erst vor kurzer Zeit geschrieben worden sein kann, und dem Leser des Romans verrät dieses Detail, dass schon ein neues Verbrechen im Gang ist, während sich die Helden noch in Mexiko mit einem der Hauptschurken herumschlagen müssen. Der Brief verknüpft demnach Ereignisse, die an weit auseinander liegenden Orten etwa zur gleichen Zeit ablaufen, und er lässt ahnen, was später geschehen wird.

   Man kann fragen, ob und wie weit der Brief Jonathans das tatsächliche spätere Geschehen und die weiteren, erst in den späteren Ereignissen sichtbar werdenden Charakterzüge des jungen Mannes andeutet, wie weit sich die Beziehung zu Harry Melton, seinem Onkel, aber auch zu Thomas, seinem Vater, in Inhalt und Stil des Briefes spiegeln. Die Anrede dear uncle - der Erzähler ergänzt: also »lieber Onkel«35 - ist für sich genommen zu konventionell, als dass man sie für einen Ausdruck von Heuchelei halten müsste; das Gleiche gilt für die später mitgeteilten Briefe von Jonathans Vater Thomas (Lieber Jonathan! bzw. Lieber Sohn!36). Die Briefe der Meltons lassen sich von daher nicht ohne weiteres als ›trügerische Zeichen‹ interpretieren.

   Die Analyse wird dadurch, dass der Erzähler den übrigen Brieftext nicht mitteilt, stark behindert, so dass keine weiteren Signale von Zuneigung oder Verstellung des Schreibers festzustellen sind als die, welche die im Roman zitierten Passagen enthalten; diese aber beziehen sich gänzlich auf ein geplantes Verbrechen, bei dem durchweg der Hintergedanke des Betrugs am Adressaten nicht ausgeschlossen werden kann. Deshalb wäre es gerade hier wichtig zu wissen, was Jonathan bzw. Thomas Melton dem jeweiligen Adressaten noch mitzuteilen hat. So aber ist man allein auf das,


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was sich auf das beabsichtigte Verbrechen an Small Hunter bezieht, angewiesen.

   Bemerkenswert ist die Ausführlichkeit, mit der sich der Schreiber äußert. Selten wird den Gegenspielern des Helden in den Romanen Mays eine so lange zusammenhängende Selbstdarstellung zugestanden; meist enthüllen sie ihre Vorstellungen und Absichten im Dialog mit einem Komplizen, und der Held bekommt dies beim Belauschen des Gesprächs mit. Das bedeutet aber nicht, dass die Ausdrucksfunktion des Briefes sehr ausgeprägt wäre. Jonathan entpuppt sich zwar in seinem Schreiben als abgefeimter Spitzbube, der seinem Vater und seinem Onkel an Gewissenlosigkeit nicht nachzustehen scheint. Die Ausdrucksweise, in der er andere Menschen und deren Verhalten charakterisiert (»er ... hat trotz oder gerade wegen seiner Dummheit großes Glück gehabt«; Affenliebe37 des alten Jäger alias Hunter zu seinem Sohn), verrät Gefühlskälte und Zynismus. Er kann zwischenmenschliche Beziehungen offenbar ausschließlich unter dem Kriterium verbrecherischen Profitkalküls bewerten. Ähnlich roh wird er später über seinen Vater Thomas Melton urteilen. Er verfügt über Menschenkenntnis, die Small Hunter nicht besitzt, benutzt sie aber nur zum Verderben anderer. Völlig skrupellos schreibt er über das geplante Schurkenstück, mit dem er die Freundschaft, die der Millionärssohn ihm entgegenbringt, vergelten will. Aber das alles sind im Grunde nur Klischees, mit denen bei May üblicherweise Bösewichte gezeichnet werden; dafür bedürfte es keines langen Briefes.

   Ansonsten gibt das Schreiben keine auffälligen Informationen über seinen Verfasser preis, vor allem sagt es nichts darüber aus, ob Jonathan es dem Onkel gegenüber ehrlich meint oder ob er ihn ebenfalls zu betrügen gedenkt, auch wenn dieser ihm mit Rat und Tat beisteht. Der Verdacht ist ja nicht abwegig, da die drei Verbrecher einander später bedenkenlos hintergehen. Aber in dieser Hinsicht sind auch Sprache und Stil des Briefschlusses wenig aufschlussreich. Das Schreiben bricht nach der geschäftsmäßig klingenden Aufforderung, die Antwort an eine bestimmte Stelle zu senden, abrupt ab. Keine Schlussfloskel, keine persönliche Mitteilung rundet den Brief ab, es folgt nur noch die Unterschrift Dein Neffe Jonathan.38 Man könnte sagen, der Schreiber sei an dem Adressaten nur insoweit interessiert, als dieser ihm bei seinen verbrecherischen Absichten nützen kann; an die Person ›Onkel‹ wendet er sich nicht mehr. Aber auch diese Interpretation ist nicht zwingend, da es eben die Absicht des Schreibers sein kann, dem Adressaten nur die notwendigsten Informationen zu geben, um von ihm Ratschläge zu erhalten.

   Die Ausdrucksfunktion des Briefes ist also ähnlich schwach ausgeprägt wie die Rolle, die das Schreiben für den weiteren Handlungsfortgang spielt. Jonathans Brief hat zwar eine größere Bedeutung als der Patrik Morgans in ›Deadly dust‹, aber er entwickelt keine über seinen vordergründigen Inhalt hinausführende Dynamik, die man eigentlich von


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einem so langen und gleich zweimal zitierten Schreiben erwarten sollte.

   Worin also besteht die eigentliche Bedeutung dieses Briefes? Walther Ilmer zieht aus ihm den Schluss: »Der Fortgang der Gesamterzählung dürfte für Karl May genau festgestanden haben.«39 Im nächsten (XXI.) Jahrgang der Zeitschrift ›Deutscher Hausschatz‹ sollte nach Mays Planung die Episode ›In der Heimath‹ folgen, die Jagd auf die Meltons wäre für lange Zeit unterbrochen worden. Vor diesem Hintergrund erhält der Brief die einzige wirklich sinnvolle - doppelte - Funktion, die seine Einschaltung an dieser Stelle der Erzählung, kurz vor dem Ende der ›Felsenburg‹, in der Folge 46 des XX. Jahrgangs, und seine Wiederholung in ›Krüger Bei‹ rechtfertigt. Sie hängt mit der Produktion gerade dieses Fortsetzungsromans eng zusammen. Erstens benutzte Karl May diese Art Skizze des weiteren Verlaufs der Abenteuerhandlung als Gedächtnisstütze. Die Wiederholung des Briefs in ›Krüger Bei‹ wirkt wie eine Rekapitulation von dessen Inhalt durch den Autor, der sich den früher geplanten Handlungsverlauf in Erinnerung rufen will. Bei der Zusammenstellung der Buchfassung war dies nicht mehr nötig, darum werden dort nur die wichtigsten Punkte kurz erwähnt. Zweitens hegte May vielleicht selbst ähnliche Bedenken, wie sie den Hausschatz-Redakteur Keiter zur Unterschlagung der Heimat-Episode bewogen: dass nämlich die Leser weitere Abenteuer in der weiten Welt, nicht aber eine Liebesgeschichte im Erzgebirge erwarteten und genießen wollten. Um ihrer Ungeduld und den zu erwartenden Protesten sowie Abonnement-Kündigungen vorzubeugen, weckte der Autor ihre Neugier auf die nach den Ereignissen in Deutschland spielende Handlung, welche die Leser wieder in die gewohnten exotischen Fernen entführen sollte. Dies würde auch erklären, warum May sein von Keiter unterdrücktes Manuskript nicht für die Buchausgabe verwendet hat, sondern nur eine kurze Zusammenfassung gab.

   Einen weitaus bedeutenderen Stellenwert besitzt ein winzig kleines, aber mit einem großen Siegel versehenes Briefchen,40 das im nächsten Abschnitt besprochen wird.



VII. Schreibfrust und Leselust - Das ›Briefchen‹ des Hamd el Amasat im Orient-Zyklus


Die Handlungsteile des großen Orient-Zyklus, die in der Buchausgabe den Band ›In den Schluchten des Balkan‹ füllen, haben schon immer starke Kritik herausgefordert.41 Claus Roxin macht die »Gehetztheit Mays«42 in einer Zeit, da der Autor in einer wahren Fronarbeit die Kolportageromane für Münchmeyer schreiben musste, dafür verantwortlich, dass die Qualität dieses Romanteils gegenüber den anderen Bänden so stark abfalle.

   Der vorhergehende Fehsenfeld-Band ›Von Bagdad nach Stambul‹ schil-


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dert am Ende43 die Auffindung eines geheimen Briefes mit einer kurzen Nachricht, die Hamd el Amasat an seinen Bruder Barud geschickt hat. Halef ist von den aus dem Gefängnis in Edreneh ausgebrochenen Verbrechern Barud el Amasat und Manach el Barscha überwältigt worden, hat aber im Handgemenge just das Stück, in dem sich eine Tasche mit diesem Brief befindet, aus Baruds Kaftan gerissen. Der Text ist ein Gemisch von Rumänisch, Serbisch und Türkisch und lautete: »Sehr schnell Nachricht in Karanorman-Chan; aber nach dem Jahrmarkt in Menelik.«44 Die Zeitangaben sind widersprüchlich und erscheinen wenig sinnvoll; vor allem der letzte Hinweis ist ganz überflüssig: Wie die weitere Entwicklung zeigt, würde es den Plänen der Verbrecher nicht schaden, wenn Barud früher am Zielort einträfe; so spielt der Brief in dem folgenden Band auch überhaupt keine Rolle. In ›Durch das Land der Skipetaren‹ dann wird der Leser zunächst nur indirekt durch die mehrfache Nennung des falsch gelesenen Ortsnamens Karanorman-Khan45 an ihn erinnert; erst gegen Ende dieses Bandes wird der Name des Zielortes richtig als Karanirwan-Khan46 entziffert, und damit verleiht die Botschaft des Briefes sehr spät der Handlung einen neuen ›drive‹.

   Neben dieser befremdlichen zeitlichen Struktur des Geschehens um den Brief fällt seine im Grunde nicht zwingende Motivierung ins Auge. Kara Ben Nemsi benötigt ihn eigentlich gar nicht, um einen Hinweis auf den Weg, den die Entwichenen einschlagen, zu erhalten. So sagt er etwas großsprecherisch zu Halef, nachdem er diesen befreit hat: »Ich habe ihre Spur. Ich weiß, wohin sie sind.«47 In Wahrheit kennt er nur die Richtung, die die aus dem Gefängnis Entflohenen nehmen, nämlich den Weg nach Menelik - und der Held bemerkt auch einschränkend: »Die Spur eines Mannes ist nicht der Mann selbst.«48 Aber der Leser weiß aus der Kenntnis anderer Romane des Autors, dass Kara Ben Nemsi ohne weitere Informationen die Verfolgung aufnehmen könnte, der Brief dazu also keineswegs notwendig ist.

   Aus diesen Gründen drängt sich die Vermutung auf, das auffällige Brief-Motiv verdanke - ähnlich wie der Brief Jonathans - seine Erfindung der Schreibsituation des Autors: Karl May hat offenbar selbst bemerkt und eingesehen, dass er neben den Münchmeyer-Romanen nicht mehr länger imstande war, die Handlung des Orientromans vernünftig weiterzuführen, und deshalb die Konsequenz aus seiner »Gehetztheit« gezogen, indem er diesen Geheimbrief erfand. Nun wird die seltsame Zeitangabe im Brief sinnvoll, denn damit erhalten die Verfolger um Kara Ben Nemsi wie auch der Autor selbst genügend Zeit, Umwege zu machen und Nebenabenteuer zu erleben bzw. zu erzählen, deren Erfindung dem Autor keine allzu große Konzentration und Anstrengung abverlangte.

   Selbstverständlich kann man an dem langsamen Reisetempo der Verfolger Anstoß nehmen; aber immerhin ist es handlungslogisch motiviert eben durch diesen Brief, der ausdrücklich dem Adressaten, damit aber ungewollt


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auch den Verfolgern eine Frist schafft, die nun Abenteuer, die von der Haupthandlung nicht gefordert werden, füllen. Hier ist ein signifikanter Unterschied zu der vergleichbaren Reisestruktur in dem Jugendroman ›Der Sohn des Bärenjägers‹49 zu erkennen. Auch da wird ein Zeitpunkt gesetzt, an dem nämlich die Gefangenen von feindlichen Indianern getötet werden sollen; Old Shatterhand richtet das Tempo des Verfolgungsrittes an dem Termin der geplanten Marterung aus; auf die Lage, in der sich die Gefangenen auf dem zum Ort ihrer Hinrichtung befinden, nimmt er keinerlei Rücksicht; er verzögert den Ritt zur Befreiung sogar unnötigerweise und verlängert dadurch die Qualen, die die Gefangenen erdulden müssen. Dieser Termin rechtfertigt nicht wie im ›Balkan‹-Roman das Schneckentempo, in dem die Reise verläuft, sondern ist für das Vorhaben der Verfolgergruppe ganz unerheblich. Erzähltechnisch wäre die Entfernung der Ausreißergruppe um Martin leicht anders zu motivieren. Wenn Old Shatterhand am Schluss zu einem inbrünstigen Dankgebet niederkniet,50 so interpretiere ich dieses keineswegs als »eigentliches - katechetisches - Lehrziel« des Romans, wie es Hermann Wohlgschaft tut,51 sondern eher als Blasphemie, denn der Betende hat mit seiner Trödelei willkürlich und ohne jede Not die Leiden der Gefangenen verlängert, die Lebensgefahr erhöht und indirekt auch die Gefährdung der Ausreißergruppe provoziert. Die Verfolger um Kara Ben Nemsi dagegen dürfen hinter den Verfolgten zurückbleiben, da sie deren genaues Ziel nicht kennen, ihr langsames Tempo aber auch niemanden gefährdet.

   Bemerkenswert wird der Befund meines Erachtens aber erst durch eine genauere Untersuchung des Geschehens um den Brief des Hamd el Amasat, die zeigt, welche Bedeutung dieses für den Fortgang der Handlung ganz überflüssig erscheinende, sozusagen ›unmotivierte Motiv‹ innerhalb der zweiten Hälfte des Orientromans gewinnt und darüber hinaus dem Gesamtroman verleiht.

   Zunächst gilt es, einen nahe liegenden Einwand zu entkräften. Vergleicht man den Zettel etwa mit dem Brief Patrik Morgans in ›Deadly dust‹, mag man fragen, ob nicht auch die Nachricht des Hamd el Amasat bloß die Qualität einer Information, die mündlich übermittelt werden könnte, besitzt, ob sie sich in ihrem erzählerischen Wert also überhaupt von der des Morgan-Briefes unterscheide. Eine einfache Überlegung zeigt, dass ein großer qualitativer Unterschied zwischen den beiden Briefen besteht. Bei einer mündlichen Übermittlung, ob durch eine Vertrauensperson an Kara Ben Nemsi oder in Form eines belauschten Gesprächs, fielen die Verschlüsselung und die sich daraus ergebende Schwierigkeit der Entzifferung und vor allem der Lesefehler mit seinen Folgen fort. Davon abgesehen stelle man sich vor, jemand verrate Kara Ben Nemsi diese Nachricht im Gespräch. Dann wäre der Fehler im Namen des Zielortes kaum denkbar, und damit träten alle Verwicklungen, die sich daraus ergeben, nicht ein. Würde der Held ein Gespräch zwischen den Verbrechern belauschen, wäre nicht allein die falsche


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Namensform unmöglich, sondern auch der merkwürdige Zusatz aber nach dem Jahrmarkt in Menelik. Der Gesprächspartner würde sofort nach den Gründen fragen, der andere müsste antworten - und der Erzähler käme in wahrhaft große Erklärungsnöte, denn dieser Zusatz hat in der Tat auf der Handlungsebene gar keinen Sinn, sondern er ist - wie oben dargelegt - offenkundig nur von schreibtechnischer Bedeutung für den Autor May. Und alle retardierenden Irrtümer, die sich in den folgenden Romanteilen aus dieser verschlüsselten Nachricht ergeben, vor allem die weitere Bedeutungsfülle des Briefchens, die noch aufgezeigt werden soll, entfielen.

   Der Inhalt des kurzen Brieftextes weist zwei Aspekte auf: einen räumlichen und einen zeitlichen.

   Das räumliche Element besteht in der Angabe eines Zielortes sowie eines Ortes, der auf dem Weg zum Ziel berührt werden wird. Für jeden Empfänger, befugt oder unbefugt, ist der einzuschlagende Weg also vorgegeben; der letzte, entscheidende Wegabschnitt für den unbefugten allerdings nur, wenn er den Brief entschlüsseln, also die Botschaft entziffern kann, was durch die winzigen diakritischen Zeichen erschwert wird. Daher unterläuft Kara Ben Nemsi bezüglich des tatsächlichen Zielortes ein Irrtum, der für die Verfolgung der Verbrecher aber nicht weiter ins Gewicht fällt, weil andere Spuren den Weg verraten.

   Das zeitliche Element besteht in der Aufforderung, erst nach dem Jahrmarkt von Menelik am Zielort einzutreffen, was den Verfolgern erlaubt, ihren weiteren Ritt geruhsam durchzuführen und eine Reihe von Nebenabenteuern zu bestehen.

   Das äußere Geschehen um den Brief entwickelt sich folgendermaßen:

   Absender ist Hamd el Amasat, der armenische Händler vom Anfang des Orientromans, der in der algerischen Wüste einen Angehörigen der Familie Galingré und danach auch den Vater Omars ermordet hat, aber entkommen konnte; dadurch war die Abenteuerhandlung in Gang gesetzt worden. Jetzt, in der Mitte des Gesamtromans, also nach langer erzählter Zeit bzw. Erzähl- und Lesezeit, taucht er indirekt als Handelnder wieder auf.52 Mit dem kurzen Brief will er seinen Bruder veranlassen, bei einem neuen Kapitalverbrechen an der Familie Galingré mitzuwirken. Offensichtlich wurde dieser Brief von einem Boten, Ali Manach, dem Sohne Baruds, befördert und ist wie beabsichtigt in Baruds Besitz gelangt. Es ist anzunehmen, dass dieser ihn gelesen, d. h. entziffert und die Information verstanden hat, weshalb er nun auf dem Weg zum angegebenen Ziel ist. Alle drei Einzelvorgänge, der Schreib-, Übermittlungs- und Empfangs- bzw. Lesevorgang, sind abgeschlossen. Der Zettel, auf dem die Mitteilung steht, welche für Barud kurz, knapp und verständlich ist, könnte vernichtet werden. Dann würde es den Verfolgern zwar nicht unmöglich, aber doch schwerer werden, die Verfolgung durchzuführen, zumal sie sich unter Zeitdruck wähnen müssten. Aber der materiale Träger des Briefes, der kleine Zettel, existiert noch, Barud hat ihn - aus welchen handlungsimmanenten Gründen, wird nie deut-


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lich - in einer Tasche seines Kaftans aufbewahrt. Das hat zur Folge, dass das eigentlich schon abgeschlossene Geschehen weiter ausgestaltet werden kann: Der Brief fällt Kara Ben Nemsi in die Hände und wird schließlich - nach einigen Hindernissen - ›gelesen‹. Damit löst er auf der Handlungsebene ein weiteres Geschehen aus, das vom Schreiber Hamd el Amasat nicht beabsichtigt war. Kara Ben Nemsi, der nun weiß, dass er viel Zeit zur Verfügung hat, der außerdem einen Teil des Weges (bis Menelik) kennt, kann die Verfolgung in aller Ruhe angehen; den zweiten Abschnitt der Wegstrecke zum richtigen Ziel wird er später, auf jeden Fall noch rechtzeitig genug, erfahren.

   Schon bei dem äußeren Vorgang begeht der Adressat, Barud, einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Konvention, nach der man eine schriftliche Mitteilung brisanten, verräterischen Inhalts, die nur wenigen Eingeweihten zugänglich gemacht werden darf, nach dem Lesen vernichten muss, da sie ihren Zweck erfüllt hat. Da Barud dies unterlässt und damit das Risiko eingeht, dass der Zettel verloren geht oder gestohlen wird - weiß er doch einen gefährlichen und intelligenten Verfolger hinter sich -, wird sein Fehlverhalten prompt bestraft, indem Halef ihm das Kaftanstück mit dem Brief abreißt.

   Auch der Bote verstößt gegen diese Konvention. Ali Manach nimmt dem gefangenen Kara Ben Nemsi den Zettel ab, vernichtet ihn aber auch nicht, so dass der Spieß wieder umgedreht werden kann und der Zettel erneut an den unrechtmäßigen Empfänger gelangt. Für Kara Ben Nemsi ist die Aufbewahrung des Zettels notwendig, denn er hat ihn noch nicht ›gelesen‹, d.h. er weiß noch nichts von seinem Inhalt; und außerdem könnte der Zettel irgendwie als Beweisstück dienen. Ali dagegen weiß, dass Barud die Botschaft kennt, der Zweck des Briefes also vollständig erfüllt und der materiale Träger damit überflüssig geworden ist.

   Das innere Geschehen ist recht komplex: Der illokutive Akt, den Hamd el Amasat ausführt, unterliegt in seiner besonderen Qualität als Auftrag, ein Verbrechen vorzubereiten, strengen Konventionen; er darf ja keinem Außenstehenden zugänglich und verständlich sein. Die Konvention innerhalb des äußeren Vorgangs und ihre Missachtung wurden schon besprochen. Aber der Verstoß kann auch vom inneren Vorgang her untermauert werden. Die Aufbewahrung des Briefes ist aus mehreren Gründen ein schwerer Fehler: Erstens erschöpft sich sein Inhalt in einem kurzen Satz und ist dem rechtmäßigen Empfänger verständlich und einprägsam, so dass es keines materialen Mediums zur Gedächtnisstütze mehr bedarf. Zweitens enthält der Brieftext keine nennenswerten Angaben über das, was im Innern des Schreibenden vorgegangen ist, er erfüllt also keine Ausdrucksfunktion, die für den Adressaten von Wert wäre; Hamd el Amasat hat nichts über sich mitgeteilt, keine Empfindungen oder Wünsche geäußert, die seinen Bruder so sehr beeindrucken könnten, dass es lohnte, den Brief zu behalten. Anderes gilt z. B. für die Liebesbriefe, die Effi


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Briest aufbewahrt, was zur Entdeckung durch ihren Gatten und zur Katastrophe führt. Effi hält sich gerade an die Konvention um den Liebesbrief, dessen Inhalt als Ausdruck des Absenders ihn der Adressatin wertvoll macht.

   Aus der inneren Struktur des Vorgangs ergibt sich ein weiterer schwerwiegender Verstoß gegen die Konvention. Es fällt Kara Ben Nemsi nicht allzu schwer, die geheime Nachricht zu entschlüsseln, sogar Halef kann einen Tip beisteuern; bei etwas mehr Aufmerksamkeit wäre auch der richtige Name des Zielortes bereits beim ersten Lesen entziffert worden. Der Absender hat nämlich einen Fehler begangen, indem er einen leicht zu durchschauenden Kode verwandt hat; der Grad der Verschlüsselung der Botschaft ist unzulänglich und erlaubt eine schnelle Dekodierung. Dass sich Kara Ben Nemsi eine Zeit lang über das Ziel irrt, liegt nicht an einer guten Verschlüsselungstechnik, ist also kein Verdienst des Absenders, sondern ist in der Form der verwendeten Schrift, deren diakritische Zeichen leicht zu Verwechslungen führen können, sowie in der äußeren Situation, die zunächst kein exaktes Studium des Zettels zulässt, angelegt.

   Aus all dem ergibt sich, dass der Brief auch eine doppelte perlokutive Wirkung entfaltet. Neben der vom Absender intendierten Wirkung tritt noch eine unbeabsichtigte ein: Auch Kara Ben Nemsi, der unbefugte Leser, reagiert. Er kann ebenfalls den vorgeschriebenen Weg nehmen, unterwegs einige Gegner unschädlich machen und damit das geplante Verbrechen verhindern; schließlich kann er am Zielort, der vor ihm verborgen gehalten werden sollte, sogar das Haupt der Bande vernichten. Die mehrfache Verletzung der Konventionen, die beim Verfassen, Übermitteln und Empfangen eines Geheimbriefs zu beachten sind, hebt nicht nur die ursprünglich geplante perlokutive Wirkung auf, sie führt sogar zum Untergang des Absenders, des Adressaten und aller Verbündeten.

   Der Brief hat also große Bedeutung für die Struktur der Handlungsebene im letzten Teil des Gesamtromans. Er stellt eine besondere Art von ›Spur‹ dar. Jede absichtlich angebrachte Spur oder Fährte (vom deutlichen Fußabdruck über den geknickten Zweig bis zur Information durch Augenzeugen) stellt ein Zeichen mit triadischer (d. h. aus drei Seiten bestehender) Struktur dar. Es hat eine Ausdrucksseite (die äußere, körperhafte Form), eine Inhaltsseite (das Mitgeteilte) und eine Bedeutungsseite (der dem Adressaten verständlich zu machende Gehalt), die einander vom Urheber des Zeichens intentional zugeordnet worden sind. Die geknickten Zweige, mit denen der Miridit seinem heimlichen Verbündeten Suef den Weg weist,53 wie auch der Brief unterscheiden sich von anderen Spurenarten, z. B. dem Zehenabdruck Junaks im Wasser, der unabsichtlich hinterlassen wurde und daher als bloßes An-Zeichen zu werten ist, eben darin, dass sie eine Nachricht hinterlassen sollen, die allerdings in diesem Roman auch unbefugten Empfängern bekannt wird. Damit verraten solche Spuren das Intelligenz-


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potenzial auf Seiten der gegnerischen Parteien, wobei der Brief sich noch weiter vom geknickten Zweig abhebt, da er nicht allein den Urheber der Spur, sondern auch ihren beabsichtigten Empfänger durch Fehlverhalten zum unfreiwilligen Verräter machen kann.

   Außerdem ist dieser Brief ein starkes Spannungselement, da seine Entschlüsselung in mehreren, zum Teil weit, d. h. hunderte von Seiten auseinander liegenden Stufen erfolgt: Zuerst wird er von Kara Ben Nemsi nur eingesteckt,54 dann wird er ihm entwendet, aber nur für kurze Zeit,55 wenig später erfolgt der erste Entzifferungsversuch, wobei ein den beteiligten Personen wie dem Leser zunächst verborgen bleibender Fehler unterläuft,56 und erst viel später, gegen Ende des nächsten Bandes und nach folgenlosen Erwähnungen des falschen Zielortes, gelingt die zutreffende Entschlüsselung der Nachricht.57 Die verschiedenen Episoden um den Brief steuern die Aufnahme des erzählten Geschehens durch den Leser, der nun alle weiteren Ereignisse aus der Perspektive der im Brief enthaltenen Informationen antizipiert und, wenn sie eintreten, bewertet und - genießt.

   Besonders große Wirkung entfaltete dies bei der Lektüre der Zeitschriften-Fassung, in der die Erwähnungen des Briefes Jahre auseinanderlagen. Von der Entdeckung des Zettels in dem abgerissenen Kaftanstück erfuhr der Leser im November 1884; von Verlust, Wiedererwerb und dem ersten Entzifferungsversuch wurde im Dezember des gleichen Jahres erzählt; der falsche Name des Zielortes wurde dann in der ersten Hälfte des Jahres 1888 mehrfach erwähnt, bis gegen Jahresmitte 1888 erst die richtige Entschlüsselung der Geheimbotschaft zu lesen war. Der von dem Briefchen getragene Spannungsbogen erstreckte sich also über dreieinhalb Jahre! Zwar war dies von May keineswegs beabsichtigt, da er große Teile der Erzählung in einem Zuge niederschrieb, aber auf jeden Fall musste es viel sensationeller wirken, wenn sich plötzlich herausstellte, dass ein vom Erzähler gesuchter Ort, der ja nun auch vom Leser über Jahre hinweg gesucht wurde, anders hieß, als bisher angenommen wurde, dass man sich als Leser demnach ebenfalls geirrt hatte. Die Erleichterung und das Vergnügen, die die richtige Entzifferung vermittelte, wurden sicher von den Lesern des Deutschen Hausschatzes noch viel stärker empfunden als von den Lesern der Buchausgabe.

   Der Brief erweitert schließlich das Raumgefüge und die Figurenkonstellation in der zweiten Hälfte des Orientromans, indem er mit Hamd el Amasat eine wichtige Figur, die am Anfang der langen Geschichte in die Romanhandlung eingetreten und bald wieder verschwunden war, erneut ins Blickfeld des Lesers rückt. Damit erinnert er an die algerische Wüste, den allerersten Schauplatz der Handlung, der nun bis zum ursprünglichen Schluss des Romans in der Hausschatz-Fassung nicht nur durch Halef,58 sondern auch durch die Figur des Armeniers präsent bleibt. Und dies ist ein weiterer erzählerischer Kunstgriff Mays.59 Nicht nur, dass sich der Leser lustvoll der - vor mehreren Jahren im Deutschen Hausschatz gelesenen -


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spannenden Abenteuer im ersten Teil des Orientromans erinnert.60 Mit der Enge des Balkan-Gebirges verknüpft sich in der Vorstellung des Lesers die unendliche Weite der Wüste, damit erweitert sich der imaginäre Schauplatz der Handlung zu einer Welt unterschiedlichster Räume und Völkerschaften - einer Welt, die im Unterschied zu den Kolportageromanen durch einen ausgeprägteren Formwillen zum Sinngefüge gestaltet wird: Überall ist der Boden dem Verbrechen, aber ebenso seiner Bestrafung und der Wiederherstellung gerechter Ordnung bereitet.

   Damit komme ich zum letzten Aspekt, der Rolle des Briefes für die Bedeutungsebene des Romans.

   Schon mit der falschen Lesung des Ortsnamens: »Karanorman-Chan« ... zu Deutsch ›Finsterwaldhaus‹ oder ›Schwarzwaldhaus‹61 assoziiert der Leser das im tiefen Forste62 liegende Räuber- oder Hexenhaus des deutschen Volksmärchens und versteht dieses Motiv als einen Verweis auf die Märchenstruktur des ganzen Romans, in dem der Held fast traumwandlerisch bedrohlich-dunkle Gegenden durchwandert, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen.63

   Das Geschehen um den Brief verstärkt ein grundlegendes Handlungsmuster im Gesamtgefüge der Romane Mays, die Selbstentlarvungs- und Selbstbestrafungsstruktur. Immer wieder schaden sich die Gegner selbst durch ihr Verhalten und tragen zu ihrem eigenen Untergang bei. Gedankenlosigkeit, mangelnde Vorsicht, Überheblichkeit und daraus resultierende Unterschätzung des Gegners sind die Gründe, die sie zu ihrem Fehlverhalten veranlassen, womit sie die Moral der May-Romane transportieren: Das Verbrechen trägt den Keim der Strafe in sich und wendet sich gegen seine Urheber. Neben den schon behandelten Beispielen zeigt das Verhalten Habulams und Suefs am deutlichsten diesen Mechanismus: Beide reagieren ganz unangemessen auf die Falschlesung des Zielortnamens durch Kara Ben Nemsi. Erst das höhnische Lachen und die starke Ironie, mit denen Habulam den Irrtum quittiert, veranlassen den Helden, den Zettel nochmals einer ganz genauen Prüfung zu unterziehen, wodurch ihm die richtige Lesung gelingt. So entfaltet der Brief in seiner materialen Gestalt und seiner inneren Struktur sozusagen ein Eigenleben, das weit über Wesen und Funktion einer bloßen Spur hinausweist und selbst Rächerqualitäten annimmt. Die Verdinglichung der Strafgewalt, man könnte auch sagen: der von Kara Ben Nemsi verkörperten Gerechtigkeit, wie sie z. B. in dessen überlegenen Waffen erscheint64 - sie erhält eine interessante Variante in dem kurzen Brief des Hamd el Amasat an seinen Bruder: Viel subtiler, als es die Waffen des Deutschen vermöchten, zwingt ein winzig kleines, aber mit einem großen Siegel versehenes Briefchen65 in den Händen des Verfolgers die Bösewichte Habulam und Suef, ihr Wissen ungewollt preiszugeben und mit ihrem Verhalten die eigenen Interessen zu verraten. Wieder einmal erweist sich die Welt, die Karl May entwirft, als die sinnvoll geordnete Schöpfung eines gerechten Gottes.


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   Und nicht zuletzt erreicht es dieser Brief am Ende des Bandes ›Von Bagdad nach Stambul‹, also an der Schwelle zu dem langen Ritt durch den Balkan, dass der Leser während all der Abschweifungen zu Ali, dem Sahaf, und zur dicken Bäckerin, zu Ehestiftung und Vampyrjagd fortwährend die Haupthandlung und den Zweck der ganzen Unternehmung im Hinterkopf behält und gespannt darauf wartet, ob der Zettel wieder hervorgenommen wird und die Helden einen Schritt weiter kommen lässt auf dem beschwerlichen Weg zu ihrem Ziel: der Vernichtung der Schut-Bande und vor allem der Bestrafung des Mörders aus der Sahara, Hamds el Amasat. Ungeachtet der unbestreitbaren Schwächen gerade des Bandes ›In den Schluchten des Balkan‹ - je länger das Ende des letzten Rittes hinausgezögert wird, desto größer ist das Lesevergnügen.



VIII. Überblick


Die oben analysierten Briefe stellen Spuren dar, die den Helden wichtige Fingerzeige geben und es ihnen ermöglichen sollen, die geplanten Untaten der Gegner zu verhindern; diese Funktion wird aber innerhalb der Verfolgungs-Handlung der meisten Romane wenig oder gar nicht aktiviert: Der Brief erweist sich entweder, wie in ›»Weihnacht!«‹, als unnötig, weil die entsprechende Handlung schon aus anderen Gründen in Gang gesetzt worden ist, oder er enthält, wie in ›Deadly dust‹, nur Informationen, die die Verfolger auf anderem Wege ebenfalls gewinnen könnten bzw. tatsächlich erhalten, oder er bleibt, wie in ›Krüger Bei‹, einfach folgenlos, weil er weder bei seiner Entdeckung noch später in Dresden den zu erwartenden Handlungsimpuls darstellt; zunächst wird die Handlung völlig anders weitergeführt, später hat Winnetou (ähnlich wie in ›»Weihnacht!«‹) schon die Initiative ergriffen, bevor das Schreiben erneut hervorgeholt wird; allein im Orient-Roman entfaltet der Brief seine, wenn auch wenig bedeutende, Funktion als Spur.

   Wichtiger ist die produktionstechnische Bedeutung, welche zwei der Briefe besitzen. Im Falle der ›Satan‹-Trilogie verbindet das Schreiben weit auseinander liegende Handlungsteile durch seine Vorverweise auf zukünftiges spannendes Abenteuergeschehen und ist geeignet, das Interesse des Lesers über eine lange Zwischenepisode hinweg wachzuhalten; diese Funktion erfüllt er aber nicht als unabdingbares Bindeglied zwischen Handlungsabläufen, sondern wie ein Film-Trailer:66 Er wirbt als kürzeste Zusammenfassung kommender, in exotischen Räumen spielender Ereignisse für die Lektüre viel späterer Romanepisoden und damit für das Abonnement eines weiteren Zeitschriften-Jahrgangs. Eine ähnliche Rolle kann man dem Briefchen des Hamd el Amasat zusprechen; er soll dem Leser über vielleicht weniger interessante Episoden hinweghelfen und seinen Leseeifer wachhalten. Beide Briefe haben also eine wesentliche schreibökonomische


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Funktion für den Autor, der mit ihrer Hilfe den Druck mehrerer gleichzeitig zu verfassender Romane mildert bzw. ein ihm aus psychologischen Gründen besonders am Herzen liegendes Thema gestaltet und trotzdem die Leser mit dem Versprechen, bald wieder aufregende Abenteuerliteratur zu liefern, bei der Stange hält.

   Doch allein dem Geheimbrief des Hamd el Amasat kann man einen wesentlichen Stellenwert innerhalb des Handlungsablaufs und darüber hinaus eine besondere Bedeutung für die zweite Hälfte des langen Orient-Romans zusprechen. Obwohl auch er für die weitere Verfolgung der Verbrecher nicht unbedingt notwendig ist, erfüllt er eine Reihe von Aufgaben: Er trägt zur Charakteristik von Figuren der Handlung bei, verknüpft verschiedene Episoden der Gesamthandlung, bringt den Rahmen des ganzen Romans in Erinnerung und veranschaulicht die religiöse Dimension des Geschehens.

   Schließlich darf ein letzter Gesichtspunkt nicht unbeachtet bleiben. Drei der besprochenen Briefe berühren auch die Rezeption der Romantexte. Der Brief des Mutessarif, der Brief Hamds el Amasat und der Lederbrief des Indianers wenden sich unausgesprochen an einen weiteren Adressaten, den Leser, und wollen dessen Verhalten steuern. Die zusätzliche Anweisung des einen und die Form der Verschlüsselung der beiden anderen Schreiben können auch als Aufforderungen verstanden werden, sich bei der Lektüre nicht mit der oberflächlichen Handlung zu begnügen, sondern die untergründigen Bedeutungsschichten des Geschehens zu beachten und durch ›genaues Lesen‹ zu tieferem Verständnis zu gelangen. So misstrauisch man auch Mays späteren Behauptungen, seine Romane seien immer schon symbolisch gemeint gewesen, gegenüberstehen mag, Texte wie diese Briefe stützen die Annahme, zumindest unbewusst habe der Autor schon in seinem frühen Orient-Zyklus eine solche Rezeptionssteuerung beabsichtigt. Irgendwann während der Abfassung des ›Silberlöwen III/IV‹ sollte wohl auch der Brief an Ghulam el Multasim eine, noch deutlicher ausgesprochene, mehrschichtige Bedeutung erhalten; doch hat die eigenartige Entstehungsgeschichte dieses ambitionierten Romans die in sich widerspruchsfreie, sinnvolle Verwirklichung der Intention verhindert.



1 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, S. 89-95

2 Ebd., S. 89

3 Ebd., S. 95

4 Grundlegend zum sprechakttheoretischen Ansatz: John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972. - Die Briefe Halefs an den Ich-Erzähler behandle ich nicht, da sie keinen Einfluss auf den Verlauf der Handlung haben. Auch die Empfehlungsschreiben in Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 14f. und 53-67, bleiben unberücksichtigt; zwar haben sie innerhalb der Handlung eine gewisse Funktion, doch bleibt diese blass und wird


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vor allem so plump gehandhabt, dass sich eine Analyse nicht lohnt. Schließlich lasse ich den im Roman ›Im Reiche des silbernen Löwen III/IV‹ (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 43 und 55; Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 90f. und 98f. und öfter) an einen Ghulam el Multasim gerichteten Brief beiseite, da er auf der Handlungsebene sinnlos ist. Die widersprüchlichen Aussagen, die sich auf ihn beziehen, lassen vermuten, dass der Autor bis in den 4. Band hinein nicht wusste, welche Rolle er ihm zuteilen sollte. Dementsprechend verändert der Brief im Verlauf des Geschehens seine Funktion völlig; sie wird aber nie eindeutig. Damit bleibt auch die mögliche symbolische Bedeutung, dass er Mays Werke verkörpert, deren wahrer Gehalt den Lesern bisher ein Geheimnis geblieben ist, im Unverbindlichen.

5 Die folgenden allgemeinen Ausführungen fußen auf dem Einleitungskapitel ›Zur Phänomenologie des Briefes‹ in: Gottfried Honnefelder: Der Brief im Roman. Untersuchungen zur erzähltechnischen Verwendung des Briefes im deutschen Roman. Bonn 1975, S. 4-15. Honnefelder geht allerdings nicht auf den für May-Romane wichtigen Fall, dass der Brief in die Hände eines nicht berechtigten Empfängers gelangt, ein.

6 Vgl. Karl May: Krüger Bei. In: Deutscher Hausschatz. XXI. Jg. (1895); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1980, S. 120 und 122; Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 294f. und 296ff.

7 Oskar Seidlin: Schillers ›trügerische Zeichen‹: die Funktion der Briefe in seinen frühen Dramen. In: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen. Hrsg. von Klaus L. Berghahn und Reinhold Grimm. Darmstadt 1972, S. 178-205

8 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 201.

9 Vgl. Anm. 4.

10 Vgl. Anm. 6.

11 Seidlin, wie Anm. 7, S. 179

12 May: Weihnacht, wie Anm. 8, S. 200ff. (entschlüsselter Brieftext S. 206-11)

13 Ebd., S. 205

14 Ebd., S. 213

15 Ebd., S. 214

16 Vgl. ebd., S. 293.

17 Vgl. ebd., S. 609.

18 Ebd., S. 610

19 Vgl. Karl May: Deadly dust. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80), S. 471; Reprint in: Karl May: Der Scout - Deadly Dust - Ave Maria. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg (2. erweiterte Ausgabe) 1997 (Belegstellen werden künftig mit der Sigle DH und der Seite angegeben); Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 73 (Belegstellen werden künftig mit der Sigle F und der Seite angegeben).

20 Vgl. ebd., DH 648 und 650 / F 329f.

21 Vgl. ebd., DH 614 / F 256.

22 Vgl. ebd., DH 614 / F 257.

23 Vgl. ebd., DH 620f. / F 283.

24 Vgl. ebd., DH 646 / F 320.

25 Ebd., DH 664 / F 349

26 Vgl. ebd., DH 471 / F 74.

27 Vgl. ebd., DH 499 / F 117.

28 May: Die Felsenburg. In: Deutscher Hausschatz. XX. Jg. (1894); Reprint der Karl-


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May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1980; Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, und May: Satan und Ischariot II, wie Anm. 6 (die Korrespondenzstellen der Buchausgaben werden künftig mit Sigle F 20 bzw. F 21 angegeben) - May: Krüger Bei, wie Anm. 6

29 Vgl. May: Krüger Bei, wie Anm. 6, S. 120 und 122 (F 21, S. 294f. und 296ff.).

30 Vgl. May: Die Felsenburg, wie Anm. 28, S. 730 (F 21, S. 79-82).

31 Ebd. (F 21, S. 81)

32 Vgl. ebd., S. 92-95 (F 20, 61-71).

33 Vgl. May: Krüger Bei, wie Anm. 6, S. 58 (F 21, S. 255).

34 Vgl. May: Die Felsenburg, wie Anm. 28, S. 730 (F 21, S. 82f.).

35 Ebd. (F 21, S. 79)

36 Vgl. May: Krüger Bei, wie Anm. 6, S. 120 und 122 (F 21, S. 294 und 296).

37 May: Die Felsenburg, wie Anm. 28, S. 730 (F 21, S. 79 und 80)

38 Ebd. (F 21, S. 82)

39 Walther Ilmer: Einleitung (zu ›Die Felsenburg‹). In: Karl May: Die Felsenburg, wie Anm. 28, S. 5

40 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892, S. 587

41 Vgl. Claus Roxin: Bemerkungen zu Karl Mays Orientroman. In: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S. 93ff.

42 Ebd., S. 93

43 May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 40, S. 587

44 Ebd., S. 641

45 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. V: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892, S. 212, 244, 351, 482

46 Ebd., S. 523

47 May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 40, S. 587

48 Ebd.

49 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Die Helden des Westens. Stuttgart o. J. (1890)

50 Vgl. ebd., S. 235f.

51 Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Paderborn 1994, S. 212

52 In Omars Erzählung in Stambul von seiner Jagd auf den Mörder seines Vaters (May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 40, S. 471ff.) spielt Hamd el Amasat keine aktive Rolle.

53 Vgl. May: Durch das Land der Skipetaren, wie Anm. 45, S. 359.

54 May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 40, S. 587

55 Ebd., S. 615f.

56 Ebd., S. 639ff.

57 Vgl. May: Durch das Land der Skipetaren, wie Anm. 45, S. 522-29.

58 Mehr noch als der Hadschi, mit dem der Leser inzwischen eher den arabischen als den nordafrikanischen Schauplatz verbinden dürfte, leistet dies der Mann, der Omars Vater auf dem Schott Dscherid ermordet hat.

59 Als einen solchen bezeichnet Claus Roxin im Anschluss an Ernst Bloch die Wahl Stambuls als Schauplatz der Handlung nach dem dünn bevölkerten Kurdistan (Roxin, wie Anm. 41, S. 93).

60 Die Ermordung von Omars Vater wurde Anfang 1881 erzählt.

61 May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 40, S. 641

62 Ebd.

63 Dass May im Orient-Zyklus Märchenmotive adaptierte - konkret Motive aus ›Rotkäppchen‹ -, zeigt Ralf Harder: Kara Ben Nemsi und der Wolf. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 60/1984, S. 21ff.


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64 Deshalb ist es eine so große Katastrophe, wenn diese Waffen einmal gestohlen werden; man vergleiche das Ende von ›Old Surehand I‹ (Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894).

65 Wie Anm. 40

66 Unter einem Trailer versteht man einen kurzen Zusammenschnitt von Szenen, der für einen der nächsten im Kino oder Fernsehen gezeigten Filme wirbt.




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