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HELMUT SCHMIEDT

Das neunundzwanzigste Jahrbuch



Mit einigem Mut zur Vereinfachung kann man sagen, daß bei einer sehr grundsätzlichen Betrachtung drei Komplexe des forschenden Umgangs mit literarischen Gegenständen zu unterscheiden sind: die Frage nach der Entstehung der Werke, die Frage nach ihrer Beschaffenheit und die Frage nach ihrer Wirkung; hinzu kommt die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte ihrer Autoren, die alle drei Bereiche berührt, am stärksten wohl den ersten. Literatur, die dauerhaft etwas gelten soll, muß erfahrungsgemäß unter jedem dieser Aspekte interessant erscheinen, und das liegt auch insofern schon nahe, als die Bereiche ja nichts strikt voneinander zu Trennendes bilden, sondern auf die verschiedenste Weise verbunden sind.

   Es spricht für den Facettenreichtum des Phänomens Karl May, daß es hier tatsächlich - wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung - entsprechend vielfältig ansetzende Untersuchungen in großer Zahl gibt. Ihre Reihe wird im vorliegenden Jahrbuch fortgesetzt, wobei einige Arbeiten im Sinne der obigen Systematik ziemlich eindeutig zuzuordnen sind, andere aber an mehreren Feldern partizipieren. Die Dokumentation von Hans-Dieter Steinmetz und Andreas Barth zu Mays kurzer Tätigkeit als Fabrikschullehrer trägt weitere Bausteine zur Rekonstruktion der Lebensgeschichte zusammen, Helmut Lieblang setzt die Erschließung der Quellen zu Mays Orientromanen fort - hier geht es primär um die Entstehung der Texte bzw. um die biographischen Voraussetzungen bei dem, der als ihr Verfasser zeichnet. Dieter Sudhoffs Bericht über die diversen Reaktionen des Malers Rudolf Schlichter auf Karl May und René Wagners Überblick zur Geschichte des Radebeuler Karl-May-Museums fallen ebenso eindeutig in die Kategorie der Wirkungs- bzw. Rezeptionsforschung, während die Ausführungen über Mays Gasthausszenen (Martin Lowsky), die Funktion der Briefe in Mays Romanen (Werner Kittstein), über Mays literarischen Umgang mit dem deutschen Kaiserreich (Gudrun Keindorf), über die Gerichtsszenen (Michael Niehaus) und über die Darstellung Chinas bei May und Jules Verne (Antje Streit) ihren Schwerpunkt im werkanalytischen Bereich setzen. Die übrigen Beiträge lassen sich weniger klar zuordnen: Hermann Wohlgschafts Argumentation mit der Typenlehre des Enneagramms widmet sich vorrangig dem literarischen Personal, bezieht aber - implizit wie explizit - die Persönlichkeit seines Urhebers mit ein; Helga Arends vergleichende Lektüre von Schopenhauer- und May-Texten hebt Charakteristika insbesondere des Romans ›»Weihnacht!«‹ hervor und entdeckt mögliche Anregungen dafür; Andreas Graf verbindet den Blick auf Mays Kolportageromane mit dem auf einige ihrer Vertriebsbedingungen; Falk J. Lucius befaßt


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sich ebenfalls mit ›»Weihnacht!«‹ und verknüpft die Erkenntnisse zu den zentralen Figuren mit weitgespannten psychologischen Erwägungen in bezug auf den Autor. Wie üblich, runden ein Literaturbericht und ein Überblick zu den jüngsten Aktivitäten der Karl-May-Gesellschaft das Jahrbuch ab.

   Die Karl-May-Gesellschaft legt hiermit im dreißigsten Jahr ihres Bestehens das neunundzwanzigste Jahrbuch vor: eine Bilanz, auf die sie besten Gewissens stolz sein kann. Möglich geworden ist dieser Erfolg allerdings nur, weil sich eben das Untersuchungsobjekt als ein so außerordentlich vielschichtiges Phänomen erwiesen hat; daß auch dieses Jahrbuch mit Arbeiten zu Themen erscheint, die entweder noch gar nicht oder doch wenigstens nicht in der hier vorgestellten Weise und Intensität untersucht worden sind, stellt ihm wiederum das beste Zeugnis aus.




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