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Helmut Lieblang


Dschinn, Dschinnistan
Geographische Bemerkungen zu Mays mythischem Kontinent



»... Darum setzte ich mich auf mein Roß, welches zu fliegen vermag, wie der Gedanke des Menschen ... «1



Mays Utopia, das er ›Dschinnistan‹ nennt, ist, wie es sich für einen ordentlichen ›Nicht-Ort‹ gehört, auf keiner Landkarte zu finden, das heißt, es existiert außerhalb einer allgemein akzeptierten, für wahr gehaltenen geographischen Realität: auch wenn in neuerer Zeit in einem sogenannten ›Karl-May-Atlas‹ der merkwürdige Versuch unternommen wurde, dieses Utopia kartographisch zu erfassen und die Karte von Dschinnistan mit einem Maßstab zu versehen.2

   Mays Pegasus hat wie jedes andere Dichter-Roß nicht nur Flügel, sondern verfügt wie sein irdischer Artverwandter auch über vier erdverbundene Hufe. Gerade im Fall Karl May kommt man angesichts seines Umgangs mit Quellen und eingedenk der zahlreichen Anregungen, die er aus ihnen erfuhr, nicht umhin, festzustellen, daß seine Phantasie immer Zündstoff brauchte, um sich zu entfalten. Das ›fliegende Pferd‹ braucht immer eine Anlaufstrecke, um abzuheben. Und so ist denn mehr sein phantastisches Fabulieren anzuerkennen als seine Erfindungsgabe:


He had a vivid imagination but little inventiveness. Scenes, narrative devices, characterizations, and preoccupations undergo some shifts of emphasis but not much evolution in his career. He has the pedantry of the mimetic realist without the richness of observation. The reason for this, of course, is that his experiences were fabricated and their details cobbled together from books.3


Von Mays literarischem Kontinent führen immer mehr oder weniger starke Verbindungslinien zu realen Erdteilen, oder, anders herum, »was immer May systematisch oder zufällig sammelte, ersann oder träumte, er gebrauchte es zur Konstruktion einer Welt, die aus den traditionellen Verabredungen gerückt ist«.4 Zur Konstruktion seiner Welt brauchte er Bausteine aus den Welten anderer, Farben aus den Abbildungen, die andere vom Globus entwarfen - Material, das May für seine Zwecke umformte und neu zusammenmischte.


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Einen der Feuersteine für Mays leicht entzündliche Phantasie dürfen wir in einem Beitrag vermuten, der sich im ›Magazin für die Literatur des Auslandes‹ (1839) findet. In dem Artikel ›Kurdistan und seine Bewohner‹ lesen wir folgenden Abschnitt:


Jenseit Mardin, zwischen Nisibin (dem Anthemusia der Griechen) und Mussul, erstreckt sich das Land Sindschar-Dagh (Ketten-Berg), so genannt von einem Höhenzuge, der die Mesopotamische Ebene im Süden von Mardin schneidet. Man kennt den Sindschar-Dagh auch unter dem Namen Dschinnistan (Region der Genien). Dieses Land hat Ueberfluß an Quellen und vortrefflichen Weiden. Die Aprikosen, die Feigen und Weintrauben von Sindschar sind in ganz Kleinasien berühmt. Diese Gegend ist auch der einzige Strich Mesopotamiens, welcher Datteln hervorbringt.

   Sindschar wird von den Jesidi's bewohnt, einem kriegerischen Nomaden-Volke (...)5


Die Vermutung, daß diese Textstelle befruchtend auf Mays Schaffen gewirkt hat, wird durch einen weiteren Absatz aus dem ›Magazin‹ unterstützt:


Man hält diese Nation für einen Ueberrest jener Mardischen Kolonieen, die Arsakes V., König von Persien, nach Mesopotamien verpflanzte und von welchen die Stadt Mardin ihren Namen hat. Strabon, Arrian und Plinius schildern die Marder als ein wildes, unbändiges Volk, das jener Persischen Sekte angehörte, die dem bösen Prinzipe (Ahriman) huldigte; ohne Zweifel ist die Religion der heutigen Jesidi's aus dem Glauben der alten Marder hervorgegangen.6


Wir finden also in unmittelbarer Nähe zueinander zwei zentrale Begriffe aus Mays Spätwerk - Dschinnistan und Ahriman.7 Die Annahme, daß May diesen Beitrag im ›Magazin‹ zur Kenntnis nahm, wird durch die Tatsache erhärtet, daß er andere Beiträge des Jahrgangs 1839 quellenmäßig auswertete. So verwendete er für die Jugendschrift ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹8 Adolph Barrots Mitteilungen über ›Canton im Jahre 1838‹ und für den ersten Band der Reiseerzählung ›Der Mahdi‹9 Joseph Ferlinis Schilderung ›Die Wüste Koruska‹.10

   Der Sindschar Dagh (Dschebel Sindschar) findet Erwähnung in Mays Erzählung ›Durch Wüste und Harem‹ im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Dschesidi (Jesidi) durch die Türken: »Wir wohnten im Frieden und in Eintracht im Lande Sindschar; aber wir wurden unterdrückt und vertrieben ...«11 Die Notiz bezieht sich auf die Feldzüge Hafiz Paschas, des türkischen Generals der Taurus-Armee, die dieser in den Jahren 1837/38 gegen die Kurden durchführte. Im Jahre 1838 befand sich übrigens an seiner Seite als Militärberater der spätere preußische Generalissimus Helmuth von Moltke. Beiläufig werden die Sindscharberge auch in der Marienkalendergeschichte ›Nûr es Semâ. - Himmelslicht‹ erwähnt: Dieser einsame Felsen [der Wahsijafelsen] liegt südwärts von den Sindscharbergen. In den Ortschaften der letzteren giebt es auch Christen.12


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   Der Sindschar ist ein langgestreckter, isolierter Gebirgszug im Nordwesten des Irak, der von West nach Ost zwischen der syrischen Grenze und Mosul (Al-Mausil) verläuft. Er erhebt sich in einer relativen Höhe von 500 bis 1.000 m isoliert aus den eintönigen Ebenen der Dschesireh (Al-Djazira). Die höchste Erhebung ist mit 1.463 Metern der Schilmire. Das stark zertalte Karstgebirge trägt eine typisch mediterrane Vegetation. Die Dschesidi betreiben in den Tälern des Sindschar teils intensiven Bewässerungsfeldbau (Tabak, Gemüse, Reis, Obst), teils nomadische Weidewirtschaft bis zum kurdistanischen Bergland im Norden von Mosul. Hauptort ist Beled Sindschar. Eine recht anschauliche Beschreibung des Sindschar bietet Austen Henry Layard in seinem zweiten Buch über Kurdistan:


Das Sindschargebirge ist ein einzelner Bergrücken, der mitten in der Wüste jäh aufsteigt; von einer Spitze desselben schweift das Auge auf der einen Seite weit über die flache Wildniss, die sich bis an den Euphrat erstreckt, auf der andern Seite über die vom Tigris und den hohen Gebirgen Kurdistans begrenzte Ebene. Nisibin und Mardein waren beide in der Ferne sichtbar. Ich konnte die Berge von Baadri und Scheikh Adi und viele bekannte Spitzen der kurdischen Alpen genau erkennen. Hinter den niederen Bergketten, die sich durch ihre scharfen, zackigen Umrisse deutlich unterschieden, waren die schneebedeckten Höhen von Tijari und Bohtan. Während südlich vom Sindschar künstliche Erdhügel in Fülle erschienen, konnte ich gegen Norden nur wenige solche Ueberreste erblicken.13


Den Dschesidi selbst widmet May, den Spuren des ersten Kurdistan-Buches Layards folgend, bekanntermaßen in den beiden ersten Bänden seines großen Orientzyklus breiten Raum.14 Beachtenswert, daß May die von Türken und den islamischen Kurden gleichermaßen verfolgten kurdischen Dschesidi als Underdogs positiv darstellt und zu Protagonisten macht.

   Die Dschinn sind nach islamischer Auffassung unsichtbare Wesen aus Dampf, Rauch oder Feuer, die schadend oder helfend auf das Leben der Menschen Einfluß nehmen. Die Vorstellungen von den Dschinn stammen aus altarabischer Zeit. Mit dem Begriff verbunden sind ursprünglich vorislamische Nymphen und Satyrn, die die Wüste bevölkern. Muhammads Botschaft des Islam richtet sich auch an sie. Ihnen werden die gleichen Strafen angedroht und die gleichen Belohnungen versprochen wie den Menschen.15 Erwähnt werden sie in verschiedenen Stellen des Koran;16 die 72. Sure trägt den Namen ›Al Dschinn‹. Weiterhin spielen sie in den Volkserzählungen (z. B. ›1001 Nacht‹) und im Volksglauben bis heute eine große Rolle. In den verschiedenen Teilen der islamischen Welt existieren allerdings sehr unterschiedliche Aspekte des Dschinn-Glaubens.

   Bei der Bezeichnung des Sindschar-Dagh als ›Dschinnistan‹ scheint die Vorstellung von den Dschinn als bösen Geistern und Dämonen ausschlaggebend gewesen zu sein. Er war ja ein Siedlungsschwerpunkt der Dschesidi, die von ihrer islamischen Umwelt als ›Teufelsanbeter‹ diffamiert wurden, zum einen weil ihre Religion nichtmuslimisch ist, Mysteriencharakter trägt


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und Andersgläubigen weitgehend verschlossen bleibt, zum andern, weil es eine Religion ohne heilige Schrift ist - wie sie die Christen, Juden, Parsen oder Mandäer haben - und ihre Gläubigen somit nicht den ›Dhimmi‹-Status genossen, d. h. sie durften nicht wie die ›Kitabis‹ oder ›Ahl al-Kitab‹ (Buchbesitzer, Leute des Buchs) ihren Glauben praktizieren.17 May verarbeitet diese Fakten in der Schilderung der Dschesidi-Abenteuer Kara Ben Nemsis.18 Auch der Verfasser des ›Magazin‹-Beitrags legt die von den Muslimen konstatierte Schriftlosigkeit der Dschesidi dar, wenn er schreibt: »Nach Unterwerfung der Jesidi's hat Hafiz Pascha sorgfältig nachforschen lassen, ob sie keine geschriebene Dokumente besäßen; es ist aber Nichts vorgefunden worden.«19

   Ein ähnliches Beispiel wie im Fall ›Sindschar-Dschinnistan‹, wo ein mythologischer Begriff auf die Geographie übertragen wurde, ist aus Nordafrika bekannt. Dort wurde nämlich die Bezeichnung ›Dschinn‹ auf einen Volksstamm übertragen:


Die reineren Stämme [der Tuareg] zeichnen sich durch ihren kriegerischen Sinn aus, der selbst bei denen Achtung gebietet, die zu blossen Wegelagerern herabgesunken sind. Daher kommt es, dass sie beständig unter einander oder mit ihren Nachbarn in Kampf begriffen sind und daß sie von den übrigen Bewohnern Nord-Afrika's gefürchtet und gehasst werden. Die Araber sagen: »Der Skorpion und der Tuareg sind die einzigen Feinde, denen man in der Wüste begegnet«, und nennen die letzteren »djin«, Besessene oder Dämonen.20


Dieser Tatsache trägt Karl May in seiner frühen Orient-Erzählung ›Die Rose von Sokna‹ Rechnung, wenn er den Schlupfwinkel des Kofla-Aga, des Anführers der Raubkarawane, der sich durch seinen ›Lischam‹ (Gesichtsschleier) als Targi erweist, in einer Traumsequenz des Ich-Erzählers als ›Geisterburg‹ bezeichnet:


Ich schloß die Augen. Das ausglühende Licht des Tages brannte fort in ihnen, und ich fiel nur langsam in einen unruhigen Schlummer, welcher mir die Gestalten Ali's, Rahel's, Kofla-Aga's, den alten Schech el Djemahli und el Kasr, die Geisterburg mit el Büdj, dem gewaltigen Bartgeier und den todt aus der Luft herabstürzenden Thiuhr el Djinne in wirrem Durcheinander vorführte. Sogar die Himmelsmauer sah ich niederschmettern mit dem Teufel, der sich an ihr festgekrallt hatte ...21


Entsprechend werden die Bewohner der Burg in einer Schilderung nach morgenländischer Manier ›Geister‹ genannt:


»... Einst kamen die tapfern Uëlad Arfa und unterjochten sich das weite Land. Zwei Sonnenaufgänge von hier« - er zeigte dabei nach Süden - »waren einige Mauerbrocken auf den Rras (einzelner Berg) gefallen; sie bauten davon el Kasr (Bergfestung); aber der Scheidan (Böse) trieb sie von dannen, und nun wohnen die bösen Djinns im Schlosse, und wer ihnen mehr als zwei Tagereisen zu nahe kommt, ist der Tschehenna, der Hölle verfallen ...«22


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Bezeichnenderweise wählt May zur Kennzeichnung des Zusammenhangs einen Traum und betont den Märchencharakter (die ›morgenländische Manier‹) - Sichtweisen, in denen Mythos und Realität zusammenfließen.

   Mays früheste Erwähnung von ›Dschinn‹ als den Dämonen der Wüste findet sich in den ›Geographischen Predigten‹, der Keimzelle zahlreicher orientalischer Motive. Folgendes Zitat bildet wohl den Ausgangspunkt für die weitere Verwendung in ›Die Rose von Sokna‹, auch hier wieder ein halbmythischer Zusammenhang, dargestellt durch das Paradebeispiel realer Halluzination, der Fata Morgana, die sich dem Blick darbietet, gleichzeitig aber entzieht:


Die Karavane murmelt ein Gebet und zieht scheu vorüber vor der verlockenden Fata morgana. Der Sohn der Wüste weiß, daß die Djinns (bösen Geister) diesen verderblichsten aller Zauber aus den Dünsten und Gluthen des Sandmeeres zusammengewoben haben, um den schmachtenden Wanderer ins Verderben zu führen.23


May gibt in der Darstellung der Dschinn als Dämonen in einem großen Teil seines Werkes dem negativen Aspekt den Vorzug. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall in ›Schirin‹,24 einer Nachdichtung orientalischen Materials, »den Topos Dschinnistan mehr unter dem dämonischen Aspekt darstellt, der auch dem orientalischen Vorbild eignet«.25 Ergänzend hierzu sei auf einen zeitgenössischen Lexikon-Artikel hingewiesen, der prosaisch festhält: »Dschinn (arab.), Dämon, Fee;  D s c h i n n i s t a n, Land der Dschinnen, Feenland.«26

   Erst im Spätwerk arbeitet May mit dem positiven Aspekt: Er folgt also der Darstellung aus dem ›Magazin‹, wo Dschinnistan als ›Region der Genien‹ - einem positiv besetzten Begriff - bezeichnet wird und wo entsprechend eine fruchtbare Landschaft inmitten der Wüste beschrieben wird, was unbestritten den Charakter des ›Paradiesischen‹ beinhaltet, gerade so wie May es in seiner Autobiographie beschreibt:


Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches, unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem ...27


Und in ›Ardistan und Dschinistan‹ lesen wir:


»... Der ahnende Schein, der meinen Augen gestattet worden ist, stammt aus dem Paradiese, dessen irdisches Bild wir während der Nacht in Flammen vor uns liegen sahen ...«28


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Ein kurzes Wort zu ›Ardistan‹, dem Gegenpol zu ›Dschinnistan‹ auf Mays mythischem Kontinent. Auch hierzu gibt es einen irdischen Bezugspunkt, einen geographischen Topos. Etwa 100 km nordöstlich der persischen Stadt Isfahan liegt, zwischen dem Ostabhang des Kuhha-ye Qohrud und dem westlichen Rand des Da`īst-e Kavir, der Großen Salzwüste, der Ort Ardistan (heute meist ›Ardestan‹ geschrieben). Der Ort, der wahrscheinlich sassanidischen Ursprungs ist, wurde erstmals im 10. Jahrhundert von dem arabischen Geographen Ibrahim al-Istakhri in seinem Buch ›Wege der Reiche‹ (Masalik al-mamalik) erwähnt, der es als bedeutende, stark befestigte Stadt beschrieb. Dort findet man eine der ältesten iranischen Moscheen. Die Masdjid-e Djomeh (Freitagsmoschee) wurde im 11. Jahrhundert während der Regierungszeit des Seldschuken Malik Schah als Palastmoschee errichtet.29

   Die Lage des Ortes Ardistan »in der Nähe eines Kevir (Salzwüste), welcher der ganzen Umgebung ein ganz aussergewöhnlich ödes Aussehen verleiht«,30 korrespondiert mit Mays mythischem Land: Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan.31 Ob und inwieweit May um die Existenz des real-existierenden persischen Ortes Ardistan wußte, bleibt beim derzeitigen Forschungsstand der Spekulation überlassen. Bemerkenswert jedenfalls ist, daß der mythische Dualismus, den May mit ›Ardistan und Dschinnistan‹ konstruiert, ein irdisches Spiegelbild hat.

   Und wenn May schreibt: »... Ich werde dich in die Bibliothek führen, um dir die Bücher, Karten und Pläne vorzulegen, aus denen du dich unterrichten kannst«,32 darf man diese Bemerkung durchaus zweideutig auffassen.



1 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 631

2 Hans-Henning Gerlach: Karl-May-Atlas. Bamberg-Radebeul 1997, S. 233

3 Jeffrey L. Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy: Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker, Karl May, and Other German Novelists of America. Chapel Hill und London 1998, S. 230. Übersetzung: ›Er hatte eine lebhafte Phantasie, aber nur eine geringe Erfindungsgabe. Szenen, erzählerische Kunstgriffe, Charakterisierungen und Themen erfahren während seiner schriftstellerischen Laufbahn zwar eine Gewichtsverlagerung, machen aber keine bedeutende Entwicklung durch. Er hat die Pedanterie dessen, der die Realität nachahmt, ohne ihre Reichhaltigkeit selbst beobachtet zu haben. Das liegt natürlich darin begründet, daß seine Erlebnisse erfunden und ihre Details aus Büchern zusammengesetzt waren.‹ Sammons bezieht sich hier in erster Linie auf Mays amerikanische Erzählungen, besonders im Hinblick auf ihren historischen Realitätsbezug. Was Mays traditionelle Reiseerzählungen betrifft, fällt Sammons' Urteil gewiß nicht zu hart aus, hinsichtlich seines Spätwerks trifft es meines Erachtens nicht zu. Hier geht es nicht mehr um die Anschauung einer realen Welt, sondern um deren Überhöhung und Überwindung, so daß der Begriff ›cobbled together‹ (eigentlich ›zusammengeschustert‹) nicht greift. Gleichwohl entnimmt May der Realität Anregungen für seine ›Über-Realität‹, wie wir noch sehen werden.


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4 Gert Ueding: Ich blieb Kind für alle Zeit. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 91/1992, S. 50

5 Kurdistan und seine Bewohner. Aus brieflicher Mittheilung eines bei der Türkischen Armee am Taurus stehenden Französischen Offiziers. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. Jahrgang 1839, S. 325f. und S. 331 (Zitat S. 325); künftig: Magazin; der Band befindet sich in Mays Bibliothek.

6 Ebd., S. 326

7›Ahriman‹ als Prinzip des Bösen findet seine Verkörperung in den beiden Bänden ›Im Reiche des silbernen Löwen III/IV‹ in der Person des Ahriman Mirza. Der aus dem Mittelpersischen stammende Begriff ist aus dem zendsprachlichen ›Angra Mainyu‹ (böser, zerstörender Geist) entstanden. Zarathustra bezeichnet damit den von ›Ahura Mazda‹ (Ormuzd) aus dem Himmel gestürzten Zwillingsbruder des ›Spenta Mainyu‹ (guter, vermehrender Geist), der jeder Schöpfung seine verneinende Gegenschöpfung entgegensetzt. Ahriman beherrscht das Heer der von ihm geschaffenen höllischen Geister (Devas, Diws).

8 Karl May: Kong-Kheou, das Ehrenwort. In: Der Gute Kamerad. 3. Jg. (1888/89); Buchausgabe: Der blau-rote Methusalem. Stuttgart 1892

9 Karl May: Der Mahdi. I. Bd. Am Nile. In: Deutscher Hausschatz. XVIII. Jg. (1891/92); Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896

10 Ein Wort zur Chronologie. May besaß vom ›Magazin‹ 17 Jahrgänge (1832-1848). Das frühe Erscheinungsdatum der Vorlage sollte einen jedoch nicht dazu verleiten, anzunehmen, May habe den Text auch schon früh gekannt. Wir wissen nicht, wann er in seine Hände kam. Möglicherweise hat er die verschiedenen Jahrgänge des ›Magazins‹ antiquarisch als Konvolut erworben. Aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes hinsichtlich Mays Quellenbenutzung läßt sich jedoch der Terminus ante quem bestimmen: Oktober 1887, der Beginn der Niederschrift von ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹ (vgl. dazu Roland Schmid: Die Entstehungszeiten der Reiseerzählungen. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. von Roland Schmid. Band XXIII: Auf fremden Pfaden. Bamberg 1984, A38). Für diese Erzählung benutzte May außer dem schon erwähnten Aufsatz von Adolph Barrot (›Canton im Jahre 1838‹) den Beitrag ›Die Chinesischen Dschonken. Nach Karl Gützlaff's ›Three voyages along the coast of China‹ aus dem Jahrgang 1834 (Heft 80). Gleichfalls verwendete er aus den beiden genannten Jahrgängen des ›Magazins‹ die Berichte ›Die Samum-Grotte in Aegypten‹ (Jg. 1834, Heft 79) und, wie bereits erwähnt, ›Die Wüste Koruska‹ (Jg. 1839, Heft 100) für die Reiseerzählung ›Der Mahdi. I. Bd. Am Nile‹ (wie Anm. 9), deren Niederschrift nach Schmid zwischen Januar und April 1890 erfolgte. Die Verwendung der verschiedenen Jahrgänge läßt darauf schließen, daß May sie gemeinsam erworben hat. Der einheitliche Bibliothekseinband der verschiedenen Jahrgänge ist ein weiteres Argument dafür.

11 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 1, S. 557f.; weitere Erwähnungen finden sich unter variierenden Bezeichnungen (Sindschar, Sindscharberge, Berge des Sindschar, Land Sindschar) auf den Seiten 344, 547, 565, 571, 597 und 621. Mays Mitteilung stammt aus seiner großen Kurdistan-Quelle Austin Henry Layard: Niniveh und seine Ueberreste. Leipzig 1850. Vgl. dazu Franz Kandolf: Kara Ben Nemsi auf den Spuren Layards. In: Karl-May-Jahrbuch 1922. Radebeul 1921, S. 197-207.

12 Karl May: Nûr es Semâ. - Himmelslicht. In: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894, S. 494. Die Erzählung erschien zuerst in Benziger's Marien-Kalender für das Jahr 1893. Einsiedeln 1894.

13 Austin Henry Layard: Nineveh und Babylon. Leipzig 1856, S. 189; das erste Buch Layards über Kurdistan erschien 1850, siehe Anm. 11.

14 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 1, Kap. 11 und 12; Karl May: Gesammel-


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te Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, Kap. 1; vgl. dazu Kandolf, wie Anm. 11.

15 Vgl. Adel Theodor Khoury / Ludwig Hagemann / Peter Heine: Islam-Lexikon. Geschichte, Ideen, Gestalten. Bd. 1: A-F. Freiburg-Basel-Wien 1991, S. 182f.; Thomas Patrick Hughes: Lexikon des Islam. Wiesbaden 1995, S. 104-08; Lexikon Arabische Welt. Hrsg. von Günter Barthel und Kristina Stock. Darmstadt 1994, S. 163.

16 Beispielsweise in den Suren 6: 100, 128; 15: 27; 34: 12-14; 37: 158; 55: 14f.

17 Mit ›Dhimmi‹ (Schutzbefohlener) wird ein nichtmuslimischer Untertan einer muslimischen Regierung bezeichnet, der zu den ›Kitabis‹ zählt. Er konnte sich durch Zahlung einer Kopfsteuer (Dschizya) und gegebenenfalls einer Bodensteuer (Kharadsch) Sicherheit und Freiheit der Person, Schutz des Besitzes und religiöse Toleranz erkaufen. Die Stellung eines ›Dhimmi‹ rangierte nur geringfügig unter der seiner muslimischen Mitbürger. Die koranische Grundlage für den ›Dhimmi‹-Status liefert Sure 2: 257. Die ›Leute ohne Schrift‹ galten als Götzendiener und verkörperten so die schlimmste Form von Unglauben, ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Entsprechend wurde mit ihnen verfahren. Vgl. dazu Hughes, wie Anm. 15, S. 114f., sowie Khoury u. a., wie Anm. 15, S. 146f. Karl Mays Darstellung der Dschesidi ist insofern ein bemerkenswertes Zeugnis religiöser Toleranz und ein gelungener Versuch, Verfolgten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

18 Vgl. dazu Anm. 14.

19 Kurdistan und seine Bewohner, wie Anm. 5, S. 331

20 Die Imoscharh oder Tuareg, Volk und Land. Eine ethnographische Skizze nach Dr. Barth's Reisewerk, Bd. I. In: Petermann's Mittheilungen. Jg. 1857, S. 240f.

21 Karl May: Die Rose von Sokna. In: Deutsche Gewerbeschau. 1. Jg. (1878/79), S. 30; Reprint in: Karl May: Der Krumir. Seltene Originaltexte Bd. 1. Hrsg von Herbert Meier. Hamburg/Gelsenkirchen 1985. Um es deutlich zu sagen: es soll hier nicht behauptet werden, daß Barth die Quelle für betreffende Textstelle darstellt; es soll lediglich auf eine parallele Darstellung hingewiesen werden.

22 Ebd., S. 29

23 Karl May: Geographische Predigten. In: Schacht und Hütte. 1. Jg. (1875/76), S. 157; Reprint Hildesheim-New York 1979

24 Joseph von Hammer-Purgstall: Schirin. Leipzig 1809

25 Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1971. Hamburg 1971, S. 39-73 (70, Anm. 1)

26 Brockhaus' Conversations-Lexikon. 5. Bd. Leipzig 131883, S. 594, ein identischer Eintrag findet sich in Pierers Konversations-Lexikon. 4. Bd. Berlin-Stuttgart 71889, Sp. 952. Karl May besaß beide Lexika.

27 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 2; Reprint Hildesheim-NewYork 21982. Hrsg. von Hainer Plaul

28 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909, S. 411f. Analog dazu liest sich auch eine Stelle aus Wielands Dschinnistan-Märchen: »(...) und die beyden Brüder flogen mit den schönen Schwestern in eine Insel von Ginnistan, die, von ihnen bewohnt und bevölkert, ein Abbild des irdischen Paradieses wurde.« (Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt.: Werke. 18. Bd.: Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen. Hrsg. von Siegfried Mauermann. Berlin 1938, S. 63). Auf diesen Satz Wielands weist hin: Martin Lowsky: Geometrie und Utopie. Über Abstrakta in Karl Mays Altersroman ›Ardistan und Dschinnistan‹. In: Karl Mays ›Ardistan und Dschinnistan‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff / Hartmut Vollmer. Paderborn 1997, S. 193. Laut Wolf-Dieter Bach hat Wieland das arabisch-persische Wort ›Dschinnistan‹ in die deutsche Literatur eingebracht (Bach, wie Anm. 25, S. 70, Anm. 1). Dies nur nebenbei, denn »bei näherer Betrachtung dieser Märchen lassen sich schwerlich Verbindun-


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gen zu Mays Alterswerk finden« (Dieter Sudhoff: Christoph Martin Wielands Dschinnistan-Märchen. In: M-KMG 36/1978, S. 37).

29 Vgl. Robert Boulanger: Mittlerer Osten. Libanon, Syrien, Jordanien, Irak, Iran. Paris 1966, S. 956

30 Ebd.

31 May: Leben und Streben, wie Anm. 27, S. 2

32 May: Ardistan und Dschinnistan I, wie Anm. 28, S. 15; eine vergleichbare Stelle findet sich auf S. 384f.




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