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REINHOLD WOLFF


Das dreißigste Jahrbuch




wird, ungewöhnlich genug, im Frontispiz nicht von einem Bild Karl Mays eingeleitet, sondern von einem Bild Claus Roxins. Der Grund, der zu solcher wirklich einmaligen, so nicht wiederholbaren Unterbrechung aller Jahrbuch-Tradition veranlaßt, ist den Mitgliedern bekannt: Claus Roxin, ›Urmitglied‹ und ›Urgestein‹ der Karl-May-Gesellschaft, stellvertretender Vorsitzender seit ihrer Gründung am 22. März 1969, und nach dem Rücktritt Dr. Scheers im August 1970 faktisch, seit der Mitgliederversammlung 1971 in Kassel auch de jure ihr erster Vorsitzender, hat sich auf dem 15. Kongreß der Karl-May-Gesellschaft in Hohenstein-Ernstthal nach über 30 Jahren vom Vorsitz der Gesellschaft zurückgezogen. Dies war sein eigener Wunsch, und unzählige haben dies bedauert. Als Roxin in Bad Segeberg zum ersten Mal davon sprach, nun müßten Jüngere ans Werk, schien dies vielen noch unvorstellbar.

   Keiner, der dann in Hohenstein-Ernstthal dabei war, hat sich dem Gefühl entziehen können, daß damit eine Ära zu Ende ging. Und jedem wurde in diesem Augenblick noch einmal klar, daß in den vergangenen 30 Jahren niemand mehr zum Leben und Überleben der Karl-May-Gesellschaft beigetragen, niemand mehr für ihre Konsolidierung und Entfaltung getan und niemand mehr ihr Gedeihen gefördert hatte als eben dieser Claus Roxin. Der Weg von der kleinen Handvoll der Gründungsmitglieder von 1969 zu den fast 2000 Mitgliedern des Jahres 1999; der Weg auch aus den krisenhaften Anfängen von damals zu der blühenden literarischen Gesellschaft von heute, nachzulesen in Erich Heinemanns ›Eine Gesellschaft für Karl May‹, war sicher weit und immer wieder auch mühevoll, aber es war ein glücklicher Weg: Claus Roxin und vielen der Anwesenden in Hohenstein-Ernstthal war die Rührung in der Erinnerung an die vergangenen 30 Jahre anzusehen.

   Ich weiß nicht, ob man sich in allen Teilen der Karl-May-Gesellschaft in dieser Zeit ausreichend bewußt gemacht hat, daß es für Claus Roxin immer auch ein Leben außerhalb der Karl-May-Gesellschaft gegeben hat und daß auch dieser Teil seines Lebens auf ganz ungewöhnliche Weise von Erfolg und Gelingen (wenn auch zweifellos ebenso von Arbeit und Mühen) geprägt war. Claus Roxin hat, so schien es immer allen, der Karl-May-Gesellschaft seine besten Jahre und sein Bestes gegeben, unermüdlich als Anreger, Briefeschreiber und Redner, die Karl-May-Gesellschaft bei unzähligen Gelegenheiten repräsentierend und den Kontakt zu unzähligen ihrer Mitglieder pflegend; unersetzlich auch in seiner Ausstrahlung und Integrationsfähigkeit, in der alle sich immer wieder zusammenfanden. Und doch war


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- und auch daran darf hier erinnert werden - die Karl-May-Gesellschaft bei alledem nicht sein eigentlicher Lebensmittelpunkt. Roxin ist einer der ganz großen Rechtsgelehrten im Lande. Schon seine Dissertation, die inzwischen - absolute Ausnahme unter Dissertationen - in zweiter Auflage und in spanischer Übersetzung vorliegt (›Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale‹) erregte Aufsehen, und seine Habilitationsschrift zu ›Täterschaft und Tatherrschaft‹, die - wiederum absolute Ausnahme unter Habilitationsschriften - in diesem Jahr in 7. Auflage und zwei spanischen Übersetzungen vorliegt, gedieh zum weithin grundlegenden Beitrag zur Dogmatik des Strafrechts. Roxins juristisches Lehrbuch ›Strafrecht: Allgemeiner Teil, Bd. I. Grundlagen: Aufbau der Verbrechenslehre‹, 1992 zum ersten Mal erschienen, war nach eineinhalb Jahren vergriffen und liegt inzwischen in 3. Auflage (!) vor. Roxin erweist sich in diesem Lehrbuch - wie auch in den stets überfüllten Hörsälen - als ein begnadeter akademischer Lehrer, der es versteht, komplizierteste Probleme und Streitfragen des Strafrechts ebenso brillant wie fesselnd zu erörtern und eine scheinbar spröde Materie unglaublich spannend zu erzählen.

   Der Ordinarius für ›Strafrecht, Strafprozeßrecht und allgemeine Rechtslehre‹ (im ungewöhnlich jugendlichen Alter von 32 Jahren berufen, zuerst von 1963 bis 1971 an die Universität Göttingen, dann an die Ludwig-Maximilians-Universität München) hat auch längst seinen hervorragenden Platz in den Annalen der deutschen Rechtswissenschaft: Als Mit-Initiator und Mitglied eines Arbeitskreises von Strafrechtsgelehrten war Roxin maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung eines ›Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuches. Allgemeiner Teil‹ (1966), der seinerseits wesentliche Züge der Strafrechtsreform von 1975 (zum Allgemeinen Teil des StGB) präfiguriert und mitformuliert hat und dem in der Folgezeit weitere Alternativentwürfe zum Besonderen Teil, zum Strafvollzug sowie zur Strafprozeßordnung folgten. Wenn Deutschland heute ein modernes Strafrecht besitzt, in dem nicht mehr die Sühne des Verbrechens, sondern Verbrechensprävention und Täterresozialisation im Vordergrund stehen und die Grundsätze eines liberalen und sozialen Strafrechts gelten, dann ist dies eben auch der ganz maßgeblichen Mitwirkung von Claus Roxin zuzuschreiben. Ein solcher Einfluß der Rechtswissenschaft auf das gesetzte Recht ist nicht selbstverständlich: es hat ihn immer wieder gegeben, aber doch selten genug. Namen wie Gustav Radbruch oder Hans Kelsen mögen einem im 20. Jahrhundert dazu einfallen, und in der Geschichte der Bundesrepublik vielleicht Werner Maihofer, oder eben Claus Roxin, dessen Name unter den Rechtsgelehrten noch lange Bestand haben wird - in einer Tradition, die seit Beccarias ›Dei delitti e delle pene‹ von 1766 eine Tradition der europäischen Aufklärung ist.

   Karl May mag, so denkt man an dieser Stelle leise, immerhin auch dabei eine, wenn auch schwer zu präzisierende Rolle gespielt haben. Wesentliche Merkmale der Neufassung des StGB von 1975 sind die Abschaffung der


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Zuchthausstrafe, die Abschaffung oder Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen unter 6 Monaten und die Abschaffung der Strafverschärfung bei Rückfalltätern. Die Begründung ergibt sich in allen diesen Fällen aus einer Höherbewertung des Resozialisierungsgedankens. Karl May hätte also nach heutigem Strafrecht weniger Kriminalisierung auf Grund von Bagatelldelikten erfahren und hätte wesentlich bessere Chancen der Resozialisierung gehabt als zu seiner Zeit im Königreich Sachsen. Sternstunden der Literatur, in denen sie, selten genug, mit ihrer Anschaulichkeit und Beispielhaftigkeit zurückwirkt ins Leben ...

   Den Arbeitskreis ›alternativer‹ Strafrechtsjuristen gibt es immer noch, in teilweise wechselnder Besetzung, und Roxin wirkt immer noch in ihm mit. Die Runde war von Anfang an international angelegt, umfaßte auch schweizerische und dann auch österreichische Juristen und hat unterdessen weit mehr als ein Dutzend alternative Gesetzesvorschläge erarbeitet und mit diesen das nationale wie internationale Recht beeinflußt. Roxins internationales Renommee, das gewaltig ist, scheint mir vor allem auf diesem Tätigkeitsfeld begründet: fast sein gesamtes wissenschaftliches Werk liegt etwa auch in spanischer Sprache vor, er unterhält Forschungskooperationen, Dozenten- und Studentenaustausch mit vielen Universitäten in mehr als einem Dutzend Ländern (die sich für diese Forschungskontakte mit einer stupenden Anzahl von Ehrenpromotionen bedankt haben) und wirkte viele Jahre lang als Vorsitzender der Tagungen aller deutschen, österreichischen und schweizerischen Strafrechtslehrer. Fundament dieser nationalen wie weltweiten Ausstrahlung ist ein wissenschaftlich-publizistisches Werk von wahrhaft gigantischen Ausmaßen (bisher 16 selbständige Buchveröffentlichungen, Mitverfasser in einigen andern Fällen, und über 150 Aufsätze und Abhandlungen; allein Roxins Schriftenverzeichnis hat den Umfang einer eigenständigen Publikation), verbunden mit der Herausgebertätigkeit für die beiden wichtigsten deutschen Strafrechts-Zeitschriften, mit Gutachtertätigkeiten für die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Humboldt-Stiftung sowie mit der Ordentlichen Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Es wird, betrachtet man all dies, unmittelbar deutlich: dies war und ist ein exemplarisches Leben als Forscher und Hochschullehrer, das seinesgleichen sucht.

   Den Hochschullehrer Roxin habe ich übrigens (leider) nie in persona erlebt, aber ich habe seine Wirkungen kennengelernt. Als es sich, schon vor der Wahl in Hohenstein-Ernstthal, bei den juristischen Kollegen in Bielefeld herumsprach (ich weiß nicht, wie sich etwas bei Juristen herumspricht, aber ›es spricht sich‹ ...), daß ich Nachfolger von Roxin in der Karl-May-Gesellschaft werden sollte, bekam ich eine Reihe von Glückwünschen aus der juristischen Fakultät - und alle erzählten mir sagenhafte Dinge von den Göttinger oder Münchner Vorlesungen. Und als ich dann nach der vollzogenen Wahl zu einem Notar ging, um meine Anmeldung als Vorsitzender


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der Karl-May-Gesellschaft beim Amtsgericht Hamburg kunstgerecht vollziehen zu lassen, erstarrte mein juristisches Gegenüber plötzlich und stotterte: »Aber dann sind Sie ja der Nachfolger von Claus Roxin ...!«, und wieder bekam ich Schilderungen, diesmal der Göttinger Vorlesungen, die keinen Zweifel daran ließen, daß Roxins Veranstaltungen für Juristen (und unzählige Nicht-Juristen) die zentralen Ereignisse der jeweiligen Semesterwochen gewesen waren. Eros und Ethos des Redners: wer besäße sie unmittelbarer und verfügte natürlicher über sie als Claus Roxin! Ich erinnerte mich, als ich ihn 1992 bei der Mitarbeitertagung in Hohenstein-Ernstthal zum ersten Mal erlebte, ganz plötzlich daran, wie ich 30 Jahre vorher auf einer Urlaubsreise durch Zufall in einen neapolitanischen Gerichtssaal geraten war und die Plädoyers der Anwälte erlebt hatte: antike Rhetorik in Reinkultur, atemberaubend; unvorstellbar, so schien mir, nördlich der Alpen. Aber da war sie plötzlich wieder, in diesem Rathaussaal in Hohenstein-Ernstthal, und erinnerte daran, daß Lehre und Praxis von der Redekunst über fast 2000 Jahre lang zur Grundausbildung auch der Rechtsgelehrten gehört hatten (und nicht wenige Juristen darüber zu Literaten und Dichtern geworden waren).

   Claus Roxin - es gibt keinen besseren Ausdruck dafür - hat Charisma und verkörpert auch damit die besten Traditionen der deutschen Universität. Ein Vorsitzender der Deutschen Rektorenkonferenz, dessen Namen ich in diesem Zusammenhang besser nicht nenne, hat vor fast 20 Jahren sinngemäß einmal gesagt, bevor nicht der letzte Großordinarius ersetzt worden sei durch die professorale graue Maus der neuen (Universitäts-)Zeiten, ginge es mit der deutschen Universität nicht aufwärts. Der das sagte, hatte unrecht, wie sich inzwischen als Erkenntnis wieder allgemeiner durchsetzt; und es ist beglückend, daß es noch Professoren wie Roxin gibt, die in ihrer Person über trübe Zeiten hinweg das Bild dessen bewahrt haben, was - an Kompetenz, Ausstrahlung und Verantwortungsbewußtsein - der deutsche Professor in seinen besten Fällen einmal war. In jenen inzwischen allzu fernen Zeiten, als die deutsche Universität noch, vor Beginn aller politisch motivierten Hochschulreformen, einen Spitzenplatz unter den Hochschulen der Welt besetzte.

   Für die Karl-May-Gesellschaft aber war dies alles ganz zweifellos ein unerwarteter, unprogrammierbarer und nachhaltiger Glücksfall: was sich in der großen Welt von Rechtswissenschaft und Politik so glänzend bewährte, verlieh der kleinen, wenn auch stetig wachsenden Welt der Karl-May-Gesellschaft Existenz, Stabilität und Kontinuität. Roxin war von Anfang an dabei, oder eigentlich noch vor allem Anfang. Er selbst hat mir einmal erzählt, wie er zufällig während einer Bahnfahrt aus der Zeitung von der Gründung der ›Arbeitsgemeinschaft Karl-May-Biographie‹ (1963-68) erfuhr und bald zu deren Mitgliedern (und zu den Beziehern der schreibmaschinengetippten und hektographierten Mitteilungsblätter) gehörte: Es gäbe keinen Zufall, pflegte Karl May (wie Sigmund Freud) zu sagen, und in der Tat gehör-


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ten die Mitglieder dieser Arbeitsgemeinschaft ein paar Jahre später zu den ersten Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft, und hätte ohne diesen ›Zufall‹ einer Zeitungslektüre in der Eisenbahn die Karl-May-Gesellschaft ihren prägenden Vorsitzenden ›verpaßt‹ - unvorstellbar im Nachhinein. Erich Heinemann hat in ›Eine Gesellschaft für Karl May‹ den Eintritt Claus Roxins in die Gründungsversammlung in Hannover geschildert:


Mit einem Koffer betritt schließlich, hoch und schlank gewachsen, barhäuptig der noch jugendlich wirkende Göttinger Professor Claus Roxin das Lokal. Mit diesem Koffer voller Papiere und Bücher, selten mit einer Aktentasche, wird man ihn bei künftigen Treffen und Tagungen immer wieder sehen. In seiner frischen, lebhaften Art, mit seinen hellen, strahlenden Augen gewinnt er rasch meine Zuneigung. In den Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft war über ihn zu lesen: Rechtstheoretiker, Professor für Strafrecht, Strafrechtsreformer. »Ich bin noch nicht so alt«, hatte er an Alfred Schneider geschrieben, »daß ich nicht hoffen dürfte, für meinen alten Freund Karl May auch noch einmal etwas tun zu können ... « Das Schicksal wird ihn dafür noch sehr beim Wort nehmen.


Was sich dann, aus diesen Anfängen, entwickelt hat, ist im Gedächtnis derer, die es miterlebt haben, immer wieder mit Anekdoten, mit treffenden Sentenzen und Kommentaren von Claus Roxin verknüpft, was einmal mehr sichtbar macht, wie sehr sich die Karl-May-Gesellschaft um die Person Roxin formte, wie er den integrierenden Mittelpunkt ihrer Entwicklung darstellte. Es war Roxins Vortrag auf der Mitgliederversammlung in Kassel 1971 - ›Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays‹, bis heute ein unerreichtes Kabinettstückchen der Karl-May-Forschung -, der den Versammelten blitzartig klar machte, daß die kaum geborene Karl-May-Gesellschaft mit diesem, und nur mit diesem Vorsitzenden ihre Überlebenschance hatte. Man hatte ihn drängen müssen, wie er später in seinen ›Erinnerungen an Heinz Stolte‹ selbst andeutete, das Amt anzunehmen - und gedankt sei denen, die da drängten. Noch war das Häuflein klein, das sich da um die Fahne Karl Mays sammelte. Einer der Aussprüche Roxins, der mir inzwischen ungezählte Male berichtet worden ist, fällt im gleichen Jahr 1971 während der Vorstands- und Mitarbeitersitzung in Berlin. Man fährt zum gemeinsamen Abendessen in einem gläsernen Aufzug hoch über die Lichter von Berlin, und noch passen alle Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter in eine Aufzugskabine. Roxin sagt, mit der ihm eigenen Mischung aus Tatkraft und Skepsis: »Wenn der Fahrstuhl jetzt abstürzt, ist es aus mit der Karl-May-Forschung.« Es wurde aber kein Absturz, sondern ein unaufhaltsamer Aufstieg: In Regensburg (1973) hat Roxin »einen berechtigten Grund zur Freude«, denn die Karl-May-Gesellschaft erlebt etwas, was allgemein als Durchbruch empfunden wird - mit großer öffentlicher, auch publizistischer Aufmerksamkeit, die sich seitdem auch erhalten hat. Und 1987 in Wien - die Karl-May-Gesellschaft hat Internationalität erreicht - kann Roxin das Geschehen auf unnachahmliche Art kommentieren, es sähe nun


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doch so aus, »als ob alle Welt sich nur noch mit Karl May beschäftige«. Auch dieser Satz ist mir in vielen Gesprächen der letzten Jahre immer wieder entgegengekommen.

   Man hatte Claus Roxin in Kassel drängen müssen, den Vorsitz anzunehmen, und es scheint auch später den einen oder andern Moment gegeben zu haben, in dem er über diese Entscheidung noch einmal nachgedacht hat. Unvorhergesehene und ungewollte Verwicklungen in Konflikte mit dem Karl-May-Verlag Anfang der 70er Jahre, die einen schmerzhaften Augenblick lang abstruse Dimensionen anzunehmen schienen; die Diskussionen um die Psychoanalyse, die mehrfach in Glaubenskämpfe auszuarten drohten und ihm auch recht kleinkariert vorgekommen sein mögen - dies alles mag gelegentlich dazu geführt haben, daß er sich auch fragte, ob er sich denn das alles eigentlich antun müsse. Gegen Ablauf seiner ersten Amtsperiode - wie sehr ist das alles heute in der Karl-May-Gesellschaft vergessen! - scheint er sehr ernsthaft überlegt zu haben, ob er sich für eine zweite zur Verfügung stellen solle: Noch einmal stand, rückblickend betrachtet, die Existenz der Karl-May-Gesellschaft auf dem Spiel. Aber er hat es sich dann doch noch einmal angetan, und die Folgen sind bekannt.

   Was ihn dazu bewogen hat, war sicher zum einen die Liebe zu »seinem alten Freund Karl May«, aber zum andern auch, daß er sich gestützt fand von Menschen, die er schätzte und die ihm, stillschweigend und freundschaftlich, zuarbeiteten: Ich denke, wenn ich dies schreibe, natürlich vor allem an die nun zum gleichen Zeitpunkt mit ihm ausgeschiedenen Vorstandsmitglieder Erwin Müller und Erich Heinemann - hocherfahren der eine in der Motivation und Regulierung von Apparaten wie im Umgang mit Geschäftsordnungen; mit viel Sinn für Strategie und, wenn nötig, klar und hart, aber auch mit leisen und nachdenklichen Tönen im kleinen Kreis; ein ›Stiller im Lande‹ der andere, diskret und leise, aber mit sicherem Urteil und nie nachlassender Hilfsbereitschaft. Roxins Verdienst ist auch dabei, daß er sie, mit Menschenkenntnis und sicherem Instinkt, ausgewählt und motiviert hat - sie und die vielen andern, die in der Karl-May-Gesellschaft aktiv waren und sind. Im Angelsächsischen nennt man das ›leadership‹ und meint damit nicht, daß einer auf den Tisch haut und allen andern die Schau stiehlt, sondern eben dies: daß er die richtigen Leute ins Team nimmt und das, was allen am Herzen liegt, konsensfähig vorwärts bringt, die unterschiedlichen individuellen Qualitäten und vielfältigen Erfahrungen für die gemeinsame Sache nutzend. Freilich war Roxin - auch das gehört dazu - unbestritten immer der erste im Team, nicht nur an Körperlänge alle andern überragend. Zu seinem 60. Geburtstag schickten ihm die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstandes ein sehr persönlich gefaßtes Glückwunschschreiben, in dem Folgendes zu lesen war:


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Großer Vorsitzender,


der Du nun schon zwanzig Jahre Dein Zepter schwingst, Deine Kollegen im geschäftsführenden Vorstand grüßen Dich zu Deinem 60. Geburtstag. Sie wünschen Dir Gesundheit und unverminderte Schaffenskraft. Bleibe, wie Du bist. Erhalte uns Deine Freundschaft. Howgh!

   Doch sei uns auch gestattet, an einem solchen denkwürdigen Jahrestag einmal auszusprechen, wozu sonst wenig Gelegenheit ist. Wir möchten Dir sagen, daß wir Dich schätzen. Wir bewundern die Kraft und Ausdauer, die Du der gemeinsamen Sache zuwendest, wie Du das unterschiedliche, leicht auseinanderdriftende, bisweilen gar widerspenstige Völklein der Karl-May-Leute immer wieder unter einen Hut zu bringen verstehst. Unermüdlich versendest Du, Woche für Woche, Deine mahnenden, aufmunternden, zuredenden, ratenden, helfenden, schlichtenden, väterlich wohlwollenden, weisen und weisenden Briefe. Ganze Bände ließen sich mit ihnen füllen. Auch von der täglichen Eile getrieben, in der sie entstehen, entbehren sie nicht der literarischen Form; sie zu lesen, bereitet stets Genuß. Und die Brillanz Deiner Reden, Deiner Vorträge, Deiner großen Monologe auf Tagungen, Deiner flugs hingeworfenen Ansagen und Moderationen begeistert immer aufs neue. Unvergessen die unter Deiner Leitung bis in die Nächte sich hinziehenden Arbeitssitzungen (denen der Stenostift des Schriftführers nur mit Mühe zu folgen vermag). Wo überall schon haben geschäftsführender und erweiterter Vorstand samt Mitarbeitern getagt (und genächtigt): in den Konferenzräumen der Esplanade nahe Potsdamer Platz an der Berliner Mauer, im Hotel Ibis Wien, viele Stockwerke hoch, in Gelsenkirchen, Göttingen und Fulda, im Bierkeller zu Regensburg, selbst im bischöflichen Hildesheim, in einem verwegenen Hinterzimmer des Kasseler Bahnhofsviertels, auf dem abgelegenen Heidehof Carl-Heinz Dömkens, einmal sogar in der Weinkellerei Deidesheim. Weise und vorausschauend waren Deine Vorschläge; manchmal sahen wir es erst hinterher ein. (Aber, in aller Demut, mitunter hatten auch wir recht!)

   Professoral, weltfremd, wie der deutsche Professor im Hohenzollernreich, bist Du nicht, warst Du nie. Vielmehr hast Du, entgegen gelegentlicher eigener Beteuerung, einen ausgeprägten Sinn für das Ökonomische bewiesen, und Bilanzen liest Du mit dem gleichen Vergnügen wie Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit«.

   Ja, großer Vorsitzender, wirklich, wir bewundern Dich!



Zur Person Claus Roxins, die in diesen Zeilen durchschimmert, wäre noch viel zu sagen, aber das ist ein schwieriges Kapitel. Man hat dabei das Gefühl, es schicke sich nicht recht: Er selbst hat über viele Jahre den alten Grundsatz vorgelebt, daß Sein besser ist als Scheinen und daß es ebenso indezent ist, alles zu sagen, was man denkt, wie alles zu zeigen, was man hat. Roxin hat immer durch seine Person gewirkt - und die Privatheit dieser Person immer hintanzustellen gewußt. Er hat mit seiner Persönlichkeit die Karl-May-Gesellschaft geprägt bis in die Einzelheiten und hat damit eine literarische Gesellschaft von (vergleichsweise) riesenhaften Ausmaßen geschaffen, in der doch alles ehrenamtlich (wenn auch so professionell wie möglich) erledigt wird; hat - Wissenschaftler von hohen Graden, der er ist - die Grund-


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satzentscheidung getroffen, die Karl-May-Gesellschaft sei angewiesen auf die Dignität der wissenschaftlichen Forschung, aber müsse gleichzeitig auch - nach dem Motto: Intelligenz ist kein Privileg von Spezialisten - für die ›Laien‹ offenstehen (und auch Tummelplätze und Kuschelecken für Fans bieten); ist - Erzliberaler, der er auch ist - immer dafür eingetreten, die Karl-May-Gesellschaft müsse ein freies Forum darstellen für jede Meinungsäußerung, auch um den Preis, daß sich erst in der Diskussion die Spreu vom Weizen trennen lasse. In allen diesen grundsätzlichen Entscheidungen sind die persönlichen Züge von Claus Roxin - des Wissenschaftlers, des streitbaren Liberalen, des Literaturliebhabers im besten Sinn - erkennbar.

   Verschwiegen aber ist er, was sein privates Leben und was seine privaten Gedanken und Gefühle angeht. Roxin ist ein Meister der Ironie und Selbstironie, und nur in dieser eleganten Indirektheit wird gelegentlich Persönliches sichtbar. Die Ironie ist eine der schwierigsten Redeformen, wenn nicht die schwierigste überhaupt, setzt sie doch Engagement und Kritik, Liebe und Distanz gleichermaßen voraus; und natürlich die Intelligenz der Zuhörer, die solcher ›urbanen Umgangsform‹ (Cicero) zugänglich sind. An solchen Bedingungen sind schon veritable Bundestagspräsidenten gescheitert. »Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken«, sagt Friedrich Schlegel einmal, und es ist gut vorstellbar, was mit der Karl-May-Gesellschaft geschähe, wenn sie die Gründerqualitäten verspielte, die der Ironiker Claus Roxin ihr mitgegeben hat. Claus Roxin liebt Thomas Mann und Karl May, und in der Spannweite dieser Persönlichkeit, ihrer Liberalität und urbanen Sensibilität war die Karl-May-Gesellschaft über 30 Jahre lang bestens aufgehoben. Verbissenheit war nie seine Sache, aber Nachlässigkeit auch nicht; und immer war sein Wirken in der Karl-May-Gesellschaft begleitet von Realitätssinn und Augenmaß. Eigentlich gibt es nur ein Feld, auf dem er, was den Ausdruck persönlicher Gefühle angeht, immer wieder eine Ausnahme gemacht hat: in den schon erwähnten, zahllosen Briefen an die Freunde und Mitarbeiter der Karl-May-Gesellschaft, die immer knapp sind, präzise und treffend, in der unverwechselbaren akkuraten Handschrift, einer karolingischen Majuskel vergleichbar, und in denen dann gelegentlich doch ein gutes Stück Person durchbricht, direkt und gar nicht ironisch, aber geschützt im diskreten Raum des Gesprächs ›unter vier Augen‹.

   Lassen wir deshalb zur Person Roxin das letzte Wort einem seiner alten Freunde, der ihn eine lange Wegstrecke begleitet hat und ihn gut kennt und der mir auf meine Bitte hin, Roxin zu charakterisieren, unter anderem schreibt: »Er ist, ohne darüber viele Worte zu verlieren, ein echter Freund, aufrichtig, treu; ein edler Mensch von feiner Bildung ...«

   Claus Roxin wollte nun, nach 30 Jahren, ein wenig mehr Freiheit und Muße und fand es an der Zeit, daß die Jüngeren die Tagesaufgaben übernehmen. An der Ludwig-Maximilian-Universität ist er professor emeritus,


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›entpflichtet‹, aber er hält immer noch, zur Freude von Kollegen und Studenten, Vorlesungen, Seminare und Examina, wenn auch nun in dem Umfang, den er selbst bestimmt. Für die Karl-May-Gesellschaft wünschen wir uns, mutatis mutandis, das gleiche. Wir haben ihn deshalb in Hohenstein-Ernstthal zum Ehrenmitglied und zum Ehrenvorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft gewählt und ihm damit auch ganz offiziell das Recht eingeräumt, das er auf Grund seiner Persönlichkeit und seines Wirkens in den vergangenen 30 Jahren ohnehin gehabt hätte: mit Rat und Stimme auch weiterhin, aus seinem freien Ermessen, an den Geschicken der Karl-May-Gesellschaft beteiligt zu sein. Ich persönlich wünsche mir, und weiß mich darin mit vielen einig, daß er uns seinen Rat, seinen Zuspruch oder Widerspruch oft erteilen möge in den kommenden Jahren. Und ich wünsche mir und ihm, daß in seiner wissenschaftlichen Arbeit auch in Zukunft nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern auch Karl May Platz finden möge.

   Die Karl-May-Gesellschaft wird nie wieder einen solchen Vorsitzenden haben wie Claus Roxin, und sie hat ihm unendlich viel zu danken. Aber lassen wir auch bei dieser Gelegenheit jene Vorsicht walten, die Claus Roxin selbst, mit einem funkelnd-ironischen Unterton, üben würde. Die Gattung der Ruhmrede, das Panegyrikon, hat eine uralte rhetorische Tradition und verknüpft sich dabei allzu oft mit Abschieden aller Art. Dies aber ist kein Abschied, gerade nicht! Sondern ein Beginn: Die Karl-May-Gesellschaft muß in Zukunft auf einen großen Vorsitzenden verzichten, aber der Mitarbeiterkreis der Karl-May-Gesellschaft hat, wie wir inständig hoffen, gleichzeitig ein neues, aktives Mitglied gewonnen.


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Das Jahrbuch, das wir nun mit der Millenniums-Zahl als 30. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft vorlegen, beginnt rituell mit der Vorstellung und Kommentierung eines May-Autographen: Hermann Wohlgschaft präsentiert - und dabei wird in der Zusammensetzung der Leihgeber wie vielen Anmerkungen und Verweisen auch das Zusammenwirken der »Karl May Gelehrtengesellschaft« gut sichtbar - die bisher noch nicht publizierte Korrespondenz des Ehepaares May mit dem Münchner Rechtsanwalt Dr. Adolf Schriefer, dessen Kernstück ein ausführlich kommentierter Brief Mays vom Jahresbeginn 1909 ist.

   Das Jahrbuch dokumentiert dann, wie ebenfalls seit vielen Jahren üblich, den Ertrag des Kongresses in Hohenstein-Ernstthal, aus gutem Grunde beginnend mit dem Beitrag von Gert Ueding, der, ausgehend von den »besonders eng(en), ja innig(en)« Gefühlsbindungen der Leser an ihren Autor Karl May, Mays »Strategien der Affektwirkung«, also ganz eigentlich die rhetorischen Tiefenstrukturen in Mays Werk analysiert (wenn man einmal davon ausgeht, daß die antike Rhetorik nicht, wie vielfach mißverstanden, auf die Entwicklung von langweiligen ornatus-Katalogen aus war, sondern


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eine stark elaborierte Reflexion über sprachliche Effizienz und sprachliche Wirkungen darstellte). Ueding, Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen und seit vielen Jahren Mitglied der Karl-May-Gesellschaft, ist berufen wie kein anderer, sich zu diesem Thema zu äußern. Gleichzeitig ist Uedings Beitrag zu Karl May auch eine beabsichtigte und subtile Hommage an Claus Roxin und deshalb diesem gewidmet. Ueding hat Roxins wichtigste Beiträge zur Karl-May-Forschung 1997 unter dem Gesamttitel ›Karl May, das Strafrecht und die Literatur‹ als paradigmatische Essay-Texte in seiner Reihe ›Promenade‹ veröffentlicht und schon damals die hohe Kunst der Rede des Autors Roxin und ihren (ethischen) Kern (›pectus facit iurisconsultem‹) besonders hervorgehoben.

   Eine der Überraschungen des Kongresses in Hohenstein-Ernstthal war, zumindest für mich, daß auch naheliegende Themen im unmittelbaren biographischen und wirkungsgeschichtlichen Umkreis Karl Mays längst nicht ausgeschöpft sind: Hartmut Schmidt hat, mit viel Gewinn, die Reaktionen der Hohenstein-Ernstthaler Presse insbesondere auf die Ereignisse zwischen 1899 und 1912, also die Zeit der kleinen und großen Prozesse, herausgearbeitet. Die materialreiche Arbeit, deren mündlicher Vortrag den Zuhörern hohe Konzentration abverlangte, liegt damit im Druck vor und hält eine ganze Reihe von auch unerwarteten Befunden für die Lektüre bereit.

   Insgesamt stand - Zufall oder nicht? - in Hohenstein-Ernstthal in einer Reihe von Beiträgen Mays Spätwerk im engeren oder weiteren Sinn im Mittelpunkt des Interesses. Günther Scholdt stellt, vor dem Hintergrund eines großen zeitgeschichtlichen Wissens, die (aviatischen, moralischen etc.) ›Größenphantasien‹ des späten May in ihren Zeit-Kontext, in dem sie sich als weniger singulär erweisen, als man gemeinhin glaubt, aber sich doch auch differenziert abheben von den viel aggressiveren zeitgenössischen Varianten solcher Phantasien, etwa bei den italienischen Futuristen (oder, wie vielleicht in einem der nächsten Jahrbücher zu zeigen sein wird, von denen Friedrich Nietzsches). Martin Lowsky, vielbewährt in den Schluchten der Karl-May-Forschung, spürt in einer intensiven, erzählanalytischen Studie den Erzählbrüchen und antimythischen Reflexionen, den »kühnen wirren Abenteuer- und Collagebildern« des ›Silbernen Löwen‹ nach, in denen die »so lang gepflegten Abenteuerelemente um(ge)formt und umkonstruiert« werden und sich der ›Silberne Löwe‹ darin als »spannungsvolles Kunstwerk« erweist. Werner Rother - Jurist aus München, wie überhaupt die Phalanx der Ärzte und Juristen in Hohenstein-Ernstthal deutlich hervortrat - bewies schon in seinem Vortrag, daß man nicht von der Zunft der Literaturwissenschaft sein muß, um sich in den Verwinkelungen der Postmoderne-Diskussion nicht zu verlieren, und entdeckt, ausgehend von einer systematischen erarbeiteten Heuristik der ›Postmodernität‹, in Mays ›Ardistan und Dschinnistan‹ Grundmuster der Postmoderne. Mein eigener Beitrag versucht, die auf Mays Werk mitunter beiläufig angewandte Kategorie ›my-


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thischen Erzählens‹ zu konkretisieren und zu operationalisieren, indem er nach typologischen Merkmalen sucht, die den ›expansiven Phantasien‹, wie sie sich in Mays Werk vor allem seit Anfang der 90er Jahre entwickeln, mit denen der großen expansiven Traumwelten der Literatur- und Mythengeschichte gemeinsam sind.

   Einer der aufregendsten Momente des Kongresses in Hohenstein-Ernstthal, deutlich erkennbar an der massiven emotionalen Reaktion der Zuhörer und der sich entwickelnden, überaus lebhaften Debatte, war der Vortrag des Berliner Arztes und Medizinhistorikers Johannes Zeilinger, der sozusagen schulmäßig die augenärztlichen Diagnose-Schemata durchging, die im Falle (früh-)kindlicher Blindheit für den ophthalmologischen Fachmann in Betracht zu ziehen sind, und zu dem Ergebnis kam, in der autobiographischen ›Geschichte‹ von Mays Blindheit in den ersten 4 Lebensjahren müsse ein gutes Stück persönlicher Legenden- und Mythenbildung am Werk gewesen sein. Die Wogen der Erregung in Hohenstein-Ernstthal schlugen hoch, was darauf schließen läßt, daß - noch immer - Pathologie-Diskussionen ans Innerste der Autor-Leser-Beziehung rühren, auch wenn zweifellos gelassenere Reaktionen denkbar wären: Der große Homer war, der antiken Legende zufolge, blind, und weit über 2000 Jahre lang ließ sich diese Legende ohne Schwierigkeiten symbolisch verstehen - Blindheit als bildhaftes Zeichen für die visionäre Kraft, den Bilder- und Phantasiereichtum des Sängers, dessen Reichtum ganz nach Innen ... Bei Karl May liegen die Dinge offenbar anders, und verbinden sich mit der Blindheitslegende tiefe und unverzichtbare Identifikationen. Jedenfalls schien dies Grund genug, Zeilingers Vortrag auch im Jahrbuch zu dokumentieren, obwohl das gleiche Thema auch in dem gerade erschienenen Materialienband Zeilingers ›Autor in fabula: Karl Mays Psychopathologie und die Bedeutung der Medizin in seinem Orientzyklus‹ behandelt wird. Der Materialienband - auch dies ein Grund, den Vortrag separat im Jahrbuch zu dokumentieren - setzt jedoch auch die Schwerpunkte anders: in der Entfaltung des literarischen Motivs vom ›heilenden Helden‹ (Karl Mays Informationshintergrund an medizinischem und pharmakologischem Wissen) und vor allem - und damit scheint mir die Karl-May-Gesellschaft Neuland zu betreten in der Welt der Literaturwissenschaft und Literaturpsychologie - in der Anwendung operationalisierter Diagnose-Schemata auf die Psychologie und Pathologie des Autors Karl May. Diagnose-Schemata dieser Art, an deren internationaler Verbindlichkeit seit Jahren gearbeitet wird, dominieren längst in der Praxis von Klinischer Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, auch wenn dies innerhalb der sog. ›Geisteswissenschaften‹ bisher kaum zur Kenntnis genommen wird. Sie unterscheiden sich von den früheren (psychoanalytischen u. a.) Diagnosemodellen vor allem durch den Verzicht auf erklärende Bestandteile und die Konzentration auf die Beschreibung: Was mit den Klassifikationsmodellen des ICD (International Classification of Deseases), des DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual


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   psychischer Störungen der American Psychiatric Association) oder des AMP-Systems (Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde) erreicht werden soll, ist eine möglichst intersubjektive und theoriefreie (und oft auch Testverfahren zugängliche) Diagnose, operationalisiert über die Verortung von Symptomen(bündeln) in hierarchischen Symptomensystemen.

   Der erste, der vor einiger Zeit solche diagnostischen Klassifikationsmodelle in die Diskussionen der Karl-May-Gesellschaft einbrachte, war der australische Arzt William E. Thomas, dessen Beitrag deshalb in diesem Jahrbuch nicht von ungefähr neben dem Hohenstein-Ernstthaler Vortrag Zeilingers steht. Mit Thomas' Arbeit verband sich ursprünglich die Absicht, derlei ungewohnte Gedankengänge in Form einer Diskussion zwischen Vertretern unterschiedlicher Ansichten im Jahrbuch zugänglicher zu machen. Dies hat sich aus mehreren Gründen nicht realisieren lassen. Ich möchte deshalb versuchen, im nächsten Jahrbuch - wenn es denn der nächste Herausgeber akzeptiert - wenigstens die Eckpunkte einer solchen Diskussion in einem kleinen Beitrag darzustellen. Fürs erste muß der Hinweis genügen, daß sich in den Beschreibungsrepertoires von ICD und DSM natürlich auch spezifische Traditionen der amerikanischen Psychiatrie niedergeschlagen haben, die so ganz ohne Kommentar im europäischen (oder deutschen) Verstehenshorizont nicht verständlich sind - was übrigens in der Vorbereitung des Jahrbuchs zu erheblichen Turbulenzen geführt hat: Das Feld der (in der angelsächsischen, und übrigens auch der französischen Welt so genannten) ›dissoziativen Identitätsstörungen‹ ist in Deutschland traditionell von der Psychoanalyse (und dann mit Begriffsfeldern wie ›Verdrängung‹, ›Abwehrmechanismen‹, ›Ausagieren‹ usw.) besetzt. Dem Literaturwissenschaftler muß in diesem Zusammenhang übrigens, bei allem gebührenden Respekt vor der ärztlichen Kunst und Wissenschaft, die nur ein ganz klein wenig boshafte Bemerkung erlaubt sein, daß auch die scheinbar so widerspruchsfrei und intersubjektiv eindeutig konstruierten, modernen Diagnose-Schemata ein uraltes literarisches Motiv nicht außer Kraft setzen: das Komödien-Motiv nämlich von den Ärzten, die sich am Krankenbett über eine Diagnose uneinig sind. Von Aristophanes und Plautus über Rabelais und Montaigne und vor allem Molière zieht sich dies Motiv bis heute durch die literarischen Phantasien - ganz ebenso, wie Thomas und Zeilinger in der Anwendung der gleichen Klassifikationssysteme zu unterschiedlichen Diagnosen gelangen: zur ›dissoziativen Identitätsstörung‹ der eine, und zur ›manisch-depressiven Persönlichkeitsstörung‹ der andere.

   Die Beiträge von Rudi Schweikert und Helmut Lieblang sind auf dem Gebiet der Quellenforschung angesiedelt, seit langem eine der Stärken der Karl-May-Forschung: Schweikert macht am Beispiel des ›Babylon‹-Motivs anschaulich, wie Karl May seine Quellen nicht einfach ausbeutet, sondern vielfältig (und artistisch) montiert und so »vorgefertigte, bereits vertextete Informationen für eigene Erzählzwecke (anverwandelt)«; Lieblang ist in


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   Mays mythischer Geographie in die Länder Dschinnistan und Ardistan unterwegs. Die Beiträge Wilhelm Brauneders und Ma/lgorzata Klentak-Zab/lockas bezeugen, sowohl in der Herkunft ihrer Autoren wie in ihrer Thematik, die Internationalität der Karl-May-Forschung: Brauneder, indem er darauf hinweist, daß wesentliche Stationen von Mays Biographie in Österreich situiert sind und seine Einschätzung des Nachbarlandes geprägt haben; und Frau Klentak-Zab/locka, indem sie von der bei uns weitgehend unbekannten Faszination Mays auf polnische Leser berichtet und darüber hinaus die literaturpsychologisch plausible Vermutung äußert, ›expansive Phantasien‹ wie die Karl Mays hätten ihre notwendige, jugendliche Prägephase - wer nicht im jugendlichen Alter in diese Welten eingetreten sei, finde sich später nicht mehr in ihnen zurecht. Gustav Franks Studie über den ›Verlornen Sohn‹ schließlich entwickelt die Dialektik von Realismus und Trivial-Roman in der literaturgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, in der sich auch Mays Kolportage-Romane verorten.

   Bliebe schließlich zu erwähnen, daß die Hohenstein-Ernstthaler Vorträge von Gudrun Keindorf und Meredith McClain für dieses Jahrbuch noch nicht fertiggestellt werden konnten und in einem der nächsten Jahrbücher erscheinen werden; daß unter den traditionellen Literaturberichten zum ersten Mal auch ein ›Internet-Bericht‹ auftritt (die Präsenz Karl Mays im Internet gehört zu den erstaunlichsten Dingen auf dem Gebiet der ›Neuen Medien‹). Und daß zuletzt - last, but not least - dieses Jahrbuch von einem Jahresbericht von Erich Heinemann beschlossen wird, dem letzten nun. Wer dies bedauert, mag vielleicht entschädigt werden durch Heinemanns Neufassung und Aktualisierung seiner Chronik der Karl-May-Gesellschaft, die - nach unsern Planungen - gleichzeitig mit diesem Jahrbuch zur Auslieferung kommt.

   Was sich auch für dieses Jahrbuch wieder nicht erreichen ließ, war eine deutliche Reduzierung des Umfangs, wie ihn sich manche Mitglieder gelegentlich wünschen. Aber ob es nun an der ›Sache‹ Karl May liegt oder an der Kreativität seiner kritischen Leser: so lange die Einfälle weiter sprudeln und sich umsetzen in gediegene Beiträge, wird sich daran auch nichts ändern. Ich wünsche dem dreißigsten Jahrbuch viele hartnäckige, genaue und diskussionsfreudige Leser!




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