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Günter Scholdt


›Empor ins Reich der Edelmenschen‹
Eine Menschheitsidee im Kontext der Zeit*





Kennst du den unergründlich tiefen See,
In dessen Fluth ich meine Ruder schlage?
Er heißt seit Anbeginn das Menschheits w e h,
Und ich, mein Freund, ich bin die Menschheits f r a g e.


Hochverehrte Damen und Herren. Liebe, liebe Leserinnen und Leser.

   Und vor allen Dingen sehr geehrte Mitglieder des Akad. Verbandes für Kunst und Musik.

   Es wurde bei mir angefragt, ob ich geneigt sei, im Bereich des genannten Verbandes eine Vorlesung oder Vortrag über mich und meine Werke zu halten. Auf den Vortrag ging ich ein. Die Vorlesung lehnte ich ab. Warum? Oeffentlich vorlesen kann man doch nur wissenschaftlich oder künstlerisch Hervorragendes. Ich aber bin trotz meiner 70 Jahre noch kein Gewordener sondern noch immer ein erst Werdender, und so kann das, was Ihnen mein Vortrag bringt, nicht etwa in gebieterischer, sondern nur in bittender Weise bei Ihnen anklopfen, um freundlich eingelassen zu werden.1


Mit diesen oder ähnlichen Worten begann am 22. März 1912 in Wien eine von Mays berühmtesten Reden mit dem Titel ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹. Ihre Bedeutung liegt dabei weniger in einer möglichen rhetorischen Brillanz - die können wir aufgrund ihrer fragmentarischen Überlieferung ohnehin nur ansatzweise beurteilen, weniger auch im Neuigkeitswert ihrer Aussagen. Hier finden sich weitgehend Überzeugungen zusammengefaßt, die sich bereits anderweitig im Alterswerk spiegeln, von den beiden letzten Bänden des ›Silberlöwen‹ über den ›Mir von Dschinnistan‹ oder ›Babel und Bibel‹ bis hin zu ›Winnetou IV‹. Die Bedeutung der Rede ergibt sich vielmehr vor allem aus biographischer Warte als Mays letztem öffentlichen Auftreten acht Tage vor seinem Tod. Sie gilt als eine Art Schwanengesang, der seine letzte Kraft verzehrte, ihn in Erfüllung seiner Mission aber noch einmal glücklich werden ließ. Denn den großen Beifall der zwei- bis dreitausend Zuschauer, die den Wiener Sophiensaal bis auf den letzten Platz gefüllt hatten, wertete er wohl zu Recht als demonstrative Zustimmung und Ehrenrettung, als Wiederherstellung seines literarischen und menschlichen Rufs, der für die Öffentlichkeit durch frühere Enthüllun-




* Vortrag, gehalten am 23. 9. 1999 auf der 15. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Hohenstein-Ernstthal.


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gen, Verleumdungen und verheerende Gerichtsurteile arg ramponiert worden war.

   Was May als Gast des Wiener Akademischen Verbands für Literatur und Musik in mehr als zweistündiger freier Rede vortrug bzw. zitierte, läßt sich aus fragmentarischen Entwürfen im Kern erschließen. Zum wichtigsten Zeugnis wird dabei eine im Nachlaß enthaltene Disposition in 15 Punkten sowie ein knappes Resümee für die Zeitungen. Ekkehard Bartsch hat alle verfügbaren Texte im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1970 sorgsam ediert, zusammen mit zahlreichen Presseberichten. Nimmt man noch einige Bände Karl Mays wie z. B. ›Himmelsgedanken‹, ›Babel und Bibel‹, ›Und Friede auf Erden‹ oder ›Mein Leben und Streben‹ hinzu, aus denen May im Laufe des Vortrags zitierte, so lassen sich die Grundgedanken seiner Ausführungen rekonstruieren.

   In erster Linie plädierte der Autor für eine Welt des Friedens, eine Abkehr von Ichsucht und Gewalt und eine Anstrengung jedes einzelnen im Sinne menschlich-christlicher Vervollkommnung. Der Autor bekannte sich dabei ausdrücklich zu einer Wirkungs- und Erziehungsästhetik. Sie sollte zur Besserung und Veredlung des Menschen führen, zu seiner sittlichen Aufwärtsentwicklung. Hierzu stünden prinzipiell drei Wege bereit: die (Erkenntnis gewährende) Wissenschaft, die (Erlösung bringende) Religion und die (zur Offenbarung führende) Kunst. May entschied sich für letztere aus Gründen eigener Kompetenz und weil er sich besonders zu ihr hingezogen fühlte. Denn Kunst dringt in das Innere der irdischen Materie ein, um das Innere herauszuholen und das Äußere damit zu verklären. Sie söhnt Wissenschaft und Religion mit einander aus. Sie weißt nach, daß alle Wege endlich doch vereint nach demselben Ziele streben.2 Man beachte Mays harmonisierende Akzentverlagerung gegenüber Goethes Ausspruch:


Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion.3


Solche ethischen wie poetologischen Ziele verknüpft der Autor mit seiner eigenen Biographie, indem er sich selbst als exemplarische Existenz begreift. Die Problematik seines wechselvollen Lebens wird in dieser Sicht zur Menschheitsfrage schlechthin, seine persönliche Entwicklung zur Wegweisung einer sozialen wie religiösen Utopie. Es überrascht nicht, daß sich im Zug dieser Stilisierung rechtfertigende bzw. apologetische Tendenzen einschleichen.4 Die Münchmeyer-Prozesse und was ihnen folgte grundieren schließlich immer noch die Rezeptionsatmosphäre. Es gebe, heißt es in seinen Notizen:


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... einen ächten und einen gefälschten May, einen wirklichen und einen erfundenen, einen ernsten und einen carikirten, den man in hunderten von Zeitungen als Luftikus und Hans Wurst gezeichnet findet. Der ächte wurde in Hohenstein-Ernstthal, einem kleinen, erzgebirgischen Städtchen geboren, die Carikatur aber in Dresden, in einem Kolportageroman- und Schundverlagsgeschäfte, in welchem man aus prozessualen Gründen den ehrlichen Karl May zur schwindlerischen Fratze gestaltete und hinaus in die Zeitungen schickte. Da aber der Akadem. Verband für Lit. und Musik nicht dieses Zerrbild berufen hat, einen Vortrag hier zu halten, sondern den wirklichen, unverfälschten Karl May hören will, so sei und bleibe diese Angelegenheit dem Strafgericht, wohin sie überhaupt und allein gehört, überlassen.5


Was nun den echten May betreffe respektive den inneren und wesentlichen, so appelliert er an seine Zuhörer, ihr Herz sprechen zu lassen. Dann, so versichert er, werden wir uns verstehen.6

   Derartige persönliche Ansprachen, die wir ja auch aus Mays Romanen kennen, charakterisieren sein intensives Werben um Vertrauen und Gehör. Als weiteres rhetorisches Mittel haben wir ja zu Beginn bereits den für May typischen Topos einer mehr oder weniger affektierten Bescheidenheit kennengelernt. Ich nenne - um auch diesen Aspekt zu skizzieren - aus einer Fülle verwendeter captationes benevolentiae die Bemühungen um eine geneigte Hörerschaft per Schmeichelei. Er sei gerne gekommen, da er Oesterreich resp. Wien liebe,7 erklärt er dem Auditorium. Er lobt dessen schönes, braves Oesterreich samt der prächtige(n) Kaiserstadt, die mein ganzes Herz gewonnen hat und für immer festhalten wird.8 Und alles gipfelt im Ausspruc  O e s t e r r e i c h  i s t  u n s  [ethisch]  v o r a n.9 Dem entspricht seine Reverenz an die anwesende Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, aus deren pazifistischem Roman ›Die Waffen nieder‹ er schließlich Begriff und Vorstellung des ›Edelmenschen‹ übernommen hatte.10

   Die Besonderheit dieser Rede wird, um es nochmals zu verdeutlichen, von der charakteristischen Neigung des Autors bestimmt, sein humanitäres Anliegen durch die eigene Person zu beglaubigen. Damit gerät Mays Lebenslegende erneut ins Visier. Der Autor präsentiert sein gesamtes Werk, von den Humoresken und Dorfgeschichten über die Reiseerzählungen bis zu den Altersromanen, als eine einzige volkspädagogische Anstrengung zur Veredelung des Menschengeschlechts. Dieser Pflicht habe er sich gestellt als ein


trotz allen Erdenleides ... unendlich glücklicher Mann. Habe mich aus Abgründen emporgearbeitet, werde von Hunderten, von Tausenden mit den Füßen immer wieder zurückgestoßen und liebe sie doch alle, alle. Ich habe meinen Beruf, meinen Erfolg, mein Heim, meinen unerschütterlichen Glauben an Gott und die Menschheit. Dieses große, große Glück möchte ich so gern auch anderen Menschen bereiten, allen, allen, nicht nur meinen Freunden, sondern auch vor allen Dingen meinen Feinden.11


Die May-Forscher wissen, daß diese Zustandsbeschreibung eher seinem Wunschdenken entsprach. Sie ahnen, mit welchem Opfer manche Lebens-


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lügen erkauft wurden. Sie haben die Rachephantasien entschlüsselt, die z. B. den späten ›Silberlöwen‹ oder ›Winnetou IV‹ durchziehen. Und sie kennen beispielsweise Äußerungen in der Autobiographie, die in harschem Widerspruch zur Fiktion seines Altersglücks stehen.


Seit einem Jahre, heißt es 1910 in ›Mein Leben und Streben‹, ist mir der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen. Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem im Einzelnen.12


Von diesem Bedürfnis nach höherer Sinngebung seines Unglücks ist diese offizielle Vita getragen. Trost spendet die Hoffnung, einen Stellvertreterkampf für die Menschheit zu führen, d. h. exemplarisch zu leiden. Insofern soll die mangelnde Korrektheit seiner Lebensstilisierung auch in der Wiener Rede gewiß nicht überbetont werden. Ist sie doch zudem hier mit der Einsicht in das Zentrum seiner Schaffenskräfte gepaart. Indem May sich ausdrücklich als Hakawati definiert, als Märchenerzähler, legt er die wesentlichen Quellen seiner literarischen Produktivität frei. Und es gehörte gewiß zu den Höhepunkten seiner Rede, als er den Extrakt seiner Botschaft in seinem in Wien vorgelesenen ›Märchen von Sitara‹ vortrug, das wie folgt beginnt:


Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. ... Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. ... das Festland ... bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie ... Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich


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an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches, unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, ... die Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen.13


Solche allegorische Geographie mit einer moralisch-ideellen Rangfolge von Hoch- und Tiefland ist nun um die Jahrhundertwende ausgesprochen verbreitet. Man denke an Zarathustras Abstieg vom Berge, an zahlreiche Fidus-Darstellungen, an Ganghofers alpine Höhenmenschen14 oder an Titelgebungen wie die der katholischen Reformzeitschrift ›Hochland‹. Mays Spezifikum liegt vor allem in der märchenhaften wie christlich-legendarischen Einbettung. Hören wir weiter:


Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: »D u  s o l l s t  d e r  T e u f e l  d e i n e s  N ä c h s t e n  s e i n,  d a m i t  d u  d i r  s e l b s t  z u m  E n g e l  w e r d e s t!« Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: »D u  s o l l s t  d e r  E n g e l  d e i n e s  N ä c h s t e n  s e i n,  d a m i t  d u  n i c h t  d i r  s e l b s t  z u m  T e u f e l  w e r d e s t!«

   Und so lange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach Befreiung aus dem Elende dieser Hölle!15


Ich resümiere bzw. paraphrasiere die weitere Handlung: Zwar fühlen sich Millionen und Abermillionen16 der Bewohner Ardistans aus Charakterschwäche oder purer Gewohnheit in den dortigen Sümpfen wohl. Doch die ethisch Fortgeschrittenen verzehren sich nach dem verheißenen Hochland der Nächstenliebe und der Humanität.17 Dabei ist es streng verboten, Ardistan zu verlassen. Wer zu fliehen versucht, wird von Grenzwächtern ergriffen und in die »Geisterschmiede«18 im Wald von Kulub geschleppt, um dort unter schrecklichen Martern zu Abbitte und Rückkehr gezwungen zu werden. Kulub liegt in Märdistan, jenem steil aufsteigenden Zwischenland, dessen Urwald und Felslabyrinthe mannigfaltige Gefahren bergen. In Mays Allegorie bedeutet dies, daß die eigentlichen Feinde auf dem Weg nach Dschinnistan im eigenen Herzen lauern. Und das Zentrum der Qual, die Geisterschmiede von Kulub, wird zur unerbittlichen Gewissensprüfung, die nur die Mutigsten bestehen. Nur wer die stärkste Pein erträgt und den Schmiede- bzw. Foltergesellen »aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig dankbar froh entgegenlächelt«, ist gefeit und gerettet.19 Eine solche See-


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le wird nicht vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Sie gehört nicht mehr nach Ardistan, sondern steigt unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan20 empor.

   So weit (aus ›Mein Leben und Streben‹) die Fassung des Sitara-Märchens von 1910, das in der Wiener Rede jedoch offenbar eine bedeutsame Ausgestaltung erfuhr. Zunächst einmal sind die christlich-biblischen Bezüge, die sich zuvor auf die Existenz von Teufeln oder (Schutz-)Engeln beschränkten, in der Wiener Rede viel ausgeprägter. In Mays Mitteilung für die Presse heißt es z. B.:


c) Dschinnistan ist das einstige Paradies, welches Adam verlor, als er gegen Gottes Willen von den schädlichen Früchten Ardistans kostete. Seine Strafe war der Tod; aber die göttliche Barmherzigkeit schenkte ihm dafür die Erlaubnis der Nachkommenschaft, in der er weiterleben durfte, um sich durch fortgesetzte Läuterung das Paradies wieder zu erwerben.

   d) »Adam« heißt »Mensch«. Gemeint ist der von Gott erschaffene Mensch, also der Edelmensch. Wenn Gott im Paradiese ruft »Adam, wo bist du«, so hat das also zu heißen »Edelmensch, wo bist du?« Mit diesem Wort schuf Gott die durch alle Zeiten und alle Länder auf uns gekommene, große »Menschheitsfrage«, die wir zu beantworten haben, indem wir sie lösen. Sie hat im Herzen der ganzen Menschheit und im Herzen jedes Einzelnen zu erklingen. ...

   f) So, wie alles Herzeleid durch einen einzigen Menschen auf die Erde kam, so wird es auch durch einen einzigen überwunden werden. Nämlich, wenn die ganze Menschheit in brüderlicher Harmonie einem einzigen, großen Edelmenschen gleicht, dann, aber auch erst dann ist die Schöpfung des Menschen, wie Gott ihn gewollt hat, vollendet.21


Nicht weniger Beachtung verdient eine weitere Neuerung. So heißt es nun in der Wiener Version ebenfalls im Resümee, wer ohne qualvollen Umweg über die Geisterschmiede nach Dschinnistan gelangen wolle, müsse fliegen lernen. Die Zeit der auch geistigen Aeroplane ist da. Einige Wenige fliegen schon. Andere werden es lernen.22 Was da zunächst nur wie eine geläufige Metaphorisierung anmutet, zeigt eine markante Akzentverlagerung im Vergleich mit der früheren Fassung. Denn dort hatte es geheißen:


Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.23


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Nach dieser Vorstellung unterliegt der Mensch also in der Regel, auch wo er nach Höherem strebt, einem fatalen Determinismus, der fast schon an Johann Calvins Prädestinationslehre erinnert. Daß es Ausnahmen gibt, haben wir gehört. Doch der Autor bezeichnet sie ausdrücklich als äußerst selten. Demgegenüber stellen Mays aviatische Verheißungen seiner Wiener Rede bereits viel hoffnungsfrohere Botschaften dar als die für die Masse eher pessimistischen Aussichten, die der Märchentext der Autobiographie präsentiert hatte. Denn nach dieser Version braucht es nur noch den ernsthaften Willen zur ethischen Weiterentwicklung oder auch nur das Vertrauen in eine geistige Wegweisung, z. B. durch gute Literatur. In diesem Sinne versicherte May denn auch seiner Zuhörerschaft, daß sie prinzipiell fliegen könne.


... wir können nicht nur, sondern wir sollen, ja, wir müssen fliegen, wenn wir die Aufgaben dieses Jahrhunderts erfüllen, die Räthsel der Zukunft lösen wollen. Der Versuch des Menschen, zu fliegen, ist uralt. Aber ich meine hier weniger den körperlichen als den seelischen Flug, obwohl beide enger zusammenhängen, als man gewöhnlich meint. Das Volk, welches nach einem Corps von leiblichen Fliegern strebt, muß schon vorher kühne und erprobte geistige Flieger haben. Als in Frankreich die Mongolfièren und Charlièren zu steigen begannen, hatte sich vorher schon eine ganze Reihe berühmter geistiger Aeronauten in die freien Lüfte gewagt. Dann ... kommt plötzlich ein Graf Zeppelin, ein Major Parsival. Sie bauen Luftschiffe. Das Volk jubelt ihnen zu. Hierauf folgen die verwegenen Ein- und Zweidecker, die Aviatiker. Ihnen jubelt man noch mehr zu. Aber jubelt man auch den geistigen Aviatikern zu, die sich mit wenigstens ebenso großer Kühnheit hoch über die alt hergebrachten Mauern, Zäune und Schranken, der Wissenschaft und Kunst erhoben? Oder spricht man da vielleicht von Lüge, von Schwindel, von Phantasterei, von literarischer Hochstapelei? Ich lasse diese Frage fallen und bitte Sie, sich getrost meinem Aeroplane anzuvertrauen und mit mir den alten, staubigen Boden, auf dem wir stehen zu verlassen.24


Wir erkennen in dieser (zudem persönlich bezogenen) Verknüpfung von Menschheitsvision mit aviatischen Bildern spezifische Motivkomplexe des alten May. Bereits der Schluß von ›Winnetou IV‹ war davon bestimmt. In diesem 1910 erschienenen letzten Roman des Autors bedienen sich der Junge Adler und Aschta, die Jüngere, Mays Hoffnungsträger einer neuen indianischen Generation, eines selbstgefertigten Flugapparates. Sie fliegen ihn auf dem Höhepunkt des Finales dreimal um den Berg der Medizinen25 und bringen den überwundenen Häuptlingen ihre Medizinen zurück. Damit erfüllen sie die mythische Prophetie eines neuen glücklichen Zeitalters. Gleichzeitig demonstrieren sie durch diesen Versöhnungsakt einer friedlich verstandenen Lufthoheit ihren geistig-moralischen Aufbruch.

   Solche Verbindung von anthropologischer Utopie mit literarischer Begeisterung für die neu aufkommende Fliegerei war nun jedoch alles andere als autorenspezifisch. Vielmehr kennzeichnet sie die Intellektuellen der


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Vorkriegsepoche fast generell. Schließlich ist leicht zu verstehen, daß unter den Zeitgenossen die Erfüllung eines uralten Traums der Menschheit zugleich als deren Fortschritt schlechthin gefeiert wurde. Unter den Schriftstellern der ganzen Welt finden sich Belege zuhauf für eine derartige Faszination, von Stefan Zweig und Theodor Däubler bis Hugo von Hofmannsthal, von Guillaume Apollinaire und Stéphane Mallarmé bis Marcel Proust oder Jean Cocteau, von Fjodor Sologub bis Leonid Andrejew, von Walt Whitman bis Emile Verhaeren.26 Im unmittelbaren Vorfeld von Mays Rede entstanden Texte wie Walter Hasenclevers ›Erster Flug‹ (1911) oder Karl Vollmoellers ›Lob der Zeit‹, das stellvertretend für entsprechende Menschheitseuphorien zitiert werden soll.


Dich sing ich, Zeit der Zeiten: meine Zeit!
Ein heller Herbst verschollener Sagenblüten
Wandelst du Gold und Silber blasser Mythen
   In Stahl der Wirklichkeit.

Wie stöhnte noch das sinkende Jahrhundert
Im selbstgewollten Fron und trüben Krampf
Bei Ofen, Kran und Hammer, Qualm und Dampf -
   Nun schauen wir verwundert.

Wie die Tyrannen, die wir selbst gesetzt,
Die dräuenden Geschlechter der Maschinen,
Uns27 selbst befrein und, wieder Sklaven jetzt,
   Zum Traum der Träume dienen.
(...)
Und alles singt die grösste Menschentat:
Vom Urweltmorgen, wo am Gletscherfjorde
Der stillre Werkmann einer blonden Horde,
   Nicht wissend, was er tat.

Den ersten Stamm gehöhlt mit Beil und Feuer,
Das erste Segel kühn im Wind gestellt,
(Der ganze Vogel tönt wie eine Leier
   Vom neuen Rausch der Welt)
(...)
Der Sturmwind selber schmettert die Fanfare,
Hell wie ein Jagdruf, dumpf wie Orgelbässe,
Klingend wie kriegerisches Erz: VOLARE
NECESSE EST - VIVERE NON NECESSE!
(...)
Entfliegt! Mit jeder der pfadlosen Bahnen,
Die eure Schwingen jetzt im Blau durchmassen,
Bereitet ihr der Zukunft Völkerstrassen.
Entfliegt!
(...)


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Und Hand zur Steuerung! Werft an! VOLARE
NECESSE EST! - Die Schraube braust in grossen
Ringen von Licht. - Ein Guss noch am Altare
Der Ungenannten und der Namenlosen!

Dann segelt, ein Geschwader lichter Aare,
Kreisend im Blau um Mast und Dom und Esse
An Elbe, Rhein und Nordmeer: NAVIGARE
NECESSE EST - VIVERE NON NECESSE!28


Die Autoren in Deutschland standen vor allem im Bann des Zeppelin-Erlebnisses, der eine regelrechte Volksbegeisterung auslöste. Hermann Hesse und Norbert Jacques z. B. nahmen entzückt an Rundflügen teil. In zahlreichen Presseartikeln hat besonders Jacques seinem Enthusiasmus für diese neue Technik Ausdruck gegeben. Sein 1910 erschienener Roman ›Der Hafen‹ schließt mit einer Zeppelin-Huldigung, die zugleich ein Bekenntnis des von Luxemburg an den Bodensee verzogenen Autors für Deutschland darstellt. Auch in seinem späteren Werk findet sich vielfach Aviatisches. So endet die Titelfigur seines Erfolgsromans ›Dr. Mabuse, der Spieler‹ bezeichnenderweise hoch über den Wolken, wohin sie ihre verbrecherische Hybris verschlagen hat. Mabuses ›Übermenschentum‹ war zerstörerisch und negativ besetzt. Eine sozial konformere Variante dieses Herrentyps stellt zwei Jahre danach Jacques' Roman ›Ingenieur Mars‹ dar. Hierin betätigt sich der Übermensch noch stärker im Sinne der neusachlichen 20er Jahre als genialer Erfinder und sportlicher Rekordflieger. Was hier von Jacques im Ethos schon wieder gemildert wurde, hatte sich in der Flugdichtung insbesondere italienischer Autoren bereits vor dem 1. Weltkrieg zu einer schrankenlosen Herrenmenschgesinnung gesteigert. Im Jahre 1910 erschien (zugleich in Italien, Deutschland und Frankreich) Gabriele d'Annunzios ›Forse che si forse che no‹ (›Vielleicht, vielleicht auch nicht‹). Der Roman kann in gewissem Sinne als Prototyp einer exaltierten Spezies von Flugdichtung gelten, bei der Nietzsches Übermensch ins Gewand eines militanten antifemininen Sportheroen schlüpft. D'Annunzios Romanheld Tarsis überwindet darin die Todesfurcht, indem er mit der Maschine verschmilzt und sich im Geschwindigkeitsrausch aus »weiblicher Schwer-Kraft« von »Mutter-Erde«29 befreit. Fliegen wird so zur »neoaristokratische(n) Form des Sterbens, wird erlebt als mechanisierte Todesekstase oder als subjektiv potenzierter Ausdruck ›unnachahmlichen Lebens‹«.30 Gefeiert wird damit das ›vivere pericolosamente‹ als Reflex des von Nietzsche bereits in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ geforderten »gefährlichen Lebens«.31 Bedeutsam ist auch, daß die einsame übermenschliche Leistung des (Rekord-)Fliegers in bewußtem aristokratischen Gegensatz zum Demos, der gestaltlosen Masse der ihn gedankenlos bejubelnden Zuschauer, steht. »Nur dem Übermenschen«, resümiert der Literarhistoriker Felix Ingold, »steht der ›Himmel‹ offen, nur der Übermensch ist ›moralisch‹ zum Höhenflug berechtigt«.32


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Noch exzessiver lebt der Futurismus - allen voran sein literarischer Guru Filippo Tommaso Marinetti - den Technik- und Geschwindigkeitsrausch aus, der vor allem von Flugapparaten ermöglicht wird. Hier feiert sich ein Kult der Moderne um jeden Preis als verzückte Auslieferung an die Maschine, als ästhetizistisch-aristokratische Unverantwortlichkeit gegenüber dem Großteil der Bevölkerung. In zahlreichen Deklarationen seit dem Jahre 1909 werden der Temporausch und die Ablehnung alles Gestrigen zu einer nicht selten blutigen Hysterie gesteigert, die sich nur anfangs allein auf die Literatur beschränkte. »Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen«, heißt es im ersten ›Manifest des Futurismus‹, »die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit«33:


Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. (...) Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht. (...) besingen werden wir (...) den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge. (...) wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien (...) wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen! Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! (...) Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder. (...) Die starke und gesunde Ungerechtigkeit wird hell aus ihren Augen strahlen. Denn Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein.34


Der ersten öffentlichen Erklärung vom 11. 2. 1909 folgten zahlreiche weitere Provokationen. Sie alle lassen als Zentralimpuls auch aviatische Inspirationen erkennen, so z. B. das ›Technische Manifest der futuristischen Literatur‹ vom 11. Mai 1912. Es beginnt mit den Worten:


Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers, da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen! (...) Das hat mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über die mächtigen Schlote von Mailand flog.35


Im einzelnen empfahl Marinettis Propeller offenbar die Zerstörung der konventionellen Syntax, des »Ichs« in der Literatur, der »ganzen Psychologie«; man führe das Häßliche und die brutalen Töne in die Literatur ein und töte »die Feierlichkeit, wo immer wir sie finden«.36 Das Ganze schließt dann mit einem parareligiösen Crescendo des Maschinenkults:


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Futuristische Dichter! Ich habe euch gelehrt, Bibliotheken und Museen zu hassen, um euch darauf vorzubereiten, DIE INTELLIGENZ ZU HASSEN, und ich habe in euch die göttliche Intuition wieder erweckt, diese charakteristische Gabe der romanischen Völker. Mit Hilfe der Intuition werden wir die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt.

   Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.37


Nachdem Marinetti im Rahmen kultureller Anregungen seine Provokationen ausgeschöpft hatte, verblieb für seine künftigen Aktivitäten als Steigerung nurmehr eine Intensivierung der kriegerischen Aggressivität seines Technikkults. Schon das Manifest ›Tod dem Mondschein!‹, mehr noch der Zukunftsroman ›Mafarka der Futurist‹ (beide 1909) enthalten die für den Autor begeisternde Vision eines modernen Luftkampfs. Sein Versroman ›Der Monoplan des Papstes‹ von 1912 steigert dies noch ins Monströs-Groteske. Dabei konnte er in dieser Zeit bereits auf eigene Erlebnisse als Kriegsberichterstatter in Libyen zurückgreifen, wo seit November 1911 erstmals Flugzeuge im Kriegseinsatz verwendet wurden. In seinen emotional aufgeheizten Reportagen oder Erzähltexten wie ›La Bataille de Tripolis‹ feierte er Kriegsdichtung als eine Kunstform l'art pour l'art.38

   Im Kontext solcher Zeitströmungen, die ich bewußt mit einiger Ausführlichkeit zu Wort kommen ließ, wird Karl Mays geistiger Standort deutlicher: sein Technik-Optimismus einerseits, aber auch seine Weigerung, den Kanon abendländischer Werte zu verlassen. Gleichwohl haben wir Anlaß, auf das ausgesprochen Epochentypische seiner Utopiemuster zu verweisen, vom Flugenthusiasmus, über die Hochlandsymbolik, die Führungs- und Elitevorstellungen bis zur Erlösungserwartung durch die Geburt des Neuen Menschen generell. Machen wir uns dabei bewußt, in welch starkem Maße Mays Wiener Vortrag gerade dadurch eine Frage aussprach, die auch andernorts die intellektuellen, politischen und literarischen Zirkel in Bann zog. Die Suche nach dem veränderten, dem »neuen« Menschen, an der sich auch May vor allem durch sein Spätwerk beteiligte, war dabei kein Thema unter vielen, sondern spätestens seit Friedrich Nietzsches hymnischer Verkündigung eine der ganz großen Problemstellungen der Zeit.39 »Ich lehre euch den Übermenschen«, lauten die wohl allen damaligen Intellektuellen vertrauten Worte aus dem Beginn von ›Also sprach Zarathustra‹:


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Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. (...)

   Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? (...)

   Seht, ich lehre euch den Übermenschen!

   Der Übermensch (...) sei der Sinn der Erde.40


Mit diesem programmatischen Aufruf hatte Nietzsche seiner Epoche ein Stichwort gegeben, das nicht mehr vergessen wurde. Wenn May also seit der Jahrhundertwende verstärkt darum warb, den alten Adam abzulegen und sich dem gewandelten »Edelmenschen« zu verschreiben, tat er dies - auch wo er Nietzsches religionspolemischen Amoralismus bekämpfte41 - im Kontext zeitgenössischer Erwartungen. Eine ganze Generation im Aufbruch wurde schließlich von Nietzsches Vision fasziniert, provoziert oder elektrisiert. Zu den Verkündern eines Neuen Menschen zählten Reformer oder Revolutionäre aus den unterschiedlichsten ideologischen Lagern: Freigeister und Religionskritiker waren ebenso darunter wie neuerungswillige Christen, Darwinisten und Marxisten ebenso wie Reformpädagogen, Bellizisten ebenso wie Pazifisten. Vor allem italienische, russische oder französische Futuristen proklamierten ihren Anspruch vom neu zu schaffenden Menschen. Die Jugend- und die Landschulbewegung in Deutschland zeigte starke Nietzsche-Prägung. Übermensch-Vorstellungen grassierten bei Theosophen, Okkultisten, Esoterikern, bei Propagandisten des Ganzheitsmenschen, der Eurhythmie, der Tanz- oder Nacktkultur, bei Jüngern von Stefan George, Rudolf Steiner oder Lanz von Liebesfeld sowie bei Politrevolutionären unterschiedlichster Couleur. Sie fanden Ausdruck in Fidusschen Lichtgestalten, von denen Karl May zumindest in Form der Varianten Sascha Schneiders angeregt wurde. In unmittelbarem zeitlichen Kontext zu Mays Vortrag stehen auch zwei literarische ›Zarathustra‹-Adaptionen: der völkische Bestseller-Roman ›Wiltfeber, der ewige Deutsche‹ von Hermann Burte aus dem Jahr 1912 und der Prometheus-Entwurf des expressionistischen Dramatikers Reinhard Johannes Sorge von 1911. Mit dem Expressionismus war ohnehin ein zweiter Höhepunkt in der Faszination der Vorstellung vom Neuen Menschen gegeben. Und während der Erste Weltkrieg mit gesteigerter Dringlichkeit die humanitäre Renaissance einforderte, zeigte die anschließende Politisierung solche anthropologischen Entwürfe in ihrer ganzen Problematik: als kollektive Erziehungs- oder Züchtungskonzeptionen nämlich, die in den 30er und 40er Jahren zu erschreckender Verwirklichung gelangten. Daß solche Leitvorstellungen keineswegs nur Literaten, sondern ebenso sie umsetzende Politiker ansprachen, sei exemplarisch an Leo Trotzkis ›Menschheitsentwurf‹ aus den frühen 20er Jahren demonstriert, der als Folge geänderter Produktivverhältnisse nun »sozialerzieherische Experimente« ankündigte, die selbst unbewußte Prozesse des eigenen Organismus (wie »Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung«)42 unter Kontrolle bringen werde:


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Das Leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und - unter seinen eigenen Händen - zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psycho-physischen Trainings werden. (...) Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! Der befreite Mensch wird ein größeres Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe erreichen wollen, eine gleichmäßigere Entwicklung und Abnutzung seiner Gewebe, um schon allein dadurch die Angst vor dem Tode in die Grenzen einer zweckmäßigen Reaktion des Organismus auf Gefahren zu verweisen (...).

   Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewußtseins zu heben, sie durchsichtig klar zu achten, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewußten vorzudringen. (...)

   Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.43


Ich komme zu einem Fazit: Karl May registriert die Entwicklung seiner Zeit als aufmerksamer Beobachter und reagiert als Schriftsteller auf sie. Für die Rezeption technischer Innovationen bieten seine Erzählungen wie die Rede genügend Beispiele; aber dies gilt für geistige Strömungen ebenso, insbesondere für die Sehnsucht seiner Epoche nach dem Neuen Menschen. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß er mit seinen literarischen Entwürfen und Lösungen noch tief im 19. Jahrhundert verankert bleibt, in eigentlich vorrevolutionären Denkhaltungen romantisch-christlicher Prägung. Seine synkretistische Verschmelzung von Genesis und Sitara-Märchen, seine Mischung von Paradiesvorstellung, Schutzengeln und geistigen Aeroplanen verraten zwar ein poetisches, zugleich aber auch ein eher kindliches Gemüt.

   Nietzsches Übermensch-Projektionen, die im Spätwerk bis zur Vision von Geschlechterverbänden mitleidloser Renaissance-Heroen konkretisiert werden, seine zunehmende Ausformulierung eines umsetzbaren Willens zur Macht, an dessen Kern wir wohl festhalten müssen, auch wenn der Weimarer Philosoph nicht für alle tendenziösen Auslegungen dubioser Herausgeber haftbar gemacht werden soll, - all dies steht Karl May doch recht fern, ist in seinem Œuvre nicht einmal angedacht.

   Auch Marinettis kriegslüsterne Flugvisionen, sein gefährlich lebender, durch Zerstörung brillierender Maschinenmensch, hat mit Mays Aeroplan-Metaphern wenig gemein. Und vergleichen wir etwa die Märchen-Allegorie seiner Geister- respektive Seelenschmiede im Wald von Kulub mit


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Freuds psychoanalytischen Traumdeutungen, so wirkt bei dem Älteren doch so manches eher traditionell. Auch finden sich die aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskussionen in seinem Werk dieser Zeit nur sehr blaß gespiegelt: die soziale Frage etwa, die im Spätwerk verdämmert, die industriellen und ökonomischen Modernisierungsfolgen, die Demokratisierung oder die Stellung zum Staat, von einer auch nur ansatzweisen Auseinandersetzung mit sozialistischen oder gar marxistischen Positionen ganz zu schweigen. Gesellschafts- und Geschlechterkämpfe, Sexualität oder sozialer Wandel werden (noch) nicht in ihrer tatsächlichen Sprengkraft bzw. Dimension erfaßt, sondern vor allem als moralische Versuchungen gedeutet. Wenn May an solchen aktuellen Diskursen teilhat, dann eher in Form von (seiner Literatur eigenen) kryptopolitischen Appellen, gespeist aus halbbewußten Sozialphantasien oder -mythen der Zeit. Auch das Vertrauen in die Wörter ist noch weitgehend ungebrochen.44 Syntax und literarische Techniken werden kaum in Frage gestellt. Der Anspruch des Dichters als Seher und Präzeptor bleibt gewahrt. Modernität wird man daher dem Denken und Schreiben allenfalls für einige stoffliche Bezüge zugestehen dürfen, auch nicht im Darstellerischen, trotz einer zum Teil bemerkenswerten autodidaktisch akzentuierten Originalität, die sich vor allem in gattungsmäßigen Mischformen äußert. Aber seine Grundhaltung ist doch viel mehr die eines verspäteten Romantikers, und seine poetischen Lösungen gründen eher im frühen 19. als im 20. Jahrhundert.45

   Aber indem wir dies feststellen, müssen wir uns hüten, diesen Sachverhalt allzu blauäugig als Werturteil zu begreifen. Denn was heißt Modernität im 20. Jahrhundert auch und nicht einmal zuletzt? Es heißt Abriß fast um jeden Preis, rigoroser ästhetischer Traditionsbruch und Umwertung sittlicher Werte bis hin zu interessen- bzw. gruppengesteuertem Relativismus. Es heißt: Verlust von Bewährtem, gefährliche Experimente, um gefährlich zu leben, Aufkündigung von menschlichen Bindungen zugunsten eines geistigen Schecks, den erst die Zukunft kreditieren muß. Es heißt auch: Menschheits- und Gesellschaftsentwürfe, in denen mit einem Federstrich Gewalt als den Zweck heiligendes Mittel akzeptiert wird und Recht nach Nützlichkeitserwägungen spezifischer Gruppen, Klassen, Volksgruppen oder Staaten definiert wird.

   Je energischer sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die auch von Autoren gestifteten Mythen in politische Handlungskonzepte umsetzen, um so deutlicher erkennen wir aus der Rückschau den Pferdefuß solcher Menschheitsbeglückung. Denn die unterschiedlichen Ausprägungen des Neuen Menschen im Sinne der jeweils gewandelten Zeit enthalten so manche Monstrosität: von Marinettis lustvollen Killern der Lüfte über Ernst Jüngers Raubtier-Typus ehemaliger Frontsoldaten zu Gottfried Benns Züchtungsspezies à la »Gehirne mit Eckzähnen«46 oder Bertolt Brechts KP-Apparatschiks, die buchstäblich über Leichen gehen. Ich assoziiere hiermit stellvertretend Werke wie Marinettis ›Futuristisches Manifest‹, Jüngers ›Kampf als inneres


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Erlebnis‹, Brechts ›Maßnahme‹ oder Benns ›Züchtung I‹, eine später sehr bereute Reaktion auf seinen frühen (literarischen) Ekel zur Zeit der ›Morgue‹-Gedichte. Es sind dies im Gegensatz zu Mays Erzählungen alles Werke, vollgesogen mit politischer wie ästhetischer Aktualität. Aber sie alle dürfen nicht nur die Unschuld literarischer Seismographen beanspruchen, sondern es handelt sich darüber hinaus auch um Schrittmacher einer unheilvollen Entwicklung.

   Wir konstatieren also, daß vieles, was beim späten May als Entwicklungsdefizit registriert wurde, als Verweigerung gegenüber inhaltlichen wie formalen Notwendigkeiten des modernen Romans oder des Weltbilds überhaupt, auch einmal anders gewertet werden kann und sollte. Denn ein wichtiger Teil dessen, was bei May konventioneller wirkt, vielleicht sogar altbacken oder bieder, stellt sich in dieser Perspektive zugleich als Verzicht dar auf Kernforderungen einer brutal-radikalen Avantgarde, die schlicht mit ethischem Fortschritt zu identifizieren schon immer ein äußerst naives respektive tendenziöses und interessengesteuertes Mißverständnis gewesen ist. Gegenüber solchem vorausmarschierendem Extremismus der Moderne hat May sich vielmehr die poetische Unschuld bewahrt.47 Und seine Bemühungen um eigenverantwortliche Lebensbewältigung im Rahmen christlich-abendländischer Werte vermag selbst dort, wo wir manchen angebotenen Lösungen die Verbindlichkeit absprechen, in ihrer Gutherzigkeit immerhin zu rühren.48

   In Mays Spätwerk gibt es keinen Kult der Gewalt, des Krieges oder des Umsturzes einer vatermordenden Jugend, auch kein antiweibliches Macho-Gehabe, wie es nicht wenige Protagonisten der Moderne, von Nietzsche bis d'Annunzio, von Marinetti bis Weininger, von Brecht bis Hemingway kennzeichnet. Es findet sich kein Revolutionsfetischismus, keine Apotheose der Dissonanz, keine Massenverachtung, keine Feier des Häßlichen als beinahe selbstverständliche Alternative, keine Anbetung marschierender Kollektive, keine rationalistisch-beha-viouristische, maschinenhafte Anthropologie eines bloßen Funktionierens.

Wenn es also vor allem das ist, was May von der Moderne trennt, so mag er diesen Vorwurf gelassen einstecken. Vielleicht finden sich ja im Rahmen postmoderner Rezeption ganz andere Kriterien, die seiner Aufwertung günstiger sind.



1 Ekkehard Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1970. Hamburg 1970, S. 60f.

2 Ebd., S. 53

3 Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien. In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 2. München 1977 (Nachdruck der Artemis-Gedenkausgabe), S. 404

4 Bartsch, wie Anm. 1, S. 58

5 Ebd., S. 52f.


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6 Ebd., S. 53

7 Ebd., S. 52

8 Ebd., S. 61

9 Ebd., S. 59

10 Des weiteren wurde er zu seinem Vortragstitel vermutlich durch Conrad Ferdinand Meyers Aufruf »Empor ins Licht!« in dem Gedichtzyklus ›Huttens letzte Tage‹ angeregt. Ich verdanke diesen Hinweis Jürgen Hahn (Jürgen Hahn: »Empor ins Reich der Edelmenschen!« - ›Terrainbereinigung und Itinerar‹. Bisher unveröffentlichtes Typoskript des Verfassers. 1999, S. 32f.).

11 Bartsch, wie Anm. 1, S. 57

12 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 299f.; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

13 Ebd., S. 1f.

14 Ludwig Ganghofer: Lebenslauf eines Optimisten (1911). Zitiert nach der Ausgabe München-Zürich 1966, S. 261f.: »Aller Glanz, der diese große Natur umschimmerte, warf in meinen Augen auch einen verklärenden Schimmer über die Gesichter und Gestalten der Menschen in den Bergen. (...) Ich sah in ihnen den ›besseren Schlag‹ eine Erfüllung des gesunden Naturwillens.«

15 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 12, S. 2f.

16 Ebd.

17 Ebd., S. 4

18 Ebd.

19 Ebd., S. 7

20 Ebd.

21 Bartsch, wie Anm. 1, S. 68

22 Ebd.

23 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 12, S. 6

24 Bartsch, wie Anm. 1, S. 54f..

25 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 609

26 Vgl. zur Problematik: Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927. Frankfurt a. M. 1980, passim zu den Autoren exemplarisch: S. 126, 148ff., 151ff., 161, 194, 342, 348ff., 358ff., 360ff., 374. Zum Thema May und Aviatik vgl. auch: Dieter Sudhoff: Der beflügelte Mensch. Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S.110-54.

27 In Ingolds Abdruck steht anstelle von »uns« offensichtlich irrtümlich »und«.

28 Ingold, wie Anm. 26, S. 384ff.; Ingold datiert den Text auf ca. 1911. Das Typoskript einer Vorstufe des Gedichts stammt offenbar bereits von 1909 (Literatur im Industriezeitalter Bd. 1. Marbacher Kataloge 42/I. Marbach 1987, S. 526).

29 Ingold, wie Anm. 26, S. 31

30 Ebd., S. 32

31 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Friedrich Nietzsche: Werke in 6 Bänden. 3. Bd. München-Wien 1980, S. 159, 165f.

32 Ebd., S. 37

33 Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus. Reinbek 1966, S. 26

34 Ebd., S. 26ff.

35 Ebd., S. 166

36 Ebd., S. 170 bzw. 166ff.

37 Ebd., S. 170f.

38 Vgl. Ingold, wie Anm. 26, S. 240ff.

39 Vgl. Günter Scholdt: Die Proklamation des Neuen Menschen in der deutschsprachigen Literatur vom Ausgang des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Der Traum vom Neuen Menschen. Hoffnung - Utopie - Illusion? Herrenalber


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Protokolle. Hrsg. von der Evangelischen Akademie Baden. Karlsruhe 1999, S. 22-62.

40 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Nietzsche: Werke, wie Anm. 31, S. 279f.

41 So erkannten z. B. Arno Schmidt (Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt a. M. 1969, S. 212) und Hans Wollschläger (Karl May. Zürich 1976, S. 119) in der Figur Ahriman Mirzas im ›Silberlöwen‹ Anspielungen auf Nietzsche. Sein Wahnsinnigwerden am Schluß besäße damit die Bedeutung einer allegorischen Kritik.

42 Leo Trotzki: Die Kunst der Revolution. In: Literatur und Revolution. München 1972 [Erstausgabe 1924], S. 210f.

43 Ebd., S. 211ff.

44 Ein Vergleich etwa von Hugo von Hofmannsthals ›Brief des Lord Chandos‹ oder Marinettis ›La Bataille de Tripolis‹ bzw. sein ›Technisches Manifest der futuristischen Literatur‹ mit einer neuen Grammatik der Gedankenassoziationen (11. 5. 1912 und Nachtrag 11. 8. 1912) verdeutlicht den extremen Kontrast. Und was die Provokation durch eine Ästhetik des Häßlichen betrifft, so hat sie May nie akzeptiert. Er steht vielmehr in einer deutschen Stiltradition, nach der »die Sprache nur das Saumtier für alles mögliche Sittlich-Geistige« war (Friedrich Gundolf, in: Karl und Anna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899-1931. Bd. II. Amsterdam 1977, S. 151 - nach Hinweis von Jürgen Hahn, wie Anm. 10, S. 44).

45 So erinnert z. B. seine weltumspannende Friedensgemeinschaft einer edelmenschlichen Elite, wie sie exemplarisch etwa im Roman ›Und Friede auf Erden‹ auftritt, eher an Novalis' ›Die Christenheit und Europa‹ als an die UNO-Charta. Und auch so manche formalen Neuerungen bzw. Brüche, die im Alterswerk auffallen, entsprechen einer viel weniger gebundenen Poetik der Romantiker.

46 Gottfried Benn: Züchtigung I. In: Gottfried Benn: Gesammelte Werke. Bd. 3. Wiesbaden 1968, S. 782

47 Hieraus ergibt sich nach Jürgen Hahn denn auch der »entscheidende Unterschied zu den gängigen Panegyrika um den Neuen Menschen: ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹, so wie May diesen Cantus firmus seines Spätwerkes intoniert, ist keine Evokation des Nationalstaats, in dem ein auserwähltes Volk seine Reinheit pflegt und damit den Humanismus verabschiedet: Barbarei treibt. Wenig ist im ›Ardistan‹- wie auch im ›Friede‹-Roman spürbar von der Aggressivität des Rechten Glaubens. Weder eignen sie sich als Libretti für eine National-Oper oder als liturgische Texte für eine ›Erlöser‹-Messe geschweige denn als Anweisungen eines messianischen Tatellah-Satah für ein ›wahnwitziges Kriegsspiel germanischer Karl-May-Leser‹, deren ›ganze glühende Sehnsucht unserer Rasse‹ [May: Winnetou IV, wie Anm. 25, S. 580] Europa als Kinderspielplatz mutwillig zertrampelt‹. (...) Die Edelmenschen dieses Reiches, in das es empor zu steigen gilt, verwalten nicht Nationalismus, sondern Humanität.« (Hahn, wie Anm. 10, S. 43)

48 Exemplarisch verdeutlicht ein Zitat aus Halefs Gleichnisrede im ›Silberlöwen‹ den extremen Kontrast von Mays christlich geprägten Vorstellungen menschlicher Wiedergeburt gegenüber den technokratisch inhumanen Visionen zahlreicher Avantgardisten: »Ich wohne in diesem Leben, doch Allah hat mir seine Boten gesandt, welche mir sagen, daß ich für ein anderes bestimmt bin. Nun frage ich mich, was ich in jenem anderen Leben brauchen werde. Früher glaubte ich, es sei nichts weiter nötig, als nur der Kuran und seine Gerechtigkeit. Aber ich lernte dich kennen und erfuhr, daß diese Gerechtigkeit bei Allah nicht einen Para Wert besitzt. Ich weiß jetzt, was ich hier hinzugeben und was ich mir dafür für dort einzutauschen habe. Ich will Liebe anstatt des Hasses, Güte anstatt der Unduldsamkeit, Menschenfreundlichkeit anstatt des Stolzes, Versöhnlichkeit anstatt der Rachgier, und so könnte ich dir noch vieles andere sagen. Weißt du, was das heißt, und was


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das bedeutet? Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz Anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und an jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden ...« (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 71f.)




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