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HELMUT SCHMIEDT


Literaturbericht





So etwas hat uns bisher tatsächlich noch gefehlt: ein Karl-May-Nachschlagewerk, das sich nicht auf diesen oder jenen Aspekt zu Leben, Werk und Wirkung konzentriert, sondern das Phänomen als ganzes in den Blick nimmt! Nun ist es da, thematisch breiter angelegt als etwa Figuren- oder Filmlexikon, eher populärwissenschaftlich im Vergleich zu Gert Uedings Handbuch und mit dem Anspruch, May-Bezügliches »aus allen Bereichen des kulturellen Lebens« im Rahmen »sachliche(r) Informationen, aber auch vergnügliche(r) Nebensächlichkeiten« (S. 4) übersichtlich zu vermitteln: ›Das große Karl-May-Lexikon‹.1 In alphabetischer Reihenfolge von »Abenteuer« (S. 6) bis »Züricher (Zürcher) Ausgabe« (S. 411) spannt sich, ergänzt um ein kleines Literaturverzeichnis, der Bogen aus Hunderten von Namen, Titeln und anderen Begriffen. Über Personen aus Mays realer Lebensgeschichte kann man sich ebenso informieren wie über zahllose Figuren aus seinen Werken, über exponierte May-Forscher, -Leser und -Verleger und über Schauspieler, die in May-Filmen und -Dramatisierungen aufgetreten sind; die wichtigsten Werktitel tauchen auf, Städte, die mit seinem Namen in Verbindung zu bringen sind, und Begriffe wie »Anschleichen« (S. 12), die inhaltliche Einzelheiten des Mayschen Kosmos erfassen.

   Die Erläuterungen zu alldem wirken durchweg plausibel und instruktiv, zumal ihnen häufig bibliographische Zusatzinformationen und in etlichen Fällen Internetadressen beigegeben sind. Petzel schreibt mit viel Sympathie für seinen Gegenstand, manchmal blitzt sanfte Ironie durch; auf ambitionierte intellektuelle Effekte, wie sie das ›Karl-May-ABC‹ von Essig und Schury bietet, verzichtet er weitgehend, denn er präsentiert eben eher ein Nachschlagewerk im konventionellen Sinne. Es finden sich einige sachliche Schnitzer - z. B. ist das Buch ›Ideology, Mimesis, Fantasy‹ des bekannten amerikanischen Germanisten Jeffrey L. Sammons keine Dissertation (S. 73), und der Titel der Doktorarbeit von Heinz Stolte wird mal falsch und mal richtig wiedergegeben (S. 342) - sowie leicht anfechtbare Urteile, etwa in der apodiktischen Feststellung, Mays Edelmensch sei »ein chauvinistisches und zugleich trivialisiertes Zerrbild des Übermenschen bei Nietzsche« (S. 81). Aber so etwas ist bei derartigen Unternehmungen fast unvermeidbar, die Zahl der Mißgriffe hält sich in engen Grenzen, und so erscheint das Buch in hohem Maße empfehlenswert.

   Der erwartungsvolle Leser muß allerdings in Rechnung stellen, daß Michael Petzel in erster Linie Experte für den populärkulturellen Umgang mit May und da wiederum vorrangig für Filme ist. Dieser Umstand, dem sein vor wenigen Jahren erschienenes vortreffliches Karl-May-Filmbuch zu


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verdanken ist, macht sich hier deutlich bemerkbar sowohl in der Auswahl der Stichwörter als auch in der Länge der Artikel. So nimmt der über die Schauspielerin Elke Sommer, die in einem May-Film der 60er und einer Segeberger May-Inszenierung der 90er Jahre aufgetreten ist, anderthalb Seiten ein (S. 330f.), und das ist mehr Raum als der, den die May-Forscher Roxin (S. 300), Stolte (S. 342) und Wollschläger (S. 404) zusammen erhalten - eine fragwürdige Präferenz auch dann, wenn man berücksichtigt, daß die Herren dem mitgelieferten Szenenfoto der Dame nichts Adäquates entgegenzusetzen haben. Die Namen der profilierten May-Gegner Cardauns und Pöllmann erhalten gar keinen eigenen Eintrag; wohl aber tauchen mit Hans Albers (S. 8f.) und Christopher Lee (S. 201) sogar Schauspieler auf, die nur beinahe in Karl-May-Filmen agiert haben. So sehr ist Petzel auf diesen Bereich der May-Rezeption fixiert, daß er aller Kompetenz zum Trotz gelegentlich ein wenig den Überblick verliert: Im Abstand weniger Seiten wird sowohl Lee als auch Bela Lugosi als »berühmtester« (S. 201) bzw. »der berühmteste Dracula der Filmgeschichte« (S. 213) etikettiert. Generell ist also der populäre und hochgradig kommerziell ausgerichtete Umgang mit May in diesem Lexikon überproportional repräsentiert; das mag mancher Leser, der sich doch eher an Mays Texte halten möchte, als bedauerlich empfinden, aber man darf auf der anderen Seite nicht übersehen, daß hier jener Komplex der Mayschen Wirkung - bis hin zu Kaugummibildern (S. 184) und ›Bravo‹-Starschnitten (S. 338) - so umfassend und systematisch erschlossen wird wie niemals vorher.

   Natürlich ist auch der prominente May-Leser Adolf Hitler in Petzels Lexikon vertreten (S. 141), und dem, was ihn mit May verbindet, geht Reinhard Starkl im Rahmen einer weiteren neuen Buchveröffentlichung nach.2 Er argumentiert mit einer geschichtlichen Entwicklung, in deren Rahmen »der Deutsche des Bismarckschen Reiches« sich aus einer realitätsnahen Beschäftigung mit seiner Zeit gleichsam ausgeklinkt und in ein »Gefängnis« begeben habe, »dessen Gitterstäbe aus Zukunftspessimismus, rückwärtsgewandter Romantik, antidemokratischen und antisemitischen Ressentiments geschmiedet sind« (S. 12). Der »Versuch einer Elimination der Zeit« zeige sich »bei Wagner, May und Hitler als ein mit Überwältigungsansätzen verbundener schwärmerischer Romantizismus« (S. 183), dem Hitler dann auch in der politisch-gesellschaftlichen Realität mit zerstörerischem Erfolg Geltung verschafft habe, während Einstein - Starkls vierter Protagonist - das wissenschaftliche Modell für einen »prinzipiell manipulierbar(en)« (S. 195) Umgang mit der Zeit geliefert, den Eskapismus also von anderer Seite aus unterstützt habe.

   Diese Sicht der Dinge ist eine Variante der bekannten These vom deutschen Sonderweg, die häufig zur Erklärung für die Katastrophen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts herangezogen wird. Starkls Überlegungen setzen da - insbesondere im Blick auf die Rolle Einsteins - einige eigene Akzente, bleiben insgesamt aber eher oberflächlich, zumal sie


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auf eine gründliche Erörterung der vielen Beobachtungen und Überlegungen verzichten, die zu seinem Thema und dessen Umfeld schon angestellt worden sind. Man kann dies anhand des Umgangs mit May genau beobachten: Die fast dreißig Seiten umfassende Rekapitulation von dessen Lebensgeschichte trägt wenig zur Erhellung der Probleme bei; von den vielfältigen Diskussionen um das angemessene Verständnis seines Werkes wird kaum etwas aufgenommen, die Romane werden einseitig nur als »in krassem Gegensatz zur Aufklärung (stehend)« (S. 47) interpretiert; sachlich Falsches kommt hinzu, etwa beim Erstaunen darüber, daß May seine »800 Seiten« umfassende, die Schilderung von Intimitäten nicht scheuende Pollmer-Studie »der Öffentlichkeit« (S. 75) vorgelegt habe.

   Ein weiteres Nachschlagewerk - aber eines von wiederum ganz anderer Art als das von Petzel - hat im Rahmen der Sonderbände zu den Gesammelten Werken der Karl-May-Verlag veröffentlicht: eine voluminöse Bibliographie zu den Schriften von - und in Auswahl auch über - May aus den Jahren 1913-1945.3 Der Band schließt also chronologisch an Hainer Plauls rühmlich bekanntes Verzeichnis derjenigen Publikationen an, die zu Mays Lebzeiten erschienen sind (1988), und füllt damit eine große Lücke in der Bestandsaufnahme zur Druckgeschichte des wohl populärsten deutschsprachigen Schriftstellers.

   Wer in aller Arglosigkeit der Überzeugung war, bei diesem Projekt könne es doch eigentlich nur um eine einfache Registrierung jener 65 Titel gehen, die unter dem zusammenfassenden Begriff Radebeuler Ausgabe bekannt sind, wird schon beim ersten Blick auf die Papiermasse dieses Buches, das in quadratischem Format rund 550 Druckseiten bietet, eines Besseren belehrt. Innerhalb der Radebeuler Reihe muß man zwischen verschiedenen Auflagen mit unterschiedlichen Textfassungen, ausgewechselten Titelblättern und weiteren Änderungen unterscheiden, und daneben sind zahlreiche Lizenzausgaben »in anderen Verlagen als Bücher, Heftausgaben oder Zeitschriftenabdrucke« (S. 8) zu registrieren, ferner Raubdrucke und mancherlei Spezielles, wie etwa Sammelbilderalben zu May-Texten; die Sekundärliteratur jener Jahre ist aufgenommen, soweit sie vom Karl-May-Verlag veröffentlicht wurde. Zur Präzisierung der Informationen dient es, daß nicht nur die bei solchen Unternehmungen üblichen bibliographischen Angaben auftauchen, sondern auch »Druckereien, Buchbindereien und Auflagenhöhen« (S. 8) genannt werden. All dies hat zuverlässig nur erarbeitet werden können, weil die Verfasser größten Wert auf die persönliche Inaugenscheinnahme der Druckwerke legten und Recherchen anstellten, die Antiquariate ebenso einschlossen wie Flohmärkte und Archive. Daß dennoch »keine Garantie für Vollständigkeit und Fehlerfreiheit« (S. 9) übernommen wird, liegt bei der Komplexität der Materie auf der Hand. Alles in allem präsentiert sich hier ein über die bisherigen Arbeiten zum Thema weit hinaus führendes Musterbeispiel philologischen Fleißes, das gut strukturiert wirkt, Sammlern von Mayensia wertvolle Erkenntnisse vermittelt, mit mehreren


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Registern die Benutzung erleichtert und durch zahlreiche Abbildungen - darunter farbige auf 64 Seiten - einen anschaulichen Eindruck von dem sprachlich vorgestellten Material vermittelt.

   Aber wir haben nicht nur ein bibliographisches Nachschlagewerk vor uns. Man kann in diesem Buch auch fortlaufend lesen, denn die Verfasser haben zahlreiche optisch hervorgehobene Kommentare hinzugefügt, »die Hintergrundinformationen zur Buchproduktion vermitteln und über Textbearbeitungen Aufschluss geben« (S. 9). Während die erstgenannten Ergänzungen Fakten betreffen, die aus der puren Nennung von Daten, Namen und Orten nicht zu erschließen sind, geht es beim zweiten Komplex um das heikle, seit langem immer mal wieder heftig diskutierte Problem der postumen Veränderung von Mays Texten, das in etlichen Fällen auch durch die vergleichende Wiedergabe bestimmter Passagen in ihrer frühen und ihrer abgewandelten Fassung dokumentiert wird. Wir haben es hier mit einer Publikation des Karl-May-Verlags zu tun, und so ist es kaum erstaunlich, daß Hermesmeier und Schmatz nicht eben als radikale Bearbeitungsgegner argumentieren: In der einleitenden Chronologie zur Tätigkeit des Karl-May-Verlags ist ein weiteres Mal von den »ausführliche(n) Diskussionen« zwischen Euchar Albrecht Schmid und May »über dessen Werk« und »umfangreiche Pläne für eine mögliche Werkausgabe« (S. 18) die Rede; die Urteile zu einzelnen Eingriffen fallen zumeist verständnisvoll bis wohlwollend aus, z. B. mit dem Hinweis, es sei ein »unschöne(r) Eindruck beseitigt (worden)« (S. 122); Kritik trifft am ehesten Otto Eicke, dessen Neugestaltung von ›Winnetous Erben‹ »das noch wenig entwickelte Verständnis für die Vielschichtigkeit der letzten Reiseerzählung Mays (belegt)« (S. 186) und der - als »überzeugte(r) Nationalsozialist« - einige »aus dem Zeitgeist geborene Antisemitismen« (S. 278) in den Band ›Der Fremde aus Indien‹ hineinschrieb. Hermesmeier und Schmatz vertreten ihre Position nicht ungeschickt; aber handfeste Belege dafür, daß sich die Bearbeitungen tatsächlich in Details auf Gespräche zwischen Schmid und May stützen, bringen sie, soweit ich sehe, nicht, und ein Zyniker könnte gar urteilen, daß sie Eicke opfern, um die meisten anderen Eingriffe in um so günstigerem Licht erstrahlen zu lassen. Man sollte allerdings - auch wenn man in der Bearbeitungsfrage entschieden anderer Überzeugung als sie ist - diesen speziellen Aspekt bei der Gesamtbeurteilung des vorliegenden Buches nicht gar zu hoch einstufen: Es ist ein imponierendes und nützliches Werk.

   Populärwissenschaftliche May-Biographien gibt es, von Karl Heinz Dworczaks ›Das Leben Old Shatterhands‹ (1935) bis zu Jürgen Helfrichts ›Wahre Geschichten um Karl May‹ (1999), in beträchtlicher Zahl; gerade in den letzten Jahren ist eine bemerkenswerte Häufung zu verzeichnen. Solche Arbeiten wollen in der Regel kein forschungsgeschichtliches Neuland erobern, und sie streben auch nicht nach jener Darbietung akribisch erfaßter Einzelheiten, die - auf andere Weise - das Werk von Hermesmeier/Schmatz auszeichnet. Sie wollen vielmehr das Bekannte in eingängiger


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Form vermitteln, und ihr Wert bemißt sich daran, ob ihnen das mit korrekten Informationen gelingt und zudem so, daß das Interesse für ihren Gegenstand, für die beschriebene Persönlichkeit, geweckt bzw. - bei anderen Lesern - befriedigt wird.

   Der prominente Autor Frederik Hetmann ist ein Routinier auf dem Gebiet solcher Biographien, er hat sich mit Sylvia Plath und Elisabeth Langgässer befaßt, mit Jack Kerouac, Che Guevara und anderen. Nun hat er also auch eine Karl-May-Biographie verfaßt,4 und der erste Eindruck beim Durchblättern ist der, daß man ihm den Routinier da doch auf eine etwas ungute Weise anmerkt: Viele Seiten werden mit Zitaten - aus May-Texten und von May-Kommentatoren - gefüllt, viele andere mit der Wiedergabe des Inhalts von May-Romanen; da hat es sich, könnte man denken, der Autor ein wenig zu leicht gemacht.

   Man täte ihm allerdings unrecht, wenn es bei diesem Urteil bliebe. Hetmann fügt jene Stellen durchweg geschickt in den Gang seiner Argumentation ein, wertet sie häufig interpretierend aus und läßt dadurch anschaulich werden, was er sonst über May zu sagen hat - und das ist eine ganze Menge! Generell erweist er sich als ein zuverlässiger Führer durch die Labyrinthe aus Leben und Werk. Er stützt sich umfassend auf die relevante Sekundärliteratur - bis hin zu Veröffentlichungen von 1999 -, trennt Wichtiges von Peripherem und ordnet viele seiner Beobachtungen in übergreifende Zusammenhänge politischer, sozialer und auch kulturgeschichtlicher Art ein; allerdings hapert es, was die natürlich auch hier vorfindbaren Fehler angeht, manchmal vor allem mit den Namen, so daß z. B. ein Forscher »Gerhardt Lußmeier« (S. 96) - korrekt vermutlich: Gerhard Klußmeier - und ein »Wolfgang Lebius« (Bildunterschrift gegenüber S. 169) auftauchen. Über die Vermittlung von Daten und Fakten und das Nachdenken in bezug auf die seelische Befindlichkeit des Untersuchungsobjekts hinaus setzt der Verfasser eigene Akzente, indem er z. B. May als »absolute(n) Erzähler« charakterisiert, als einen, »der, gleichgültig um was für ein Thema es sich handelt, eine breite Leser- oder Zuhörerschaft in seinen Bann zu schlagen versteht« (S. 166) und dabei selbst über seichteste und nichtsnutzige Inhalte hinweg führen kann. Hetmann scheut auch vor wertenden und dabei abschätzigen Bemerkungen nicht zurück, hebt aber hervor, daß an May gerade auch »das Fragwürdige, der zwischen himmelhohem Idealismus und Straffälligkeit, zwischen Phantasiereichtum und Hochstapelei oszillierende Charakter« fasziniere: »Eindeutige, eindimensionale Menschen ohne Obsessionen finde ich langweilig« (S. 295) - eine Binsenweisheit, die hier aber geschickt gefüllt wird und dann nicht gerade die schlechteste Voraussetzung für eine kundige und anregende Darstellung bildet. Hetmanns Buch zählt zweifellos zu den empfehlenswertesten populärwissenschaftlichen May-Biographien, die es je gegeben hat.

   Der Blick auf den Bereich der mit Karl May befaßten Aufsätze ergibt das gewohnte bunte Bild: Seit einigen Jahren hat sich auch außerhalb der Publi-


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kationen der Karl-May-Gesellschaft ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Betrachtungsansätze, Befunde und Bewertungen etabliert. Ein weiteres Mal äußert sich der nimmermüde polnische May-Kommentator Norbert Honsza, diesmal im Rahmen eines z. T. sehr persönlich gehaltenen Berichts über ›Sechs literarische Begegnungen‹ mit deutschen Schriftstellern; die anderen sind Otto Julius Bierbaum, Gerhart Hauptmann, Heinrich Böll, Günter Grass und Michael Zeller.5 Die Beschäftigung mit May firmiert als »Jugendliche Begegnung« (S. 35), doch läßt der Verfasser wiederum erkennen, daß er May auch außerhalb der damit umrissenen Lebensphase als einen sehr ernst zu nehmenden Gegenstand literarischen Interesses beobachtet hat. Unter anderem heißt es: »Seine Helden repräsentieren europäische Gescheitheit und Logik. Karl May, der Gemütsmensch, will ein Stückchen Freiheit und Humanismus bewahren. Seine epischen Konstruktionen sind moralisch instruktiv wie ein Mustermärchen der Weltliteratur« (S. 36). An anderer Stelle wird als »höchst originale Leistung« Mays Verwandlung von Geographie »in epische Kunstform« (S. 39) hervorgehoben.

   Der achte Kongreß des Internationalen Germanistenverbandes, der 1990 in Tokio stattfand, stand unter dem Thema ›Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen - Traditionen - Vergleich‹. Damit wurde ein Forschungsinteresse aufgegriffen und gefördert, das natürlich auch - wie nahezu jeder unserer Literaturberichte in den letzten Jahrbüchern bestätigt - im Falle Mays ein lohnendes Betätigungsfeld findet. Ein Autor einer Universität in Istanbul befaßt sich mit Mays Türkenbild6 und gelangt zu einem tendenziell freundlichen Befund: Mays »presentation of the Turks« sei »in general sympathetic« (S. 244). Man muß freilich differenzieren: May statte zwar einerseits seine türkischen Figuren mit allerlei positiven Eigenschaften aus, wie Loyalität, Selbst- und Traditionsbewußtsein, operiere andererseits aber auch mit dem zeittypischen Bild vom ›kranken Mann am Bosporus‹ und mit Vorstellungen von völlig verschmutzten, von Laster und Verbrechen beherrschten Großstädten. Die Arbeit bezieht sich allein auf ›Von Bagdad nach Stambul‹ in einer Version der Bamberger Ausgabe und zieht fast nichts aus der Sekundärliteratur zum Thema heran.

   Das Bild des ›Fremden‹, das May vermittelt, läßt sich nicht nur im Blick auf die ihm innewohnenden Tendenzen und seine Plausibilität prüfen; es hat auch die einschlägigen Bilder zahlloser Leser auf eine untersuchungsbedürftige Weise maßgeblich beeinflußt, und sofern es sich bei diesen Lesern wiederum um Schriftsteller handelt, die ›Fremde‹ und ›Fremdes‹ ins Spiel bringen, eröffnet sich hier ein weiteres spezielles Forschungsfeld von gelegentlich beträchtlicher Brisanz. Der Verfasser eines Aufsatzes über Robert Müllers exotistischen Reiseroman ›Tropen‹7 kommt nicht daran vorbei, auf Müllers May-Begeisterung zu verweisen; bekanntlich war Müller mitverantwortlich für das Zustandekommen von Mays Wiener Vortrag am 22. 3. 1912, und wenig später hat er May einen sehr hellsichtigen Nach-


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ruf gewidmet. Der ansonsten hoch ambitionierte Beitrag geht leider, was Mays literarische Bedeutung für Müller betrifft, kaum ins Detail, und er leistet sich den hübschen faux pas, den verdienstvollen May-Forscher Franz Cornaro in einen Franz Corona zu verwandeln (vgl. S. 153, Anm. 40).

   Während die beiden gerade genannten Aufsätze aus der Mitte der 90er Jahre stammen, mir aber jetzt erst zugänglich geworden sind, datiert eine weiter ausgreifende Arbeit über Karl Mays (und Bert Brechts) Einfluß auf Carl Zuckmayer und zumal auf dessen Theaterstück ›Pankraz erwacht‹ aus dem Jahr 1999.8 Dem Verfasser geht es darum, »Zuckmayer in den verwirrenden politischen Implikationen des Weimarer Moderne-Diskurses zu verorten« (S. 363), und da Zuckmayers frühe und lang anhaltende May-Begeisterung gründlich belegt ist, scheint es lohnend, nach den Besonderheiten von dessen Einfluß auf den Jüngeren zu fragen. Das Ergebnis ist für alle Beteiligten nicht sehr schmeichelhaft: May erscheint ausschließlich »als antiquiertes Relikt des Wilhelminismus« (S. 367); seinen Werken mit ihrer kruden Form des Anti-Materialismus und - im Blick auf habgierige ›Yankees‹ - Anti-Amerikanismus, mit der »letztlich völlig apolitische(n) Sehnsucht« ihrer »exotisch-anarchische(n) Phantasien« (S. 366), wird »restauratives Gedankengut als Negation von Fortschritt, Zivilisation, Demokratie und Liberalismus« (S. 365) nachgesagt, und diese Faktoren vermitteln - ähnlich wie Brechts ›Im Dickicht‹ - Carl Zuckmayer nach dem Befund des Verfassers allerlei Unheilvolles: »Elemente der Naturmagie, des Männlichkeitskultes und vitalistischer Konzeptionen« (S. 400), »anti-moderne Ideologeme«, die z. T. »explizit anti-demokratisch sind« (S. 401). Daß es seit langem auch ein ganz anderes Verständnis der Mayschen Wildwest-Romane gibt, wie es sich z. B. in der zitierten Arbeit von Honsza andeutet, daß »anarchische Phantasien« nicht eben wie selbstverständlich mit »Wilhelminismus« harmonieren, wird gar nicht erst ernsthaft in Erwägung gezogen; selbst Bloch wird derart einseitig zitiert, daß er bruchlos ins Konzept paßt. Viktor Otto warnt einleitend zu Recht vor Klischees bei der Betrachtung »der politischen Landschaft der Weimarer Republik«; in Anbetracht der zitierten eindimensionalen Urteile kann man sich da überlegen, ob er nicht zumindest partiell die »eine ideologische Hilfskonstruktion« (S. 363) durch eine andere ersetzt hat.

   Mays Umgang mit fremden Sprachen hat in letzter Zeit einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und eine weitere neue Untersuchung fragt nun danach, was er im ›Methusalem‹ mit dem in Europa vielfach fasziniert beobachteten, von Mythen umwobenen Chinesisch anstellt.9 Es liegt auf der Hand, daß die zahlreichen chinesischen Sprachfetzen den Eindruck von der Authentizität des Dargestellten verstärken, aber der Verfasser, der Sprachexotismus als generelles Charakteristikum des Abenteuerromans und multilinguale Schreibweisen als übergreifendes Merkmal der literarischen Moderne begreift, geht weit über diesen schlichten Aspekt hinaus und prüft, wie May »Komik und Tragik des Sprachexotismus um 1900 in Szene


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setz(t)« (S. 313). May arbeite vor allem mit dem scharfen Kontrast zwischen dem ›Sprachethnozentriker‹ Turnerstick, der trotz seiner Begeisterung fürs Chinesische letztlich nur immer die »Fixiertheit auf die eigene Muttersprache« (S. 318) demonstriert, der er bekanntlich durch das Hinzufügen von ›Endungen‹ Chinesisch abgewinnen will, und dem ›Sprachhelden‹ Methusalem. Dieser zeichnet sich durch geradezu exzessive sprachliche Kompetenz aus, verfügt noch über die subtilsten Einzelheiten des Chinesischen, vermag alles, was er hört und liest, bis in kleinste Nuancen zu verstehen und zu übersetzen, steht also für »die Utopie vollständiger Übersetzbarkeit selbst zwischen gegensätzlichsten Sprachen« (S. 320) und macht so tendenziell - wie etliche andere große Heldenfiguren Mays - die Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel rückgängig. Demnach beteiligt sich May zwar ausgiebig an den multilingualen Schreibweisen der Moderne, tut dies aber im Rahmen eines »›vormodernen‹ Multilingualismus, der, bleibt man im mythischen Schema, eher der Pfingstseite zuzurechnen ist.« Er hält fest an eindeutig konturierten Kommunikationsprozessen, »am Phantasma einer absoluten Beherrschbarkeit und Kontrollierbarkeit von Sinn«, das sich auf »eindeutige Abbildungsverhältnisse zwischen den Sprachen« (S. 327) stützt; nur vor diesem Hintergrund dürfen die Spielereien Turnersticks gedeihen, und »alles Fremde (wird) restlos in Verstehbarkeit (überführt)« (S. 328).

   Eine unter politisch-ideologischen Vorzeichen geradezu euphorische Beurteilung wird Mays letztem China-Roman in einem Band zuteil, der schlicht mit ›Das Fremde‹ überschrieben ist.10 Es geht hier um die »literarische Resonanz auf die Kolonisierung Qingdaos«, eines ›deutschen Schutzgebiets‹; während manche Schriftsteller das imperialistische Machtstreben uneingeschränkt unterstützten - der Beitrag gönnt ihnen nur eine Fußnote -, bemühten sich andere um »eine auf interkulturellen Austausch gerichtete Qingdao-Darstellung« (S. 249), und zu ihnen wird hier - neben Alfons Paquet und Hermann Graf von Keyserling - auch der von seiner ersten Reise in ferne Länder zurückgekehrte und seither dem Imperialismus gänzlich abholde Karl May gezählt. Der Aufsatz hebt die signifikanten »geographischen Entsprechungen« (S. 255) zwischen Mays »utopische(r) Insel Ocama« (S. 254) und Qingdao (Tsingtau) hervor und begreift ›Et in terra pax‹ bzw. ›Und Friede auf Erden‹ insofern als indirekten Kommentar zu den politisch-militärischen Ereignissen um jenes reale Gebiet. Unter diesen Vorzeichen bietet der Roman eine »mutige Entgegnung« (S. 253) auf den Geist der Unterdrückung des Fremden: »Karl May ruft in Konfrontationsstellung gegen die chauvinistische Propaganda des Wilhelminismus zur friedlichen multikulturellen Koexistenz auf und imaginiert Qingdao als einen vorurteilsfreien Zwischenraum der menschlichen Verbrüderung von Ost und West« (S. 265) - das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Während gelegentlich bemerkt worden ist, der utopische Gehalt des Romans verbiete es, ihn als auch nur halbwegs handfeste Reaktion auf reale Verhältnisse in


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China zu lesen, wird hier gerade die literarische Bemühung um »ein interkulturelles Friedensparadies« (S. 257), die so deutlich über den empirischen Status quo hinaus führt, als überaus rühmenswerte Äußerung zur Tagespolitik gedeutet.

   Selbstverständlich schauen nicht alle neuen May-Aufsätze nur auf die Rolle des ›Fremden‹. Eine Arbeit von Claudia Marra gilt einem Thema, das neuerdings ebenfalls einige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen scheint: dem Verhältnis von May und Nietzsche.11 Ohne Berücksichtigung des Aufsatzes, den Werner von Krenski im Karl-May-Jahrbuch 1925 dem Thema gewidmet hat, aber unter wiederholtem Verweis auf die einschlägigen Abhandlungen von Arno Schmidt und Hans Wollschläger und speziell im Blick auf den dritten und vierten Band von ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ sucht die Verfasserin nach den »Motive(n) und Bilder(n), die May aus Nietzsches Werk geschöpft hat« (S. 539). Fündig wird sie vor allem - auch darin den älteren Anregungen verpflichtet - in bezug auf Ahriman Mirza und »seine zutiefst antichristliche Position«; er sei »eine Karikatur Nietzsches« (S. 545). Auch in der langen Traumsequenz finde man »diverse Anklänge an Zarathustra« (S. 546), doch während May hier abermals, wie bei den meisten Nietzsche-Allusionen, Distanz wahre und das eigene Werk mit Hilfe von Abgrenzung, wenn nicht gar von Gegenentwürfen zum Referenztext gestalte, folge er ihm in anderem Zusammenhang: »Im Fall der Beurteilung der Institution Kirche (...) scheinen die Ansichten von May und Nietzsche übereinzustimmen« (S. 550). All dies berechtige nicht zu dem Gedanken, daß May es auf eine abgerundete, systematische Auseinandersetzung mit Nietzsche ankommt; eher handle es sich um ein »Spiel« mit »Versatzstücken«. Immerhin stelle May dem Nietzscheschen Nihilismus unmißverständlich ein umfassend angelegtes »Programm christlicher Heilsbringung und durch den Glauben gestifteten harmonischen Miteinanderlebens« entgegen, ein Vorgang, in dem sich Unbehagen angesichts des vorausgegangenen Kulturkampfs und »des abgeschlossenen Ausdifferenzierungsprozesses von Religion und Philosophie« (S. 551) spiegele.

   Zu den im Untertitel eines Bandes der Universitätsbibliothek Marburg bezeichneten ›populären Lesestoffen von Gutenberg bis zum Internet‹ gehört ›Das Waldröschen‹.12 Es handelt sich bei dieser Aufsatzsammlung um das Begleitbuch zu einer Ausstellung, und so legen die Verfasser kaum Wert darauf, neue Akzente in der Forschung zu setzen; sie wollen vielmehr zunächst die Autoren und Texte vorstellen, um die es geht, und dann vor allem, wie das Vorwort ankündigt, »Herstellungs-, Distributions- und Rezeptionsumstände« (S. 5) beleuchten. So wird im ›Waldröschen‹-Beitrag erst einmal Mays Lebensweg skizziert, werden der Inhalt des Romans zusammengefaßt und einige »typische Motive und Szenen« (S. 149) gestreift, z. B. die Darstellung von Erotik und der Umgang mit der Obrigkeit. Es folgen knappe Bemerkungen zur Geschichte der Kolportage, zur Vertriebsstrategie und zu den späteren bearbeiteten Editionen des ›Waldröschen‹ sowie zu


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einigen Aspekten hinsichtlich der Leserschaft Mays. Wir haben es hier mit einer jener Arbeiten zu tun, die dem Experten nichts Neues sagen, den Uneingeweihten aber solide informieren und - blickt man auf ihren Erscheinungsort und ihre Funktion - insofern ihren Zweck voll und ganz erfüllen.

   Zu den markantesten Punkten in der Geschichte der frühen May-Rezeption gehört jener Nekrolog im ›Biographischen Jahrbuch und Deutschen Nekrolog‹ von 1917, der May und seine Werke aufs heftigste attackierte, den Zorn Euchar Albrecht Schmids auf sich zog und schließlich durch eine moderate, ausgewogene Darstellung eines anderen Autors ersetzt wurde; nicht zuletzt der Umstand, daß der Fall in Ludwig Gurlitts ›Gerechtigkeit für Karl May!‹ aufgegriffen wurde und dieser Text bis heute im Band ›Ich‹ des Karl-May-Verlags zu finden ist, hält die Affäre im Bewußtsein lebendig. Die unmittelbar Beteiligten, insbesondere Schmid und der Jahrbuch-Herausgeber Bettelheim, haben sich damals öffentlich und mit großer Vehemenz geäußert, und neuerdings hat sich Kurt-Georg Cram, ein Enkel des Jahrbuch-Verlegers Walter de Gruyter, der Angelegenheit noch einmal angenommen.13 De Gruyter war letztlich verantwortlich dafür, daß der inkriminierte Artikel verschwand, und ob er damit einen tadelnswerten Akt der Zensur begangen oder seriös und korrekt gehandelt hat, ist die Frage, die sich nach so langer Zeit immer noch stellt. Cram skizziert die Chronologie der Ereignisse, zitiert Stellungnahmen der Beteiligten und anderer Kommentatoren, vermittelt Auszüge aus den damaligen Briefwechseln, gibt juristische Erwägungen wieder, beobachtet das Zerbrechen der langjährigen Freundschaft zwischen de Gruyter und Bettelheim und gelangt zu dem Befund, daß der Verleger kaum anders handeln konnte, als er es tat: Sein Eindruck von der bösartigen Einseitigkeit des Artikels und die Sorge, wegen »der Beschimpfung des Andenkens Verstorbener« (S. B 108) juristisch belangt zu werden, führten zu einer Entscheidung, die auch dem heutigen Betrachter plausibel erscheint.

   Die dreizehnte Ausgabe der Hohenstein-Ernstthaler Karl-May-Haus-Informationen14 enthält kleinere Beiträge über drei Ausstellungen, eine kanadische Gedenkstätte für Jack London, Mays Popularität in der Tschechischen Republik - Tendenz: fallend - sowie eine Rezension zur KMG-Publikation ›Der Seminarist und Lehrer Karl May‹; Hainer Plaul veröffentlicht Dokumente, denen zufolge Klara May seit 1937 Mitglied der NSDAP war. Den größten Teil des Heftes füllen zwei Aufsätze von jeweils rund 25 Seiten, in denen es - wie bei dieser Publikationsreihe üblich - um biographische Zusammenhänge geht. Hans-Dieter Steinmetz legt detailliert dar, was es mit Mays Doktortitel bzw. Mays Vorspiegelung, er besitze einen solchen, auf sich hat; der Untertitel des Beitrags, der von Mays »freiem Umgang« mit der Auszeichnung spricht, deutet bereits an, daß dieses Kapitel kein Ruhmesblatt im Leben und Streben unseres Autors bildet. Ähnlich akribisch und unter Beiziehung entlegener und bisher noch kaum ausgewerteter Dokumente schildert Manfred Hecker Mays ärztlich verordneten


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Aufenthalt im böhmischen St. Joachimsthal während des Frühjahrs 1911; die Kur hat May noch einmal zu einer Verbesserung seines gesundheitlichen Zustands verholfen, die bekanntlich aber nur von kurzer Dauer war.

   Ein weiterer der fast schon obligatorischen polnischen May-Beiträge stellt wiederum eine Beziehung zwischen May und einem anderen Schriftsteller her, doch geht es diesmal nicht, wie in einigen der oben genannten Arbeiten, um das, was man gelegentlich Einflußforschung nennt.15 Jacek Rzeszotnik vergleicht vielmehr die Komik in ausgewählten Werken Mays und Johannes Mario Simmels, zweier Erfolgsschriftsteller, zwischen denen ca. ein Jahrhundert liegt; die Komik bildet mit der Spannung und der Rührung die »drei Eckpfeiler«, die »das Handlungsgerüst eines unterhaltungsliterarischen Textes (tragen)« (S. 51).

   Verglichen werden Mays ›Schatz im Silbersee‹ und die Erzählungen des Bandes ›Am Stillen Ocean‹ mit Simmels ›Es muß nicht immer Kaviar sein‹ (1960), dem ersten ganz großen Bestseller des Autors, und dem eher düsteren, ökologisch-politische Probleme thematisierenden Roman ›Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche‹ (1990). Die Arbeit unterscheidet traditionsgemäß zwischen Wortkomik, Situationskomik und Charakterkomik und prüft, wie es in dieser Hinsicht jeweils mit den vier Werken bestellt ist. Es ergeben sich zahlreiche divergierende Eindrücke zu den Einzelheiten, aber der Gesamtbefund ist unmißverständlich: May schneidet gegenüber Simmel - zumal hinsichtlich des ›Kaviar‹ - schlechter ab. Insbesondere registriert die Untersuchung, daß er ein einmal gewähltes witziges Element - sei's die Paarbildung aus großen dünnen und kleinen dicken Westmännern, die Wettlust spleeniger Lords oder den Hang zu »multiplizierten Wortverdrehungen« (S. 55) - durch Wiederholungen über Gebühr strapaziert und damit entwertet, während Simmel z. B. bei der Wortkomik »viel nuancierter« (S. 57) und generell überhaupt abwechslungsreicher verfährt. Am Ende des Aufsatzes wird zu Recht auf den historischen Faktor verwiesen: Es mag sein, daß Simmels Scherze für viele heutige Leser auch deshalb besser zünden, weil uns ihre Gegenstände zeitlich näher stehen und aktueller erscheinen.

   Daß Karl May in Fachlexika und im Rahmen übergreifend ambitionierter literaturwissenschaftlicher Unternehmungen auftaucht, registriert der professionelle Germanist inzwischen mit dem Eindruck einer gewissen Selbstverständlichkeit, aber auch mit der Erinnerung, daß es vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders war - und das gibt Anlaß, die Bestätigung der neuen Entwicklung immer wieder einmal zu registrieren. In ›Reclams Romanlexikon‹ sind gleich drei mehrbändige Werke Mays aufgenommen worden, ›Winnetou‹ - einschließlich des vierten Bandes -, ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ und ›Ardistan und Dschinnistan‹, Verfasser der kurzen Beiträge ist Rudi Schweikert; daß die großen Romane des Spätwerks den Vorzug erhielten gegenüber etwa dem sechsbändigen Orientroman und dem ›Schatz im Silbersee‹, verdient besondere Beachtung.16 Harald Fricke


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entwirft in einem neuen Buch, an zahlreiche Vorarbeiten anknüpfend, eine ›Philosophie der Kunst‹, die als zentrales Merkmal künstlerischen Bemühens das Streben »nach Befreiung von gesetzmäßigen Grenzen unseres Daseins« (S. 11) fixiert.17 In diesem »abweichungstheoretischen Konzept« (S. 12) findet auch jener Beitrag über ›Old Surehand‹ Verwendung, der erstmals im Jb-KMG 1981 gedruckt wurde; das neue Buch bringt ihn in veränderter Gestalt, hebt am Ende die Neigung des Erzählers May hervor, in einem über konventionelle Verfahren weit hinaus gehenden Maße mit Wiederholungen zu arbeiten, und beurteilt dieses Phänomen ganz anders, als es im Aufsatz Rzeszotniks geschieht: »Der Wiederholungszwang wird, was den Autor betrifft, manisch - und was das künstlerische Resultat betrifft, artistisch« (S. 134).

   Das Kapitel ›Karl May und der Film‹ wird diesmal vertreten durch einen kleinen Beitrag über Schurken in May-Filmen, der sich mit vielen anderen kleinen Beiträgen in einem Sammelband über ›Die größten Schurken der Filmgeschichte‹ findet.18 Rolf-Bernhard Essig stellt speziell den Schut (Rik Battaglia) und Santer (Mario Adorf) vor, vergleicht ihr Auftreten im Film mit dem in den zugrundeliegenden Romanen und hebt hervor, daß die beiden Schauspieler mit großer Präzision und Überzeugungskraft agieren und damit etwa Lex Barker - »steifer Deutscher mit saurer Miene« (S. 82) - teilweise an die Wand spielen. Wieder einmal bestätigt sich der auch von anderen Beiträgen des Bandes gestützte Eindruck, daß die Darstellung von Bösewichtern für Schauspieler eine dankbarere Aufgabe ist als die makelloser Helden.

   Die Karl-May-Gesellschaft hat im Jahr 2000 neben ihren Periodika veröffentlicht:

-Erich Heinemanns umfangreichen Bericht zur Geschichte der Karl-May-Gesellschaft in einer gegenüber der Erstveröffentlichung (1994) weitgehend veränderten und nun bis zum Jahr 2000 führenden Form;19
-als zweiten Band der neuen Reihe ›Materialien zum Werk Karl Mays‹ die überarbeitete Fassung einer May geltenden medizinischen Doktorarbeit von Johannes Zeilinger;20
-einen faksimilierten Nachdruck der Handschrift von ›Merhameh‹, Mays letzter Erzählung; im unteren Teil der Seiten ist jeweils eine gedruckte Wiedergabe des Textmaterials zu finden;21
-ein weiteres Heft aus der Reihe ›Karl-May-Autographika‹, das die Texte diverser Briefe und Karten Karl und Klara Mays aus den Jahren 1893-1912 enthält;22
-einen mit ausgiebigen Erläuterungen versehenen Reprint der Arbeiten, die May in der Zeitschrift ›Frohe Stunden‹ veröffentlichte.23
   Die historisch-kritische Ausgabe hat, wie im letztjährigen Literaturbericht erwartet, mit dem Erscheinen der beiden letzten Bände des ›Weg zum Glück‹ die Abteilung II, Fortsetzungsromane, komplettiert.24 Damit liegt fast ein Drittel der Bände vor, auf die diese Edition am Anfang berechnet


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war: ein Zwischenergebnis, das sich durchaus sehen lassen, aber nicht ohne weiteres zu großem Optimismus Anlaß bieten kann, denn die Erarbeitung der allermeisten ausstehenden Bände wird schwieriger sein und einen erheblich größeren Aufwand erfordern als die der schon vorliegenden Lieferungsromane.

   Der Karl-May-Verlag hat die Reihe der ›Gesammelten Werke‹ mit Band 81 fortgesetzt (Band 82, ›In fernen Zonen‹, war bereits 1999 erschienen).25 ›Abdahn Effendi‹ verdankt sich zum großen Teil dem Umstand, daß der Verlag im Zuge der Neugestaltung dieser Reihe auch Umstrukturierungen vornimmt, d. h., daß zumal kürzere Arbeiten Mays unter thematisch-sachlichen Gesichtspunkten in anderen Bänden auftauchen als bisher. So enthält der neue Diverses aus dem Alterswerk: Novellen, wie ›Abdahn Effendi‹ und ›Merhameh‹, die in früheren Auflagen des Bandes 48, ›Das Zauberwasser‹, enthalten waren, die ›Briefe über Kunst‹ - ganz früher in ›Ich‹ und dann in ›Lichte Höhen‹ zu finden -, Gedichte und anderes aus dem Zusammenhang der Orientreise, dramatische Fragmente, kleinere Aufsätze und einiges mehr.

   Der Experte sucht natürlich nach etwas, das bisher noch gar nicht zugänglich war, und da wird er vor allem fündig in bezug auf den Komplex ›Babel und Bibel‹. May hat zu diesem einzigen von ihm fertiggestellten Drama nicht nur intensive Vorstudien betrieben und eine Fülle von Notizen und Entwürfen angefertigt; er schrieb auch eine umfangreiche Fassung des zweiten Akts, die er später verwarf. Auf rund 140 Druckseiten wird hier das einschlägige Material dokumentiert: der zweite Akt in seiner ursprünglichen Form, fragmentarische Entwürfe und Notizen - letztere nur »in Auswahl« (S. 329) -, ferner Zeugnisse von Mays Beschäftigung mit dem damaligen Babel-Bibel-Streit, Pressereaktionen auf die Veröffentlichung des Stückes und das nur wenige Zeilen umfassende Fragment einer Reiseerzählung ›Abu Kital‹.

   Der von Ekkehard Bartsch und Christoph F. Lorenz mit äußerst hilfreichen Erläuterungen versehene - und mit einer martialischen, zum Inhalt nicht recht passenden Einbandillustration ausgestattete - Band wirkt zwar ein wenig wie ein Flickenteppich, aber das ist nahezu unvermeidlich im Hinblick auf die Ambition, in konzentrierter Form aus Mays letzten Lebensjahren möglichst viele der kurzen Texte zu sammeln, die nicht mehr bzw. noch nicht anderswo untergekommen sind. Der Band ist für die Forschung insgesamt sicher weniger wichtig als ›In fernen Zonen‹, gehört aber unzweifelhaft zu den verdienstvollsten Ergänzungen, die der Bamberger Ausgabe in den letzten Jahren beschieden waren. Freilich erscheint absehbar, daß auch vor dieser neuen Zusammenstellung bald das Bedürfnis nach einer weiteren Revision laut werden wird: Es ist schon kurios, daß im 1998 neu gestalteten Band 49 der fertige Text von ›Babel und Bibel‹ zu finden ist und im zwei Jahre später veröffentlichten Band 81 das, was auch ganz unmittelbar zu diesem Komplex gehört.


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1 Michael Petzel: Das große Karl-May-Lexikon. Berlin 2000

2 Reinhard Starkl: Wagner - May - Hitler - Einstein. Die irrationalen Sehnsüchte der deutschen Seele. O. O. 2000

3 Wolfgang Hermesmeier / Stefan Schmatz: Karl-May-Bibliographie 1913-1945. Sonderband zu den Gesammelten Werken Karl May's. Bamberg-Radebeul 2000

4 Frederik Hetmann: »Old Shatterhand, das bin ich«. Die Lebensgeschichte des Karl May. Weinheim-Basel 2000

5 Norbert Honsza: Sechs literarische Begegnungen. In: Germanistisches Jahrbuch. Ostrava-Erfurt (1997), S. 35-62

6 Nedret Kuran: The Image of the Turk in Karl May's Novel ›Von Bagdad nach Stambul‹. In: Journal of Mediterranean Studies Bd. 5 (1995), Heft 2, S. 239-246

7 Reto Sorg: »Und geheimnisvoll ist es, dieses Buch.« Zu Robert Müllers exotistischem Reiseroman ›Tropen‹. In: Fremdverstehen in Sprache, Literatur und Medien. Hrsg. von Ernest W. B. Hess-Lüttich / Christoph Siegrist / Stefan Bodo Würffel. Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1996, S. 141-176

8 Viktor Otto: Mit Karl May und Brecht wider die Moderne. Zuckmayers Amerika-Bild im Kontext der Amerikanismus-Debatte der Weimarer Republik. In: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999). Hrsg. von Gunther Nickel / Erwin Rotermund / Hans Wagener, S. 361-411

9 Hans-Walter Schmidt-Hannisa: »Kang - keng - king - kung - kong«. Sprachexotismus und Multilingualismus in Karl Mays ›Der blau-rote Methusalem‹. In: Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. Hrsg. von Walter Gebhard. München 2000, S. 305-328

10 Weijian Liu: Geistige Entkolonialisierung in der literarischen Qingdao (Tsingtau)-Darstellung. In: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Beiheft 2 (1999). Hrsg. von Alexander Honold / Klaus R. Scherpe. Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien, S. 249-265

11 Claudia Marra: Der Einfluß von Nietzsches ›Zarathustra‹ auf Karl Mays ›Im Reiche des silbernen Löwen‹. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Bd. 5/6. Hrsg. von Volker Gerhardt / Renate Reschke. Berlin 2000, S. 539-551

12 Frank Pütz: ›Hintertreppenromancier‹ oder ›Großmystiker‹? Karl May und seine Kolportageromane. In: Lesekultur. Populäre Lesestoffe von Gutenberg bis zum Internet. Hrsg. von Petra Bohnsack / Hans-Friedrich Foltin. Marburg 1999, S. 143-162

13 Kurt-Georg Cram: Old Shatterhand, die Zensur und die Herausgeberehre. Ein Kapitel aus dem Leben des Verlegers Walter de Gruyter. In: Börsenblatt des deutschen Buchhandels (2000), Heft 3, S. B 102-B 113

14 Karl-May-Haus-Information. Heft 13. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal / IG des Karl-May-Hauses e. V. (2000)

15 Jacek Rzeszotnik: Helle Helden. Wort-, Situations- und Charakterkomik als Lachen erzeugende Textstrategien in der Abenteuerliteratur im 19. und 20. Jh. am Beispiel ausgewählter Werke von Karl May und Johannes Mario Simmel. Ein Vergleich. In: Orbis linguarum Bd. 14 (1999), S. 51-74

16 R[udi] Schweikert: Karl May. In: Reclams Romanlexikon. Deutschsprachige erzählende Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Frank Rainer Max / Christine Ruhrberg. Stuttgart 2000, S. 753-755

17 Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München 2000

18 Rolf-Bernhard Essig: Es ist May, die Schurken fallen - Santer und der Schut. In: Die größten Schurken der Filmgeschichte. Von Dr. Mabuse bis Hannibal Lecter. Hrsg. von Klaus Dimmler. Leipzig 2000, S. 80-84

19 Erich Heinemann: Dreißig Jahre Karl-May-Gesellschaft. 1969-1999. Erinnerungen und Betrachtungen. Husum 2000

20 Johannes Zeilinger: Autor in fabula. Karl Mays Psychopathologie und die Bedeu-


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tung der Medizin in seinem Orientzyklus. Materialien zum Werk Karl Mays Bd. 2. Husum 2000

21 Karl May: Merhameh. Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Volker Griese. Wankendorf 2000

22 Karl-May-Autographika. Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Heft 6. Hrsg. von Volker Griese. Wankendorf 2000

23 Karl May: Frohe Stunden. Unterhaltungsblätter für Jedermann. 2. Jg. (1877/78); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 2000

24 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 30-31: Der Weg zum Glück. Fünfter und sechster Band. Hrsg. von Hermann Wiedenroth. Bargfeld 2000

25 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 81: Abdahn Effendi. Bamberg-Radebeul 2000


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