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HANS WOLLSCHLÄGER


Das einunddreißigste Jahrbuch





durchbricht ein weiteresmal Tradition und Gewohnheit, und ein weiteresmal mit guten Gründen: es ist diesmal eine Monographie, und dieser Umstand versieht nicht nur ihr Thema, sondern auch dessen Behandlung mit einem besonderen Gewicht. Die inzwischen enorme Sekundärliteratur um Karl May hat im Lauf von Jahrzehnten eine kleine Reihe von Grundlagenschriften hervorgebracht, aus denen sich - im Gedanklichen wie im Faktisch-Materiellen - das übrige Schrifttum gespeist hat und auf die es sich in bleibender Verpflichtung zurückbezieht. Diesen Grundschriften tritt heuer eine weitere an die Seite, und es schien nur angemessen, ihr den besten Publikationsraum zur Verfügung zu stellen, über den die Karl-May-Gesellschaft verfügt.

   Gabriele Wolffs ›Ermittlungen in Sachen Frau Pollmer‹ sind eine biographische Untersuchung - und zugleich noch weitaus mehr. Es geht um Karl Mays erste Frau Emma, von der er sich nach 22-jähriger Ehe scheiden ließ und über die er ein autobiographisches Buch schrieb: ›Frau Pollmer, eine psychologische Studie‹, eine Schrift, die in seinem Werk einzig dasteht und darin sicherlich auch ein einzigartiges Interesse verdient. An sich ist das Leben Karl Mays und seiner Nächsten ganz erstaunlich dokumentiert: der unglückliche Umstand, daß er schon früh mit Behörden und Gerichten zu tun bekam und beide mit nur kurzer Unterbrechung bis an sein Lebensende beschäftigte, hat sein glückliches Gegenstück darin mit sich gebracht, daß von Händen beider Einrichtungen so viele unermüdlich gefertigte Niederschriften auf die Nachwelt gekommen sind, wie sich ein Biograph nur wünschen kann. Aber wo so viele Stimmen über einen Menschen durcheinander reden, nähert sich die Gefahr, daß man sein eigenes Wort kaum noch richtig verstehen kann, und ›die Wahrheit‹ besteht am Ende aus sehr vielen verschiedenen, durchaus unterschiedlichen Wahrheiten; sie machen ihren Gegenstand, so scheint es, nur noch schwerer erkennbar. Wir wissen viel, auch über die unselige Emma Pollmer-May -: wieviel denn wissen wir?

   Geht man das biographische Material über Karl May durch, so sieht man ihr Charakterbild in seiner Geschichte sofort erheblich schwanken. Man stellt fest: es kann sich auf nur ganz wenige wirkliche Dokumente stützen, so zahlreich auch die Schriftstücke sind, in denen sie vorkommt, und diese Dokumente stammen zum allergrößten Teil auch noch von fremder Hand, d. h. stellen von Vernehmungsbeamten zusammenfassend formulierte Wiedergaben ihrer Worte dar. Man stellt ferner fest: es weicht, dieses Bild, vollends ungreifbar in den Nebel der schlechten Überlieferung zurück, sobald man versucht, es ohne Übernahme der Konturen zu zeichnen, die Karl May sel-


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ber gezogen hat. Er ist der Hauptzeuge für Wesensart und Lebensverhalten einer Frau, die ›geschichtlich‹ allerdings auch nur durch ihn geworden ist, und sieht man, wie sehr sein Zeugnis  g e g e n  sie gerichtet ist, so begreift man auch, daß - an sich widersinnig genug - gerade seine Biographen es waren, die sich bewogen fühlten, es anzuzweifeln. War sie die Scheitana, die er - in nur zu durchsichtiger literarischer Figuration - sogar auf die Bühne stellen wollte? War sie ›wirklich‹ so teuflisch, wie sie auf der literarischen Bühne der ›Studie‹ vor uns steht? Die Unschärfe ihrer Züge nimmt, wo die Biographen versucht haben, die Linien nachzuziehen, in einer Weise zu, daß es dem Betrachter den Kopf schütteln müßte, wäre er nicht mit jenen, den Biographen, in einem Grundbedürfnis verbündet, das die kritische Reflexion zu ihren Rechten gar nicht kommen läßt.

   Dem Autor eines geschätzten, gar geliebten Werks auch nach dem Leben zu trachten, dessen Wege nachzugehen, seine Verborgenheiten auszuspähen, ist das Vorrecht des ›Fans‹: er weiß, so meint er, viel; doch möcht' er alles wissen. Aber die strebende Bemühung ist, analysiert man ihre Dynamik, ganz und gar nicht immer so liebenswürdig motiviert, wie sie sich darstellt. Gerade das Allzumenschliche im betrachteten Leben provoziert im engagierten Betrachter selber oft allzumenschliche Reaktionen, und unveränderte Gültigkeit hat, was Freud bei der Untersuchung der Widerstände gegen Pathographien von eben den engagiertesten der Betrachter, den Biographen allgemein, zu erkennen sich genötigt fand. Er machte die Feststellung, daß sie »in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert sind. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer Illusion und verzichten zugunsten ihrer infantilen Phantasien auf die Gelegenheit, in die reizvollsten Geheimnisse der menschlichen Natur einzudringen.« (Ges. Werke Bd. VIII, 202f.)

   Geradezu ein Beweisstück für diese These glaubt man vor sich zu haben, betrachtet man das Buch, das Fritz Maschke vor schon drei Jahrzehnten über Emma Pollmer verfaßt hat, und vollends die gewundenen Sätze, mit denen er darin die ›Studie‹ Karl Mays über sie nicht nur tabuieren, buchstäblich ›außer Kraft setzen‹, sondern geradezu annihilieren möchte. Auffallend ähnlich ist die Position, die im Anschluß an ihn von den Editoren der Studie selbst, Roland Schmid und Heinz Stolte, bezogen wurde. Bei allen


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dreien war es ersichtlich nicht das väterliche, sondern das mütterliche Widerbild aus der eigenen Psychohistorie, was vor den bedrohlichen Realien der Dokumente in Sicherheit gebracht werden mußte, und die komplizierte seelische Nötigung war mächtig genug, das andere infantile Vor-Bild, die »kindliche Vorstellung des Vaters«, in den Hintergrund zu drängen und zu löschen. Das Schauspiel dieser Idealisierungsarbeit, derjenigen ähnlich, die Karl May selber in seiner Autobiographie abzuleisten versuchte, ist entwaffnend erstaunlich, und der Psychologe mag darin die Wiederkehr der ödipalen Situation aufrichtig bewundern. Biographen nicht nur Emma Pollmers, sondern Karl Mays ebenfalls, ja eigentlich dies vor allem, gehen die drei Autoren mit ihm, wo von seiner Frau zu handeln ist, auf einmal in einer Weise ins Gericht, daß man die kaum verhohlene Aggressivität der Urteile gar nicht glauben mag; - ich habe bereits vor 15 Jahren im zuständigen Artikel des Karl-May-Handbuchs dazu Stellung genommen (S. 556). Sie fechten zuletzt, unisono mit seinen einstigen lebzeitlichen Gegnern, seine Glaubwürdigkeit selber an und stellen die grundsätzliche Frage nach ihr dem Fragen nach der Wahrheit der von ihm ›gezeichneten‹ Frau unmittelbar an die Seite. Wir wissen, so scheint es, doch wenig über die unselige Emma Pollmer-May -: wie wenig wissen wir?

   Zu wenig ohne Karl May jedenfalls, zuviel über seine Biographen. Die vielen durcheinanderredenden Stimmen haben, das tritt zutage, das angefochtene Hauptzeugnis lange nach Kräften übertönt. Aber sie haben es nicht zum Schweigen gebracht oder gar widerlegt; seine Untersuchung bleibt die Aufgabe. Kann sie, die einfacher wahrhaftig nicht geworden ist, noch ein einfaches Ergebnis haben? Vielleicht bringt sie vorteilhaft mit sich, daß sich die einfachen Ergebnisse selber in Frage stellen. Es gebe, meinte Karl May, irdische und himmlische Wahrheiten; es gibt jedenfalls, wenn nicht gleich- so doch ähnlichbedeutend, objektive und subjektive. Bei den objektiven zerfällt die betrachtende Instanz in die Teilchen potentiell der Ganzen Welt; bei den subjektiven ist sie das monadische Ich und Subjekt allein. Jene sind darum innerhalb des evolutionären Zeitstroms beliebig variabel; in diesem allein ist die Wahrheit konstant und bleibend. Daß sie dabei nur um so komplexer strukturiert ist, versteht sich von selbst -: wer ein paar Jahrzehnte Selbstbeobachtung hinter sich gebracht hat, weiß, wieviel Unzulängliches im eigenen Leben Ereignis geworden ist und wieviel Unbeschreibliches darin getan; daß dieses Leben mit ein paar vom Zufall bewahrten Papieren, Briefen, Bescheinigungen dokumentiert werden könne, kann er danach nur als aberwitzig verstiegene Vorstellung sehen und als hoffnungslos vergeblich. Das ›Eigentliche‹ allen Lebens-Erlebens liegt, das vermag jeder von sich selber zu lernen, in einer Sphäre, die nicht nur der flüchtigen Neugier, sondern selbst der ernstesten Erforschung verschlossen bleibt, und zuletzt gehört es, unbeschreiblich zu beschreiben, einer Meta-Physik an, in der nur ›die Seele‹ sich noch auskennt und jedenfalls die ›Begriffe‹, schon gar die wissenschaftlichen, die festen Wörter überhaupt, un-


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zuständig werden und scheitern. Zu Karl Mays subjektiver Wahrheit Zugang zu finden, war immer eine Aufgabe, weit schwieriger zu erfüllen als der biographische Auftrag, die Faktizitäten seines Lebens zu sammeln und zu sortieren: der Weg zum Verständnis, warum er die Wahrheit sagte, wenn er log, und warum auch in seinem Leben die Phantasie sich oft das bloße Wirkliche unterwarf wie in seiner Literatur, war und ist mühsam ...

   Auch Emma Pollmer, unauslöslich Teil dieses Lebens, durch ihn erst geschichtlich, geht zuletzt in seiner subjektiven Wahrheit auf: dort sind ihre objektiven Wahrheiten zu suchen. Ihr in seiner Geschichte so sehr schwankendes Charakterbild mag darin zur Ruhe kommen. Gabriele Wolff, Oberstaatsanwältin im zivilen Beruf, hat der verwirrenden Parteien Gunst und Haß noch einmal zur Vernehmung geladen, und das Ergebnis ist eine Scheidung von Gut und Böse, von Wahr und Unwahr, von Subjektiv und Objektiv, wie sie so genau und bestimmend bisher noch nie gelingen konnte. Das Ergebnis sei hier nicht vorweggenommen. Aber in einem Satz immerhin läßt es sich ankündigen: Das viele Wenige, das zu wissen ist, kann künftig mit weit größerer Sicherheit gewußt werden.

   Helmut Schmiedts Literaturbericht und die Tätigkeits-Chronik der Karl-May-Gesellschaft, erstmals in diesem Jahr von Joachim Biermann, der nach dreißig Jahren Erich Heinemanns verdienstvoll und dankwürdig versehenes Amt übernommen hat, beschließen dieses monographische Jahrbuch. Ich danke der Autorin, den Autoren und der wie immer in gewissenhafter Sorgfalt verbündet gewesenen Redaktion herzlich für ihre Arbeit.





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