//317//

HELMUT SCHMIEDT


Literaturbericht





In den letzten Jahren ist zu Recht mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Karl-May-Forschung so etwas wie ein Kompendium der germanistischen Literaturwissenschaft bildet: Die Entwicklung, die das Fach als Ganzes vollzogen hat, zeichnet sich in gedrängter, auch zeitlich verkürzter Form in den Bemühungen um jenen Schriftsteller ab, der lange Zeit fast gar kein analytisches Interesse auf sich gezogen hatte; man könnte - vom Positivismus über werkimmanente Ansätze bis zum linguistischen Zugriff - eine Methodengeschichte weiter Bereiche der Germanistik mit dem speziellen Komplex illustrieren (und es wäre eine hübsche Pointe, dass da in vielen Hauptrollen gar keine professionellen Germanisten auftauchten). Über dieser Feststellung darf man allerdings nicht ignorieren, dass die May-Forschung auch signifikante Züge eines ausgeprägten Konservativismus aufweist, einer Lust am Alten, eines Beharrungsvermögens, das der anderen Seite komplementär verbunden ist. So sind etwa, Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, fast alle der wenigen maßgeblichen Werke der frühen Beschäftigung mit May neu publiziert worden, handle es sich nun um eine rüde Polemik, wie Rudolf Lebius' ›Die Zeugen Karl May und Klara May‹, um literaturwissenschaftlich ambitionierte Studien, wie Droops ›Karl May. Eine Analyse seiner Reise-Erzählungen‹, oder um die wegweisenden Dissertationen von Heinz Stolte und Viktor Böhm aus den 1930er bzw. 1950er Jahren. Die Karl-May-Gesellschaft ist stolz darauf, den größten Teil ihrer maßgeblichen Schriften dauerhaft verfügbar zu halten.

   In diesen Zusammenhang passt es, dass letzthin gleich zwei voluminöse Standardwerke der jüngeren May-Forschung in neuer, überarbeiteter Auflage erschienen sind, Standardwerke, die weniger auf eigenständige, originelle Interpretationen aus sind als darauf, den gewaltigen Kosmos des Phänomens May zu vermessen und im Ergebnis überschaubar zu machen. 1991 war das Jahr der Erstveröffentlichung des von Bernhard Kosciuszko herausgegebenen, von mehr als einem Dutzend Mitarbeitern geschriebenen ›Figurenlexikons‹, das in alphabetischer Reihenfolge fast alle in Mays sämtlichen Schriften auftauchenden Figuren registriert. Das Nachschlagewerk erwies sich, obwohl ihm kleinere Mängel vorgehalten wurden, als so nützlich und attraktiv, dass es bald vergriffen war. 1996 erschien eine zweite, verbesserte und ergänzte Auflage, die ebenfalls reges Interesse fand, und so ist nun - in einem anderen Verlag - bereits die dritte Auflage veröffentlicht worden.1 Auch sie empfiehlt sich als verbessert und ergänzt; das Vorwort erläutert, es seien »eine Reihe kleinerer Unstimmigkeiten/Ungenauigkeiten verbessert, marginale Ergänzungen vorgenommen und Tippfehler berichtigt (worden)« (S. 5). Den nur geringfügigen Eingriffen zum Trotz ist das


//318//

Bemühen erkennbar, aktuell zu sein: So verweist z. B. eine neue Notiz dieser Auflage darauf, dass der bisher kaum zugängliche Text ›In der Heimath‹ mittlerweile in einem neuen Band der Bamberger Ausgabe erschienen ist (vgl. S. 549). Nach wie vor gilt, dass Kosciuszkos Werk jedem Leser hilft, der sich einen Weg durch die May'schen Textlabyrinthe bahnen möchte und ob der Vielköpfigkeit des Personals in Verzweiflung gerät - aber es lädt, insbesondere in den Großdarstellungen zu den Hauptfiguren, auch zu etwas ein, dem sich May-Leser erfahrungsgemäß furchtbar gern hingeben: zum Schmökern.

   Ebenfalls neu erschienen ist das von Gert Ueding herausgegebene Karl-May-Handbuch,2 dessen erste Publikation 1987 erfolgte: ein damals auch in der Presse ausgiebig zur Kenntnis genommenes Werk, das dazu diente, mit einer Vielzahl von Artikeln in knapper, aber hinreichend abgerundeter Form einführend nun tatsächlich über fast alle Facetten des Themas May zu berichten, vom sozial- und kulturgeschichtlichen Umfeld des Autors über seine Lebensgeschichte und seine Publikationen - die mit bibliographischen Daten, Inhaltsangaben und Interpretationshinweisen vorgestellt werden - bis hin zu den Verästelungen der Wirkungsgeschichte in Wissenschaft und populärer Kultur. Auch dieses Buch war bald nach seiner Veröffentlichung vergriffen, und in diesem Fall hat es fast anderthalb Jahrzehnte gedauert, bis es neu erscheinen konnte. Das bewährte Konzept der Erstauflage ist beibehalten worden, aber den Entwicklungen um den Komplex May wurde natürlich Rechnung getragen, Fehler der Erstveröffentlichung wurden beseitigt, und Nützliches ist hinzugekommen, z. B. ein Verzeichnis von May-Seiten im Internet. Herausgeber und Redakteur hatten das Glück, bei den allermeisten Artikeln wieder die alten, überwiegend der Karl-May-Gesellschaft angehörigen Mitarbeiter heranziehen zu können, so dass auch insofern Kontinuität gewährleistet ist. Uedings Handbuch ist gewissermaßen das Standardwerk aller Standardwerke der May-Forschung, und der oben formulierte Satz lässt sich hier sinngemäß variieren: Wer einen aufschlussreichen, anregenden und anspruchsvollen Einblick in das Sachgebiet May gewinnen möchte, wird bestens versorgt - und zum Schmökern lädt der Band ohnehin in höchstem Maße ein.

   Der Berichterstatter selbst ist in diesem Zusammenhang ebenfalls mit einer eigenständigen Publikation zu nennen.3 Ein großer Teil seiner bisherigen May-Aufsätze - teils in den Schriften der Karl-May-Gesellschaft, teils an anderer Stelle zuerst erschienen - ist in einem Sammelband neu gedruckt worden, der von Helga Arend herausgegeben und von Reinhold Wolff mit einem Geleitwort versehen wurde.

   Es gibt, was solche Wiederveröffentlichungen betrifft, sogar eine ganze Buchreihe, deren Konzeption sich teilweise auf diese Praxis stützt: die von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer mit staunenswerter Regelmäßigkeit herausgegebenen ›Karl-May-Studien‹, deren neuester, sechster Band ›Und Friede auf Erden‹ gilt.4 Knapp die Hälfte des Buches ist mit bekannten, z. T.


//319//

aber nicht mehr ohne weiteres zugänglichen Aufsätzen gefüllt: mit Max Finkes ›Aus Karl Mays literarischem Nachlaß‹ aus dem Karl-May-Jahrbuch 1923, das in dem hier wiedergegebenen Auszug eine vorläufige Deutung des - ebenfalls abgedruckten - Gleichnisses vom ›Zauberteppich‹ bietet, in dem May seine Version der Entstehung des ›Friede‹-Vorläufers ›Et in terra pax‹ verklausuliert; mit Arthur Buchenaus freundlichen Darlegungen zu ›Karl Mays Friedensgedanken‹ aus demselben Jahrbuch; mit Hansotto Hatzigs Feststellungen zu den Textvarianten zwischen ›Pax‹ und ›Friede‹ aus dem Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1972/73; mit dem ›Friede‹-Kapitel aus Ulrich Scheinhammer-Schmids Untersuchungen über Mays literarische Entwicklung zwischen 1895 und 1905 (1989), das hier »zu einem eigenständigen Essay« (S. 27) umgearbeitet wurde; und mit Martin Schenkels Aufsatz aus dem Karl-May-Sonderband der Reihe text + kritik (1987), der auf der Basis genauer Detailbeobachtungen den Roman literatur- und geistesgeschichtlich verortet. Wie üblich, finden sich auch eine Einleitung der Herausgeber sowie eine Bibliographie zur Forschungslage.

   Den zweiten Teil des Bandes füllen sechs neue Beiträge. Eckehard Koch skizziert, wie er es auch schon bei anderen Romanen getan hat, den zeitgeschichtlichen Hintergrund, wobei er sich keineswegs auf den berühmten Boxer-Aufstand und sein engeres Umfeld beschränkt. Drei Beiträge kreisen im teils engen, teils weiten Sinne um erzähltypologische Fragen: Michael Niehaus widmet sich den Besonderheiten des Ich in seiner Doppelfunktion als Erzähler und handelnde Figur, einer Konstellation, die schon aufgrund der gegenüber früheren Werken viel stärkeren Akzentuierung der Schriftsteller-Rolle des Protagonisten besonders heikel wird; Martin Lowsky analysiert als dominierende Merkmale des Romans »die realistische Ausrichtung, den selbstreferentiellen Anspruch und die Allegorik« (S. 218) sowie die generelle »Hinneigung zum Abstrakten« (S. 229), die sich z. B. in der Darstellung der Schauplätze zeigt; auf dieses Thema geht umfassender Gudrun Keindorf ein, die beobachtet, wie die Roman-Landschaften »zu Handlungsträgern« (S. 300) werden, wie sie zunehmend auch metaphorisch und allegorisch wirken, obwohl an anderen Stellen durchaus »die touristische Route der [realen] Orientreise« (S. 313) des Autors handfest in Erscheinung tritt.

   Während diesen Arbeiten zufolge ›Friede‹ ein Werk des Übergangs ist, das einerseits deutlich auf die in jeder Hinsicht größeren Romane des Spätwerks verweist, andererseits den früheren Abenteuerromanen noch eng verbunden ist, schien die sozusagen ideologische Orientierung des Werkes immer eindeutig zu sein: Die bisherige Forschung war sich darin einig, dass May hier pazifistische, antiimperialistische, kosmopolitische etc. Tendenzen vertritt, die aufs Schönste dem damaligen unseligen Zeitgeist widersprechen; Mays Selbstdeutungen zur Entstehung der im Kontext des Kürschner'schen ›China‹-Bandes arg widerborstigen ›Pax‹-Variante bestätigen diese Sicht, und so tauchen denn auch bereits in den Titeln der älte-


//320//

ren Beiträge hartnäckig Begriffe wie ›Friedensgedanken‹ (Buchenau), ›Friedensroman‹ (Scheinhammer-Schmid) und sogar ›heilsgeschichtliche(r) Friedensmythos‹ (Schenkel) auf. Schon in Roy Dieckmanns Aufsatz über den schillernden, alles andere als konsequent gehandhabten Revolutionsbegriff in ›Friede‹ deutet sich jedoch an, dass diese Einheitlichkeit des Urteils durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben ist, und Werner Kittstein sieht das vollends ganz anders: Der Untertitel seiner Interpretation konstatiert bereits ›imperialistische Tendenzen‹ auch in ›Friede‹, und dann erläutert der Verfasser, der Roman sage gar nichts Treffendes über die wirklichen Antriebe des Imperialismus, demonstriere ausgiebig ein nur oberflächlich - und oft nicht einmal das - kaschiertes »christlich-europäisches Sendungsbewußtsein als Programm« (S. 256), eine Haltung also, die seinerzeit immer wieder zur Rechtfertigung imperialistischer Politik gedient hat, und verbinde dies mit anderen Unerfreulichkeiten, z. B. einer »reaktionäre(n) Auffassung von der Frau als einem seiner Identität unbewußten, naturhaften Geschöpf« (S. 265). Drei Aufgaben kann ein solcher Materialienband erfüllen: Dokumentation der bisherigen Forschung - Weiterführung der Forschung - Anregung für künftige Arbeiten. Indem dieser Band Beiträge wie die von Schenkel und Kittstein nebeneinander stellt, arbeitet er durch kontrastreiche Verknüpfung der beiden ersten Leistungen höchst effektiv dem dritten Ziel zu.

   Wer sich selbst ein Bild davon machen will, in welchem Rahmen die Erstfassung ›Pax‹ zu finden war, kann das mit Hilfe eines fast gleichzeitig zum Studienband erschienenen KMG-Reprints tun.5 Diese aufwändigste aller derartigen KMG-Publikationen enthält nicht nur Mays Roman, sondern auch Auszüge aus dem gesamten von Joseph Kürschner herausgegebenen ›China‹-Sammelband in originalgetreuer Wiedergabe, weitere Materialien zu jener Veröffentlichung und eine umfassende Einleitung von Dieter Sudhoff, die die historischen Zusammenhänge erläutert, das ›China‹-Werk insgesamt und speziell den May'schen Beitrag vorstellt. In veränderter Form ist Sudhoffs Text - er basiert auf dem Vortrag, mit dem der Verfasser seine Habilitation an der Universität Paderborn abschloss - auch in einem chinesisch-deutschen Jahrbuch gedruckt worden: möglicherweise der erste wissenschaftliche Beitrag über May, der je in China publiziert wurde.6

   Der Verweis auf Reprints berührt einen weiteren Aspekt des Konservativismus in der May-Forschung. Sie lässt es sich nicht nur angelegen sein, ältere Sekundärliteratur mit wissenschaftlichem Anspruch verfügbar zu halten bzw. neu verfügbar zu machen, sondern ist auch generell und geradezu exzessiv darauf aus, alles zu dokumentieren, was im Zusammenhang mit dem Thema May jemals eine zumindest halbwegs exponierte Bedeutung besessen hat. Das kann nur so sein, weil es zum einen unter den Forschern eine hinreichende Zahl engagierter Jäger und Sammler und zum anderen ein Publikum gibt, das überwiegend in der Karl-May-Gesellschaft organisiert und folglich von den betreffenden Veröffentlichungen zielbewusst zu


//321//

erreichen ist. Man darf hier natürlich nicht von den Auflagenstärken eines Bestsellers träumen; aber schon der zuverlässig zu erwartende Verkauf von ein paar hundert Exemplaren macht heute entsprechende Publikationen möglich.

   In diese Kategorie fällt beispielsweise Jürgen Seuls Arbeit über Karl May und die ›Frankfurter Zeitung‹, die als dritter Band in der neuen KMG-Reihe ›Materialien zum Werk Karl Mays‹ erschienen ist.7 Seul dokumentiert und kommentiert nicht nur die bekannten und in der Forschung schon ausgiebig besprochenen Attacken Fedor Mamroths, sondern geht den Komplex umfassend an, von den kurzen literaturkritischen Notizen, die das Blatt in den 1890er Jahren über Mays Jugenderzählungen brachte, bis zu Ernst Blochs Aufsätzen um 1930.

   Die ›Frankfurter Zeitung‹ war ein großes, überregionales, weithin beachtetes Blatt. Der ›Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger‹ und das ›Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt‹ waren dagegen typische Lokalzeitungen, doch weil sie eben aus Mays Geburtsort stammen, ziehen sie zwangsläufig mehr Aufmerksamkeit auf sich als andere Blätter dieser Art. So ist denn jetzt auch systematisch geprüft worden, was sie zwischen 1899 und 1912 über den berühmtesten Sohn der Stadt publiziert haben - nur der Jahrgang 1900 des ›Anzeiger‹ konnte nicht durchgesehen werden -, und alle einschlägigen Veröffentlichungen sind in einer weiteren großen Dokumentation zu finden, die die Texte sowohl in Form von Reprints als auch im Neusatz enthält.8 Der Herausgeber Hans-Dieter Steinmetz und Hartmut Schmidt, der dem Thema bereits im Jb-KMG 2000 einen Beitrag gewidmet hat, steuern Erläuterungen zu diversen Details und zur Geschichte der Hohenstein-Ernstthaler Lokalpresse bei, und ein Personenregister, das viele auch dem Kenner kaum bekannte Namen enthält, erleichtert die Benutzung der Arbeit. Ebenfalls enthalten sind postalische Zeugnisse, die den Komplex und sein Umfeld betreffen, darunter einige aus der Feder Mays. Spektakulär neue Einsichten zu Leben, Werk und Wirkung Mays ergeben sich natürlich auch aus dieser Publikation nicht, die vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal getragen wird, aber in Einzelheiten lassen sich doch immer wieder Entdeckungen machen, z. B. im Hinblick auf Mays karitative Bemühungen zugunsten seiner Vaterstadt und auf die Rolle des Lehrers Willy Winter, der sich zwischen 1906 und 1909 in mehreren Zeitungsbeiträgen vehement für May einsetzte.

   Auch die juristischen Zeugnisse, die Mays letzte Lebensjahre in schreckenerregender Zahl begleiteten, sind zum beliebten Gegenstand der Dokumentation geworden. Die 14. Ausgabe der Hohenstein-Ernstthaler Karl-May-Haus-Informationen bringt erstmals in vollem Wortlaut zwei Urteile aus der Serie der Münchmeyer-Prozesse: das des Kgl. Sächsischen Oberlandesgerichts Dresden vom 5. 2. 1906 und das des Reichsgerichts vom 9. 1. 1907; Hans-Dieter Steinmetz erläutert auch diese beiden für May günstigen Entscheidungen.9 Das Heft enthält, neben weiteren kleinen Beiträ-


//322//

gen, auch noch einen kurzen Aufsatz von Hainer Plaul, der einige Daten zu Mays Rigi-Aufenthalt im Herbst 1901 korrigiert: Das alte Gästebuch des Hotels machte dies möglich.

   Wer nicht nur auf die Dokumentation schriftlicher Materialien Wert legt, sondern sich auch einen optischen Eindruck von Mays Welt verschaffen will, wird mit einem neuen ›Sonderband zu den Gesammelten Werken Karl May's‹ gut bedient.10 ›Auf Karl Mays Fährte‹ begibt man sich hier mit Hilfe zahlreicher Ansichts- bzw. Bildpostkarten, die »Städte, Stätten und Stationen aus aller Welt [zeigen], die in Karl Mays Leben eine Rolle spielten« (S. 6). Dabei handelt es sich sowohl um Karten, die die Mays selbst verschickt haben und die folglich Grüße von Karl, Emma oder Klara enthalten, als auch um andere Karten aus der damaligen Zeit. Der May-Bezug der in jedem Fall also historischen Bilder wird mit kurzen Erläuterungen dargelegt, die Anordnung erfolgt im Rahmen dreier Großkapitel: ›Europa A - Z‹ (darin alphabetisch), ›Die große Orientreise 1899/1900‹ und ›Die Amerikareise 1908‹ (darin jeweils nach der Abfolge der Reisestationen). Ein Register erleichtert auch hier die Orientierung.

   Das Werk ist in technischer Hinsicht hervorragend gelungen, die Reproduktion der Bilder durchweg eindrucksvoll; bei der Herstellung solcher Bücher gibt es heute - wie auch der erwähnte ›Pax‹-Reprint und weitere in diesem Bericht genannte Veröffentlichungen zeigen - Möglichkeiten, von denen man lange Zeit nur träumen konnte. Allerdings muss gerade wegen der Qualität und Präzision dessen, was man sieht, vor der Illusion gewarnt werden, damit sei tatsächlich ein gleichsam unverstellter Blick in die äußere Realität um Karl May möglich: Derartige Bilder sind keine naturalistisch ambitionierten Reproduktionen dessen, was war; sie zielen vielmehr auf möglichst attraktive Eindrücke, sie dienen der Werbung, und so arrangieren, stilisieren, verschönern sie mit mehr oder weniger Geschick die Objekte, die sie dem Betrachter präsentieren. Wahrscheinlich sagt dieses Buch am Ende zur Geschichte touristischer Werbung mehr aus als zu den äußeren Umständen der Lebenswirklichkeit Mays.

   Zu den Karl-May-Filmen hat es in den letzten Jahren immer mehr zu lesen gegeben; obwohl unsere Literaturberichte längst nicht alles aus diesem Bereich verzeichneten, konnten sie davon vielleicht doch einen Eindruck vermitteln. Es trifft sich, dass diesmal gleich zwei Veröffentlichungen zu verzeichnen sind, die gleichfalls dokumentarischen Charakter besitzen und auf eine umfassende Bestandsaufnahme zielen. Bear Family Records, ein Unternehmen, das sich auf die systematische Erfassung von Unterhaltungsmusik zumal der 1950er und 1960er Jahre konzentriert und vor einigen Jahren die Gesangsbemühungen von Pierre Brice und Lex Barker neu zugänglich machte, legt auf acht CDs Musik aus den zwischen 1936 und 1968 produzierten Karl-May-Filmen vor.11 Hier werden also nicht nur die Klänge aus der bekannten Serie ab 1962 in einem bisher nie erreichten Umfang dargeboten, sondern auch die des ersten May-Tonfilms ›Durch die Wüste‹ und


//323//

der beiden Orientfilme aus den späten 50er Jahren; Vollständigkeit ist allerdings nicht intendiert, die älteren Produktionen wie auch ›Das Vermächtnis des Inka‹ sind nur mit wenigen Minuten vertreten. Ob es tatsächlich reizvoll ist, das alles einmal von A bis Z durchzuhören, möge dahingestellt bleiben, aber dieser Zweifel spricht weder gegen das Konzept der Edition noch gegen die Qualität der Musik, denn Filmmusik ist ja per definitionem etwas, das in der Regel primär als Ergänzung zu etwas anderem wirken soll.

   Eine fast 200 Seiten starke Buchbeilage informiert kurz über die Komponisten, den Produktionsstab und den Inhalt der Filme. Das Glanzstück des Buches indes sind seine von den Sammlern Erich Hammerler und Georg Mühlenkamp zur Verfügung gestellten Bildmaterialien und unter ihnen wiederum die Plakate, mit denen - international unterschiedlich - für die Filme geworben wurde. Wer sie genauer betrachtet, gewinnt einen auch kulturhistorisch interessanten Eindruck davon, wie ein und dieselbe Sache je nach Zielort mit verschiedenen Reizen angeboten wurde; so erwecken die italienischen Plakate zu ›Old Shatterhand‹ (vgl. S. 59) und ›Durchs wilde Kurdistan‹ (vgl. S. 120) den Eindruck, man kämpfe hier in erster Linie um halbnackte Frauen, die an Pfähle gebunden sind. Die technische Qualität der Bildwiedergaben wie überhaupt das Äußere des ganzen Projekts, das in einer großformatigen Box daherkommt, ist imponierend. Wer von den im vorliegenden Bericht bisher genannten Veröffentlichungen diese und den opulenten ›Pax‹-Reprint der KMG ins Regal stellt, kann seinerseits etwas eindrucksvoll demonstrieren: dass die Dokumentationen zum Thema May mitunter in einer Pracht erfolgen, die keinen Vergleich zu scheuen braucht.

   Auch ein neues Buch von Michael Petzel lässt sich als Beleg dafür nennen.12 Drei Jahre nach dem ›Karl-May-Filmbuch‹ legt er ein weiteres grandioses Werk zum Thema vor, das nunmehr als Mischung aus Filmbuch und Reiseführer konzipiert ist. Eine Vielzahl von teils schwarz-weißen, teils farbigen und wiederum eindrucksvoll reproduzierten Fotos sowie begleitende Texte dokumentieren Drehorte und -arbeiten der May-Filme und einiger Fernsehproduktionen, und es wird präzise erläutert, wie man diese Stätten wiederfinden kann, die zum großen Teil im früheren Jugoslawien liegen, heute also über mehrere Staaten verteilt sind. Eine Reihe von Aufsätzen vermittelt zusätzliche Informationen und Impressionen, etwa in Bezug auf Jugoslawien als Filmland. Die Nscho-tschi-Darstellerin Marie Versini steuert Erinnerungen an ihre damaligen Erfahrungen bei (S. 10: »Lex beeindruckt mich sehr, weil ich ihn als kleines Mädchen im Kino als Tarzan gesehen habe«). Der Leser wird konfrontiert mit Forschungsdesideraten (vgl. S. 8: wo wurde die Szene mit Forresters Tod in ›Winnetou 2. Teil‹ gedreht?) und mit den erstaunlichsten Detailinformationen (S. 268: »Der Miralai Omar Ahmed in ›Durchs wilde Kurdistan‹ ist die einzige Nebenrolle in einem Karl-May-Film, die gleich von drei Darstellern gespielt wird«). Mit diesem Buch verhält es sich ähnlich wie mit der CD-Edition: Wer mit all den Film- und Fernseherzeugnissen, die sich an Mays Namen heften, nichts zu


//324//

tun haben will, kann durch Vermeidung jeglicher Kontaktaufnahme viel Geld sparen; wer nostalgische Erinnerungen an Kinobesuche im jugendlichen Alter hegt, ernsthafte Erkenntnisinteressen verfolgt, ein Brice- oder Barker-Fan ist (oder das alles irgendwie miteinander verbindet), wird hier bestens bedient. Das Gleiche gilt für den, der Urlaubsanregungen sucht. Auf dem letzten Farbfoto streckt Pierre Brice dem Betrachter die Zunge heraus.

   Nicht nur die Karl-May-Filme, sondern auch die Karl-May-Inszenierungen an Freilichtbühnen sind zunehmend zum Gegenstand schriftlicher Beschreibung und Kommentierung geworden. In diesem Zusammenhang ist vor allem ein 1999 erschienenes Buch über die Aufführungen in Bad Segeberg zu nennen (vgl. Jb-KMG 2000, S. 323f.). Die Autoren Marheinecke, Finke und Greis legen dazu nun schon zwei Jahre später eine Fortsetzung vor, die auf knapp drei Dutzend Seiten die Aufführungen von 1999 (›Halbblut‹) , 2000 (›Der Ölprinz‹) und - dies freilich nur in einer Vorschau - 2001 (›Der Schatz im Silbersee‹) bespricht und in Bildern dokumentiert.13 Der Gesamtbefund lautet, dass 1999 - mit einer missratenen Inszenierung und einem gewaltigen Brand in den Kulissen, der einen ganzen Kunstfelsen zerstörte - ein wahres Katastrophenjahr war, während es 2000 wieder deutlich aufwärts ging: mit Zuschauerzahlen, die lange nicht erreicht worden waren, und mit einer Inszenierung, die sich viel enger an die literarische Vorlage hielt, als es zuletzt üblich gewesen war. Es gibt offenbar so etwas wie einen Segeberg-›Kult‹, der sogar einen Teil der Mitwirkenden in seinen Bann zieht. Joshy Peters - seit 1987 als Schauspieler beteiligt, u. a. in der Rolle des Old Shatterhand - schwärmt eindrucksvoll von der einzigartigen Atmosphäre: »Ich liebe es, nach einer schönen Abendvorstellung, wenn das Publikum aus dem Theater strömt, irgendwo ganz allein und unbemerkt zu sitzen und alles in mich aufzusaugen. Dann habe ich Tränen in den Augen, dann bin ich glücklich« (S. 31).

   Karl Mays Werk zum Anschauen: darum haben sich, obwohl die meisten May-Editionen nicht bebildert sind, auch diverse Maler bemüht, in jüngster Zeit zumal Klaus Dill. Was Dill zu ›Winnetou I - III‹ und zum ›Schatz im Silbersee‹ eingefallen ist, war zusammengefasst bereits in ›WesternArt‹ zu sehen (vgl. Jb-KMG 1998, S. 402f.), einem Buch, das auch Dills Tecumseh-Zyklus, einen Teil seiner Western-Filmplakate und anderes enthielt. Nun ist ein großformatiger Band erschienen, der sich ausschließlich Dills May-Arbeiten widmet und dabei den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: »In diesem Buch sind zum ersten Mal alle 72 farbigen Gemälde für Karl May versammelt und 184 zugehörige Skizzen und Zeichnungen, die zum Teil erst im Dill-Nachlass entdeckt wurden«, heißt es auf dem Einband.14 Zu den Ergänzungen gegenüber ›WesternArt‹ gehören neben den Skizzen und Zeichnungen vor allem die 33 Deckelbilder, die Dill 1992 für die bekannte Züricher Ausgabe schuf; einigen von ihnen merkt man an, dass der Künstler hier unter Zeitdruck arbeitete. Ein Vorwort von Erwin Müller und drei Aufsät-


//325//

ze von Eberhard Urban führen näher in die Materie ein. Dass - sagen wir's mit dem Mut zum Grellen, der auch Dill eignete - die Bilder des profilierten Filmplakatemalers oft recht plakativ wirken, ist nicht zu übersehen, und manche May-Leser werden in ihnen den Geist Mays ebenso wenig wiederfinden wie am Segeberger Kalkberg oder in den May-Filmen; aber von beträchtlichem Reiz sind sie in ihrer unverwechselbaren Art dennoch, und auch kunstbeflissene Leser können anhand des vorliegenden Bandes manche Details ertragreich betrachten, z. B. ein oft geradezu »geheimnisvolles Licht« (S. 10), in das Dill seine Figuren taucht, oder die manchmal erstaunlichen Beziehungen zwischen den Skizzen und den dazugehörigen fertigen Bildern.

   Als letzter Beleg für die These, dass die May-Forschung in erheblichem Maße auch konservative Züge aufweist, mag hier der Umstand gelten, dass sie mit großer Beharrlichkeit immer wieder dieselben Themen umkreist, darunter auch solche, die längst gründlich ausgeleuchtet worden sind. Das gilt z. B. für das Problem der postumen Bearbeitungen May'scher Werke: Seit Jahrzehnten geistert es durch die Sekundärliteratur, Pro und Contra sind gründlich formuliert worden, und wer sich ein eigenes Urteil bilden will, kann heute mühelos an die allermeisten Originaltexte bzw. Frühdrucke gelangen. Dennoch verstummen die Diskussionen nicht, und manchmal gewinnen sie sogar eine erstaunliche Heftigkeit.

   So legte zu Beginn des Jahres 2001 Klaus Hoffmann ein Buch vor, das in der May-Szene und z. T. auch in der Presse für beträchtliches Aufsehen sorgte:15 ›Karl Mays Werke‹ ist der Versuch, den im Einzelnen schwer überschaubaren Komplex einmal ganz gründlich und systematisch zu durchleuchten. Hoffmann verfährt dabei im Großen und Ganzen chronologisch: Er beginnt mit Mays Eigenbearbeitungen auf dem Weg von Zeitschriften- zu Buchfassungen sowie mit der Frage nach Interpolationen in den Münchmeyer-Romanen und endet, nachdem er die Editionspraktiken diverser Verlage behandelt hat, bei den jüngsten Entwicklungen in der Bamberger Ausgabe. Was sich bei alldem findet, betrachtet er als eine einzige chronique scandaleuse: Abgesehen davon, dass ihm - philologisch völlig zu Recht - die Selbstrevisionen Mays legitim erscheinen, hat er unzählige und z. T. umfangreiche Textänderungen, -streichungen und -hinzufügungen durch fremde Bearbeiter entdeckt, gravierende Eingriffe, die Mays eigenen Intentionen ganz und gar nicht entsprächen. Als Hauptübeltäter fungiert der Karl-May-Verlag, der mit seiner Radebeuler und Bamberger Ausgabe kontinuierlich Werkfassungen verbreitet habe, die sich auf fast jede erdenkliche Weise von den von May autorisierten Versionen entfernen; diesen Editionen gilt denn auch der größte Teil des Buches.

   Es ist nicht allenthalben auf Begeisterung gestoßen, und der unvoreingenommene Leser kann bei genauer Prüfung in der Tat eine Reihe von Einwänden erheben, die sich zu dem Vorwurf bündeln, es sei ein zweifelhaftes Unternehmen, philologische Detailarbeit in populärwissenschaftlicher


//326//

Form bieten zu wollen und dabei mit philologischen Gepflogenheiten selbst nachlässig umzugehen. Der flapsige und herablassende Stil, mit dem der Verfasser oft operiert, trägt zur Wahrheitsfindung nicht unbedingt bei. Bei der Wiedergabe von May-Zitaten unterläuft mancher kleine Fehler (vgl. z. B. S. 7, wo unter anderem aus der von May im Nachwort zu ›Winnetou III‹, S. 630, verwendeten Präsensform »verlängert« ein »verlängerte« wird). Eine Vielzahl von Zitaten wird gar nicht bzw. nur unzureichend belegt (vgl. S. 9). Es ist nicht statthaft, Äußerungen, die das Erzähler- und Helden-Ich eines Romans formuliert, ohne weiteres als unmittelbare Meinungsäußerung des empirischen Autors, hier also der Person May, zu verbuchen, wie es an der gerade schon genannten Stelle (S. 7) geschieht. Auch mit der Sekundärliteratur tut Hoffmann sich gelegentlich schwer: Eine umfangreiche Arbeit, die im Gegensatz zu ihm Interpolationen in den Münchmeyer-Romanen für eher unwahrscheinlich hält, wird kurzerhand als »teils methodisch fragwürdig« (S. 46) etikettiert und damit - ohne jegliche weitere Erläuterung - beiseite gefegt, und was Hoffmann zur Kommentierung einer bearbeiteten ›Winnetou I‹-Passage in einem »Standardwerk über die Aufklärung, das 1991 erschien« (S. 251), schreibt, rekapituliert genau das Gegenteil dessen, was dort zu lesen ist. Haben wir also ein in vieler Hinsicht missratenes und - da es eben den Kennern im Grundsätzlichen gar nichts und in Einzelheiten wenig Neues sagt - obendrein noch überflüssiges Buch vor uns?

   Eine schlichte Bejahung dieser Frage würde der Sache nicht gerecht. Der Berichterstatter muss gestehen, dass auch er kaum Überraschendes auf den mehr als dreihundert Seiten gefunden hat und dass er sie dennoch von Anfang bis Ende mit einer Faszination gelesen hat wie wenig andere Bücher über May. Eine ganz kleine Rolle spielt dabei der Umstand, dass Hoffmann listig genug ist, den Eingeweihten insgeheim und nebenbei allerlei Pikantes zu bieten; so führt er als Kronzeugen für seine Sicht der Dinge mehrfach - sogar noch in seinem letzten Zitat (vgl. S. 324) - jenen Christoph F. Lorenz an, der bekanntlich auch als Mitbearbeiter in den jüngsten Bänden der gescholtenen Bamberger Ausgabe hervortritt. Vor allem aber ist es die schiere Masse des Belegmaterials, die den Leser in den Bann zieht. Zu wissen und an wenigen Beispielen gezeigt zu bekommen, dass diverse Bearbeiter von stilistischen Veränderungen bis zu radikalen Abwandlungen des Plots, von der Einfügung bis zur späteren Tilgung von Antisemitismen, von der Neugliederung des May'schen Textes bis zur Veränderung von Titeln alles unternommen haben, was sich die Phantasie in Bezug auf derartige Eingriffe überhaupt nur vorstellen kann - das ist eine Sache; eine andere ist es, dies einmal in aller Ausführlichkeit, über Hunderte von Druckseiten ausgebreitet zu bekommen, und diese Demonstration funktioniert weitgehend unabhängig davon, dass Hoffmann sich in den Details Blößen gibt - und sie wirkt sogar dann, wenn man die Tätigkeit insbesondere des Karl-May-Verlags in der Summe anders, günstiger beurteilen mag als er.


//327//

   Hoffmanns Buch lenkt den Blick auf einige geradezu groteske, kulturgeschichtlich vielleicht sogar singulär dastehende Paradoxien: dass zahlreiche Verlage Karl May mit weiten Teilen seines Werkes für einen potenziellen Erfolgsschriftsteller hielten, gleichzeitig aber offenbar der Überzeugung anhingen, man könne seine Arbeiten keineswegs so - und in vielen Fällen nicht einmal annähernd so - veröffentlichen, wie er sie geschrieben bzw. publiziert hatte; dass die vor diesem merkwürdigen Hintergrund gezogenen Konsequenzen seiner dauerhaften Massenwirkung keineswegs abträglich waren, sie begünstigt und vielleicht sogar erst - darüber ließe sich in der Tat noch diskutieren - ermöglicht haben; dass sich insofern die May-Rezeption seit nun schon fast einem Jahrhundert ganz überwiegend auf Texte stützt - von den May-Filmen, -Festspielen etc. soll hier gar nicht die Rede sein -, die nach strengen philologischen Prinzipien gar nicht mehr als von May verfasst gelten können. Wenn ein neues Buch Altbekanntes derart hell und vor allem grell ins Licht rückt, mag man ihm nicht unbedingt der Weisheit letzten Schluss zubilligen wollen; seine Verdienste aber hat es dann allemal.

   Welche schwerwiegenden Folgen für das Verständnis Mays die Bearbeitungspraktiken und der Umgang damit immer noch haben können, zeigt ein in einer amerikanischen Fachzeitschrift erschienener Aufsatz über ›Rassendiskurse im Wilden Westen‹, dessen Fragezeichen im Anschluss an diese Formulierung des Untertitels der Verfasser gedanklich schon bald durch ein Ausrufezeichen ersetzt.16 Die Argumentation ordnet sich in jene Deutungen ein, die die reaktionären, den finsteren Zügen des Zeitgeists verhafteten Tendenzen der Romane Mays hervorheben - wie Kittstein im Fall von ›Friede auf Erden‹ - und von Aufsässigkeit und revolutionärer Haltung gegenüber dem politisch-gesellschaftlichen Status quo nichts wissen wollen. Sie tut dies im Hinblick auf die Erzählung ›Halbblut‹ und speziell auf die darin enthaltene Darstellung der Chinesen, die dem Verfasser rassistisch erscheint. Vieles, was angeführt wird, ließe sich gewiss unabhängig von der Bearbeitungsproblematik diskutieren; aber bei sorgfältiger Überlegung kommt man nicht daran vorbei, dass der nach der Ueberreuter-Ausgabe zitierte Text zahlreiche, auch für dieses Thema gravierende Abweichungen von der zu Mays Lebzeiten veröffentlichten Version aufweist - vom Titel ›Halbblut‹ bis zum völlig veränderten Schluss - und dass insofern vor allem das Bemühen schief wirkt, den entdeckten Rassismus historisch präzise in die Entstehungszeit der Erzählung einzuordnen. Der Verfasser ahnt wohl die Kalamitäten, in die er geraten ist, und geht damit ausweichend um: Die Lektüre des Werkartikels im Karl-May-Handbuch hat ihn über die Textabweichungen im Grundsätzlichen informiert, aber die Originalfassung habe ihm »nicht zur Verfügung (gestanden)« (S. 131); wiederholt argumentiert er mit dem Ende der Erzählung in ihrer radikal bearbeiteten Form, erkennt nebenbei aber auch der ihm aus eigener Lektüre gar nicht bekannten »ursprünglichen Textfassung (...) gut wilhelminischen Stil (zu)« und spekuliert, die Bearbeitung könne noch »rassistischer (sein)« (S. 133).


//328//

   Ein recht häufig besprochenes Forschungsthema ist auch Mays Neigung zum Rollenspiel, wobei an seine persönlichen Eskapaden ebenso zu denken ist wie an bestimmte Charakteristika seiner Werke. Die engste Verbindung zwischen den beiden Bereichen wird in der Old-Shatterhand-Legende greifbar, und da wiederum spielen die Fotos, die der Linzer Fotograf Alois Schießer von dem als Shatterhand und Kara Ben Nemsi kostümierten May angefertigt hat, eine wichtige Rolle. Das Stifter-Haus in Linz hat diesem Komplex im Herbst 2001 eine Ausstellung gewidmet, und der sie begleitende Katalog setzt sich mit dem Thema Rollenspiel im weiteren Sinne und unter verschiedenen Aspekten auseinander.17

   Ganz unmittelbar den kuriosen Fotos gewidmet sind Aufsätze von Georg Wacha über Mays Beziehungen zu Linz, Schießer und dem Fotohändler Nunwarz sowie von Hans Grunert über Bilder, auf denen angeblich der Henrystutzen zu sehen ist. Markus Kreuzwieser gibt einen allgemeinen Überblick zur Old-Shatterhand-Legende, einem Phänomen, das ja zweifellos Elemente des Pathologischen mit solchen des hochmodernen Starkults bizarr vermischt. René Wagner skizziert die Geschichte des Radebeuler Karl-May-Museums und die Beziehungen Mays zu den Künstlern Selma Werner, Sascha Schneider und Claus Bergen. Armin Eidherr fasst zusammen, wie die Bösewichter in Mays Werk behandelt werden, und Herwig Gottwald formuliert ein vorsichtig eingeschränktes Ja auf die Frage, ob May mit Winnetou »einen ›neuen Mythos‹ geschaffen (hat)« (S. 79). Über den Umgang des Kinos mit May - von den verschollenen Stummfilmen bis zu Syberberg - berichtet Otto Johannes Adler.

   Zwei für die Forschung besonders interessante Aufsätze steuert Rudi Schweikert bei. Der erste zeigt anhand von Beispielen, wie gründlich und geradezu systematisch May viele seiner Nebenfiguren »als Männer mit weiblichem Einschlag, als geschlechtlich uneindeutig, als zwischen den Geschlechtern changierend« (S. 53) darstellt, wobei das Moment der Komik über die Anstößigkeit dieses Vorgangs oft hinwegzutäuschen und das Bewusstsein des Lesers zu beruhigen vermag. Es fehlt indes bei der Schilderung Clairons, der ›Miß Admiral‹ in dem frühen Roman ›Auf der See gefangen‹, und Schweikerts zweiter Beitrag leuchtet detailliert aus, wie sehr diese Figur ihr Auftreten, ihre Masken wechselt, von der verführerischen, aufreizend sinnlichen Frau bis zum rabiaten, skrupellosen Seeräuber; das latent frivole Spiel, das May hier treibt, schließt nach der einleuchtenden Argumentation des Verfassers auch noch Beziehungen zu James Fenimore Coopers Seeroman ›Der rote Freibeuter‹ (1828) ein und zu einer französischen Schauspielerin namens Clairon, die nicht zuletzt durch ihr - wie man in Anlehnung an zeitgenössische Quellen formuliert hat - »ganz der skandalösesten Unzucht gewidmetes Leben« (S. 68) legendär wurde. Nebenbei verweist Schweikert auf ein elementares Maysches Stilmittel: den Chiasmus, die Über-Kreuz-Figur, die sich z. B. findet, wenn ein kleiner dicker Mann wie Dick Hammerdull ein großes, schmales Pferd reitet, während


//329//

sein dünner, lang aufgeschossener Freund Pitt Holbers sich mit einem »kleinen, dicken Hengst« (S. 70) fortbewegt.

   In einem weiteren, an anderer Stelle erschienenen Aufsatz befasst sich Schweikert mit phantastischen Elementen in Mays Epik.18 An mehreren Beispielen demonstriert er, dass diese eine »knallbunte Welt voller kontraempirisch kombinierter Elemente« bietet und folglich den »Anschein fundierter rationaler Legitimiertheit« (S. 70) immer wieder zurücknimmt, sei's insgeheim und nebenbei, sei's - vor allem im Spätwerk - offen und in zentralen Zusammenhängen. May bedient sich dabei sogar »schauerromantischer Topoi« (S. 77), so wie umgekehrt spätere Autoren, für die hier einmal mehr Arno Schmidt steht, »mit Reminiszenzen, Anspielungen auf und Zitaten aus Karl Mays Werk« (S. 78) arbeiten. Der besondere Wert dieses wie manches anderen Beitrags des Autors liegt gerade in der Aufdeckung solcher intertextueller Beziehungen, mag es dabei nun um unmittelbare Beeinflussung oder um Analogien gehen. Man braucht sehr spezielle Lektüreerfahrungen, um etwa Entsprechungen zwischen May und Kurd Laßwitz bei der literarischen Gestaltung des Friedensgedankens zu entdecken (vgl. S. 65ff.) oder den Umstand, dass es das Motiv der am lebendigen Leib klappernden Knochen nicht nur bei Mays Mübarek, sondern auch bei einer Figur der Erzählung ›Sintram und seine Gefährten‹ von Friedrich Baron de la Motte-Fouqué gibt (vgl. S. 76f.).

   Der Arno-Schmidt-Spur folgt Rudi Schweikert auch noch in zwei anderen, kleinen Aufsätzen. Die eigenartige Formulierung »unser Morgen sei weiß!« am Beginn der Erzählung ›Kühe in Halbtrauer‹ entstammt ebenso Mays ›Mahdi‹ wie die Schreibweise Kaff im Titel von ›Kaff auch Mare Crisium‹.19 In ›Sitara‹ hat sich Schmidt über eine Stelle in ›Winnetou II‹ mokiert, an der in Bezug auf ein Stinktier von einem »Stunk« statt, wie Schmidt es für richtig hielt, von einem »Skunk« die Rede ist; die eigene Lektüre von ›Pierer's Universal-Lexikon‹, deren sich Schmidt später rühmte, hätte ihm allerdings zeigen müssen, dass beide Schreibweisen zulässig waren.20

   Im Literaturbericht des vorigen Jahrbuchs war über den Aufsatz eines polnischen Germanisten zu berichten, in dem die Komik bei May mit der eines Erfolgsschriftstellers unserer Zeit, Johannes Mario Simmels, verglichen wurde. Dieser Beitrag erweist sich nun als gedankliches Teilstück der Dissertation des Verfassers.21

   »Das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist das Aufweisen der Existenz und Applikation vergleichbarer (wenn nicht identischer) literarischer Kommunikationsstrategien im Unterhaltungsroman in der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts«: So fasst Rzeszotnik seine wissenschaftlichen Absichten zusammen. Er vertritt also die Überzeugung, dass sich - wenn man es etwas schlichter formulieren will - an der Machart erfolgreicher Unterhaltungsromane seit Mays Zeiten nicht viel geändert hat, dass sie ihr Publikum immer noch mit den im wesentlichen gleichen Mitteln ansprechen, und zum Beleg vergleicht er einzelne Werke »von zwei anerkannten


//330//

Galionsfiguren dieser Literatursparte« (S. 10), Werke, die ihrerseits jeweils unterschiedlichen Schaffensphasen oder -richtungen der beiden Schriftsteller zuzuordnen sind: Bei May geht es um den ›Schatz im Silbersee‹ als Exempel für die ›klassischen‹ Abenteuerromane sowie um die frühen Erzählungen des Sammelbandes ›Am Stillen Ocean‹ - beides wird nach der Radebeuler Ausgabe zitiert -, bei Simmel um den ersten großen Erfolg ›Es muß nicht immer Kaviar sein‹ (1960), ein eher heiteres, verspieltes Werk, und um den demgegenüber düsteren Roman ›Im Frühling singt zum letzten Mal die Lerche‹ (1990). Nach Überzeugung des Verfassers legt May seine »Kommunikationsstrategien (...) intuitiv« an, Simmel die seinen dagegen »bewusst« (S. 14).

   Dieser Gegensatz soll zunächst einmal verdeutlicht werden durch zwei biographische Kapitel, die May als »Träumer und ›Rausch-Künstler‹« (S. 16) ausweisen, Simmel aber als »Planer und Konstrukteur« (S. 64); das ist, bei allem Verständnis für idealtypische Zuspitzungen, ein vielleicht doch zu simpler Kontrast, und der Vergleich überzeugt schon insofern nicht ganz, als das Kapitel über May fast viermal so umfangreich ausfällt wie das zu Simmel. Es folgen - mit reichhaltigen Hinweisen auf die Trivialliteraturforschung im Allgemeinen und die May- und Simmel-Forschung im Besonderen - die textanalytischen Darlegungen, die den unterschiedlichsten Elementen gelten: der Spannungserzeugung mit Hilfe bekannter wie unbekannter Personen, der Erzeugung von Rührung und Komik, der Schilderung positiver und negativer Helden und anderem. Rzeszotnik achtet darauf, nicht nur das im Text selbst Beobachtbare herauszuarbeiten, sondern auch dessen (mutmaßliche) Wirkung auf die Leserschaft. Manchmal stimmen die Befunde zu den mehreren Autoren und Texten so weit überein, dass der Verfasser gar vom »gleiche(n) Strickmuster« (S. 93) reden kann; aber es gibt auch die eine oder andere »zeitgemäße Differenz«, z. B. in dem Umstand, »dass die modernen Bösewichter dem Helden nicht mehr unterlegen sind« (S. 185). Weitere Erkenntnisse vermitteln sich dem Leser, der etwas für seine Kompetenz in Sachen wissenschaftliche Terminologie tun will; so kann man hier das Wort »longitudinal« (S. 79) lernen und darüber nachdenken, was sich hinter der »affirmative(n) Wirkung der konfliktsituativen Faktizitäten« (S. 187) verbirgt.

   Der Verfasser räumt mit Hilfe der mehr als 700 Fußnoten offen ein, dass viele seiner Textbeobachtungen der Inspiration durch die frühere Forschung zu verdanken sind; insofern wird er die May- und auch die Simmel-Forschung nicht eben revolutionieren. Aber die beiden Bereiche zusammenzuführen, erweist sich - auch unabhängig vom Blick auf die Persönlichkeit der beiden Schriftsteller - als lohnendes Unternehmen, denn Rzeszotnik kann in der Tat bemerkenswert viele Übereinstimmungen in der Beschaffenheit der verschiedenen Texte nachweisen, ohne dass ihm der Vorwurf zu machen wäre, sich ob seiner zentralen Ambition von vornherein blind für Differenzen gestellt zu haben. Es gibt in der Arbeit kein Schluss-


//331//

kapitel, das über weiterführende Konsequenzen aus den Text- und Wirkungsbefunden nachdächte; die May-Forschung wäre aber gut beraten, der Sache weiter nachzugehen. Der Berichterstatter kann im übrigen darauf verweisen, dass sich auch vor dieser Publikation trefflich mit dem Wort konservativ hantieren lässt: Gerade indem sie mit dem Vergleich Simmel - May thematisch Neuland erobert, präsentiert sie die Unterhaltungsliteratur als ein wenig variables Phänomen, und das ist seinerseits ein Verständnis, das im Grundsätzlichen auch nicht eben spektakulär neu wirkt.

   Was Rzeszotnik wohl zu May Spätwerk herausfinden würde? Es schließt ja in vieler Hinsicht unmittelbar an die Regularien der Abenteuerromane an, überschreitet die alten Grenzen aber auch, z. B. mit der Preisgabe schlichter Unterhaltsamkeit und mit dem Blick in die Zukunft in einem geradezu weltgeschichtlichen Sinne. Wie das in ›Ardistan und Dschinnistan‹ vonstatten geht, ist Gegenstand eines Essays von Jürgen Hahn.22

   Hahn achtet dabei, wie in fast allen seinen May-Arbeiten, weniger auf die Details der literarischen Faktur; er ordnet vielmehr Mays Roman in die ähnlich gelagerten zeitgeschichtlichen Tendenzen ein, in das verbreitete Bemühen um den »Weg nach oben« (S. 4), und er gewichtet das »Empor!« als »Devise dieses Zeitalters« (S. 5) auch im Blick auf alte Traditionen und künftige Entwicklungen. Der Gesamtbefund ist - ähnlich wie in Günter Scholdts thematisch verwandtem Beitrag im Jb-KMG 2000 - nicht ungünstig für May: Das immer ein wenig martialisch wirkende Streben ›nach oben‹ muss zwar Opfer einkalkulieren und weist insofern seine Schattenseiten auf - ein rabiater May-Kritiker hat in diesem Zusammenhang sogar an die Rampe von Auschwitz gedacht -, aber letztlich erscheint ›Ardistan und Dschinnistan‹ als ein »großes Friedensbuch, in dem nichts nachzulesen ist von einer nationalen Revolution als messianischem Ereignis« (S. 37). Jürgen Hahn ist, wie die regelmäßigen Jahrbuch-Leser wissen, kein Autor, dessen Arbeiten sich dem Verstehen leicht erschließen, und auch hier präsentiert er längere unübersetzte Zitate aus dem Lateinischen (vgl. S. 8) und arbeitet ohne Erläuterungen mit Assoziationen, die vor Bildung geradezu bersten, etwa hinsichtlich der »affrösen Zeughäuser eines Klaus Theweleit« (S. 19); dennoch ist der Text, aufs Ganze gesehen, zugänglicher als das meiste, was Hahn bisher zum Thema May veröffentlicht hat.

   Vor einigen Jahren hat der Berichterstatter in seinem Buch ›Ringo in Weimar‹ darauf hingewiesen, dass sich auf erstaunliche Weise die Rezeption ähnelt, die so unterschiedlichen kulturellen Koryphäen wie Goethe, May und den Beatles beschieden ist, vom wissenschaftlichen Umgang bis zu den populären Mythen, die an sie geknüpft sind; zu den Abweichungen im Falle Mays gehöre es, dass bei ihm noch keine Auflistung der Art ›Sein (bzw. ihr) Leben von Tag zu Tag‹ vorliegt. Inzwischen ist dieses Defizit zumindest ansatzweise beseitigt worden.23

   Volker Grieses ›Chronik‹ umfasst rund 150 Druckseiten, beginnt, wie es sich gehört, mit Mays Geburt und endet mit seiner Beisetzung; ein Perso-


//332//

nen- und ein Ortsregister erleichtern die Benutzung. Natürlich hat Griese nicht buchstäblich zu jedem Tag in Mays Vita etwas finden können, geschweige denn etwas Mitteilenswertes; aber die meisten auch nur halbwegs markanten und belegten Daten werden aufgeführt mit der Information, was May da getan hat bzw. was im Zusammenhang mit ihm passiert ist. So erfährt man beispielsweise, dass er am 19. Juni 1897 in Deidesheim geweilt und ein Telegramm an Fehsenfeld geschickt hat (vgl. S. 57), dass er am 20. August 1904 in Dresden Zeuge einer Aufführung von ›Figaros Hochzeit‹ war (vgl. S. 124) und dass am 23. März 1908 ›Abdahn Effendi‹ zu erscheinen begonnen hat (vgl. S. 136). Griese ist ein ausgewiesener Experte für Maysche Autographika; er macht von seiner Kompetenz Gebrauch, indem er an entsprechenden Stellen häufig aus Briefen, Karten und anderen Schriften zitiert. Dass er erheblich mehr über das Leben des älteren, berühmt gewordenen May weiß als über das des unbekannten Kindes, Jugendlichen und jungen Mannes, versteht sich von selbst; so gibt es zu einigen der ersten Jahre nach 1842 gar keinen Eintrag, zu 1877, da May immerhin schon publizierte, auch nur neun, während man ab etwa 1897 bei flüchtigem Herumblättern den Eindruck gewinnen kann, hier werde zumindest in einigen Phasen tatsächlich jeder Tag dokumentiert.

   Auf explizite Deutungen und Wertungen verzichtet der Verfasser weitgehend, und das ist auch sinnvoll, denn die gelegentlich doch zu findenden Versuche, etwa aus literarischen Darstellungen unmittelbare Einblicke in die empirische Wirklichkeit zu gewinnen - z. B. aus der Schilderung der Pekala im ›Silberlöwen‹ abzuleiten, wie May just zu dieser Zeit seine erste Frau sah (vgl. S. 112) -, sind methodisch zumindest fragwürdig: Ein Romanautor mag sich veranlasst fühlen, hässliche Eindrücke aus der Realität literarisch zu beschönigen, und er kann auch genauso gut umgekehrt verfahren; ein 1:1-Verhältnis darf man da nicht ohne genaue Prüfung voraussetzen. Im Übrigen gibt sich der Text sehr vorsichtig: Manchmal versieht Griese seine Informationen mit einem Fragezeichen, bei umstrittenen Sachverhalten, wie dem der Blindheit Mays, wählt er zurückhaltende Formulierungen (vgl. S. 11), und über die - nennen wir's mal so - Onanie-Affäre in Plauen schweigt er sich ganz aus.

   Allen solchen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz ist das Buch praktisch vom Tag seiner Veröffentlichung an in den Kreisen der Experten angegriffen worden. Man hat ihm zu viele sachliche Irrtümer und Ungenauigkeiten, zu viele bedenkliche Lücken und die fehlenden Detailnachweise zu den Quellen der einzelnen Informationen vorgehalten; auch stilistische Mängel - z. B. hinsichtlich der »Rücksprache mit dem neuen Lehrer und seiner vorigen Tätigkeit« (S. 18) - wären zu beanstanden. Viele dieser Schwächen ließen sich in einer Neuauflage ohne großen Aufwand beseitigen, und dass eine solche Auflage erscheint, ist ohne Zweifel wünschenswert, denn Grieses Buch erweist sich, bei allen Bedenken, als ein hilfreicher Beitrag für die, die sich Mays Lebensgeschichte in komprimierter Form vergegenwärti-


//333//

gen wollen, und in seiner Art, wie oben dargelegt, als ein kleiner Meilenstein der May-Forschung.

   ›Am Marterpfahl‹ ist der 83. Band der Bamberger Ausgabe betitelt.24 Dahinter verbirgt sich nicht etwa, wie man vielleicht vermuten könnte, eine bisher unbekannte Wildwestgeschichte Mays, sondern die Wiedergabe autobiographischer Schriften, die als Faksimile schon einmal, 1982, vom Karl-May-Verlag veröffentlicht worden sind: ›Ein Schundverlag‹ bzw. ›Ein Schundverlag und seine Helfershelfer‹ (1905/09) sowie ›An die 4. Strafkammer des Königlichen Landgerichts III in Berlin‹ (1911). In den erstgenannten Texten geht es um Mays Beziehungen zu Münchmeyer, dessen Umgebung und Verlag, im letzten um den Streit mit Lebius. Ein rund zwanzig Seiten langes Vorwort von Christoph F. Lorenz erläutert in groben Zügen die Zusammenhänge und verweist sehr dezent darauf, dass May-Verehrer hier nicht die reine Freude erwartet: »Schlüssiges Argumentieren war May in seiner verständlichen Aufregung nicht immer möglich«; häufig faszinierten die Texte aber insofern, als sie mit der eindrucksvollen Schilderung von »Situationen und Erlebnisse(n)« die Fähigkeiten »des gewieften Erzählers« (S. 10) unter Beweis stellten.

   Der Neusatz folgt der Vorlage »unverkürzt und lediglich orthografisch sowie in einzelnen Stilfragen modernisiert« (S. 16). Hervorhebungen durch Fettdruck, die das Original in reichem Maße aufweist, werden übernommen, dessen Sperrungen jedoch nicht. Einige Fußnoten der Neuausgabe erläutern entlegene Begriffe, z. B. »vorweg« das von May verwendete »anti cipando« (S. 25). Die Auflagenhöhe des Bandes ist mit »1.-20. Tausend« angegeben, eine Zahl, von der selbst viele der erfolgreicheren unter den heutigen Schriftstellern nur träumen können.



1 Das große Karl May Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Berlin 32000

2 Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Klaus Rettner. Würzburg 22001

3 Helmut Schmiedt: Der Schriftsteller Karl May. Beiträge zu Werk und Wirkung. Husum 2000

4 Karl Mays ›Und Friede auf Erden!‹. Karl-May-Studien Bd. 6. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Oldenburg 2001

5 Karl May: Et in terra pax. In: China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Hrsg. von Joseph Kürschner. Leipzig (1901). Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Hamburg 2001

6 Dieter Sudhoff: Hunnen und Gentlemen. Wilhelminischer Imperialismus, Kolonialpolitik und literarischer Idealismus am Beispiel von Joseph Kürschners Sammelwerk ›China. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik‹ und der pazifistischen Reiseerzählung ›Et in terra pax‹ von Karl May. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur Bd. 2 (2001), S. 205-235

7 Jürgen Seul: Karl May im Urteil der ›Frankfurter Zeitung‹. Materialien zum Werk Karl Mays Bd. 3. Husum 2001

8 Karl May in der Hohenstein-Ernstthaler Lokalpresse 1899-1912. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hans-Dieter Steinmetz. Hohenstein-Ernstthal 2001


//334//

9 Karl-May-Haus-Information. Heft 14. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal/IG des Karl-May-Hauses e. V. (2001)

10 Reinhard F. Gusky/Willi Olbrich: Auf Karl Mays Fährte. Bamberg/Radebeul 2001

11 Wilder Westen - Heißer Orient. Karl-May-Filmmusik 1936-1968 (8 CDs und Buchbeilage). Bear Familiy Records, Hambergen 2001

12 Michael Petzel: Der Weg zum Silbersee. Dreharbeiten und Drehorte der Karl-May-Filme. Berlin 2001

13 Reinhard Marheinecke/Nicolas Finke/Torsten Greis: Karl May am Kalkberg. Neue Geschichten der Karl-May-Spiele Bad Segeberg 1999-2001. Bamberg/Radebeul 2001

14 Klaus Dill: Tomahawk und Friedenspfeife. Bilder für Karl May. Hrsg. von Hans-Martin Heider/Eberhard Urban. Bamberg/Radebeul 2001

15 Klaus Hoffmann: Karl Mays Werke. Textgeschichte. Textbearbeitung. Textkritik. Berlin 2001

16 Wilfried Wilms: »Mesch'schurs, ihr macht je verteufelt wenig Federlesens!« Rassendiskurse im Wilden Westen? In: Focus on Literatur 4 (1997), Nr. 2, S. 109-135

17 Rollenspiele - Karl May in Linz. Publikation zur Ausstellung in der ›Galerie im Stifter-Haus‹ 12. September bis 28. Oktober 2001. Hrsg. von Markus Kreuzwieser. Linz 2001

18 Rudi Schweikert: Auf zwei Planeten. Pfade durch Karl Mays phantastisches Erzähllabyrinth, Seitengänge eingeschlossen - vornehmlich zu Eugène Sue, Alfred Kubin, Kurd Laßwitz und Arno Schmidt. In: Traumreich und Nachtseite 2. Die deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus. Hrsg. von Thomas Le Blanc/Bettina Twrsnick. Wetzlar 2001, S. 55-80

19 Rudi Schweikert: Arno Schmidts ›Kaff‹: Die Ohrfeige und das erdumspannende Ringgebirge. In: Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts. Lieferung 255-256 (2001), S. 22-29

20 Rudi Schweikert: »... der Druckfehler vom ›Stunk‹ ist unbezahlbar«. Zu einem kleinen Triumph Arno Schmidts über Karl May in ›Sitara und der Weg dorthin‹, der keiner ist. In: Schauerfeld. Mitteilungen der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser 14. Jg. (2001), Heft 2/3, S. 28f.

21 Jacek Rzeszotnik: Literarische Kommunikationsstrategien. Zum Bestsellerroman und dessen Autoren in der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Karl May und Johannes Mario Simmel. Meitingen 2000

22 Jürgen Hahn: Last Exit to ›Dschinnistan‹. Ein Beitrag zur Konstruktion des ›Neuen Menschen‹ um 1900. Winterthur 2001

23 Volker Griese: Karl May. Chronik seines Lebens. Husum 2001

24 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 83: Am Marterpfahl. Karl Mays Leidensweg. Bamberg/Radebeul 2001




Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite KMG

Impressum Datenschutz