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SILVIA ZAHNER


›Und Friede auf Erden!‹
Eine erzähltheoretische Analyse*





Ich weiß gar wohl, daß es Leute gibt, welche es dem Autor untersagen, in seinen eigenen Werken über diese Werke zu schreiben; aber wie ich als sogenannter Schriftsteller meine eigenen, vorher noch unbetretenen Wege gehe, so lasse ich mich auch in dieser Beziehung durch keinen literarischen Pfändwisch irretieren [!] und bringe ohne Scheu, was ich zu bringen habe.1


Wer ist dieses Ich, das sich so eigenwillig zeigt und sich nicht an die Konvention hält? Ich möchte diesem Ich in meinem Vortrag mit Hilfe der Erzähltheorie auf die Spur kommen.

   Wie Sie bestimmt alle bemerkt haben, stammt das Zitat aus dem Buch ›Und Friede auf Erden!‹, aus einer Erzählung also. Erzählungen beschreiben fiktive Wirklichkeiten, von einem Autor erfundene Welten, die mit der empirischen Wirklichkeit mehr oder weniger übereinstimmen können. Der Leser akzeptiert die Fiktion, solange sie in sich widerspruchsfrei ist, auch wenn die in ihr beschriebenen Dinge seinen Erfahrungen aus der empirischen Wirklichkeit entgegenlaufen. Ein einfaches Beispiel dafür sind die Märchen. Alle, die Märchen lesen, haben keine inneren Widerstände gegen die darin auftretenden Hexen, Riesen, sprechenden Tieren und Wunderwaffen. Es gibt natürlich auch sehr viele Erzählungen, die unserer empirischen Wirklichkeit viel näher sind, in denen Leute mit ähnlichen Freuden und Sorgen beschrieben werden, wie wir sie kennen, die an Orten wohnen, die auf der Landkarte zu finden sind. Durch die Begriffe Erzählung oder Roman sind sie jedoch ebenso eindeutig als Fiktion gekennzeichnet wie die Märchen. ›Und Friede auf Erden!‹ ist wie die meisten Werke Karl Mays als Reiseerzählung gekennzeichnet. Es ist also Fiktion, doch durch das Wort Reise wird Authentizität für die darin beschriebenen Orte beansprucht. Diese Authentizität bezieht sich jedoch nicht auf die in der Erzählung auftretenden Figuren. Das heißt, Kairo liegt auch in der fiktiven Wirklichkeit von ›Und Friede auf Erden!‹ in Ägypten und nicht am Nordpol, während die Figuren und ihre Handlungen frei erfunden sind. Auch wenn dies trivial und vermutlich jedem von uns bekannt ist, scheint es mir wichtig, es im Auge zu behalten.

   ›Und Friede auf Erden!‹ ist eine Ich-Erzählung, das heißt, der Erzähler ist identisch mit einer Figur auf der Handlungsebene. Ich-Erzählungen sind in




* Vortrag, gehalten am 21. 9. 2001 auf der 16. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Luzern


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der Regel sogenannte diegetisch-fiktionale Texte. In diegetisch-fiktionalen Texten existieren zwei Ebenen: die Erzählerebene und die Handlungsebene. Die Erzählerebene ist, wie der Name schon sagt, dem Erzähler vorbehalten. Der Erzähler ist die vom Autor geschaffene Instanz mit der einzigen Aufgabe, eine Geschichte zu erzählen. Erzähler und Autor sind also nicht identisch, denn der Erzähler ist Teil der Fiktion. Er ist allwissend, zumindest was die Geschichte anbelangt, er lenkt die Geschichte, indem er auswählt, was erzählt wird und was für die Geschichte unwichtig ist. Er lenkt die Sympathien des Lesers durch die Art, wie er die Figuren beschreibt und charakterisiert. Im Text erkennt man die Erzählerebene am Tempus der Gegenwart, also dem Präsens. Der Erzähler berichtet hier und jetzt, was damals dort geschah. Das, was damals dort geschah, macht die Handlungsebene aus. Ihr Tempus ist die Vergangenheit, also das Präteritum, da die Geschichte, die erzählt wird, zum Zeitpunkt des Erzählens vorbei und in der Regel abgeschlossen ist. Die geschichtliche Entwicklung der literarischen Texte zeigt, dass in frühen Texten der Erzähler eine wichtige Rolle spielt. Er wird als Person wahrgenommen und in der Regel mit dem Autor identifiziert. Er berichtet die Geschichte, da er alles über die Handlungen und die Innerlichkeit der Figuren weiß. Ungeniert spricht er seine Meinung aus und lenkt damit die Wahrnehmung des Lesers. Der Erzähler gilt als allwissend und weise, er erklärt alles, und seine Belehrungen sind, zumindest seiner Meinung nach, für das richtige Verständnis der Geschichte nötig. Doch im 19. Jahrhundert wird man allmählich dieses allwissenden Erzählers überdrüssig, der ständig dreinredet und die Handlung mit seinen Kommentaren aufhält. Außerdem stellt sich immer deutlicher die Frage, woher der Erzähler sein Wissen um die Handlungen und Innerlichkeit der Figuren hat. Sein Einfluss wird mehr und mehr eingeschränkt. Er wird entpersonifiziert, das heißt, er ist die vom Autor geschaffene und nicht mit ihm identische Vermittlungsinstanz, mit der einzigen Aufgabe, eine Geschichte zu erzählen. Wenn der Erzähler zunehmend als unpersönliche Vermittlungsinstanz wahrgenommen wird, fällt das Legitimierungsproblem weg, er muss also sein Wissen nicht mehr rechtfertigen. Außerdem wird durch die zunehmende Einschränkung des Erzählers die Unmittelbarkeit gefördert. Der Leser kann die Vermittlungsinstanz zeitweilig vergessen und die Handlung unmittelbar wahrnehmen wie ein Drama auf der Bühne. Die Unmittelbarkeit fordert ihren Preis vom Leser, denn er muss nun auf die Lesehilfen des Erzählers verzichten und sich die Erklärung für die Handlung selbst suchen.

   Die geschichtliche Entwicklung bleibt aber nicht bei der Einschränkung und Entpersonifizierung des Erzählers stehen, sondern versucht den Erzähler ganz auszuschalten und die Handlung aus der Perspektive der Figuren darzustellen. Die Erzähltheorie nennt solche Texte mimetisch-fiktional. Der Erzähler und mit ihm die Erzählerebene ist verschwunden, die Handlung wird unmittelbar durch die Perspektive der Figuren dargestellt. Das Tempus der Handlungsebene bleibt zwar das Präteritum, weil es sich


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für literarische Texte nun einmal durchgesetzt hat, doch es verliert den Vergangenheitscharakter und wird deshalb episches Präteritum genannt. Diese Entwicklung vom persönlichen Erzähler über die entpersonifizierte Vermittlungsinstanz zur Darstellung der Handlung ohne Erzähler geht natürlich langsam vonstatten, und viele Texte sind Übergangsformen, das heißt, es finden sich diegetisch-fiktionale und mimetisch-fiktionale Elemente im gleichen Text. Dies zeigt sich auch in den Texten von Karl May.

   Der Ich-Erzähler unterscheidet sich vom eben beschriebenen Er-Erzähler in einem wichtigen Punkt: er ist mit einer Figur der Handlungsebene identisch. Das bringt gewisse Vorteile, aber auch manche Nachteile gegenüber dem Er-Erzähler mit sich. Durch seine Identität mit einer Figur der Handlungsebene ist der Ich-Erzähler per definitionem eine Person. Er erzählt seine eigene, von ihm erlebte Geschichte. Er kann sich für die Geschehnisse als Augenzeuge verbürgen. Damit suggeriert er Authentizität, und außerdem fällt das Legitimierungsproblem weg, denn der Ich-Erzähler kann logischerweise alles erzählen, woran er sich erinnert. Das führt jedoch bereits zum ersten Problem. In der Ich-Erzählung existiert nur die Perspektive des Ich. Ein Er-Erzähler kann zwischen den Perspektiven der verschiedenen Figuren wechseln, ein Ich-Erzähler hat nur diejenige seines handelnden Ich. Er kann zwar alles erzählen, woran er sich erinnert, aber auch nur das. Was er nicht selbst erfahren hat, kann er nicht erzählen. Dieses Problem zeigt sich vor allem, wenn es um die Innerlichkeit der Figuren geht, also ihre Gefühle und Gedanken. Dass ein Er-Erzähler in die Köpfe der Figuren sehen kann, wird vom Leser akzeptiert. Ein Ich-Erzähler kann das nur bei seinem handelnden Ich, aber nicht bei den andern Figuren. Die Ich-Erzählung hat also eine einseitige Perspektive. Vermutlich ist dies ein Grund, warum sie in der Literatur eher selten anzutreffen ist.

Die Entwicklung von diegetisch-fiktionalem zu mimetisch-fiktionalem Erzählen ist auch in der Ich-Erzählung zu bemerken. Da der Ich-Erzähler per definitionem identisch mit einer Figur auf der Handlungsebene und damit Person ist, kann man ihn nicht einfach entpersonifizieren und in eine unpersönliche Vermittlungsinstanz verwandeln wie den Er-Erzähler. Aber man kann wenigstens seinen Einfluss auf die Erzählung schmälern, indem man ihn so selten wie möglich zu Wort kommen lässt, und die Geschichte vor allem aus der Perspektive des handelnden Ich darstellt, das die Ereignisse beobachtet und reflektiert, ohne von Kommentaren des Ich-Erzählers unterbrochen zu werden.

   Gewisse Dinge, die für den Er-Erzähler gelten, gelten auch beim Ich-Erzähler. Beide lenken die Erzählung durch ihr Eingreifen oder Nichteingreifen, beide wissen mehr als die Figuren auf der Handlungsebene, und beide sind Teil der Fiktion. Ich habe vorhin bereits erwähnt, dass der Erzähler oft als mit dem Autor identisch gedacht wurde, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der Erzähler die vom Autor geschaffene Vermittlungsinstanz ist. Diese Erkenntnis setzte sich beim Ich-Erzähler noch langsamer durch,


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ja hat sich bei manchen Lesern bis heute nicht durchgesetzt. Doch gilt auch für den Ich-Erzähler, was für den Er-Erzähler gilt: der Autor hat den Ich-Erzähler und seine Geschichte erfunden, der Ich-Erzähler ist genauso ein Teil der fiktiven Wirklichkeit wie die Figuren auf der Handlungsebene und kann somit nicht mit dem Autor identisch sein, denn dieser gehört nicht in die fiktive, sondern in unsere empirische Wirklichkeit. Als erfahrene Karl-May-Leser ahnen Sie wahrscheinlich, warum ich diesen Punkt so sehr betone. Gerade in ›Und Friede auf Erden!‹ nennt der Autor Karl May sein erzählendes Ich ausdrücklich mit dem Namen Karl May. Damit bewirkt er zwar die Illusion von Authentizität, setzt sich aber gleichzeitig dem Vorwurf aus, seine Erlebnisse seien nicht wahr. Doch sowohl die Illusion als auch der Vorwurf lösen sich in dem Moment in nichts auf, in dem sich die Erkenntnis der Nichtidentität von Erzähler und Autor durchsetzt. Unserem Autor Karl May wurde dies spätestens in dem Moment bewusst, als er betonte, dass das Ich in seinen Büchern symbolisch gemeint sei. Es ist unbestreitbar, dass das Ich in der fiktiven Welt nicht nur den gleichen Namen, sondern auch denselben Beruf hat wie sein Erfinder. Doch wie bereits gesagt, kann sich die fiktive Wirklichkeit der empirischen Wirklichkeit mehr oder weniger annähern ohne dadurch ihre Fiktionalität zu verlieren.

   Die fiktive Wirklichkeit wird in literarischen Texten beschrieben, mit welchen sich die Erzähltheorie befasst. Sie untersucht deren Erscheinungsformen, denn der Inhalt einer Erzählung wird auch von der Form, in der er vermittelt wird, bestimmt. Anders gesagt, welche erzählerischen Mittel ein Autor wählt und wie er sie benutzt, hat einen wichtigen Einfluss auf den Inhalt, und umgekehrt kann nicht jeder Stoff in der gleichen Form vermittelt werden. Mein Doktorvater, Prof. Rolf Tarot von der Universität Zürich, hat in seinem Buch ›Narratio viva‹2 die verschiedenen erzählerischen Mittel beschrieben. Ich werde mich bei der nun folgenden Analyse von ›Und Friede auf Erden!‹ seiner Begriffe bedienen. So wird sich zeigen, welche erzählerischen Mittel Karl May in seinem Buch benutzt, wie er mit der einseitigen Perspektive einer Ich-Erzählung umgeht und inwieweit sich in ›Und Friede auf Erden!‹ die allgemeine Tendenz jener Zeit spiegelt, von der diegetisch- zur mimetisch-fiktionalen Erzählweise überzugehen.

   Ich möchte Ihnen nun einige erzählerische Mittel am Text ›Und Friede auf Erden!‹ zeigen. Dabei komme ich zurück auf die Unterscheidung zwischen Erzähler- und Handlungsebene. Das Ich auf der Erzählerebene ist das erzählende Ich oder der Ich-Erzähler, während das Ich auf der Handlungsebene das erzählte Ich ist und meist handelndes oder erlebendes Ich genannt wird. Beginnen wir mit dem erzählenden Ich auf der Erzählerebene.

   Wie bereits erwähnt, erkennt man die Erzählerebene am Wechsel vom Präteritum der Handlungsebene zum Präsens der Erzählerebene. Dazu ein Beispiel:


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Aber der Governor traute dem Letzteren trotz aller Sympathie für ihn doch nicht die psychologische Denkschärfe zu, welche bei den Taten der Menschen zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden weiß. Wahrscheinlich auch besaß er diese Schärfe selbst noch nicht ...3


Mitten im Satz wechselt das Tempus und das erzählende Ich meldet sich von der Erzählerebene her mit einem kurzen Kommentar zu Wort. In der Regel benutzt das erzählende Ich im Tempuswechsel die Gelegenheit, eine allgemeingültige Erklärung oder Feststellung zu machen. Je häufiger solche Tempuswechsel zu finden sind, umso deutlicher tritt das erzählende Ich in Erscheinung, da mit dem Tempuswechsel immer auch eine Unterbrechung der Handlung einhergeht. Dies wird besonders deutlich im Erzählerkommentar, das heißt, wenn das erzählende Ich nicht nur wie im obigen Beispiel in einem Teilsatz eine kurze Mitteilung macht, sondern sich in einem längeren Abschnitt über ein Thema auslässt. Diesen Erzählerkommentaren kommt eine gewisse Allgemeingültigkeit zu, ja sie können sogar Allwissenheit des Erzählers zeigen. Sie alle kennen die immer wiederkehrende Abhandlung über den Zufall, die auch in diesem Buch nicht fehlt. Da diese Textstelle zu lang ist, um hier zitiert zu werden, habe ich ein anderes Beispiel gewählt.


Die Fahrt verlief äußerlich ereignislos, wenn ich die Begegnungen mit anderen Schiffen nicht als Ereignisse bezeichnen will. Dieser Mangel wurde aber mehr als vollständig durch das ausgeglichen, was sich zu inneren, seelischen Begebenheiten entwickelte. ... Ich kann also über unsere Fahrt keine sogenannten »Reiseabenteuer« berichten, an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt.4


Der Teilsatz wenn ich die Begegnungen mit anderen Schiffen nicht als Ereignisse bezeichnen will ist ein Tempuswechsel wie oben beschrieben. Mit dem Satz Ich kann also beginnt der Erzählerkommentar. In diesem Fall beinhaltet der Erzählerkommentar eine Bemerkung des erzählenden Ich über seine Auswahl der berichteten Ereignisse. Es zieht die Beschreibung der unendlich gestalten- und ereignisreiche(n) Seelenwelt des Menschen einer Reiseabenteuergeschichte vor. Demjenigen Leser, dem das nicht gefällt, wird Unverständigkeit vorgeworfen, was zeigt, dass dem erzählenden Ich ein gewisses Maß an Überheblichkeit eigen ist.

   Damit kommen wir zur nächsten Möglichkeit des Erzählers, sich von der Erzählerebene her bemerkbar zu machen, nämlich in der sogenannten Leseranrede. Mit Leser ist ein fiktiver Leser gemeint, der nur auf der Erzähler-


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ebene anzutreffen und wie der Erzähler ein Teil der fiktiven Welt ist. Die einfachste Form findet sich in der direkten Anrede wie ›Lieber Leser‹, die jedoch in diesem Buch nicht geschieht. Es gibt jedoch sehr vielfältige indirekte Möglichkeiten für das erzählende Ich, den Leser anzusprechen. Auch dazu ein Beispiel:


Es ist nun einmal so, ich habe ein Faible für jeden Oesterreicher, und wer das für einen Fehler hält, der mag ihn mir verzeihen! Freilich, wenn man mich fragte, für welche Nationalität ich kein Faible habe, so käme ich wohl in Verlegenheit, denn ich bin ihnen allen, allen gut. Und das soll man ja wohl auch!5


Der Leser wird indirekt angesprochen in den Worten wer, der und man. Indirekte Leseranreden müssen nicht unbedingt mit einem Tempuswechsel verbunden sein, wie in diesem Beispiel. Das macht sie unauffällig, das heißt, der Unterbruch in der Handlung wird kaum wahrgenommen.

   Nun kommen wir zu den Möglichkeiten des erzählenden Ich, sich auf der Handlungsebene zu zeigen. Diese Einmischungen sind viel weniger auffällig, da sie nicht durch einen Tempuswechsel gekennzeichnet sind. Ein Mittel sind die Raffungen. Das erzählende Ich kann die Handlung raffen, indem es Dinge auslässt oder zusammenfasst, die für die Erzählung keine oder nur eine geringe Rolle spielen. Raffungen können ein paar Minuten oder ganze Jahre umfassen. Sie können genaue oder nur ungefähre Zeitangaben beinhalten. Dazu zwei Beispiele:


Wir mochten wohl über eine Viertelstunde, nur zuweilen ein kurzes Wort sprechend, nebeneinander gesessen haben ...6


Hier erwähnt das erzählende Ich ziemlich genau, wie viel Zeit vergeht. Was in dieser Zeit jedoch geschieht, wird nur mit ein paar Bemerkungen angedeutet, aber nicht ausführlich berichtet.


Als sie sich entfernt hatten, ging ich nach Hause, wo ich mich bis zum Abendessen mit den erwähnten schriftlichen Arbeiten beschäftigte.7


Im Wort Als liegt alles drin, das heißt, es ist eine sehr ungenaue Zeitangabe, die von wenigen Minuten bis zu Stunden oder Tagen alles umfassen kann. Andererseits ist es eine weniger auffällige Form der Raffung als eine genaue Zeitangabe. Der Rest des Satzes suggeriert zwar eine genaue Zeitangabe in der Formulierung bis zum Abendessen, doch da der Leser nicht genau weiß, wann das erlebende Ich nach Hause ging und wann es dort ankam, ist die Genauigkeit relativ.

   Dies sind nur zwei Beispiele zur Illustration, es gäbe noch ungezählte mehr. Die unauffälligste Art zu raffen ist zwischen den Kapiteln. Das erste Kapitel endet bei den Pyramiden, das zweite beginnt auf der Schiffsreise


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nach Ceylon. Wir erfahren nicht, wie viel Zeit dazwischen liegt.

   Nun komme ich zu denjenigen erzählerischen Mitteln, die mit dem erzählenden Ich eigentlich nichts mehr zu tun haben. Wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass es das erzählende Ich ist, welches die Geschichte erzählt.

   Doch die Handlungsebene ist die Domäne des erlebenden Ich und der Figuren, deren Ereignisse erzählt werden. Dies kann umso unmittelbarer geschehen, je mehr sich das erzählende Ich zurückhält und die Ereignisse aus der Perspektive des erlebenden Ich darstellt. Die einfachste Art und Weise, die Perspektive des erlebenden Ich und der Figuren darzustellen, sind die Adverbien der Gegenwart im Präteritum der Handlungsebene.


Nun hatte ich das Original des Bildes gerade vor meinen Augen.


Es war interessant, jetzt das Gesicht Wallers zu sehen.8


Nun und jetzt sind die typischen Beispiele. Nur das erlebende Ich kann während der Handlung von nun und jetzt sprechen, denn für das erzählende Ich ist nun oder jetzt der Zeitpunkt des Schreibens. Dasselbe gilt für Adverbien wie gestern, heute, morgen und Ortsbezeichnungen wie hier.

   Eine weitere Gruppe von erzählerischen Mitteln auf der Handlungsebene ist diejenige, die sich mit der Innerlichkeit der Figuren befasst, das heißt, mit deren Hilfe die Gedanken und Gefühle der Figuren beschrieben werden. Dabei ergibt sich bei den Ich-Erzählungen sofort ein Problem. Die Innerlichkeit des erlebenden Ich zu beschreiben ist für das erzählende Ich kein Problem, da es sich nur an seine Gefühle und Gedanken erinnern muss. Doch mit der Innerlichkeit der andern Figuren ist das anders, denn wie soll es dem Ich möglich sein, in die Köpfe der andern zu sehen? Schauen wir, wie Karl May mit diesem Problem fertig wird.

   Die verschiedenen Mittel zur Beschreibung der Innerlichkeit sind stumme Sprache, Innerlichkeitsbericht, erlebte Rede und Gedankenbericht.

   Die stumme Sprache beschreibt alles, was mit Mimik und Gestik zu tun hat. Es ist also das Mittel, mit dem das erzählende Ich auch die Innerlichkeit der andern Figuren beschreiben kann. Voraussetzung ist, dass das erlebende Ich ein ausgezeichneter Beobachter und Interpret der Mimik und Gestik ist. Dazu ein Beispiel:


Es war interessant, jetzt das Gesicht Wallers zu sehen. Das Erstaunen über die unerwartete Belesenheit des Chinesen lag nicht nur in seinen Zügen, sondern auch in seiner ganzen Haltung deutlich ausgedrückt. Er öffnete zwar den Mund, antwortete aber nicht. Fu tat, als ob er diesen Eindruck seiner Worte gar nicht bemerke ...9


Dieses Zitat ist ein typisches Beispiel nicht nur für stumme Sprache generell, sondern auch für die Art und Weise, wie sie bei Karl May zu finden ist.


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Das Beispiel steht mitten in einem längeren Dialog zwischen Waller und Fu, den das erlebende Ich am Nebentisch mitverfolgt. Die meisten Belegstellen für stumme Sprache finden sich in Begleitung der Dialoge, wenn sie auch nicht immer so ausführlich sind wie das zitierte.

   Auch das folgende Beispiel steht mitten in einem Dialog.


Ich räusperte mich, unschlüssig, ob ich sprechen solle oder nicht.10


Es ist eine der wenigen Belegstellen für stumme Sprache, die sich auf das erlebende Ich bezieht. Zwei Drittel der stummen Sprache beschreiben die Mimik und Gestik der andern Figuren. Das erlebende Ich wird dabei seiner Aufgabe als genauer Beobachter und ausgezeichneter Interpret des Beobachteten gerecht. Die stumme Sprache ist das häufigste Mittel zur Darstellung der Innerlichkeit in ›Und Friede auf Erden!‹.

   Der Innerlichkeitsbericht beschreibt mit Verben innerer Vorgänge die Gefühle und Stimmungen der Figuren. In der Ich-Erzählung ist das nur für das erlebende Ich möglich, wie in den folgenden Beispielen:


Die Folge war, daß ich ihm ein ganz besonderes Interesse schenkte ...


Ich räusperte mich, unschlüssig, ob ich sprechen solle oder nicht.11


Die meisten Belegstellen sind so kurz wie die zitierten. Offenbar scheint die Innerlichkeit des erlebenden Ich für die Erzählung keine große Rolle zu spielen. Dafür benimmt sich das erzählende Ich zuweilen wie ein allwissender Er-Erzähler und berichtet mit Verben innerer Vorgänge über die Innerlichkeit der andern Figuren, wie im folgenden Beispiel:


Welch eine Unvorsichtigkeit von mir! Was sollte ich antworten? Das war wieder einmal ein Beweis, daß jede Unaufrichtigkeit wie überhaupt jede Sünde sich ganz von selbst bestraft! Die beiden Engländer begriffen meine Lage. Sie kannten mich; sie wußten, daß ich, falls ich selbst die Antwort übernehmen müßte, nun unbedingt die Wahrheit sagen würde.12


Woher weiß das Ich, was in ihnen vorgeht? Die Antwort darauf findet sich im nachfolgenden Gespräch, in dem die beiden Engländer, nämlich Raffley und der Governor, für das erlebende Ich die Antwort übernehmen und eine fadenscheinige Lüge erzählen. Das erzählende Ich schließt also aus der nachfolgenden Handlung, was in den Figuren vorging, und berichtet es vorneweg wie ein allwissender Er-Erzähler, ohne darauf hinzuweisen, dass es eigentlich nur vermuten kann, was sie dachten. Da der Innerlichkeitsbericht für andere Figuren jedoch äußerst selten vorkommt, kann man solche Belegstellen als Versehen des Autors entschuldigen.

   Die ersten drei Sätze des Zitats sind erlebte Rede, die überaus selten ist in


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›Und Friede auf Erden!‹. Die erlebte Rede ist dadurch gekennzeichnet, dass Gedanken des erlebenden Ich nachträglich vom erzählenden Ich ausformuliert werden. Deshalb stehen die Sätze im Präteritum und nicht im Präsens, wie es bei einem Gedankenbericht der Fall wäre.

   Damit kommen wir zu einer weiteren Möglichkeit zur Darstellung der Innerlichkeit: dem Gedankenbericht. Dabei unterscheidet man direkte, indirekte und geraffte Gedankenberichte. Diese Unterscheidung ist analog zu den direkten, indirekten und gerafften Redeberichten. Die Erscheinungsform ist jeweils gleich, nur die Inquitformel ist im ersten Fall etwas wie ›er dachte‹ und im zweiten Fall eine Form von ›er sagte‹. Direkte Gedankenberichte stehen zwischen Anführungszeichen und im Präsens, indirekte ohne Anführungszeichen im Konjunktiv, während bei den gerafften Gedankenberichten der Erzähler nur erwähnt, dass die Figur dachte, aber ohne Inhaltsangabe. Es ist klar, dass das erzählende Ich nur Gedankenberichte vom erlebenden Ich erzählen kann. In ›Und Friede auf Erden!‹ kann man die Belegstellen für indirekte und geraffte Gedankenberichte an einer Hand abzählen, sie sind also praktisch nicht existent. Direkte Gedankenberichte sind hie und da anzutreffen, beziehen sich konsequenterweise auf das erlebende Ich, haben aber manchmal eine etwas eigenwillige Form. Ein Beispiel:


Woher hatte er diese Zeilen? Natürlich von seiner Tochter! Aber auf welche Weise? Kann ein Mensch, der ohne Besinnung liegt, sehen oder hören und sich sogar auch merken, was Andere lesen? Indem ich mich dies fragte ...13


Die Anführungszeichen fehlen im Text und die Inquitformel indem ich mich dies fragte folgt erst hinterher. Das zweite Beispiel wird von einer Inquitformel eingeleitet und ebenso von einer beendet, aber auch hier fehlen die Anführungszeichen.


Ich dachte über Wallers Worte nach. Die erste biblische Verheißung - - - und dann das große Schlußwort des Erlösungswerkes! Welche unendliche Fernen liegen oftmals zwischen Beiden, und wie nahe gehören sie doch eigentlich zusammen! Das eine im verlornen Paradies, das andere auf Golgatha gesprochen! Zwischen beiden der Leidensweg aus dem Erdenreiche empor zum Himmelreiche! Wo ist dieses Himmelreich? Etwa im Jenseits erst? Hat Christus nicht durch seine Gleichnisse gelehrt, daß es bereits hier auf Erden sei? Und wenn es so wäre, wo hätte man es da wohl zu suchen? Auf welche Weise wäre es da zu erreichen und zu erlangen?

   Eben legte ich mir diese Fragen vor ...14


Das Betonen der Inquitformel und der Anführungszeichen ist gar nicht so unwichtig, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Wenn beides wegfällt, was geschieht dann? Dann haben wir einen Satz im Präsens, und Sätze im Präsens sind üblicherweise Tempuswechsel und damit Kommentare des erzählenden Ich auf der Erzählerebene, oder? Schauen wir uns folgendes Beispiel an:


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Er war still, ich auch. Wer kann solche Fragen beantworten? Wir Menschen jedenfalls nicht! Oder doch? Dann jedenfalls nicht heut, sondern später, nach Jahrhunderten, Jahrtausenden! Oder doch schon jetzt - - - - -? Wenn wir wollen - - - und wenn wir glauben!

   Bald sahen wir, daß ein Reiter uns entgegenkam.15


Die Sätze von Wer kann solche Fragen beantworten bis zu und wenn wir glauben stehen im Präsens. Vorher und nachher findet sich keine Inquitformel, also müssen es Bemerkungen des erzählenden Ich sein. Andererseits finden sich keine Kommentare des erzählenden Ich, die mit Frage- und Ausrufezeichen versehen sind wie die oben zitierten Gedankenberichte des erlebenden Ich. Allein von der Form her ist also nicht eindeutig zu entscheiden, ob dieses Zitat als Gedankenbericht des erlebenden oder Kommentar des erzählenden Ich einzuordnen ist. Nehmen wir also den Inhalt zu Hilfe. Welchem der beiden Ich sind diese Worte eher zuzutrauen? Bestimmt dem erzählenden Ich, das sich manchmal beinahe allwissend gebärdet und außerdem für sich in Anspruch nimmt, nicht nur oberflächlich zu schreiben. Aber was ist mit dem erlebenden Ich? Die vorher zitierten Gedankenberichte zeigen eine ebensolche Tiefe und Einsicht wie die zur Diskussion stehenden Worte. Der Inhalt hilft also auch nicht weiter, da offensichtlich beide Ich fähig sind, sich solche Gedanken zu machen. Damit bin ich bei dem Problem, das ich in meiner Dissertation16 die »Vermischung der Perspektiven« genannt habe und das so meines Wissens in der Erzähltheorie nirgends beschrieben ist.

   Die Erzähltheorie kennt das Demarkationsproblem in Er-Erzählungen, in denen bei gewissen Textstellen die Perspektive der Figuren sich mit derjenigen des Erzählers vermischt. Kommentare des Er-Erzählers sind objektiv, da er über der Handlung steht, während Aussagen der Figuren subjektiv sind, da sie mitten in der Handlung stehen. Wenn sich nun die Perspektiven vermischen, weiß der Leser nicht mehr, ob eine Aussage objektiv und damit allgemeingültig oder durch die subjektive Wahrnehmung der Figur mit einem gewissen Vorbehalt anzusehen ist. Der Leser weiß also nicht mehr, ob er der Aussage trauen kann oder nicht.

   Bei Ich-Erzählungen geht man in der Regel davon aus, dass das erzählende Ich nicht nur älter, sondern auch weiser ist als das erlebende und somit die Ansichten des erzählenden Ich sich deutlich von denjenigen des erlebenden Ich abheben. Den Aussagen des erzählenden Ich kommt also eine gewisse Objektivität zu. Das hängt damit zusammen, dass viele Ich-Erzählungen in der Literatur einen quasi-autobiographischen Charakter haben, das heißt, ein altes, durch seine Erfahrungen gescheiter gewordenes Ich erzählt seine Erlebnisse als junges, mehr oder weniger dummes Ich.

   Diesem Muster entspricht keine der Ich-Erzählungen Karl Mays, da in jeder nur gewisse Episoden aus dem Leben des Ich erzählt werden. Dabei zeigt sich, dass das erlebende Ich, in den klassischen Reiseerzählungen


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Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand genannt, auf seinen Reisen nichts Neues lernt, sondern alle nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten von Anfang an mitbringt. Dies gilt natürlich auch in ›Und Friede auf Erden!‹, denn dieses erlebende Ich ist mit demjenigen aus den Reiseerzählungen identisch, obwohl es nicht mehr den Namen Kara Ben Nemsi führt. Das zeigt sich, wenn sich das erlebende Ich in ›Und Friede auf Erden!‹ an Erlebnisse erinnert, die es als Kara Ben Nemsi in ›Am Jenseits‹ oder in ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ gehabt hat.

   Da das erlebende Ich also den gleichen Wissensstand und die gleichen Ansichten hat wie das erzählende Ich, ist bei Textstellen wie der obigen keine eindeutige Zuordnung möglich. Man kann höchstens überlegen, welche Zuordnung die wahrscheinlichere ist im Kontext des gesamten Textes. Dabei hilft möglicherweise die Untersuchung weiterer solcher Textstellen.


Man wird sich erinnern, daß ich auf Sumatra zum Governor sagte: »Dieses Portrait der Yin ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre!« Nun hatte ich das Original des Bildes gerade vor meinen Augen. Wie stand es um das Rätsel? War es noch da? Verdichtete es sich? Oder begann es bereits, sich aufzulösen? Ich will da einmal sehr wichtig tun und den Geheimnisvollen spielen. Bekanntlich ist dem Schriftsteller viel, sehr viel erlaubt; ich aber gehe noch weit über dies hinaus und erlaube mir etwas, was sich noch keiner dieser Herren je gestattet hat, nämlich - - zu schweigen!17


Der Teilsatz Man wird sich erinnern ist eine indirekte Leseranrede des erzählenden Ich. Mit dem Wort ›nun‹ in Nun hatte ich das Original des Bildes gerade vor meinen Augen wechselt die Perspektive zum erlebenden Ich. Die darauf folgenden Fragen gleichen den Textstellen, die ich oben erwähnt habe. Doch mit Ich will da einmal sehr wichtig tun wechselt der Text wieder auf die Erzählerebene. Auch der folgende Satz ist ein Kommentar des erzählenden Ich mit zwei indirekten Leseranreden in den Worten Bekanntlich und nämlich. Die ganze Textstelle wird also vom erzählenden Ich dominiert, andererseits folgen die zur Diskussion stehenden Fragen unmittelbar auf die Perspektive des erlebenden Ich. Durch das Präteritum sind diese Fragen als erlebte Rede einzuordnen, das heißt, dass das erzählende Ich die Gedanken des erlebenden Ich nachträglich formuliert. Doch diese Zuordnung löst das Demarkationsproblem schon gar nicht, denn wie bereits gesagt, ist die erlebte Rede dadurch definiert, dass das erzählende Ich Gedanken des erlebenden Ich nachträglich formuliert, und damit ist die Vermischung der Perspektiven ein Kennzeichen dieser Kategorie.

   Als letztes Beispiel zur Vermischung der Perspektiven möchte ich noch eine Textstelle erwähnen, die meiner Meinung nach typisch ist für Karl May und sich in dieser oder ähnlicher Art in vielen seiner Ich-Erzählungen findet. Leider sind alle diese typischen Stellen zu lang, als dass ich sie hier zitieren könnte. Ich werde sie Ihnen beschreiben und hoffe, dass Sie als geüb-


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te Karl-May-Leser die Stelle erkennen werden. Es ist der Beginn des dritten Kapitels in ›Und Friede auf Erden!‹. Es beginnt mit dem Satz:


Dem mit dem Dampfer nach dem Osten kommenden Reisenden treten hier in Penang zum ersten Male chinesische Gestalten, Formen und Gebräuche ... entgegen ...18


Daran schließt sich die Frage, ob es möglich sei, bei all diesen fremdartigen Eindrücken derselbe zu bleiben. Diese Frage leitet über zu einer Klage über das Vorurteil, das jedem von Kindesbeinen an eingeprägt werde, weil es die Erwachsenen nicht hinterfragen. Leute mit Vorurteilen könnten sich jahrelang in China aufhalten, ohne sich zu verändern. Kein Erlebnis könne den Europäer, und sei er nur ein dummer Schiffsjunge, vom erhebenden Bewusstsein abbringen, dass alle Malaien und Chinesen Penangs es nicht wert seien, ihm die Stiefel zu schmieren. Daran schließt sich die Erinnerung des Ich an seine Großmutter, die ihn ermahnte, dass jeder Mensch einen Schutzengel habe. Bis hierher ist diese dreiseitige Belegstelle kein Problem. Es beginnt mit einem Tempuswechsel, ist also ein Kommentar des erzählenden Ich, wobei das hier in hier in Penang ein wenig stört, denn nur das erlebende Ich kann von hier in Penang sprechen, für das erzählende Ich wäre hier der Ort des Schreibens, und der ist bestimmt nicht in Penang. Doch nun folgt der Satz, der die ganze Interpretation über den Haufen wirft. Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten mich, als ich nach Tische einen Gang durch Penang machte.19 Dieser eine Satz verweist die ganzen drei vorhergehenden Seiten in die Perspektive des erlebenden Ich. Das Präsens wäre dann nicht ein Zeichen für die Erzählerebene, sondern für einen Gedankenbericht. Das wäre kein Problem, wenn mitten in diesem Gedankenbericht nicht Sätze stehen würden wie Ich erlaube mir, meinem Gedankengange durch die Bemerkung vorauszugreifen ....20 Dieser Satz ist eindeutig ein Kommentar des erzählenden Ich über sein Schreiben. Sie sehen also, auch hier vermischen sich die Perspektive des erlebenden und des erzählenden Ich. Da sich solche Textstellen nicht eindeutig zuordnen lassen, bleibt nichts übrig, als sie in ihrer Ambivalenz zu beschreiben.

   Damit komme ich nun zum letzten erzählerischen Mittel, das für Karl May zugleich das wichtigste ist, da er es am häufigsten benutzt. Es ist der direkte Redebericht oder Dialog. Indirekte und geraffte Redeberichte sind praktisch nicht existent. In ›Und Friede auf Erden!‹ machen die Belegstellen für Dialoge 52 % des gesamten Textes aus.21 Für Karl May sind die 52 % in ›Und Friede auf Erden!‹ der Durchschnitt, wenn man sie mit den 62 % in ›Am Jenseits‹ oder den 44 % in ›Ardistan und Dschinnistan II‹ vergleicht. In gut der Hälfte des Buches wird also nichts als geredet. Daraus ergeben sich natürlich verschiedene Konsequenzen. Eine davon ist, dass für all die andern erzählerischen Mittel zusammen weniger als die Hälfte des Textes bleibt. Sie sind also alle im Vergleich zum Dialog selten. Eine andere Konsequenz ist, dass das Ich ein enormes Gedächtnis haben muss, wenn es sich


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wörtlich an so ausführliche Gespräche erinnern kann, die zum Zeitpunkt des Erzählens bereits Monate zurückliegen. Eine weitere Konsequenz ist die durch die Dialoge entstehende Unmittelbarkeit. Bei einem so hohen Anteil an Dialog muss das erzählende Ich als Vermittlungsinstanz zurückweichen, die Erzählerebene verschwindet zeitweilig. Dadurch wird das Geschehen eher dargestellt als erzählt. Die Inquitformeln und die stumme Sprache, die die Dialoge begleiten, verlieren durch den hohen Grad an Unmittelbarkeit ihren Vergangenheitscharakter und werden zum epischen Präteritum, wie es in mimetisch-fiktionalen Texten der Fall ist. Einfach ausgedrückt wirken die Dialoge in ›Und Friede auf Erden!‹ wie Dialoge aus einem Drama, wobei die Inquitformeln und die stumme Sprache den Regieanweisungen entsprechen. Die Dialoge übernehmen verschiedene Funktionen. Sie tragen die Handlung, denn die Handlungen der Figuren bestehen zur Hauptsache aus Reden. In den Dialogen werden alle wichtigen Themen des Buches abgehandelt. Sie dienen auch dazu, die Innerlichkeit der Figuren darzustellen, indem diese sich über ihre Gedanken und Gefühle dem erlebenden Ich gegenüber aussprechen.

   Damit komme ich nun zum Schluss. Sie erinnern sich, wie dieses Ich aus ›Und Friede auf Erden!‹ den Anspruch stellt, seine eigenen Wege zu gehen und sich durch keinen literarischen Pfändwisch irritieren zu lassen. Die Analyse hat gezeigt, dass dies bis zu einem gewissen Grad der Fall ist. Es liegt zwar im Trend der Zeit, die Präsenz des erzählenden Ich möglichst einzuschränken, um einen hohen Grad an Unmittelbarkeit zu erzeugen. Doch bei ›Und Friede auf Erden!‹ wird dies vor allem durch die Dialoge erreicht, die mehr als die Hälfte des Textes ausmachen, und dies ist, zwar nicht für Karl May und seine Werke, aber für die deutsche Literatur im Allgemeinen ungewöhnlich, möglicherweise sogar einmalig. Damit erhält ›Und Friede auf Erden!‹ einen stark mimetisch-fiktionalen Charakter. Dem erzählenden Ich bleibt nur ein kleiner Rest, um sich bemerkbar zu machen. Es scheint, dass es seine schwache Präsenz dadurch wettzumachen sucht, dass es sich manchmal wie ein allwissender Er-Erzähler aufführt. Ein Ich-Erzähler kann nicht allwissend sein wie ein Er-Erzähler, er kann nur mehr oder weniger objektiv sein. Doch unser erzählendes Ich hält sich nicht immer an diese Konvention.

   Außerdem ist es für eine Ich-Erzählung ungewöhnlich, dass das erzählende Ich kein bisschen weiser ist als das erlebende, obwohl das erzählende durch seine Reise erfahrener sein müsste. Dies macht jedoch die Vermischung der Perspektiven möglich. Damit erhält das erlebende Ich einen Anflug der Allwissenheit, die das erzählende für sich in Anspruch nimmt. Das erlebende Ich in ›Und Friede auf Erden!‹ ist also weise, beinahe allwissend. Es ist ein ausgezeichneter Beobachter, wie die stumme Sprache zeigt. Es hat ein außergewöhnliches Gedächtnis, um sich all diese langen Gespräche wörtlich einzuprägen. Seine Stellung zu den anderen Figuren ist ebenfalls eigen. Das erlebende Ich ist nicht mehr wie in den andern Rei-


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seerzählungen zugleich der Held der Geschichte. In ›Und Friede auf Erden!‹ ist das erlebende Ich der Begleiter der Hauptpersonen. Die wichtigen Handlungen werden von andern ausgeführt, während das erlebende Ich vor allem seine Aufgabe als wahrnehmende und beobachtende Reflektorfigur erfüllt. Seine Weisheit, die an Allwissenheit grenzt, befähigt es, die Vorgänge zu verstehen und auch den andern Figuren in Gesprächen zum Verständnis zu verhelfen. Deshalb ist es natürlich auch ein Meister in der Gesprächsführung.

   Der Anspruch Karl Mays, als Schriftsteller seine eigenen, vorher noch unbetretenen Wege zu gehen, ist nicht ganz unangebracht. Die literaturgeschichtliche Entwicklung zeigt um 1900 das Streben nach Unmittelbarkeit und damit verbunden die Entwicklung vom Handlungsroman zum psychologischen Roman. Beide Tendenzen sind in ›Und Friede auf Erden!‹ zu finden, doch die Mittel, die Karl May gebraucht, sind ungewöhnlich. Der Dialog ist zwar das einfachste Mittel zur Erzeugung von Unmittelbarkeit, doch wird es von andern Autoren kaum so ausgiebig benutzt wie von Karl May. Die Dialoge, die mehr als die Hälfte des Textes beanspruchen, erzeugen einen hohen Grad an Unmittelbarkeit und verleihen dem Text einen mimetisch-fiktionalen Charakter. Die erzählerischen Mittel zur Darstellung der Innerlichkeit sind zwar, wie wir gesehen haben, selten, doch die meisten Gespräche drehen sich um die Gedanken und Gefühle der Figuren. Die Handlung rückt in den Hintergrund. Die Entwicklung vom Handlungsroman zum psychologischen Roman zeigt sich also auch in ›Und Friede auf Erden!‹. Doch hat Karl May eine eigenwillige Art, diese Tendenz umzusetzen, indem er auch dafür vor allem das erzählerische Mittel des Dialogs anwendet. Karl Mays ›Und Friede auf Erden!‹ liegt also im Zug seiner Zeit, was die Entwicklung von der diegetisch-fiktionalen zur mimetisch-fiktionalen Erzählweise angeht. Dass Karl May die Form der Ich-Erzählung wählt und den Dialog als hauptsächlichen Träger des Inhalts, ist außergewöhnlich, nicht nur für seine Zeit.



1 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXX: Und Friede auf Erden! Freiburg 1904, S. 294; Reprint Bamberg 1984

2 Rolf Tarot: Narratio viva. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Erzählkunst vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Band I: Theoretische Grundlagen. Bern 1993

3 May, wie Anm. 1, S. 336 (Unterstreichungen hier und im Folgenden durch die Verf.)

4 Ebd., S. 451

5 Ebd., S. 189

6 Ebd., S. 90f.

7 Ebd., S. 382

8 Ebd., S. 596 bzw. S. 33

9 Ebd., S. 33

10 Ebd., S. 173

11 Ebd., S. 2 bzw. S. 173


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12 Ebd., S. 293

13 Ebd., S. 402

14 Ebd., S. 408; der Satz Auf welche Weise ... endet mit einem Anführungszeichen, was jedoch offensichtlich ein Druckfehler ist, der erst in der Ausgabe von 1912 (Karl Mays Illustrierte Reiseerzählungen. Bd. XXX) korrigiert wurde.

15 Ebd., S. 568f.

16 Silvia Zahner: Karl Mays ›Ich‹ in den Reiseerzählungen und im Spätwerk. Eine erzähltheoretische Analyse. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 123/2001

17 May, wie Anm. 1, S. 596f.

18 Ebd., S. 201

19 Ebd., S. 204

20 Ebd., S. 202

21 Die Prozentzahlen stammen aus meiner Dissertation (wie Anm. 16), für welche ich sie selbst berechnet habe, indem ich gezählt habe, wie viele Linien Dialog pro Seite zu finden sind.


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