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RALF JUNKERJÜRGEN


Die »Spannung verdoppelte, nein, verzehnfachte sich«1
›Der Schatz im Silbersee‹ im Licht psychologischer Rezeptionsästhetik




Karl Mays beispiellose Beliebtheit bei den Lesern wird häufig auf die Spannung seiner Romane zurückgeführt. Deshalb ist es verwunderlich, dass dieser Aspekt bisher entweder nur marginal oder ohne empirisch gesicherte theoretische Grundlagen untersucht worden ist.2 Ein Grund dafür dürfte in der Doppelnatur von Spannung liegen, die sowohl eine psychologische als auch eine erzähltechnische Seite besitzt. Die psychologische betrifft Spannung als Zustand des Rezipienten, die erzähltechnische als Textverfahren. Wer nun Spannung als Textverfahren beschreiben will, muss sie in einem ersten Schritt als psychologische Kategorie definieren, um auf den Text zurückschließen zu können. Dies fällt aber nicht in den Kompetenzbereich der Literaturwissenschaft, die daher auf die empirische Forschung der Psychologie zurückgreifen muss. Doch obwohl spätestens seit den 1980er Jahren in der Psychologie und den angrenzenden Wissenschaften kontinuierlich zur Spannung geforscht wird, wurden diese Arbeiten bisher nur in unzureichendem Maße von der Literaturwissenschaft berücksichtigt. Film- und Textanalysen auf Basis der empirischen Forschung stellen weiterhin ein Desiderat dar.3 ›Der Schatz im Silbersee‹ als einer der erfolgreichsten Romane Karl Mays scheint dafür besonders gut geeignet zu sein und soll nach einem kurzen Überblick über die bisherigen Ergebnisse der empirischen Forschung exemplarisch auf seine Spannungstechniken hin untersucht werden.



1. Spannungstheorie


Spannung wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Oberbegriff für jedwede Art von Leseraktivierung verwendet. Die einzelnen Spannungsstrategien sind jedoch höchst unterschiedlich, und es lassen sich wenigstens vier Grundformen voneinander unterscheiden, die im Folgenden mit der konventionellen englischen Terminologie bezeichnet werden.

   Unter  m  y s t e r y  versteht man die Inszenierung einer Informationslücke, die in der erzählerischen Praxis mit dem Aufwerfen einer Frage beginnt, sich fortsetzt mit der Falsifizierung konkurrierender oder sich ablösender


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Hypothesen und mit dem Finden der korrekten Lösung abschließt. Dieses Strukturmuster bestimmt prototypisch die Detektiverzählung. ›Mystery‹ stellt demnach eine kognitive Stimulierung des Lesers dar, der am Auffinden der Lösung durch Kombination und Selektion von Informationen geistig teilhat.4

   Mit  s u s p e n s e  hingegen bezeichnet man die Inszenierung von Gefahren und Anreizen. Eine positiv gezeichnete Figur muss bei scheinbar geringer Aussicht auf Erfolg konkrete Bedrohungen überstehen, wobei nur zwei mögliche Auflösungen existieren: Entweder siegt die Figur oder sie unterliegt. Letzteres ist in der Regel gleichzusetzen mit körperlichen Schädigungen oder sogar Tod. Auch Anreize können ›suspense‹ erzeugen, kommen in der erzählerischen Praxis aber weniger häufig vor. ›Suspense‹ besteht somit aus einem Dreischritt: dem Auftauchen einer Gefahr, der Auseinandersetzung mit ihr und der Auflösung. Im Gegensatz zu ›mystery‹ leistet ›suspense‹ eine emotionale Stimulierung, da der Leser sich bestenfalls in die Figur einfühlt und bei Gefahr und Anreizen mehr oder weniger starke Momente von Angst und Hoffnung durchlebt.5 Unter den narrativen Gattungen ist der Abenteuerroman wohl am stärksten von ›suspense‹ bestimmt.

   Informationslücken und Gefahren werden miteinander kombiniert, wenn die Figur mit einer ›geheimnisvollen Gefahr‹ bzw. mit einem ›gefährlichen Geheimnis‹ konfrontiert wird, wie dies für den Schauer- und Spionageroman phasenweise gültig ist. In einem solchen Fall lässt sich daher pragmatisch von  m y s t e r y / s u s p e n s e  sprechen. Vorweggenommen sei hier bereits, dass diese Strategie im ›Schatz im Silbersee‹ keine Rolle spielt, was im Abenteuerroman allerdings auch kaum anders zu erwarten stand, so dass ›mystery/suspense‹ im Folgenden nicht weiter beachtet wird.

   Alle drei bisher genannten Strategien können sowohl Episoden bilden als auch ganze Texte überspannen und sind daher prinzipiell durativ. Im Gegensatz dazu wirkt  s u r p r i s e ,  die vierte und letzte Grundform, ganz punktuell.6 Es handelt sich dabei um eine plötzliche Neuinformation, die die bisherige Gesamtsituation umkehrt oder zumindest entscheidend verändert. In der Regel ist dazu im Vorfeld eine Irreführung des Lesers im weitesten Sinne notwendig, so dass sich ›surprise‹-Effekte besonders für Erzählschlüsse eignen.

   Da der ›Schatz im Silbersee‹ zur Gattung des Abenteuerromans gehört und damit a priori vor allem durch ›suspense‹ gekennzeichnet sein dürfte, ist es notwendig, diese Erzählstrategie noch weiter zu detaillieren. Den bisherigen allgemeinen inhaltlich-strukturellen Merkmalen sind noch zwei zeitliche hinzuzufügen. Erstens verlaufen Diskurs- und Ereignisstruktur in der Regel parallel, und zweitens nähern sich Erzählzeit und erzählte Zeit einander schrittweise an, wobei es am Kulminationspunkt zu dem seltenen Fall des zeitdehnenden Erzählens (›Erzählzeit‹ länger als ›erzählte Zeit‹) kommen kann. Karl May markiert solche Phasen geradezu topisch mit Hinweisen wie: Dies alles war viel schneller geschehen, als es erzählt


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werden kann ... (S. 342).7 ›Suspense‹ erscheint damit als kurzer Affekthöhepunkt, dessen Dauer, wie die Stressforschung nachweisen konnte, begrenzt ist, weil die Erregung ab einem bestimmten Zeitpunkt wieder abnimmt.8

   Die Erfolgswahrscheinlichkeit der Figuren, die Gefahren zu bewältigen, wirkt sich nachweislich vor allem auf die Spannungsintensität aus. Als am effektivsten erwiesen sich dabei sehr geringe und relativ geringe Erfolgschancen, wohingegen völlige Aussichtslosigkeit (›Wahrscheinlichkeit 0‹) oder Gewissheit (›Wahrscheinlichkeit 1‹) die Erregung der Rezipienten senkten.9

   Zu unterscheiden ist außerdem zwischen einer globalen und einer lokalen Ebene. Die globale besteht aus Gefahren oder Anreizen, die den Gesamttext überspannen und erst am Schluss aufgelöst oder erfüllt werden. Auf lokaler Ebene hingegen stellen sich episodisch imminente Gefahren ein, die von den Figuren umgehend bewältigt werden müssen. Aus den genannten zeitlichen Merkmalen geht hervor, dass die globale Ebene keinen ›suspense‹ auslöst, weil hier keine Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit vorliegt. Die globale Ebene leistet aber einen wichtigen Beitrag zur Leseraktivierung, indem sie erstens durch ihren vorausweisenden Charakter ein Grundinteresse am Verlauf des Textes aufbaut und damit zweitens für den Leser eine emotionale Basis schafft, auf der die lokalen Episoden fußen und ihre Wirkung entfalten. Vor diesem Hintergrund ist auch nach dem inhaltlichen Zusammenhang zwischen globaler und lokaler Ebene und nach der Verteilung der lokalen Episoden über den Gesamttext zu fragen.

   Auch der allgemeine Hinweis auf den positiven Protagonisten bedarf eines Kommentars, denn nicht alle Figuren eignen sich gleich gut zur Empathie-Erzeugung. Ihre Eignung lässt sich anhand von zwei Faktoren beschreiben. Der erste betrifft ihre grundsätzliche Vulnerabilität, d. h. ihre Fähigkeit, Gefahren zu bewältigen, der zweite die Nähe bzw. die Distanz zwischen Figur und Leser. Bei Letzterem muss man notgedrungen von einem abstrakten durchschnittlichen Leser ausgehen, um folgende allgemeine These aufzustellen: Je außergewöhnlicher eine Figur ist, desto mehr Distanz suggeriert sie im Hinblick auf den Rezipienten.

   Figuren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und großer Distanz kann man als ›Superhelden‹ ansehen. Sie eignen sich daher weniger zur Erzeugung optimaler ›suspense‹-Effekte. Eine Figur von mittlerer Vulnerabilität und normalen Fähigkeiten hingegen suggeriert Nähe und ist ›suspense‹-technisch effektiver. Da eine solche Figur im Text in der Regel als besonders sympathisch geschildert wird, kann man sie als ›everybody's darling‹ bezeichnen. Schließlich gibt es noch Figuren von größerer Vulnerabilität und geringer Distanz. Ihre Verletzlichkeit ist so groß, dass sie beim Rezipienten auch ohne vorangehende Charakterisierungen, also quasi automatisch, eine Einfühlung auslösen, was vor allem auf Frauen, Kinder und alte Menschen zutrifft. Man kann sie daher als ›Empathie-Automaten‹ bezeichnen.


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   Die genannten Definitionen stellen die Grundlage der folgenden Untersuchung dar, bei der es weniger um die Übereinstimmung des Romans mit der Theorie als um die Besonderheiten des May'schen Erzählens geht, die sich gerade in den Abweichungen davon und in punktuellen Vergleichen mit anderen Spannungsautoren zeigen.



2. »Auch will ich mit berühmten Jägern zusammentreffen.« (S. 152) -
Zur Figurendarstellung und -konstellation


Die hierarchische Struktur der May'schen Abenteurer-Gesellschaft und die Eigenschaften der Westmänner sind bereits hinlänglich beschrieben worden,10 weniger beachtet wurde dabei, wie sehr sie auch dramaturgischen Prinzipien gehorchen. Eine fiktionsimmanente Wildwest-Öffentlichkeit, deren Nachrichtenzentrale das Lagerfeuer ist, schafft dabei die Rahmenbedingungen. Am Lagerfeuer oder in ähnlichen Gesprächssituationen berichten die Abenteurer zweiter Kategorie von ihren Begegnungen und Erlebnissen mit der ersten Garde, wie die Erzählung Missouri-Blenters (S. 83-92) exemplarisch illustriert. Die erzählerischen und rezeptionsästhetischen Vorteile dieser Vorgehensweise liegen auf der Hand. Das Lagerfeuergespräch bestätigt die Überlegenheit der Elite und präludiert deren Auftreten. Gleichzeitig wird der auktoriale Erzähler davon entlastet, die Protagonisten selbst zu beurteilen. Dass dies größtenteils von anderen Figuren übernommen wird, macht ihren Sonderstatus nicht nur glaubwürdiger, sondern lässt die erzählte Welt auch als besonders konsistente Gegenwirklichkeit erscheinen, von der der Roman scheinbar nur einen episodischen Ausschnitt darstellt, denn die Lagerfeuergeschichten werfen Licht über die Grenzen der dargestellten Gegenwart hinaus und suggerieren die Existenz einer Vergangenheit, die den Hauptfiguren legendäre Dimensionen verleiht.11

   Im sozialen System des Westens ist prinzipiell nur der Leser ein Neuling, so dass die Nachrichten der scheinbar objektiven Lagerfeuer-Öffentlichkeit letztlich ihm gelten. In diesem Zusammenhang ist es konsequent, dass der auktoriale Erzähler streckenweise die Perspektive des Wildwest-Novizen Lord Castlepool übernimmt, die mit derjenigen des Lesers am ehesten übereinstimmt. Der Lord kann beispielsweise den Blick nicht von ihm [Old Firehand] wenden (S. 194), als der berühmte Waldläufer erst einmal sein Jagdkostüm angelegt hat. Castlepools Reaktion spiegelt und suggeriert gleichzeitig die Erwartungshaltung, die durch die Legenden beim Leser aufgebaut wird: Der Lord wartet nicht nur auf die Lichtgestalten des Westens, sondern will sogar für jede Begegnung mit ihnen hundert Dollar zahlen (S. 152).

   Rezeptionsästhetisch gesehen, geschieht hier etwas höchst Bemerkenswertes: Der bloße Auftritt von Figuren erscheint als Anreiz, kann also ›sus-


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pense‹ auslösen und wird im Verlauf des Textes entsprechend zelebriert.12 Denn obwohl die Superhelden »überall und nirgends« (S. 152) und »allgegenwärtig« (S. 309) sind, ist ihr Erscheinen alles andere als zufällig, sondern gehorcht dem dramatischen Prinzip der Steigerung. Genauso wie bei Siegerehrungen zunächst Bronze und Silber und dann erst Gold vergeben werden, erscheinen nacheinander Old Firehand (1. Kapitel), Winnetou (5. Kapitel) und Old Shatterhand (6. Kapitel). Auch wenn im Text mehrmals von der Gleichwertigkeit der Elite des Westens gesprochen wird (vgl. S. 274f.), besteht kein Zweifel daran, dass weder Old Firehand noch Winnetou letztlich Old Shatterhand gleich sind.13

   Nachdem der Leser durch Binnenerzählungen und -beschreibungen entsprechend vorbereitet und eingestimmt ist, kann er die Hauptfiguren prinzipiell schon an äußeren Details identifizieren. Der Auftritt Winnetous wird dementsprechend als kleiner ›mystery‹, als minimale detektivische Aufgabe inszeniert: Da kommt zunächst nur ein Reiter (S. 266) heran, ein Indianer mit lange(m), schwarze(m) Haar, mit ausgefranste(n) Leggins, mit Stickereien im Jagdhemd und mit Mokassins - eine recht unspezifische Erscheinung (S. 267). Dann folgen einschränkende Merkmale, denn dieser Indianer trägt keine Adlerfeder, und gemäß der retardierenden Logik der Lesersteuerung endet die äußere Beschreibung in einem distinktiven Merkmal: ein Doppelgewehr, dessen Schaft mit vielen silbernen Nägeln beschlagen war (ebd.). Der Quacksalber Jefferson Hartley, aus dessen Perspektive erzählt wird, erkennt den Indianer nicht, der Leser hat das kleine Personenrätsel hingegen längst gelöst. Es ist auch nicht schwierig, aber es erfüllt seine Funktion vollkommen, denn es aktiviert den Rezipienten, macht ihn zum Spuren-Leser und verleiht ihm auch noch das Erfolgsgefühl, die fiktive Welt besser zu kennen als einige der in ihr agierenden Figuren.

   Gehorchen die Figurenauftritte schon dramaturgischen Prinzipien, so stimmt auch deren Konstellation mit der oben genannten dreiteiligen Typologie verschiedener Empathie-Kapazitäten überein. Figuren von geringer Vulnerabilität und größerer Distanz (›Superhelden‹) sind freilich Old Firehand, Winnetou und Old Shatterhand. Wegen ihrer Überlegenheit treten sie prototypisch als Retter auf, was im ›Schatz im Silbersee‹ vor allem für Winnetou gilt (S. 90, 268, 309), und sind prinzipiell weniger gut für ›suspense‹-Erzeugung geeignet.14 Will man sie glaubwürdig in Gefahr bringen, müssen sie entweder situativ geschwächt oder aber mit einer massiven Übermacht konfrontiert werden. Dies geschieht erst in der zweiten Hälfte des Romans, wo sie von den zahlenmäßig weit überlegenen Utahs im Schlafe überrascht werden.

   Von mittlerer Vulnerabilität und größerer Nähe (›everybody's darlings‹) sind der Schwarze Tom, Missouri-Blenter, Humply-Bill, Gunstick-Uncle, der dicke Jemmy, der lange Davy, Hobble-Frank und Tante Droll. Zwar bestehen zwischen den Genannten noch graduelle Unterschiede - so ist Tante Droll zweifellos auch ein großer Westmann -, dennoch werden sie im Wer-


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tesystem des Textes von den Superhelden schon allein dadurch abgehoben, dass sie diese in der Regel nicht duzen (S. 493). ›Everybody's darlings‹ eignen sich bestens zur ›suspense‹-Erzeugung und werden dementsprechend häufig in Gefahr gebracht: Missouri-Blenter fällt in die Hände der Tramps (S. 104f.), und der dicke Jemmy, der lange Davy und Hobble-Frank müssen sich scheinbar aussichtslosen Zweikämpfen stellen (Kapitel 6).

   Ellen Butler ist die einzige Figur von großer Vulnerabilität und geringer Distanz (›Empathie-Automat‹). Angesichts der Tatsache, dass die Figur keine noch so geringe handlungstragende Rolle spielt, ist sie auffällig häufig Zentrum von Gefahrensituationen, indem sie vom Panther angegriffen (S. 35) und bisweilen von Tramps (S. 218) und von Indianern (S. 586) gefangen genommen wird. Diese Inkongruenz legt die Vermutung nahe, dass die Figur sich in der rezeptionsästhetischen Funktion erschöpft, den Text quantitativ mit ›suspense‹ anzureichern.

   Das kleine Volk der Protagonisten ist demnach rezeptionsästhetisch gesehen durchaus feinsinnig strukturiert. Ganz anders verhält es sich hingegen mit den Antagonisten: Brinkley personifiziert das Böse schlechthin, da sein Leben »aus lauter Verbrechen zusammengesetzt zu sein« (S. 310) scheint, und reduziert die übrigen Tramps auf gesichtslose Staffage. Mit dem sechsten Kapitel wird Brinkley vom Großen Wolf abgelöst, der unter den Utahs eine vergleichbar repräsentative Stellung einnimmt. Die kurzen Auftritte anderer Utah-Häuptlinge gegen Ende des Romans ändern nichts an der Tendenz, dass die Gruppen der Antagonisten sich letztlich nur aus einem markanten Anführer und dessen austauschbaren Begleitern zusammensetzen.

   Diese völlige Unausgeglichenheit in der Struktur der beiden Parteien zeigt an, dass den Antagonisten rezeptionsästhetisch nur die Aufgabe zukommt, Gefahren zu etablieren, die von den Protagonisten bewältigt werden müssen. In den klaren Rollenzuweisungen offenbart sich auch das Spielerische, das dem spannenden Erzählen prinzipiell zugrunde liegt. Deshalb wäre es abwegig, diesen Dualismus als Schwarz-Weiß-Malerei zu kritisieren. Karl May erscheint wie andere Abenteuerautoren auch - nach einer Formulierung Umberto Ecos über Ian Fleming - vielmehr als »Manichäer (...) aus Gründen des Metiers«.15



3. »Es ist ein bewegtes Leben, welches unser wartet.« (S. 139) -
Zum Aufbau der globalen Ebene


Hammer sieht auf globaler Ebene »wenigstens fünf Themen nebeneinander hergehen«:16 die Suche nach dem Schatz, die Ausbeutung der Mine, die Jagd auf den Cornel, den Kampf gegen die Tramps und die Beilegung des Konflikts mit den Utahs. Der scheinbare Pluralismus an textüberspannenden Themen hat in der Beurteilung des Romans zu einer Kontroverse ge-


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führt. Lorenz beispielsweise wirft ihm einen Mangel an innerer Geschlossenheit vor,17 während Graf gerade in der Vielgestaltigkeit und dem Abwechslungsreichtum den Grund für seinen Erfolg sieht.18 Spannungstechnisch gesehen, vermittelt die Auflistung von fünf Themen jedoch ein verzerrtes Bild, denn es liegen strukturell nur zwei Motive vor - Gefahr und Anreiz -, die sich auf Vordergrund und Hintergrund verteilen. Die Anreize, also Schatz und Silberader, stehen völlig im Schatten der Gefahren und werden als globales Motiv lediglich etabliert und schließlich aufgelöst. Zwischenzeitlich spielen weder das eine noch das andere eine Rolle, und selbst den Lageplan, der für prototypische Schatzsuchen wie Poes ›The Gold Bug‹ (1843) oder Stevensons ›Treasure Island‹ (1883) konstitutiv ist, bekommen die Figuren nie zu Gesicht.

   Dennoch überrascht es, dass sich die Anreize gleich auf zwei Motive verteilen. Der Parallelismus von Schatz und Mine lässt sich als Aufwertung des bürgerlichen Arbeitsbegriffes deuten: Geschenktes Gut gehe verloren, Reichtum müsse man sich erarbeiten.19 Aber auch spannungstechnisch ist das Nebeneinander notwendig, denn der Verlust des Schatzes muss durch die Mine ausgeglichen werden, damit keine abschließende Frustration der Leserwünsche entsteht. Dass der Schatz trotz seiner Nebenrolle im Titel genannt wird, weist ihn als Köder aus, der mehr kommerziellen als kompositorischen Kriterien gehorcht.

   Im Vordergrund steht eindeutig das Konfliktmotiv, das sich im Gegensatz zu den parallel wirkenden Anreizen sukzessiv in zwei Phasen entwickelt, die relativ genau jeweils eine Hälfte des Romans ausmachen. Nach der Überwältigung der Tramps am Eagle-tail werden sie durch die Utahs kurzerhand ersetzt, wobei der Wechsel der Antagonisten inhaltlich völlig plausibel motiviert ist, denn die Morde der übrig gebliebenen Banditen sind ja die Ursache für den Rachefeldzug der Indianer. Mit dem Wechsel ist auch eine Steigerung verbunden, da die Utahs in ihrem eigenen Gebiet und angesichts ihrer Anzahl eine viel größere Gefahr darstellen als die Tramps. Während die Superhelden also in der ersten Romanhälfte kaum ernsthaft bedroht werden, steht in der zweiten wiederholt ihr Leben auf dem Spiel. Die zweite Gefahr schiebt sich förmlich über die erste, was sich inhaltlich darin spiegelt, dass die Utahs die restlichen Tramps kurzerhand beseitigen.

   Auch hier stellt sich die Frage, warum diese Zweiteilung überhaupt notwendig wird, denn prinzipiell hätte auch die Anzahl der Tramps einfach erhöht werden können. Rezeptionsästhetisch lassen sich hierfür zwei triftige Gründe vermuten. Spannungstechnisch ist der Roman sehr dicht erzählt, so dass bei dem umfangreichen Text die Gefahr einer Monotonie durch allzu häufige Wiederholung besteht. Zweitens stellen die Indianer den Tramps gegenüber einen Exotismus dar, der dem Text zusätzliches Interesse verleiht, so dass auch in dieser Hinsicht eine Steigerung erreicht wird.

   Der Einsatz der globalen Inhalte gehorcht einer auffälligen Verzögerung. Zunächst strukturieren die Antagonisten den weiteren Verlauf vor, da sie


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sich auf dem Weg zum Silbersee befinden und zu ihrer Proviantierung sowohl Butlers Farm als auch die Eisenbahnkasse ausrauben wollen (S. 56ff.). Die Gruppe der Protagonisten hingegen konstituiert sich erst mit dem Ende des dritten Kapitels, als Old Firehand von der Mine berichtet und von dem reuigen Tramp Nolley die weiteren Absichten Brinkleys erfährt. Erst damit wird der weitere Ablauf vorgeplant und von Old Firehand nicht ohne Pathos besiegelt: »So wird morgen früh aufgebrochen. ... Es ist ein bewegtes Leben, welches unser wartet. Laßt uns gute Kameraden sein, Mesch'schurs!« (S. 139) Die ersten drei Kapitel erscheinen vor der Gesamtkonzeption des Textes somit lediglich als Exposition. Das Erzählverfahren von Andeutung und Verzögerung der globalen Inhalte hat offenbar die Aufgabe, den Leser in den Text hineinzulocken, und deshalb setzt der Roman mit der Etablierung der globalen Inhalte im 3. Kapitel quasi zum zweiten Mal ein.



4. »... so und so viele Unterabenteuer« (S. 167). -
Lokale ›suspense‹-Episoden


Zwecks größerer Klarheit erscheint es sinnvoll, zunächst eine lokale Episode ausführlicher zu besprechen. Dafür eignet sich wegen seiner Anschaulichkeit schon gleich der Romananfang, in dem Brinkley den Schwarzen Tom, den Großen Bären und Old Firehand zu einem Drink herausfordert.

   Da die Auftritte der Protagonisten in besonderer Weise zelebriert werden, kann die Sympathielenkung im Vorfeld nur ex negativo erfolgen, d. h., dass die Tramps so unvorteilhaft gezeichnet werden, dass der Leser automatisch mit jedem empathisch werden muss, der in Konflikt mit ihnen gerät. Dieser rezeptionsästhetisch wichtigen Voraussetzung sind die ersten beiden Seiten gewidmet, auf denen die Tramps über ihren Hang zum Alkohol, ihre schmutzigen Kleider sowie explizite Erzähler- und Figurenkommentare stark negativ markiert werden. Parallel dazu wird der Konflikt nicht ohne eine gewisse Sorgfalt atmosphärisch vorbereitet. Die Mittagszeit des heißen Junitages und die ereignislose langweilige Fahrt (S. 11) über den Arkansas schaffen einen Hintergrund, vor dem sich jede interessante Scene (S. 14) besonders kontrastreich abheben muss.

   Das Auslöseereignis der ersten ›suspense‹-Episode besteht in der Wette Brinkleys mit seinen Kumpanen, drei anderen Passagieren einen Drink aufzudrängen (S. 12ff.). Abfolge und Größe der Gefahr werden genau beschrieben, so dass der Verlauf der folgenden Seiten für den Leser schon im Vorfeld transparent ist. Zunächst soll ein Schwarzbärtiger, dann ein Indianer und dann ein elegant gekleideter Hüne an der Reihe sein. Für alle drei besteht akute Lebensgefahr, sollten sie den Drink abweisen, was im Westen als tödliche »Beleidigung« (S. 12) gilt.

   Ebenso wie die Auftritte der Elite des Westens ist auch die dreiteilige Struktur der Episode vom Prinzip der Steigerung markiert, denn während


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der Schwarze Tom einer Konfrontation noch ausweicht, kommt es beim Großen Bären zu einer Zuspitzung, die bei Old Firehand im offenen Kampf und der Mobilisierung der übrigen Tramps gipfelt. In diesem Moment kulminiert auch der ›suspense‹, denn die Chance, dass sich ein Mann gegen zwanzig Banditen zur Wehr setzt, scheint gering. Dennoch folgt die erwünschte Auflösung unmittelbar: Kaum hat Old Firehand sich zu erkennen gegeben, sind die Tramps vor Respekt (S. 23) überwältigt. Die Reputation der Westmänner ist damit nicht nur konstitutiver Teil der Figurendarstellung, sondern auch ein probates und häufig eingesetztes dramaturgisches Mittel - ein May'scher Deus ex machina wenn man so will, der auch bei Old Shatterhand noch zum Einsatz kommen wird (S. 381f.). Damit schließt die erste Episode und geht fast nahtlos in die nächste über, die mittels einer Unterbrechung in der dreischrittigen Abfolge (S. 17-20) bereits vorbereitet wurde, worüber weiter unten noch zu sprechen sein wird.

   Der gesamte Roman ist durchzogen von vergleichbaren  E p i s o d e n   , die zur Vereinfachung der weiteren Darstellung durchnummeriert und aufgelistet werden:


1.Drei Drinks (Kap. 1, S. 12-23)
2.Angriff des Panthers (Kap. 1, S. 29-39)
3.Die Tramps berauben Butler (Kap. 2, S. 73-79)
4.Wie Missouri-Blenter seine Familie verlor (Kap. 3, S. 87-92)
5.Der Große Bär tötet einen der lauschenden Tramps (Kap. 3, S. 95f.)
6.Blenter wird von den Tramps gefangen und befreit (Kap. 3, S. 99-107 / 112-114)
7.Brinkleys Flucht (Kap. 3, S. 122-126)
8.Erschießen von fünf Tramps (Kap. 4, S. 157-163)
9.Befreiung der Osagen (Kap. 4, S. 172f.)
10.Wette zwischen Droll und Castlepool (Kap. 4, S. 197f.)
11.Angriff der Tramps auf Butlers Farm (Kap. 4, S. 205-216)
12.Die Brüder Butler und Ellen werden gefangen und befreit (Kap. 4, S. 218-243)
13.Brinkley raubt den Quacksalber Hartley aus (Kap. 5, S. 257-260)
14.Haller wird getötet (Kap. 5, S. 263-266)
15.Die Erzählung des Schichtmeisters (Kap. 5, S. 305-310)
16.Brinkley jagt Engel und stiehlt die Schatzkarte (Kap. 5, S. 327-333)
17.Die Tramps werden überwältigt (Kap. 5, S. 339-346)
18.Streitgespräch mit den Soldaten (Kap. 6, S. 357-361)
19.Old Shatterhand und Begleiter werden von den Utahs umzingelt (Kap. 6, S. 372-396)
20.Zweikämpfe (Kap. 6, S. 396-469)
21.Gefangennahme der Utahs im Night-Cañon (Kap. 7, S. 479-500)
22.Utahs überfallen die Westmänner (Kap. 7, S. 502-511)
23.Die Westmänner können sich befreien (Kap. 7, S. 511-541)
24.Die Westmänner beschleichen die Utahs und werden Zeugen der Indianerschlacht (Kap. 7, S. 555-564)


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25.Sie finden die Silberader (Kap. 8, S. 577-585)
26.Ellen wird von Indianern gefangen (Kap. 8, S. 586-588)
27.Die Westmänner stoppen das Vordringen der Utahs (Kap. 8, S. 599-602)
28.Die Utahs greifen erneut an (Kap. 8, S. 608)
29.Tschia-nitsas verrät die Westmänner (Kap. 8, S. 623-628)


Zunächst könnte es so aussehen, als sei die erste Hälfte des Romans spannender als die zweite, zählt man doch 17 Episoden bis zum Ende des fünften Kapitels und nur noch 12 bis zum Romanschluss. Das Ungleichgewicht hängt jedoch damit zusammen, dass ›suspense‹ anfänglich vor allem in kürzeren Episoden generiert wird, in der zweiten Hälfte dann aber größere Erzählblöcke bildet, was vor allem für Episode 20 gilt.

   Demnach ist vom Umfang her zwischen zwei Typen zu unterscheiden, die sich als Mikro- und Makroepisoden bezeichnen lassen. Eine genaue Grenze zwischen beiden lässt sich theoretisch zwar nicht exakt ziehen, die Verteilung der Umfänge selbst kommt einem hier jedoch zu Hilfe, denn der Großteil aller Episoden schwankt zwischen 1 und 11 Seiten, während 21, die nächstgrößere Episode, mit 21 Seiten deutlich länger ist, ebenso wie 12, 19, 20 und 23, wobei 20 mit 74 Seiten klar herausragt. Mit dem unterschiedlichen Umfang geht in der Regel als inhaltliches Merkmal eine unterschiedliche Dichte in der Gefahrendarstellung einher. Mikroepisoden sind besonders dicht und erzählen zwischen Auslöseereignis und Auflösung kontinuierlich von der Auseinandersetzung mit der Gefahr, Makroepisoden hingegen nehmen auch Elemente in sich auf, die nicht direkt auf das Auslöseereignis verweisen, wie etwa die Hinrichtung der Tramps Knox und Hilton in Episode 20 (S. 418-425), wobei solche Elemente den eigentlichen ›suspense‹-Anlass zusätzlich noch hinauszögern. Überhaupt unterscheiden sich Mikro- und Makroepisoden auch in der Wirkung voneinander. Während Mikroepisoden kurze Affekthöhepunkte darstellen, dürften Makroepisoden eine vergleichbare Intensität nur phasenweise erreichen.

   Die Episoden unterscheiden sich aber nicht nur im Umfang voneinander. Nach Art der perspektivischen Inszenierung lassen sich im ›Schatz im Silbersee‹ drei verschiedene Typen festmachen. Den ersten davon bilden prototypische ›suspense‹-Episoden, also Episoden, in denen gemäß der oben genannten Definition aus der Perspektive des Betroffenen die Auseinandersetzung mit Gefahren oder Anreizen dargestellt wird. Sie bilden mit 18 von 29 Episoden eindeutig die Mehrheit.20 Einige von ihnen - Episode 4, 15 und 16 - sind als Binnenerzählungen in den Roman integriert. Alle drei zeichnen sich insgesamt durch einen knappen Stil aus, der wie im Falle von Drolls Erzählung sogar expliziert wird: »Das ist schnell berichtet ...« (S. 327). Da somit kein zeitdeckendes Erzählen vorliegt, wird die ›suspense‹-Wirkung zwar hierbei eingeschränkt, dadurch aber wieder ausgeglichen, dass alle Binnenerzählungen aufbauende Rückwendungen sind, die bisherige relevante Informationslücken nach und nach schließen. So beziehen sich denn alle drei inhaltlich auf frühere Verbrechen von Brinkley und


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verleihen laut Scheerer »der Jagd auf den Bösewicht eine mehrfache Begründung und vertiefen deren moralische Berechtigung«.21

   Davon unterscheidet sich eine Variante, in der nicht eine, zwei oder drei Figuren im Fokus der Gefahren stehen, sondern gleich ein ganzes Kollektiv. Dies gilt für den Angriff auf Butlers Farm (Episode 11), die Gefangennahme der Utahs im Night-Cañon (Episode 21) und die weiteren Schlagabtausche zwischen beiden Parteien (Episoden 22, 23, 27, 28, 29). Aufgrund der Kollektivschau von Figuren könnte man diesen Typus als ›panoramisch‹ bezeichnen. Der rezeptionsästhetische Nachteil panoramischer ›suspense‹-Episoden dürfte darin liegen, dass die Perspektive wie bei einem Gruppenbild zwangsweise eine größere Distanz erfordert und dem Leser damit die Möglichkeit nimmt, sich in eine oder zwei Figuren konkret einzufühlen. Dass sich solche Episoden gegen Ende des Romans häufen, könnte mit den inhaltlichen Steigerungen zusammenhängen. Während zunächst Westmänner in Zweikämpfen oder gegen überschaubare Gruppen antreten, stehen sich schließlich ganze Indianerstämme gegenüber, eine Klimax, die sich freilich auch aus der traditionell besonderen Stellung des Romanschlusses ergibt, der als Showdown inszeniert wird, bei dem sich noch einmal alle einander widerstrebenden Kräfte bündeln.

   Schließlich lässt sich noch eine dritte Variante ausmachen, die sich von den anderen dadurch unterscheidet, dass die Gefahrensituation lediglich aus der Ferne beobachtet wird, ohne dass die jeweils perspektivierte Figur direkt eingreifen könnte. So beobachten Humply-Bill und seine Kameraden, wie der Osagenhäuptling seine Krieger aus dem Lager der Tramps befreit (Episode 9), und Winnetou, Firehand und Shatterhand werden unbemerkt Zeugen der Indianerschlacht zwischen Utahs und Navajos im Tal der Hirsche (Episode 24). Vergleichbares gilt auch für die Episoden 5 und 14 und streckenweise auch für 2, 12 und 23. Diesen Typus könnte man als ›teichoskopische‹ Episode bezeichnen, auch wenn die Figuren wegen der geographischen Bedingungen vornehmlich auf Bäume klettern (Episoden 23 und 24) und daher anstelle von Mauerschau besser von ›Baumschau‹ gesprochen werden müsste. Teichoskopische Episoden dürften in ihrer Wirkung weniger effizient sein, da sie häufig stark gerafft erzählt sind und mit der Distanz zwischen Beobachter und ›suspense‹-Handlung natürlich auch die Imminenz der Gefahr zurückgenommen wird. Die Frage ist deshalb, warum Karl May hier auf optimale Spannungserzeugung verzichtet. Abgesehen davon, dass darin ein Mittel der Variation liegt, könnte in den Episoden 5, 9 und 14 der Grund darin liegen, dass es sich um Nebenaspekte und Nebenfiguren handelt, die wohl keine ausführliche Gestaltung erfahren sollten, um eine unausgeglichene Fokussierung zu vermeiden.

   Ein weiteres Merkmal der May'schen Spannungsinszenierung liegt in der teilweise minutiös dargestellten Planung der Lösungsstrategien. Böhm ist es am Beispiel von ›Winnetou I‹ gelungen, komplexe Handlungsalgorithmen zu rekonstruieren, die das Vorgehen Old Shatterhands für den Leser


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transparent machen und quasi einen didaktischen Gestus darstellen, da sie Problemlösungsverfahren beispielhaft vorführen.22 Dasselbe gilt im Falle des ›Schatz im Silbersee‹ aber auch für die Antagonisten, denn Brinkley plant den Diebstahl auf dem Dampfer (S. 53-65) ebenso sorgfältig wie der Große Wolf den nächtlichen Überfall auf die Westmänner (S. 501-508). Von rezeptionsästhetischer Bedeutung ist bei dieser Verfahrensweise vor allem der Aufbau von Wissensvorsprüngen des Lesers gegenüber einer der beiden Parteien. Diese Wissensvorsprünge wirken sich direkt auf die Erfolgswahrscheinlichkeit und damit auf die Intensität der Leserreaktion aus. Wenn der Leser von den Strategien der Protagonisten angesichts aussichtsloser Situationen erfährt, wie dies bei den Zweikämpfen Davys, Jemmys und Hobble-Franks der Fall ist, wird die Erwartungshaltung dahingehend modelliert, dass doch noch Hoffnung und trotz einer zunächst aussichtslosen Lage Chance auf Rettung besteht, was den ›suspense‹ fördert. In weniger gefahrvollen Momenten äußert sich in der Planung gerade die Kontrolle der Situation durch die Figur. Wenn der Leser hingegen in die Pläne der Antagonisten eingeweiht wird, erscheinen die Protagonisten als besonders gefährdet. Laut Alfred Hitchcock handelt es sich dabei um die effektivste Vorgehensweise, ›suspense‹ zu erzeugen, könne der Rezipient die Gefährlichkeit einer Situation doch viel besser erkennen als die Figuren, die ahnungslos auf eine Katastrophe zusteuern.23



5. ›Suspense‹-Episoden im globalen und lokalen Kontext


Die ›suspense‹-Episoden aus ›Der Schatz im Silbersee‹ stehen nicht isoliert da, sondern verweisen, abgesehen von dem Panther-Angriff,24 ausschließlich auf die Konflikte mit den Tramps oder den Utahs. Die lokalen Episoden aktualisieren somit ständig die globalen Motive und sind dementsprechend tief in den Text integriert, was als weiteres Zeichen für die Geschlossenheit des Romans gedeutet werden kann.

   Die Episoden stehen aber auch untereinander in Beziehungen, die inhaltlicher oder erzähltechnischer Natur sein können. Episoden-Paare bilden sich aus einem eher inhaltlichen Verhältnis von Ankündigung und Erfüllung, wie im Falle von Missouri-Blenters Binnenerzählung (Episode 4), die die Voraussetzung für seine Gefangennahme (Episode 6) ist, ebenso wie der Überfall auf Hartley die Ermordung Hallers erzählerisch vorbereitet, da die Tramps ja zunächst einmal von der Existenz des Empfehlungsbriefes erfahren müssen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Episoden-Paar 2 und 26, in denen das Totem des Kleinen Bären zunächst als Geschenk und dann als Rettungsmittel dramaturgisch eingesetzt wird.

   Inhaltlich und erzählerisch miteinander verknüpft wird eine Episode mit der nächsten, wenn die Auflösung der ersten zugleich das Auslöseereignis der zweiten darstellt. Solche Verbindungen, die sich vor allem in der zwei-


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ten Hälfte des Romans finden, bilden regelrechte ›suspense‹-Ketten. In Episode 19 bewahren zwar die geschickten Verhandlungen Old Shatterhands die Westmänner vor einem offenen Kampf gegen die überlegenen Utahs, sie sind aber gleichzeitig Voraussetzung für die sich anschließenden Zweikämpfe. Der Sieg der Weißen (Episode 20) führt zum Rückschlag der Roten (Episode 21) und deren Gefangennahme zu einem weiteren Gegenangriff (Episode 22), woraufhin sich wieder die Westmänner befreien (Episode 23) und es zu weiteren Schlagabtauschen kommt (Episoden 27, 28, 29).

   Die enge kausale Verknüpfung dieser Episoden macht die Übergänge auffällig fließend im Vergleich zur ersten Hälfte, wo sich die Konflikte weniger im Wechselspiel zwischen den beiden Parteien als in der additiven Abwehr der verschiedenen Pläne der Tramps vollziehen (Verteidigung der Rafters, von Butlers Farm und der Eisenbahnkasse). In dieser Hinsicht unterscheiden sich beide Teile deutlich voneinander. Während der Konflikt mit den Tramps in Einzelblöcken erzählt wird, worauf schon die zeitlichen und räumlichen Sprünge zwischen den Kapiteln 1 bis 5 hinweisen, bildet der Kampf gegen die Utahs einen kontinuierlichen Zusammenhang ohne spürbare Brüche.

   Eine letzte Art der Verknüpfung ist vor allem erzähltechnischer Natur und lässt sich an den ersten beiden Episoden illustrieren. Mitten in die Aufforderung Brinkleys, der Große Bär solle einen Drink nehmen, brüllt der Panther herein. Der spannende Verlauf um die Drinks wird einfach für ein paar Seiten (S. 17-20) von einer anderen Gefahr überblendet: der Existenz eines wilden Tieres, das in einer Show gezeigt werden soll. Kaum ist dies vorbereitet, schwenkt der Blick wieder zurück zu Brinkley, der sich nun an Old Firehand wendet. Daran schließt sich sofort die Panther-Show an. Eine ›suspense‹-Episode gleitet übergangslos in die nächste, da sie durch die Unterbrechung miteinander verschränkt sind. Damit kommt es zu einer sichtlichen Verdichtung von ›suspense‹ auf den ersten 30 Seiten. Wenn man bedenkt, dass der Panther das einzige Gefahrenmotiv ohne Bezug zur globalen Ebene ist, liegt die These nahe, dass May am Romanbeginn absichtlich Spannung akkumuliert, um den Leser von vornherein zu gewinnen.

   Die souveräne Ausblendung von Episode 1 zwecks ihrer Verknüpfung mit der folgenden darf wohl als virtuose Erzählleistung bezeichnet werden. Dies wird vor allem deutlich, wenn man sie mit alternativen Strategien vergleicht. May hätte auch ganz einfach additiv erzählen, also den Panther nach der Herausforderung einführen können. Dabei wäre erzähltechnisch jedoch eine Leerstelle zwischen dem Ende des Konflikts und der Einführung des Panthers entstanden, die so nicht existiert, da die Show schon erwartet wird und ein fließender Eindruck entsteht. Die Überblendung erlaubt es demnach, zwei Episoden miteinander zu verbinden, zwischen denen gerade kein kausaler Zusammenhang besteht. Außerdem stellt sie eine Überraschung dar, die den Text mit Spontaneität erfüllt und gleichzeitig ein wichtiges rezeptionsästhetisches Signal gibt: Der Konzeption nach gewährt


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der Text zwar strukturelle Einblicke in den kommenden Verlauf der Handlung, wie hier die dreifache Drink-Aufforderung, behält es sich aber vor, diese zu variieren. Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit geraten dadurch in ein Spannungsverhältnis, der Text erlaubt Orientierung, verspricht aber auch Abweichung und Überraschung.



6. »... eine ganze Menge von Geheimnissen« (S. 139). -
›Mystery‹ als sekundäre Erzählstrategie


Als der Schichtmeister von Old Firehand wissen will, wie man den Angriff der Tramps aufhalten wolle, antwortet dieser lapidar: »Das braucht Ihr jetzt noch nicht zu wissen.« (S. 311) Zur zweiteiligen Frage-Antwort-Struktur des ›mystery‹ kommt hier noch ein drittes Element hinzu: die Retardation. Der Trick ist einfach, aber effizient: Es wird explizit auf eine Informationslücke verwiesen, gleichzeitig aber die Antwort vorerst verweigert. Dieses Verfahren kommt im ›Schatz im Silbersee‹ häufig zur Anwendung, spielt aber dennoch nur eine sekundäre Rolle, weil es sich dabei in der Regel um zusätzliche Informationen handelt, die den Kenntnisstand von Figuren und Leser erweitern, aber kaum handlungsrelevant werden.

   Soweit sie nicht völlig punktuell bleiben, betreffen die ›mystery‹-Strategien vor allem zwei Bereiche: die Konfliktbeziehungen einiger der Protagonisten mit Brinkley und den Schatz im Silbersee. Sowohl der Schwarze Tom als auch Tante Droll, Missouri-Blenter, Jefferson Hartley, der Schichtmeister und Fred Engel haben im Vorfeld Erfahrungen mit dem Cornel gemacht, die zunächst nur angedeutet und dann früher oder später ausgeführt werden. Auch über den Schatz wird über weite Strecken nur lückenhaft gesprochen, da nicht genau bekannt ist, wo er sich eigentlich befindet. Erst auf den letzten Seiten erfahren Figuren und Leser, dass er schon »verloren« ist (S. 637), noch bevor sie ihn überhaupt zu Gesicht bekommen haben.

   Daneben sind punktuelle ›mystery‹-Strategien über den gesamten Text verteilt und bilden in der Regel kleine Abschnitte, die oft nur eine halbe Seite oder noch weniger ausmachen. So werden Humply-Bill und der Osagenhäuptling beim Beschleichen von Unbekannten plötzlich überrumpelt: Noch waren sie aber nicht zehn Schritte weit gekommen, so legten sich zwei Hände mit gewaltigem Drucke um den Hals des Indianers ... (S. 180). Der sonst allwissende Erzähler beschränkt sich hier auf die bloße Nennung der Hände, um den Unbekannten noch nicht sofort zu identifizieren. Auch wenn dies wenige Zeilen später dennoch geschieht, leisten solche kurzen ›mystery‹-Strategien, zu denen grundsätzlich auch das Spurenlesen gehört, zweifellos keinen geringen Beitrag zur Spannung des Romans, und es wäre vielversprechend, dem einmal ausführlicher nachzugehen.

   Eine Besonderheit liegt in den scheinbaren erzählerischen Neueinsätzen zu Beginn der Kapitel 2 bis 6, bei denen neben räumlichem und zeitlichem


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Sprung neue Figuren eingeführt werden, die sich dann in die bereits laufende globale Handlung integrieren. Die damit verbundene Ruptur führt zu einer Desorientierung, stellt sich doch die Frage, in welchem Zusammenhang die zunächst heterogen wirkenden Teile stehen. ›Mystery‹ wird dabei vorübergehend von den inhaltlichen Momenten auf die Ebene der Textsegmentierung verlagert, ein Verfahren, das sich in radikalisierter Form im postmodernen Kriminalroman wiederfindet.25

   Trotz der sich verzögernden Informierung des Lesers über die globalen Inhalte, die sich im Falle des Schatzes sogar bis zum Textende hinzieht, wird man ›mystery‹ kaum als eine textstrukturierende Strategie ansehen können. Nicht nur, weil sie in den meisten Fällen punktuell beschränkt bleibt, sondern auch weil lediglich ihr Grundmuster inszeniert wird. Die Frage-Verzögerung-Antwort-Struktur weckt zweifellos die Neugier des Rezipienten, es findet aber keine Hypothesenbildung und somit auch nicht deren schrittweise Überprüfung statt, wie es für analytisches Erzählen typisch ist.26 Textstrukturierend wäre ›mystery‹ nur dann, wenn beispielsweise die globale Suche nach dem Schatz lokal über Deutungen der Schatzkarte, Grabungen an falscher Stelle o. ä. den Verlauf der Handlung steuern würde. Auch wenn ›mystery‹ sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Leseraktivierung im ›Schatz im Silbersee‹ leistet, bleibt er im Vergleich zu ›suspense‹ jedoch eine sekundäre und supplementäre Erzählstrategie.



7. »Und nun - - behold! Was für Personen sind denn das?« (S. 92) -
Partielle ›surprise‹-Effekte


Ebenso wie ›mystery‹ stellt auch ›surprise‹ allenfalls ein sekundäres Erzählverfahren dar. ›Surprise‹ wird vor allem dafür eingesetzt, Gefahren einzuführen, und ergibt sich aus dem plötzlichen Auftreten von Figuren bzw. Bedrohungen (S. 92, 153, 326, 378, 558, 562). In allen genannten Fällen wird ›surprise‹ durch den Abbruch der Figurenrede (Aposiopese) angezeigt, wie folgendes Beispiel aus einem Dialog zwischen Humply-Bill und Lord Castlepool illustrieren mag: »Das ist ja eine ganz prächtige Einrichtung, Mylord,« meinte Humply. »Wir wollen zwar nicht wünschen, daß - - - behold, Uncle, sieh einmal unsre Pferde an! Sie wedeln mit den Ohren und öffnen die Nüstern. Es muß etwas Fremdes in der Nähe sein. Die Rolling-Prairie ist gefährlich.« (S. 153) Freilich stimmen diese Stellen nur partiell mit der ›surprise‹-Definition überein, denn der Auftritt neuer Figuren kann mehr oder weniger relevant für die Handlung sein. Auch wird die inhaltliche Unvorhersehbarkeit dadurch eingeschränkt, dass Gefahren im Westen als offenem Raum grundsätzlich ubiquitär sind, wie der Hinweis auf die Rolling-Prairie noch betont. Einzig das zeitliche Moment der Plötzlichkeit gilt hier in vollem Maße.

   Die ›surprise‹-Effekte an sich sind dementsprechend zwar recht verhalten, bringen aber aufgrund des von May systematisch wiederholten rhetori-


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schen Mittels der Aposiopese noch andere Wirkungen mit sich. Es produziert einen besonders scharfen situativen Wechsel, ohne jedoch artifiziell zu sein, da die verwendete wörtliche Rede sich (wenigstens im außerliterarischen Bereich) schließlich durch Rupturen auszeichnet. Gerade in den Momenten des unvermittelten Abbruchs kann das Erzählte demnach als besonders realistisch und lebensnah erfahren werden.

   Außerdem verschärfen die harten Übergänge den Kontrast zwischen situativer Sicherheit und Unsicherheit und dürften nicht der letzte Grund dafür sein, warum Karl May wiederholt synästhetisch als grell oder bunt beschrieben wird,27 denn bei den plötzlichen Wechseln drängen sich Assoziationen mit Farbkontrasten geradezu auf.

   Ein ›surprise‹-Effekt wird auch zur Auflösung des Konflikts mit den Utahs eingesetzt. Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit des Wassereinbruchs in den Tunnel, durch den die feindlichen Indianer unbemerkt bis zur Insel des Silbersees vordringen wollen, ergeben sich aus den Möglichkeiten des zweisträngigen Erzählens, das wiederum an das Konfliktmotiv und den auktorialen Erzähler gebunden ist. Die vorübergehende völlige Ausblendung der parallel verlaufenden Handlung um die Protagonisten enthält dem Leser relevantes Wissen vor und schafft eine informative Inkongruenz, die den ›surprise‹-Effekt erst möglich macht. Über eine Rückblende (S. 628-637) muss die Informationslücke dann nachträglich geschlossen werden, damit die Geschehnisse nicht unplausibel bleiben.

   Der auflösende ›surprise‹ ist damit tiefer in die narrative Struktur integriert als die vorangehenden Überraschungseffekte. May hat sich demnach offensichtlich für den Schluss des Textes eine bisher ungenutzte Strategie aufgespart, um die inhaltlich katastrophalen Ausmaße der Auflösung erzählerisch noch zu steigern.



8. Schlussfolgerungen


Was von den bisherigen Beobachtungen typisch für Karl May sein könnte, lässt sich nur anhand eines Vergleichs mit einem anderen Abenteuerroman bestimmen. ›Michel Strogoff‹ (1876) von Jules Verne scheint dafür gut geeignet zu sein, da der Text ebenfalls auf einem Konfliktmotiv basiert - dem fiktiven Angriff von Tartaren auf das zaristische Russland. Strogoff wird als Kurier durch das Kriegsgebiet nach Irkutsk gesandt und hat unterwegs zahlreiche Gefahren zu bestehen.

   Die dramaturgische Nutzung der Figurenhierarchie über das Hinauszögern der Auftritte Winnetous und Old Shatterhands hebt den ›Schatz im Silbersee‹ deutlich von ›Michel Strogoff‹ ab. Strogoff wird gleich zu Beginn des Textes eingeführt und hat sich über die Handlung erst noch zu bewähren - ein typisches Initiationsmuster.28 Bei May hingegen hat diese Bewährung längst stattgefunden. Daraus könnte nun der Nachteil entste-


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hen, dass Mays Superhelden aufgrund ihrer Überlegenheit erst gar keine Spannung aufkommen lassen. Dieses Problem wird aber dadurch umgangen, dass zunächst vor allem die anderen Figurentypen (›everybody's darlings‹ und ›Empathie-Automaten‹) im Zentrum von Gefahren stehen,29 während die Superhelden erst in der zweiten Hälfte des Romans glaubhaft bedroht werden, indem sie sich einer massiven Übermacht erwehren müssen. Hügels Formulierung, nach der May beim Leser weniger Spannung als Staunen generieren wolle,30 ist demnach zu nuancieren und gilt lediglich für Episoden, in denen die Elite des Westens ihre Gegner mit überlegenen Strategien besiegt (Episoden 11, 12, 17, 21).

   Die entscheidenden rezeptionsästhetischen Unterschiede liegen jedoch auf der Ebene der Gesamtkonzeption. Trotz einiger Strategien, die dazu dienen, dem ›Schatz im Silbersee‹ größtmögliche Geschlossenheit zu verleihen (Konflikt als Grundmotiv; durchgehaltenes Anreizmotiv im Hintergrund; Technik der Überblendung), bleibt die Zweiteilung deutlich sichtbar und signalisiert schon global ein etappenhaftes Erzählen, das sich lokal vor allem im ersten Teil wiederfindet, wo die Handlung von Kapitel zu Kapitel eher additiv fortschreitet.

   ›Michel Strogoff‹ hingegen ist wie viele andere Romane Vernes stark final ausgerichtet. Das Auslöseereignis - die Geheimmission nach Irkutsk - wird gleich zu Anfang des Textes (Kapitel 2) platziert, ist von vornherein völlig transparent und wird prototypisch mit dem Ende aufgelöst. Der gesamte Text erscheint vom Erzählbeginn an vorstruktiert und antizipierbar. Eine vergleichbare Transparenz findet sich bei May lediglich auf der Ebene umfangreicher Einzelkapitel, die globale Untereinheiten bilden, wie der geplante Überfall der Tramps auf die Rafters, auf Butlers Farm, auf die Bahnkasse sowie die erste Gefangenschaft bei den Utahs.

   Die finale Ausrichtung bei Verne und das etappenweise Erzählen bei May bringen Bedingungen mit sich, die weitere eklatante Unterschiede erklärbar machen. Eine finale Ausrichtung legt das Hauptgewicht auf das Ende des Textes und entlastet sozusagen den Erzählanfang. Da mit der frühen Etablierung der globalen Ebene ein Grundinteresse am weiteren Verlauf gesichert ist, sind ›suspense‹-Episoden zu Beginn von ›Michel Strogoff‹ nicht unbedingt notwendig und setzen tatsächlich erst relativ spät ein (mit dem 10. Kapitel).31 Die Romanauflösung hingegen bedarf dementsprechend einer besonderen Inszenierung, die Verne als Duell zwischen Strogoff und dessen Widersacher Ogareff mit einem ›surprise‹-Effekt gestaltet, der darin besteht, dass Strogoff trotz seiner Blendung sehen kann. Die Überraschung entspricht völlig der oben genannten Definition, weil sie auf einer lang durchgehaltenen Irreführung aufbaut und die Situation von einer Niederlage in einen Sieg verwandelt.

   Bei Karl May existieren ganz gegensätzliche Tendenzen. Erstens schaffen die nur langsam eröffneten globalen Fragestellungen am Romananfang einen Freiraum, der mit ›suspense‹-Episoden gefüllt werden muss, um


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das Interesse des Lesers zu gewinnen. Somit erklärt sich die Initialklimax, also die Akkumulierung von ›suspense‹ im ersten Kapitel, über die rezeptionsästhetische Gesamtkonzeption des Romans. Zweitens führt die episodische Erzählweise quasi zu einer pausenlosen Abfolge von ›suspense‹-Episoden, die quantitativ mehr Spannung in den Text bringt als die finale Ausrichtung bei Verne, was sich anhand einer simplen Rechnung veranschaulichen lässt. Zählt man den Seitenumfang der Episoden zusammen und rechnet ihn auf die Gesamtlänge des Romans prozentual um, kommt man bei May auf 47,7 % ›suspense‹, bei Verne hingegen nur auf 21,8 %.32 Umso weniger hebt sich jedoch der Romanschluss rezeptionsästhetisch von dem dichten Spannungserzählen im Vorfeld bei May ab. Die auflösenden panoramischen Episoden (27, 28, 29) erreichen kaum die Intensität der Eingangsepisoden (1 bis 7). Auch ist die ›surprise‹-Strategie defizitär und erscheint viel weniger integriert in die Narration als bei Verne und bildet lediglich einen sehr punktuell steigernden Effekt, aber keine Umkehrung der Situation.33

   In diesen divergierenden Konzeptionen spiegelt sich offensichtlich der Schreibprozess und vermutlich auch das unterschiedliche schriftstellerische Temperament beider Autoren. Verne plante seine Romane minutiös und begann erst dann mit der Ausformulierung, wenn das strukturelle Gerüst konzipiert war.34 Mays blockartiges, mehr additives Erzählen hingegen wirkt spontaner und impulsiver und scheint auf einer gröberen Vorstrukturierung zu basieren. Dass die unterschiedlichen Methoden dem Erfolg beim Publikum keinen Abbruch getan haben, geht schon aus der Tatsache hervor, dass sowohl ›Michel Strogoff‹ als auch ›Der Schatz im Silbersee‹ Klassiker des spannungsreichen Abenteuerromans geworden sind.

   Initialklimax, blockbildendes Erzählen und hohe ›suspense‹-Dichte auf Kosten des Schlusseffekts wären somit die allgemeinen Merkmale der Spannungskonzeption im ›Schatz im Silbersee‹. Wie weit diese Thesen und die weiter oben ausgeführten Beobachtungen zur Figurendarstellung und zu den Formen der Spannungsinszenierung auch für andere Romane Mays gelten, müsste an einer größeren Anzahl seiner Werke überprüft werden. Insgesamt könnte mit einer solchen Studie ein weiterer Baustein nicht nur der narratologischen Erforschung Karl Mays, sondern auch der Analyse von Spannung allgemein geliefert werden.



1 Karl May: Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 456; Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.
2 Die wenigen bisherigen Untersuchungen zur Spannung bei Karl May, wie sie etwa Viktor Böhm (Karl May und das Geheimnis seines Erfolges, 2., neu bearbeitete Auflage. Gütersloh 1979, S. 191-202), Helmut Schmiedt (Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 206-223) und Peter Pütz (Wüste und Prairie. Zwei Spannungsfelder für Mays Helden. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft


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(Jb-KMG) 1993. Husum 1993, S. 63-77) vorgelegt haben, beachten kaum die psychologische Seite der Spannung und verwenden dementsprechend einen sehr weiten Spannungsbegriff als Textverfahren. So heißt es bei Pütz, dass die Spannung bei May »aus der zeitlichen Spanne zwischen Vorgriff und Verwirklichung, zwischen Erwartung und näherrückender Erfüllung« (S. 64) entstehe, weshalb jede Form von Ankündigung grundsätzlich spannungsauslösend ist, ohne dass diesbezüglich zwischen verschiedenen Qualitäten unterschieden würde.
3 Bei den Filmanalysen wäre zu nennen Kerstin Droese: Thrill und suspense in den Filmen Alfred Hitchcocks. Coppengrave 1995; bei den Textanalysen Ralf Junkerjürgen: Spannung - Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne. Frankfurt a. M. 2002.
4 Vgl. dazu Dolf Zillmann: The Logic of Suspense and Mystery. In: Responding to the Screen: Reception and Reaction Processes. Hrsg. von Jennings Bryant/Dolf Zillmann. Hillsdale, N. J. 1991, S. 281-303.
5 Siehe dazu: Suspense: Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Vorderer/Hans Jürgen Wulff/Mike Friedrichsen. Mahwah, N. J. 1996.
6 Siehe dazu Markellos S. Nomikos/Edward Opton, Jr./James R. Averill/Richard S. Lazarus: Surprise versus Suspense in the Production of Stress Reaction. In: Journal of Personality and Social Psychology 8 (1968), S. 204-208.
7 Vgl. außerdem May, wie Anm. 1, S. 426: Es geschah überhaupt alles weit schneller, als es erzählt oder beschrieben werden kann ...
8 Vgl. dazu Minet de Wied: The role of temporal expectancies in the production of film suspense. In: Poetics 23 (1995), S. 107-123.
9 Vgl. dazu Paul Comisky/Jennings Bryant: Factors involved in generating suspense. In: Human Communication Research 9: 1 (1982), S. 49-58.
10 Vgl. Schmiedt, wie Anm. 2, S. 136-153, und Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden. Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane. Weinheim/Basel 1973, insbes. S. 41-46, 137-139.
11 Hinzu kommt noch, dass es sich um wiederkehrende Charaktere handelt, die gegebenenfalls schon durch andere Lektüren bekannt sind. Die Wiederkehr des Gleichen und der Gleichen macht das Erzählen verlässlich, dehnt die erzählte Welt zeitlich noch weiter aus und lässt sie als glaubwürdige Gegenwelt aufleuchten.
12 Hans-Otto Hügel (Das inszenierte Abenteuer. In: Marbacher Magazin 21 (1982), S. 10-32 (19)) macht eine ähnliche Beobachtung: »Wie Schauspieler treten die Helden auf: Ankündigung, Vortrag, Beifall kennzeichnen die Dramaturgie ihres Auftritts.«
13 Nachgewiesen wurde dies von Thomas M. Scheerer: Karl May: ›Der Schatz im Silbersee‹. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 275-290 (283f.).
14 Eine Formulierung Scheerers, ebd., S. 283, über Old Shatterhand bestätigt diese Auffassung: »Er allein, in seiner pragmatischen Nüchternheit, seiner Perfektion und Humorlosigkeit wäre sympathisch nur auf eine recht spannungslose und langweilige Art.«
15 Umberto Eco: Die Erzählstrukturen bei Fleming (1964). In: Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München 1998, S. 181-207 (196)
16 Wolfgang Hammer: ›Der Schatz im Silbersee‹ - eine Strukturanalyse. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 292-330 (298)
17 Christoph F. Lorenz: Einführung. »Der lange Marsch zum Silbersee«. In: Karl May: Der Schatz im Silbersee. In: Der Gute Kamerad. 5. Jg. (1890/91); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1987, S. 4
18 Andreas Graf: Von Öl- und anderen Quellen. Texte Friedrich Gerstäckers als Vorbilder für Karl Mays ›Old Firehand‹, ›Der Schatz im Silbersee‹ und ›Inn-nu-woh‹. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 331-360 (343).


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19 Vgl. dazu Hammer, wie Anm. 16, S. 322, und Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 101-129 (104-106).
20 Es handelt sich dabei um die Episoden 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 10, 12, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 25 und 26.
21 Scheerer, wie Anm. 13, S. 279
22 Vgl. Viktor Böhm: Berechnung und Überraschung. Erzähl- und Handlungsalgorithmen im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 99-116.
23 Vgl. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973, S. 81, 103 und 194.
24 Zu erwähnen wäre hier auch noch die Kraftprobe zwischen Tante Droll und Castlepool (Episode 10), die ein spielerisches Intermezzo darstellt.
25 Vgl. dazu Ulrich Schulz-Buschhaus: Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur. In: Vogt, wie Anm. 15, S. 523-543 (528f.).
26 Vgl. ausführlich dazu Dietrich Weber: Theorie der analytischen Erzählung. München 1975.
27 Vgl. beispielsweise Hermann Hesse: Die Welt im Buch III. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1917-1925. Frankfurt a. M. 2002, S. 79.
28 Siehe dazu Simone Vierne: Jules Verne et le roman initiatique. Paris 1973.
29 Vgl. die Episoden 2, 4, 6, 13, 14, 15, 16, 26.
30 Hügel, wie Anm. 12, S. 16: »May geht es nicht um eine möglichst spannende Schilderung einer für den Helden lebensbedrohenden Situation. Der Leser soll gerade nicht in angstvoller Teilnahme um seinen Helden zittern. (...) Beruhigt kann der Leser mit ›Spaß‹ zusehen und das vorgeführte überlegene Können der Westmänner bewundern.«
31 Vgl. Junkerjürgen, wie Anm. 3, S. 268-274.
32 Vgl. ebd., S. 301. Die genannten Werte sind natürlich cum grano salis zu nehmen, da sie vor allem von der Existenz von Makro-Episoden abhängen. Eine tendenzielle Aussagekraft wird man ihnen dennoch nicht verweigern können.
33 Auch Hügel, wie Anm. 12, S. 21, sieht in der episodischen Struktur den Grund für den Mangel an finaler Klimax: »Wegen dieses episodischen Aufbaus haben die meisten Reiseromane Mays auch kein richtiges Ende. Es gibt wie im Zirkus Höhepunkte, aber keinen Schluß. Auch wenn zum Finale Explosionen und Naturkatastrophen größeren Ausmaßes bemüht werden, bricht die Erzählung letztlich ab.«
34 Zu Vernes Arbeitstechnik siehe Daniel Compère: Jules Verne écrivain. Genève 1991, S. 33-53.





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