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REINHOLD WOLFF


Das dreiunddreißigste Jahrbuch





verfolgt, wie immer den aktuellen Umständen angepasst, lange bewährte Vorstellungen in Plan und Anordnung der Beiträge. Am Anfang würde (und müsste) ein noch unbekannter und neu aufgefundener Karl-May-Text (Brief, Erzählung etc.) stehen - wenn wir ihn denn hätten. Aber Funde dieser Art sind rar geworden: Wir haben im vergangenen Jahr sogar versucht, unsere Fühler in Polnische Bibliotheken vorzustrecken - in der Hoffnung, dort könnten noch alte deutsche Zeitungen und Zeitschriften lagern, an denen Karl May redaktionell oder als Autor mitgearbeitet hat. Bisher hatten wir damit keinen Erfolg; was man nun nicht gerade als Misserfolg der Karl-May-Forschung werten muss. Es ist vielmehr wohl so, dass gerade die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft in den letzten 30 Jahren das Text-Korpus gesichtet und die Bestände gesichert hat. Auf diesem Feld bleibt wohl nicht mehr viel zu tun ...


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Ähnlich ausgeschöpft scheinen die Möglichkeiten im Bereich der biographischen Forschung. Zwar sind seit über 10 Jahren die ›heiligen Stätten‹ der Karl-May-Forschung (Hohenstein-Ernstthal, Radebeul, Plauen, Zwickau u. a.) wieder zugänglich inklusive der dortigen Presse- und sonstigen Archive. Aber auch dort muss man inzwischen das Fazit ziehen, dass nun einigermaßen Überblick besteht und die weiteren, großen Entdeckungen wohl ausbleiben werden. Und falls - wider Erwarten - je noch einmal ein Karl May auf der Passagierliste eines Bremer Auswandererschiffs der Jahre 1862/63 auftauchen sollte, so dürfte es sich weit eher um einen Vorfahren des heutigen Generalsekretärs des AMERICAN QUARTER HORSE HERITAGE CENTER & MUSEUM in Amarillo handeln (der MAY heißt und auf seine deutsche Abstammung stolz ist) als um den KARL MAY, den wir meinen. Die Zeit ist also wohl reif für eine abschließende Überarbeitung der monumentalen Karl-May-Biographie, an der HERMANN WOHLGSCHAFT nun auch schon mit nicht nachlassender Energie und Umsicht seit einiger Zeit arbeitet. Dass der gleiche WOHLGSCHAFT für das vorliegende Jahrbuch gleich zwei Beiträge beisteuert, die sich beide mit dem geistesgeschichtlichen Kontext von Mays Denken (Schöpfungsgedanke, Evolutionstheorie) beschäftigen, hängt nun allerdings nur ganz lose mit seiner Arbeit an der Biographie zusammen und erklärt sich vielmehr aus ›historischen Gründen‹: der monographische Charakter des 31. Jahrbuchs hat damals doch so etwas


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wie einen kleinen ›Berg‹ an eingereichten Beiträgen entstehen lassen, den wir in diesem Band nun endgültig abtragen.

   In der Vorbereitung des Jahrbuchs 2000 erreichte mich - im Zusammenhang mit dem Artikel von William E. Thomas, der damals schon lang vor Erscheinen des Jahrbuchs heftige Kontroversen auslöste - ein umfangreiches Konvolut, in dem Walther Ilmer, ursprünglich Mitarbeiter von Thomas, sein Verhältnis zu Thomas' Beitrag dokumentierte. Teil des Konvoluts war ein mehrseitiges Gutachten des Psychiaters und langjährigen forensischen Gutachters OTTO RUBNER (†), das mir höchst bedenkenswert schien. Ich habe damals angeregt, dieses Gutachten zu einem Beitrag zu erweitern und, zusammen mit dem Beitrag von Thomas sowie einer weiteren Stellungnahme von Ilmer, im gleichen Jahrbuch zu publizieren. Daraus wurde damals nichts: RUBNER sei gesundheitlich angegriffen, hieß es. Vorgesehene Ersatzlösungen ließen sich nicht realisieren, weil ich einen erheblichen Teil des Jahres 2000 in Lubbock, Texas, verbrachte. Im Sommer 2001 erreichte mich dann überraschend RUBNERS Manuskript für einen Beitrag im Jahrbuch, der mir zwar noch einer Überarbeitung bedürftig, aber insgesamt hochinteressant schien und für den ich RUBNER spontan eine Druckzusage gab. Wenig später erfuhr ich, dass RUBNER kurz darauf verstorben war. Zu einer Überarbeitung war er nicht mehr gekommen.

   Dass der Artikel nun dennoch erscheint - und in vorbildlicher, auch Laien verständlicher Weise einen Überblick über die Pathographiediskussion in den Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft, über die Geschichte der auf Karl May angewandten und anwendbaren Psychiatrie- und psychoanalytischen Konzepte und über ebensolche der forensischen Psychiatrie gibt -, ist den hartnäckigen und intensiven Bemühungen der Redaktion, insbesondere von Frau Müller-Haarmann zu danken, die in Zusammenarbeit mit Frau Rubner und Walther Ilmer die arbeitsreiche Endredaktion des Beitrags vornahm. Was die Redaktion in diesem wie in anderen Fällen leistet - auch etwa bei der Vereinheitlichung im Erscheinungsbild der Beiträge, bei der Unterstützung von Autoren mit wenig oder gar keiner Publikationserfahrung, oder eben in solcher Endredaktion von Beiträgen: Darüber erfahren die Leser des Jahrbuchs meistens nichts. Es sei an dieser Stelle einmal mit großer Dankbarkeit erwähnt.


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Den großen Bereich ›Werkinterpretation, Motivgeschichte etc.‹ repräsentieren in diesem Jahrbuch die Beiträge von RALF JUNKERJÜRGEN, BARBARA SIEBERT und HANS-JOACHIM JÜRGENS, die überdies gemeinsam haben, dass sie allesamt von jungen Autoren stammen und damit, zusammen mit dem Beitrag von THOMAS KRAMER, den Nachweis liefern, dass die Karl-May-Forschung keine (oder zumindest: nicht nur eine) Sache von älteren Herren ist ...


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   RALF JUNKERJÜRGEN hat 2001 promoviert mit einer ›spannenden‹ Arbeit zum Thema: ›Spannung - Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung: Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne‹, deren brillante Hypothese lautet: ›Spannung‹ ist, in der Welt der empirischen Psychologie, gleichbedeutend mit ›Stress‹; zum Phänomen ›Stress‹ aber gibt es eine ausgedehnte empirische Forschungslage mit bewährten Konzeptualisierungen und ›harten Daten‹. Und wer je die stockenden und nebulösen Diskussionen in einem literaturwissenschaftlichen Seminar etwa zum ›Kriminalroman‹ erlebt hat, wenn das Thema ›Spannung‹ angesprochen war, der wird ermessen können, welcher Fortschritt der Wissenschaft in dieser brillanten Idee von JUNKERJÜRGEN enthalten ist. BARBARA SIEBERT hat vor wenigen Jahren mit einer Magisterarbeit über ›Ross und Reiter: Das Pferdemotiv im Werk Karl Mays‹ ihr Studium abgeschlossen. Sie war außerdem, nur wenig früher, Lippische Jugend-Meisterin im Dressurreiten und hat von Pferden mehr Ahnung als irgendjemand sonst, den ich kenne. Wer könnte sich also besser zum Thema ›Pferde, Reiten und die Reitkunst im Werk von Karl May‹ äußern als sie? Man wird aus ihrem Beitrag nicht nur erfahren, dass Karl May - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nie auf einem Pferd saß, sondern auch, woraus er sich über die Merkmale eines echten, ›reinrassigen‹ Araber-Pferdes informierte, und warum fast alle ›berühmten‹, mit Namen bekannten Pferde bei Karl May Rappen sind, ob sie nun von Old Shatterhand geritten werden, von Winnetou oder von Kara Ben Nemsi (Swallow, Hatatitla, Iltschi, Rih, Syrr ...). Denn als Karl May in die Radebeuler Gegend zieht, beherrscht längst eine neue Variante der Sächsischen Pferdezucht das Straßenbild: Alle Bauern südlich und westlich von Dresden führen ihre Stuten zum Decken zum Landgestüt Moritzburg und müssen dabei durch Radebeul. In Moritzburg aber hat man seit Anfang der 70er Jahre Oldenburger Rapphengste als Beschäler eingeführt und ist nicht wenig stolz auf die Nachzucht dieser Pferde: Bis heute gehen Rapphengste dieser Provenience vor der Festtagskutsche der englischen Queen ... HANS-JOACHIM JÜRGENS schließlich möchte sich habilitieren zum Thema ›Karl Mays sehnsüchtige Kartographie: Zur Korrelation differenter Fluchtwelten in den Reise- und Jugenderzählungen eines Volksschriftstellers‹, ist seit Jahren Mitarbeiter in einer Forschungsgruppe ›Ästhetische Prozesse‹ an der Universität Hannover und beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den ›Männlichkeitsbildern‹ der Wilhelminischen Epoche und ihrem Niederschlag in den Heldenmythen von Karl May.


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Die Beiträge von THOMAS KRAMER und JOHANNES ZEILINGER sind, neben denen von WOHLGSCHAFT, dem weiten Feld ›Karl-May-Rezeption und historischer Kontext‹ zuzuordnen. THOMAS KRAMER, der sich an der Humboldt-Universität mit einer glänzenden und unendlich materialreichen Arbeit


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zum Thema ›Micky, Marx und Manitu‹ habilitiert und das Wintersemester als Gastdozent an einer der besten Universitäten der amerikanischen Ost-Küste verbracht hat und im übrigen - selbst ehemals Bürger der DDR - die Populärkultur der DDR kennt wie kein anderer, ist zweifellos einer der interessantesten Neuzugänge zur Karl-May-Forschung. Sein Aufsatz macht klar, wie international die Ikonographie und Stereotypenbildung in den Phantasien über den Orient (die Edward W. Said 1981 den europäischen ›Orientalismus‹ genannt hat: ich erinnere an die zu Beginn des Jahres erschienene Arbeit von Dominik Melzig) sich verhält und wie sehr sich die Bilder ähneln, die man sich in Europa von den Ländern des Orient macht. JOHANNES ZEILINGER schließlich, Chirurg und Medizinhistoriker und nebenher ein begabtes Erzähltalent, in der Karl-May-Gesellschaft wohlbekannt durch die Diskussion über Mays ›frühkindliche Blindheit‹, die er durch seinen Vortrag in Hohenstein-Ernstthal (1999) ausgelöst hat, beschäftigt sich mit Emin Pascha, einer literarischen Figur von Karl May (ausweislich des ›Figurenlexikons‹ von Kosciuszko) - aber eben auch einer interessanten, historischen Figur aus dem wirklichen Leben, mit einem Werdegang und Schicksal, von dem seinerzeit in allen Zeitungen zu lesen war. Auch der Mythos dieser Figur ist ein Stück europäischer Orientalismus im Sinne E. W. Saids: Karl Mays Phantasie beschäftigt sich mit diesem Faszinosum und integriert es in die eigenen Phantasmen.

   Der Literaturbericht von HELMUT SCHMIEDT, der - erstmals 2002 ins Jahrbuch eingefügte - Medienbericht von PETER KRAUSKOPF, der nun schon fast zum festen Bestandteil gewordene Internet-Bericht von FRANK STARROST und RALF SCHÖNBACH sowie JOACHIM BIERMANNS Jahreschronik beschließen das Jahrbuch.


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Erich Heinemanns regelmäßige Chronik hat die Leser des Jahrbuchs über 30 Jahre begleitet: Nun ist Biermanns Jahreschronik eben diesem Erich Heinemann gewidmet, der im Sommer 2002 verstorben ist. Heinemann hatte mich früh ›adoptiert‹. Sobald ich mich in Leipzig hatte überreden lassen, für den Vorsitz der Karl-May-Gesellschaft in der Nachfolge von Roxin zu kandidieren, schickte er mir - in seiner leisen und selbstverständlichen Art - die Protokolle der Vorstandssitzungen zu. Auf dem ersten stand in seiner kleinen, sorgfältigen Schrift der einfache Satz: »Sie müssen nun ja Bescheid wissen.« Und ganz am Ende noch einmal in der gleichen Handschrift: »Ich freue mich sehr, daß Sie es machen«. Und dann half er, wo immer er konnte, unentbehrlich und unersetzlich, mit Rat und Tat, denn er wusste alles und war überall dabei gewesen. Was alles nicht unerheblich war für einen Vorsitzenden, der ›neu dazu gekommen‹ war: Meine Laudatio auf Claus Roxin im Jahrbuch 2000 hätte ich ohne seine Hilfe gar nicht machen können. Irgendwann hatten wir eine Diskussion darüber, wie wir uns in den


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Briefen ansprechen sollten. Ich hatte ihn angesprochen mit »Lieber Freund!«. So hatte er mit Roxin korrespondiert. Mir gegenüber schien ihm das noch zu intim. Er entschied sich für »Lieber Freund und Professor!«

   Erich Heinemann hat sich mit seinen beiden Büchern über die Geschichte der Karl-May-Gesellschaft selbst ein bleibendes Monument geschaffen. Nun werden alle, denen er immer wieder, leise und diskret, zur Seite stand, allein auskommen müssen, und dieses Jahrbuch beginnt mit einem Nachruf auf den Freund und langjährigen Weggefährten aus der Feder von CLAUS ROXIN.


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