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DIE BEDEUTUNG DES HELDEN


Das Werden des Helden


Karl Hans Strobl schreibt rückschauend auf seine Jugendlektüre: "Ein Prärieheld von ganz neuer Art verdrängte den alten Lederstrumpf, der sich neben ihm sehr verräuchert und unbedeutend ausnahm; er setzte sich an dessen Stelle und wuchs sich über den Feriensommer zum Ideal aus1."

   Old Shatterhand - Kara Ben Nemsi! Es ist kein Zufall, daß jene Bände, in denen dieser Held im Mittelpunkt steht, am begehrtesten sind2. Er ist sowohl für Autor und Werk als auch für den Leser von größter Bedeutung.

   In diesem Helden verkörpert sich Karl Mays Ideal, sein Wunsch-Ich, in ihm hebt sich der Autor empor zum besseren Selbst, in dem er Befreiung fand von den Qualen des wirklichen Lebens und von der Erinnerung an eine trübe Vergangenheit3.

   Karl Friedrich May wurde am 25. Februar 1842 in



1"Das Tragische im 'Karl-May-Problem'", KMJb 1919, S. 222.
2Vgl. Fritz Prüfer, "Wettkämpfe der besten Karl-May-Bände 1890/1938" in der Festschrift "25 Jahre Karl-May-Verlag", S. 26; ferner: Studienrat Dr. Otto Rudert, "Was meine Jungens 1923 lasen", KMJb 1925, S. 166 ff.; Dr. L. Zollitsch, "Die May-Bände im Urteil der Jugend", KMJb 1929, S. 251 ff.; "Liste der Lieblingsautoren 14- bis 17jähriger", im "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel", 8. Jg., Nr. 4 v. 11.1.1952.
3Hermann Hesse urteilt darüber: "In dicken Büchern erfüllt er sich alle Wünsche, die das Leben ihm unerfüllt ließ; da ist er mächtig, reich, geehrt, fast ein König, gebietet über treue, mächtige Verbündete, zeigt sich jedem Feind überlegen, tut Wunder an Kraft, der Klugheit und des Edelmuts. Er rettet Verlorene, befreit Gefangene, stiftet Frieden zwischen Todfeinden, bekehrt Sünder zum Glauben an das Gute, schmettert verstockte Bösewichte nieder. Mit den knabenhaften, kriegerisch-räuberischen Wünschen einer unverdorbe-



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Ernstthal, westlich von Chemnitz geboren4. Infolge unsachgemäßer Quacksalberei blieb er bis ins vierte Lebensjahr hinein blind. In dieser Zeit wurde die Phantasie des reichbegabten, aufgeweckten Knaben angeregt durch die schönen Geschichten der Großmutter und durch die bunten Erlebnisse seines Paten, eines weitgewanderten Schmiedemeisters.

   Trotz bitterer Armut - Weberelend - bot der arbeitslose Vater alles auf, um seinem einzigen Sohn den Besuch der Schulen zu ermöglichen. Freilich, ein Medizinstudium, das dem heilkundigen Vater und der als Hebamme ausgebildeten Mutter als Gipfel aller Wünsche erschien, kam nicht in Frage. Ein kleines Stipendium ermöglichte den Besuch des Lehrerseminars.

   Als junger Lehrer borgte er sich von seinem Wohngefährten eine alte Nickeluhr, um Beginn und Ende des



nen [unverdorbenen], naiven Natur sind andere kompliziertere, verwachsen - er will nicht nur stark und mächtig sein, nicht nur unsäglich schlau und gewandt, sondern auch fabelhaft gut, und so entstand der Held aller Romane, der nur den Namen wechselt, der aber stets das gleiche Wunschbild verkörpert . . ." ("Phantastische Bücher", "Vossische Volkszeitung" Nr. 458 v. 9.9.1919.)
Ergänzend hierzu schreibt Forst-Battaglia, a. a. O., S. 61: "Dann konzentriert sich alles Sehnen und Wünschen in der Schmetterfaust und in Kara Ben Nemsi. Die reisen durch alle Länder, strafen die Bösen und belohnen die Guten, aber nicht nach den Buchstaben des harten Gesetzes, denen Karl May acht Jahre Gefängnis schuldet, sondern nach dem höheren Naturrecht. Es ist psychologisch von höchstem Interesse, wie der ehemalige Häftling, der sich an Richter, Ortsvorsteher, Gendarmen mit heiliger Scheu und Ingrimm erinnerte, als Romanheld seine höchste Freude daran findet, mit den - meist karikierten - Behörden summarisch umzuspringen."
4Zur Bewertung von Mays Selbstbiographie "Mein Leben und Streben" schreibt Patsch, sie "ist demnach nicht als die behagliche Rückschau eines am geruhsamen Lebensabend stehenden, sondern als eine Verteidigungsschrift des um die Rettung seines bürgerlichen Ansehens und um die Anerkennung seiner Werke verzweifelt kämpfenden Mannes zu werten". ("Spiegelungen", ungedr. Manuskript, Wien, 1938, S. 3.) Patsch verfaßte auch die Kurzbiographie



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Unterrichts zeitgerecht ansetzen zu können. Diese Uhr wurde May zum Verhängnis: Er nahm die Uhr in die Weihnachtsferien mit, der Eigentümer benützte die Gelegenheit, seine Einquartierung loszuwerden, erstattete Anzeige, die Polizei steckte den Verzweifelten, trotz der Beteuerungen seiner Unschuld - er wäre nach den Ferien ja mitsamt der Uhr wieder zurückgekommen -, ins Gefängnis. Nach sechswöchiger Haft stand der ehemalige Lehrer arbeitslos da: man hatte ihm die Zeugnisse abgenommen.

   May suchte sich schlecht und recht durchzuschlagen. Er erteilte Nachhilfeunterricht, erledigte Schreibarbeiten, zog als Dirigent einer Musikkapelle durch die Lande. Die Not und ein Gemisch von Verbitterung und krankhafter Phantasie verleiteten den armen Teufel zu geringfügigen Eigentumsvergehen. Dafür wurde er zu unverhältnismäßig hohen Strafen verurteilt. Noch als Greis sollten ihm die längst gesühnten Verfehlungen erbarmungslos vorgehalten werden!

   In der besinnlichen Einsamkeit der Gefängniszelle entstand der Entschluß, Schriftsteller zu werden. Zuerst waren es unbedeutende Zeitschriftenbeiträge. Im Jahre 1876 erschienen zwei Erzählungen, in deren Mittelpunkt erstmals die Helden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi stehen. In ihnen hat May die Möglichkeit gefunden, sich von den Qualen der Vergangenheit zu lösen. Auch sonst entschädigt er sich in seiner Heldengestalt für den Jammer des irdischen Daseins, in dem er von



"Karl Friedrich May" in "Karl-May-Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Wien, 1949". Ausführlich zu Mays Leben und Werk äußern sich Thomas Ostwald, Hans Wollschläger und G. Klußmeier/H. Plaul (siehe Literaturverzeichnis!). Eilige Leser seien hingewiesen auf Erich Heinemann: "Das Leben Karl Mays", in: "Der Große Traum", dtv 1974, S. 261 ff., und Claus Roxin: "Karl May, das Strafrecht und die Literatur", in JbKMG 1978, S. 9 ff.



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zarter Gesundheit ist, vom Militärdienst als untüchtig befreit wurde, eine Brille trägt, unter dem Pantoffel steht und nach der Polizei schreit, wenn er in Wien von einer übermütigen Faschingsgesellschaft umringt wird.

   Man hat wohl gemeint, die schriftstellerische Betätigung Karl Mays sei nur eine Fortsetzung seiner Straftaten, wenn auch in anderer Form und mit anderen Mitteln. Die Verbrechen, die er früher in Wirklichkeit begangen habe, verübe er jetzt nur in seiner Phantasie. Die Befriedigung, die ihn in seiner Jugend als Verbrecher erfüllte, stelle sich im Alter ein, wenn er seine phantastisch-abenteuerlichen Reiseromane niederschreibe und veröffentliche. Allerdings stehen die Werke Karl Mays hoch über den sogenannten Hintertreppenromanen, mit denen sie nur die Weitschweifigkeiten, die Übertreibungen, die Flüchtigkeiten in der Handlung und die Flachheit in manchen Szenen teilen. Nach Beissel5 ließen sie sich mit dem Kolportageschund überhaupt nicht vergleichen: "Allein schon in ihren moralischen Tendenzen: May kennt nicht den edlen Räuber, dessen Schandtaten an den Reichen deshalb als erlaubt hingestellt werden, weil er ihren Ertrag den Armen zukommen läßt, kennt nicht die verfolgte Unschuld, die aus Verzweiflung die schrecklichsten Verbrechen begeht, und alle die



5Dr. Rudolf Beissel, "Ein Schlußstrich", KMJb 1919, S. 179. Über das Verhältnis von Karl Mays Straftaten zu seinem Werk vgl. ferner: Max Finke, KMJb 1920, S. 80; Dr. Erich Wulffen, KMJb 1923, S. 114 ff.; Albert Hellwig, KMJb 1920, S. 187 ff.; Patsch, "Aus Karl Mays Traumwelt", ungedr. Manuskript, Wien, 1938, S. 4; Claus Roxin, "Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays", JbKMG 1971, S. 74 ff.; Klaus Hoffmann über "Karl Mays Straftaten", 2 Teile, JbKMG 72/73, S. 215 ff. u. 75, S. 243 ff.; ders.: "Zeitgenössisches über 'ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes'. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870", JbKMG 1971, S. 110 ff.; Hainer Plaul, "Resozialisierung durch progressiven Strafvollzug", JbKMG 1976, S. 105 ff.; ders.: "Redakteur auf Zeit", JbKMG 1977, S. 114 ff.



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hergebrachten Gestalten aus der Requisitenkammer der Hintertreppe, die noch heute in den neuesten dieser Erzeugnisse immer eine Rolle spielen. Mays Tendenzen sind streng christlich-moralisch." May pflegte auch gern, um sich von der Gefängniszeit rein äußerlich zu distanzieren, einen langen Gehrock als Attribut würdiger Gesinnung zu tragen.

   Der Schriftsteller hat seinen Helden, sein Wunsch-Ich, nicht mit einem Schlag geschaffen. Am Nacheinander der Werke6 läßt sich das Werden Old Shatterhand - Kara Ben Nemsis sehr schön miterleben7.

   Die erste Anregung für die Gestalt Old Shatterhands dürfte ein Aufsatz von Carl N. Riotte "Volksvehme in Amerika8" gegeben haben. Riotte schildert die Selbsthilfe der westlichen Staaten durch Vigilanz-Comités gegen die mit übergroßer Frechheit auftretenden Räuberbanden. Besonders tat sich dabei ein Deutscher, Johann X. Beidler, hervor. Er verhaftete, wiewohl selbst ein unscheinbares Männchen, allein die schwersten Verbrecher und brachte sie zum Galgen. Patsch kommt zu dem Schluß, "daß die Erinnerung an diesen wackeren Deutschen, an seine unbeugsame Energie, an sein blitzartiges Durchgreifen im Unterbewußtsein unseres Dichters verankert blieb, bis sie dann später bei der Gestaltung des Heldentums Old Shatterhands mit eingeschmolzen und in immer schöneren Formen abgegossen wurde9".

   Karl May wandte sich auf Wunsch seines Verlegers Münchmeyer dem exotischen Reiseroman zu. Im ersten



6Zur Reihung der Schriften nach den Erscheinungsjahren siehe Wollschläger, "Karl May", 1976, S. 208, und Graff-Anzeiger 1 u. 2/1974.
7Dabei erfolgt die Darstellung im Anschluß an die mit tiefer Sachkenntnis verfaßte Arbeit von Patsch, "Aus Karl Mays Traumwelt", Wien, 1938.
8In der "Gartenlaube", Jg. 1867.
9Patsch, "Aus Karl Mays Traumwelt", S. 16.



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Heft des 1876 von dem frischgebackenen Redakteur Karl May gegründeten "Deutschen Familienblattes" erschien "Aus der Mappe eines Vielgereisten. Nr. 1: Innuwoh, der Indianerhäuptling". Schon der Titel verrät, welche Rolle sich der Erzähler zuschrieb und daß er eine ganze Reihe solcher Erzählungen plante. Das Ich berichtet in dieser Erzählung lediglich von seinen Eindrücken auf der Fahrt von New Orleans nach St. Louis, ohne selbst handelnd hervorzutreten.

   Im nächsten Beitrag, "Old Firehand", ist das Ich schon etwas kühner. Im fernen Westen reitet der Deutsche, um "Steine und Pflanzen kennenzulernen10", und summt ein Liebeslied. Er gewinnt die Liebe von Ellen, Old Firehands und Ribannas Tochter. Er ist mit Henrystutzen und Bärentöter ausgerüstet und wird wegen der Blankheit der Waffen gering geschätzt. Noch haßt er das Lauschen, später eines seiner häufigsten Motive, und verwirft das Duell, dem er sich später immer stellt, wenn es um die Ehre geht oder wenn dadurch Blutvergießen vermieden werden kann. In kühnem Ritt rettet er Ellen aus dem Flammenmeer und kämpft sich durch die Wellen des Flusses, die Ohnmächtige immer vor sich haltend. Zum Schluß heiratet er Ellen: noch hat sich der Held nicht zum Ethos eines ehelos fahrenden Ritters aufgeschwungen11.

   Hatte der junge Redakteur im "Deutschen Familienblatt" dem fernen Westen Raum gegeben, so widmete er eine zweite Münchmeyerische Zeitschrift "Feierstunden am häuslichen Herd" dem Orient12. Hier sollte sich Kara



10Zit. nach Patsch, "Aus Karl Mays Traumwelt", S. 23.
11In der für die Jugend bestimmten Neufassung der "Old Firehand"-Geschichte, die um 1878 unter dem Titel "Jenseits der Felsengebirge" erschien, wurde Ellen durch Harry, Old Firehands Sohn, ersetzt.
12Vgl. "Ich", S. 451 f.



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Ben Nemsi entfalten. 1876 erschien "Leilet, von M. Gisella", die gleiche Erzählung, die zwei Jahre später in Roseggers "Heimgarten" unter dem Titel "Rose von Kahira. Eine morgenländische Reiseerzählung von Karl May" abgedruckt wurde. Hier tritt der Ich-Erzähler als deutscher Arzt auf13, der im Auftrage seines Königs Ägypten, Nubien und Habesch bereist und einen großherrlichen Schutzbrief besitzt. Die wunderschöne Leilet muß er nach edlem Wettstreit seinem Bruder Bernhard abtreten, im Gegensatz zur "Old Firehand"-Geschichte, die mit Liebeskummer beginnt und mit schönster Erfüllung endet.

   Nach Loslösung von Münchmeyer veröffentlicht May die Erzählung "Die Both Shatters". Der Ich-Erzähler reitet den Mustang Swallow, ein Geschenk Winnetous, und zeigt sich erstmals als Fährtenleser. Wegen seiner blanken Waffen für ein "Greenhorn" gehalten, wird er doch allgemein geachtet und mit "Sir" angeredet. Die Titelhelden führen ihren Namen, weil sie im Nahkampf mit den Holmen ihrer Äxte zuschlagen.

   Im 1877 erschienenen "Pfahlmann" trägt der Held Richard Forster schon Stutzen und Doppelbüchse, er dichtet "Savannenbilder" und "Herzensklänge", sammelt auf seinen Reisen Eindrücke, um sie schriftstellerisch zu verwerten.

   Im Jahre 1878 erfolgte die Verbindung mit dem "Deutschen Hausschatz in Wort und Bild", Verlag Pustet, Regensburg, und damit die Sicherung der bürgerlichen Existenz des Schriftstellers. Im Hausschatz erschien 1878 "Unter Würgern. Abenteuer aus der Sahara". (Heute



13Über die große Bedeutung, die der Arztberuf in Karl Mays Traumwelt spielt, vgl. Platsch, "Dr. med. Karl May", ungedr. Manuskript, Wien 1938, und Gert Asbach, "Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden", Düsseldorf, Dissertationsdruck 1972.



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unter dem Titel "Die Gum" bekannt.) Das erzählende Ich beherrscht die arabische Sprache und ist zum Weltläufer geworden: Es hat in Australien den Emu und das Känguruh, in Bengalen den Tiger und in den Prärien der USA den Grizzly und den Bison erlegt. Erstmals streckt der Held einen Feind durch einen Faustschlag, allerdings auf die Stirn, nieder: "Es war dies ganz derselbe Jagdhieb, wegen dessen mich Emery Bothwell zuweilen 'Old Shatterhand' genannt hatte14." Patsch schreibt hierzu: "Es war ein großer Augenblick, als May diese Worte niederschrieb! Seine Wunschträume hatten ihm, im Unterbewußtsein weiterwachsend, das Selbstvertrauen gestärkt; er bezog den Namen der 'Both Shatters' auf sich und überflügelte deren Leistungen mit den Äxten durch den Schlag mit der Faust. Dies wird vom Gefährten gebührend anerkannt: Old Shatterhand ist damit getauft. Das dreisilbige Wörtlein 'zuweilen' ist ein reizvolles Zeichen der anfänglichen Geschämigkeit des Dichters ob solcher Ehrung15." Auch in anderen Belangen nähert sich der Held der Vollendung: Er ist nicht nur Deutscher, sondern bezeichnet sich erstmals als Sachse, liebt das gute Staffelsteiner Bier und hat sich nebst Revolvern und Bowiemesser die Bewaffnung Forsters aus dem "Pfahlmann" zugelegt, er führt seinen Büffeltöter und den Henrystutzen.

   1880/81 beginnt im "Deutschen Hausschatz" der heute die ersten sechs grünen Bände füllende Siegeszug Kara Ben Nemsis durch das Reich des Padischah: "Giölgeda padishanün". Immer mehr träumt sich May in die Rolle seines Helden hinein, läßt seinen Vornamen in "Kara" verwandeln und zum Zeichen seiner Abstam-



14Zit. nach Patsch, "Traumwelt", S. 43.
15Patsch, "Traumwelt", S. 43.



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mung [Abstammung] ein "Ben Nemsi" hinzufügen. Die Gegner werden nicht mehr durch Stiche, Hiebe und Schüsse erledigt, sondern durch "Kniffe" und "Listen". "Des Dichters Frohnatur paarte sich mit dem erträumten edlen Draufgängertum, wirkliche schelmische List und erträumte heldische Eigenschaften, erworbene Kenntnisse und erdachte Fähigkeiten formten die einzigartige Siegfriedgestalt Kara Ben Nemsi - Old Shatterhand16."

   In der "Deadly Dust"-Erzählung, veröffentlicht im 6. Jg. des "Deutschen Hausschatz", zeigt Old Shatterhand erstmalig seine Schießkünste. Das Waffenarsenal, einschließlich Tomahawk, ist vollständig. Er pflegt die Erfahrungen, die er auf seinen Reisen sammelt, im Druck der Öffentlichkeit zu übergeben. Bei der Fortsetzung seiner Fahrt durch das Reich des Padischah erringt er den unvergleichlichen Rapphengst "Rih" und richtet seinen Jagdhieb nunmehr gegen die schwächste Stelle des Kopfes, gegen die Schläfe.

   1887 erschien in der neubegründeten Knabenzeitschrift "Der gute Kamerad", die ausgesprochene Jugendschrift, "Der Sohn des Bärenjägers", eine Erzählung in der dritten Person. Old Shatterhand reitet nun auch in Amerika einen Rapphengst: Geschenk Winnetous. Die geschilderten Abenteuer stehen unter der Losung: "Menschenblut ist eine ungeheuer kostbare Flüssigkeit. Winnetou und ich wissen das ganz genau und haben keinen einzigen Tropfen vergossen, wenn es nicht unbedingt nötig war17."

   Damit ist das Werden des Helden im wesentlichen abgeschlossen. Bei seiner Ausgestaltung spielten nicht nur die Träume des Autors mit, sondern auch die Wünsche der Verleger und des Publikums.



16Patsch, "Traumwelt", S. 55.
17Zit. nach Patsch, "Traumwelt", S. 63.



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  Der Geschmack des Auftraggebers war schon seit jeher bedeutungsvoll für das Schaffen der Künstler. Früher galt der vornehme Herr kraft seiner sozialen Stellung als ästhetischer Schiedsrichter. Man schätzte sich glücklich, wenn man die vollkommene Übereinstimmung mit ihm erreicht hatte. Als im 18. Jahrhundert an Stelle des Patrons allmählich der Verleger trat, galt es, fortan seine Wünsche zu berücksichtigen.

   Schon während der letzten Zeit der Gefangenschaft schrieb Karl May für den Dresdner Verleger H. G. Münchmeyer, der das Talent des Häftlings erkannt hatte und für sich zu gewinnen trachtete18. Nach seiner Entlassung hatte May allerdings Bedenken, für Münchmeyer zu arbeiten19. Erst als Münchmeyer versprach, May könne nach Belieben schriftstellern und redigieren, willigte dieser ein20. Der Autor hatte schon in der Gefangenschaft die Pläne für seine zukünftige Arbeit entworfen21. Er schrieb und veröffentlichte "Geographische Predigten" (aufgenommen in den Bd. 34, S. 3 ff.), "Bete und arbeite!" (abgedruckt im KMJb 1924, S. 30 ff., "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich" (abgedr. im KMJb



18May schildert das Zustandekommen der Verbindung mit Münchmeyer in Bd. 34, S. 443: "Er (Münchmeyer) wurde da bekannt und erfuhr auch von mir. Was er da Tolles hörte, schien ihm außerordentlich passend für seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm zu hoch. Anderes gefiel ihm so, daß es ihn, wie er sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und bekam die Erlaubnis dazu."
19Vgl. Bd. 34, S. 446: "Dieser Mann will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich aus dem, was man über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenflicke. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!"
20Vgl. Bd. 34, S. 450.
21Vgl. Bd. 34, S. 398 ff.; ferner KMJb 1919, S. 173, über das "Repertorium Carl May".



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1929, S. 391 ff.), "Ehrlich währt am längsten", "Freunde in der Not gehn hundert auf ein Loth" (beide Titel mitgeteilt von Patsch, "Traumwelt", S. 21), "Herbstgedanken" (abgedr. im KMJb 1928, S. 183 ff.), "Ein Lichtspender" (Titel mitgeteilt von Patsch, "Traumwelt", S. 21). Diese Titel genügen, um die von May ins Auge gefaßte Schaffensrichtung zu erkennen.

   Bald jedoch wurde der Schriftsteller von den Wünschen seines Verlegers beeinflußt. Da ein anderes Verlagswerk, der exotische Roman von O. Freytag "Zehn Jahre im dunklen Afrika", ein gutes Geschäft bot, legte Münchmeyer seinem jungen Redakteur nahe, sich ebenfalls in dieser Gattung zu versuchen. "Eine Sondervergütung lockte auch, und so bestieg denn May seinen Pegasus und - der Ritt in die Traumländer begann22." Bald wurde den Lesern die schon genannte "Mappe eines Vielgereisten" unterbreitet.

   Auch der "Deutsche Hausschatz" bevorzugte die exotischen Erzählungen Mays. 440 Seiten von Erzählungsteilen, die in der Heimat spielten, wurden sogar gestrichen23. Ebenso ist die katholisierende Tendenz der Mayschen Hausschatzbeiträge zum Teil als eine Verbeugung vor dem katholischen Familienblatt und dessen Redakteur zu werten. Ein schönes Beispiel von Verlegerwunsch stellt übrigens ein Brief Professor Josef Kürschners vom 3. Oktober 1886 an May dar. Darin heißt es: "Ich will diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. (Anm. d. Verf.: Für die bei Spemann in Stuttgart erschienene Revue "Vom



22Patsch, "Traumwelt", S. 22.
23Vgl. Patsch, "Traumwelt", S. 42, u. Schmid, KMJb 1926, S. 247 ff.



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Fels zum Meer".) Ich würde IHNEN in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend Mark pro "Fels"-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas Derartiges schreiben würden24."

   Karl May ließ sich in seinem Schaffen aber auch direkt vom Publikumsgeschmack leiten25. Nun ist das Studium des Publikumsgeschmacks mit mannigfaltigen Schwierigkeiten verbunden, wie die Meinungsforschung lehrt26. Ständig wandeln sich die Unterhaltungstriebe der Leser27, aber nicht nur "der Geschmack wird in der Regel ein anderer und neuer, sondern andere werden Träger eines neuen Geschmacks28".

   Eine Befragung der May-Leser nach der Kaufveranlassung ergab folgende Antwortgruppen29: 1. Man wird wieder jung, 2. Genauigkeit der Darstellung, 3. Die gute Jugendschrift, 4. Ethisch wertvolle Lektüre, 5. Ungefährliche Lektüre, 6. Erweiterung der Kenntnisse, 7. Der vorbildliche Deutsche, 8. Geistige Erholung, 9. Die schöne Jugenderinnerung, 10. Im Kampf gegen die Schundliteratur. Ausländer kaufen May zum Erlernen der deutschen Sprache, andere wegen der Spannung



24Mitgeteilt in Bd. 34, S. 460.
25Ähnliches berichtet Robert Wilschke, "Im Lichte des Scheinwerfers", Kranich-Verlag, Berlin, 1941, S. 79 von Sarrasani. Die stets wiederkehrende Frage des Zirkusdirektors war: "Was sagen die Leute?" Ihr zuliebe mischte er sich oft inkognito unter das Publikum. - Dem Vernehmen nach läßt ein bekannter Verlag die Vorauswahl der eingereichten Manuskripte nicht von den Verlagslektoren, sondern von philologisch unbeschwerten kaufmännischen Angestellten besorgen.
26Vgl. den Aufsatz "Sind Sie der Meinung, daß . . .?" in der Zeitschrift "Der Monat", 6. Jg., Mai 1954, S. 123 ff.
27Vgl. Dr. Eduard Engel, "Ruhm". KMJb 1929, S. 221.
28Levin Ludwig Schücking, "Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung", Rösl & Cie., München, 1923, S. 123.
29Nach Horst Kliemann, "Wer kauft Karl May?" KMJb 1931, S. 292 ff.



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und Belehrung, ein Vater will seinen drei Söhnen den gleichen Genuß verschaffen, den er einst hatte30.

   Fragt man Leser, was sie an May fessle, so schwanken die Auskünfte meist zwischen dem eindrucksvollen Mut der "Schmetterfaust", dem Edelsinn Winnetous und dem Vorbild, das sie geben, und zwischen der aufregenden Spannung in den meisten Kapiteln, den Verfolgungen, dem drohenden Marterpfahl, den Kriegstaten, dem fremden Milieu, der Verschlagenheit Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis, dem Humor der verschiedenen Nebenfiguren, von Hadschi Halef Omar angefangen bis zu Pitt Holbers und dem verrückten englischkarierten Lord. Dabei ist zu bedenken, daß die meisten Leser, vor allem die jugendlichen, zu ungewandt im Ausdruck sind, um tiefgründiger antworten zu können, sie geben sich auch keine Rechenschaft über ihre Gefühle beim Lesen eines Buches. Als weitere Fehlerquellen bei Explorationen gelten Suggestivfragen, die Autorität des Fragers, und - bei Gruppenbefragung - Kontrastsuggestion. Eine Gefahr liegt auch im Zwang zur nachträglichen Rationalisierung psychischer Erlebnisse, die sich noch dazu gern schamhaft hinter der Schwelle des Unbewußten verbergen.

   Auch die Leserbriefe, die im Karl-May-Verlag waschkorbweise vorhanden waren, sind mit Vorsicht auszuwerten. Sie stellen den Gehalt der Werke Mays oft einseitig dar, indem sie betonen, was der jeweiligen politischen Tagesmode entspricht31. Je nachdem, könnten sie von einem demütigen Gläubigen an den Bischof, von ei-



30Nach Adolf Volck, "Begleiterscheinungen zur Verkaufsstatistik", KMJb 1928, S. 149 ff.
31Vgl. z. B. die Leserbriefe in "'Karl May als Erzieher' usw.", im KMJb 1927, S. 84 ff. ("Volkes Stimme"), und in den Festschriften und Verlagsprospekten.



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nem [einem] einigkeitsstrebenden Deutschen an Bismarck, von einem Imperialisten an Wilhelm II., von einem Friedensapostel an den Völkerbund, von einem germanisch-nordischen Herrenmenschen an Joseph Goebbels gerichtet sein.

   Daraus ergibt sich, daß die unmittelbaren Leserauskünfte durch die Erkenntnisse der Lesersoziologie, -typologie und -psychologie ergänzt werden müssen. Erst dadurch werden die inneren Eigenschaften der Werke in gültige Beziehung gebracht mit den entsprechenden Lebensantrieben, Lebensbedürfnissen, Lebensgefühlen des Publikums. Der Leser trägt, oft unerkannt und unbewußt, schon eine Ordnung in sich, und auf diese will er - instinktiv, tastend, suchend meist - das, was ihm das Buch geben kann, bezogen sehen. Erfüllt die Lektüre seine Erwartungen, so ist er befreit und beglückt, im anderen Fall verstimmt und erkältet, trotz Empfehlung und Reklame. Er fordert vom Buch innere und äußere Aktualität, Erlebnisnähe. "Je stärker der Grad einer Aktualität ist, um so mehr ein Buch Aktualitäten aufzuweisen hat, desto sicherer wird es zum Bestseller32."

   Die Erlebnisnähe ist im allgemeinen abhängig vom Lebensraum, von Zeit und Gesellschaftsklasse, im besonderen von den charakteristischen seelisch-geistigen Zügen der einzelnen sozialen, geographischen, Alters- und Geschlechtsgruppe. Angesichts der Mannigfaltigkeit dieser Umstände, die sich noch dazu vielfach überschneiden, scheint sich eine weitere Untersuchung der Geschmacksrichtung des May-Publikums hoffnungslos zersplittern zu müssen. Lenkt doch schon eine flüchtige Überschau die Aufmerksamkeit auf die bunte Fülle der Menschen, die sich um die Sache Mays bemühen: Uni-



32Marjasch, a. a. O., S. 48.



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versitätsprofessoren [Universitätsprofessoren] und Fremdenlegionäre, Volksschullehrer und Offiziere, Richter und Schauspieler, Dichter und Zirkusakrobaten, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen.

   Die Statistik weist folgende Käufergruppen nach33:

1918/2021/2526/3031/3536/40
Arbeiter, Handwerker, Gewerbetreibende14,215,79,03,93,7%
Beamte, Kaufleute, Ingenieure18,020,312,07,85,9%
Gelehrte, Schriftsteller, Künstler1,41,61,20,70,4%
Pädagogen, Theologen0,91,11,10,80,7%
Militärpersonen2,70,40,20,30,9%
Schüler41,538,656,568,369,1%
Schülerinnen1,11,83,75,66,9%
Sonstige Jugendliche3,64,52,72,37,8%
Studenten4,43,92,71,50,8%
Frauen2,11,62,51,61,3%
Ohne Berufsangabe10,110,58,47,27,8%


Wie schwierig scheint es angesichts dieser Leservielfalt, einheitliche Geschmacksträgertypen herauszustellen! Glücklicherweise kommen der Untersuchung die Ausführungen eines gewissen "Oberlehrers Franz Langer" zu Hilfe, hinter dem sich niemand anderer verbirgt als Karl May selbst34. Langer schreibt:

   "Der Erfolg eines Buches hängt davon ab, ob aus ihm der Geist oder die Seele des Verfassers spricht und ob es an den Geist oder die Seele des Lesers gerichtet ist. Fachbücher, Tendenzschriften, überhaupt alle Werke, die ihren besonderen




33Horst Kliemann, "Die Käufer und Leser Karl Mays", im "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel", Nr. 275/276 v. 25.11.1941. Vgl. dazu auch KMJb 1928, S. 148, wo Kliemann über "Fehlerquellen der Verkaufsstatistik" schreibt.
34Laut Mitteilung von Oskar Neumann an Patsch ist May identisch mit Langer. Neumann stand in naher Beziehung zu May, der Taufpate des viel jüngeren Bruders Karl Neumann war.



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Zweck verraten, werden vom Geiste verfaßt und an eine bestimmte Tätigkeit des Geistes adressiert. Sie wirken nicht darüber hinaus. Ihre Wirkung kann groß und tief sein, ist aber trotzdem nur eine beschränkte, niemals eine allgemeine. Wer eine allgemeine Wirkung erstrebt, wer ganze Kreise, ganze Klassen, ja vielleicht gar ein ganzes Volk hinreißen und begeistern will, der spreche von Seele zu Seele. Und das ist nicht leicht; die Volksseele läßt sich nicht täuschen. Der Verkehr von Seele zu Seele gleicht einer drahtlosen Telegraphie. Die Stimmung muß hüben und drüben auf dieselbe Schwingung gestellt sein. Der Geist mag noch so sehr raffinieren, mag es noch so pfiffig anfangen, mag sich noch so große Mühe geben, für die Seele gehalten zu werden, er wird doch keine Wirkung erzielen, weil ihn die Seele da drüben gar nicht hört und also auch nicht versteht35".

   Mit anderen Worten: Ein Werk ist um so erfolgreicher, je mehr die psychische Verfassung des Autors identisch ist mit derjenigen seiner Leser, je mehr die Wunschträume des Verfassers übereinstimmen mit den Wunschträumen seiner Leser. Und da verleugnen Mays Werke der zweiten Schaffensperiode nirgends, "daß sie der Ausdruck des wenig komplizierten Seelenlebens eines zwar erfindungsreichen, aber im Grunde recht primitiven Menschen sind, der sich wiederum an Primitive oder auch an die primitiven Neigungen der Hochkultivierten wendet36". Diese Feststellungen vereinfachen die Arbeit wesentlich, braucht sie sich doch nur an die "primitiven Neigungen" der Menschen zu halten.

   Schon bei Betrachtung der Käuferstatistik fällt auf, daß die Gruppe der Jugendlichen weit an der Spitze steht.


35Fritz Langer, Oberlehrer, "Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbittlicher Gegner". Im "Mährischen Volksboten" v. 19.6.1909 (Nr. 25) ff. in der "Augsburger Postzeitung" Nr. 160 v.20.7.1909 und in der "Badischen Lehrerzeitung" 1909, Nr. 41 ff. Von Franz Weigl 1909 zitiert in "Karl Mays pädagogische Bedeutung" (Faksimile-Ausgabe 1975).
36Forst-Battaglia, a. a. O. S. 34.



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Ihr Anteil ist seit 1918/20 um 64,9% gestiegen37. Somit müssen die Lesebedürfnisse der Jugendlichen besonders berücksichtigt werden. Was die "primitiven Neigungen" Erwachsener anlangt, so werden sie, wie die Untersuchung des amerikanischen Bestsellers lehrt durch die sogenannte Propagandaliteratur einerseits, durch die imaginative Literatur andererseits besonders angesprochen38.

   Der Erfolg der Propagandaliteratur ist abhängig von den äußeren und inneren Zeitumständen. Sie entspricht einem Bedürfnis ihrer Leser nach Erklärung und Rechtfertigung ihrer Wünsche und Interessen und der Tagesmode. Erfolgreiche Propaganda stellt sich auf die Seite der jeweils als Autorität geltenden Richtungen. Sie schafft keine neuen Bewegungen, aber sie fördert sie, sie gibt ihnen Form und Kraft, trägt bei zur Kanalisierung bereits vorhandener Strömungen. Mit ihrer Hilfe versuchen die Leser, die Wirklichkeit gemäß ihren Wünschen und ihrer Klugheit zu gestalten, das Leben zu meistern.

   Anders die imaginative Literatur. Sie schafft dem Leser Gelegenheit zur Flucht aus der rauhen Welt der Wirklichkeit und Anregung zur Führung eines Ersatzlebens. So kann, was einmal Trumpf ist, das andere Mal in die Verbannung gehen und umgekehrt. Imaginative Li-



37Überhaupt scheint sich der Anteil der Lesenden unter der Bevölkerung gegen die jüngeren Jahrgänge hin zu verschieben. Anfang der fünfziger Jahre zeigte eine Umfrage des Rowohlt-Verlages, daß 60% der Leser jünger als 40 Jahre sind, der Großteil davon unter 25 Jahren. Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung ergab 1978: "Bereits bei den 10- bis 12jährigen erreicht das Buch Spitzenwerte: 83 Prozent Leser pro Woche ohne Schulbücher. Dieser hohe Stand wird bis in das dritte Lebensjahrzehnt gehalten, um danach zunächst leicht, ab 60 Jahren dann stark abzufallen." (Bertelsmann Briefe 96/1978, S. 5).
38Vgl. Marjasch, a. a. O., S. 40.



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teratur [Literatur] ist zum größten Teil "drug-literature", sie dient wie der Film als Betäubungsmittel39.

   May verstand es, die Erfolgsgründe der Propagandaliteratur mit denen der imaginativen Literatur geschickt zu verquicken. Schon als Verwalter der Gefängnisbibliothek war May bemüht, "die Lesebedürfnisse der Volksseele40" kennenzulernen. Es ist für seinen Erfolg höchst bedeutungsvoll, daß das Werden des Helden und damit die Ausgestaltung des ganzen Werkes in ständiger Wechselwirkung von Autor und Leserschaft erfolgte. Gestützt auf die erworbene Kenntnis des Geschmacks des breiten Publikums, ließ sich May auch während des Schaffens von den Wünschen seiner Leser leiten und in seiner Darstellungsart bestärken. Er setzte sich von Anfang an in seinen Schriften in ein herzliches Verhältnis zu seinen Konsumenten, die er an gar mancher Stelle "Lieber Leser!" anredet. Nicht zuletzt dadurch mochten die Leser ermutigt worden sein, dem Autor ihr Herz auszuschütten. Zunächst genügte der Erfolg allein, den Schriftsteller zu immer neuen Anstrengungen auf dem eingeschlagenen Weg anzuspornen.



39Nach Marjasch, a. a. O., S. 57 ff., erfahren die verschiedenen Aspekte der Bestseller von Land zu Land eine verschiedene Bewertung. England reiht sie in die große Kategorie seiner Unterhaltungsromane ein, Frankreich bringt ihnen vor allem literarisches und kulturelles Verständnis entgegen, die Schweiz versucht sie in die Wirklichkeit einzubeziehen, indem sie Werken mit sozialer Problematik den Vorrang gibt, Italien läßt sich noch am ehesten vom Erfolg beeindrucken und zeigt Vorliebe für historische Romane. Deutschland hingegen benützt sie vor allem zur Entspannung und Ablenkung, als "Fluchtliteratur". In Deutschland und Österreich werden vor allem solche Bestseller verlegt, "die so wenig wie möglich Anspielungen auf die europäische Geschichte haben, so weit als möglich von der deutschen Wirklichkeit entfernt sind . . . Dies läßt den Schluß zu, daß der amerikanische Bestseller vorwiegend zur Flucht aus der Wirklichkeit benützt wird; er ist ein Betäubungsmittel (dope) für den Leser." A. a. O., S. 57.
40Vgl. Bd. 34, S. 400.



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   Dieser Erfolg stellte sich frühzeitig ein. Schon 1882 wurden Zeitschriften bestürmt, Karl May als Mitarbeiter zu gewinnen41. Wie aufmunternd mußte das Lob Peter Roseggers gewirkt haben: "Diese Geschichte ist so spannend geschrieben, daß ich mir gratuliere . . . Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich den Verfasser für einen vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muß42."

   May verwirklichte aber auch Leseranregungen in seinem Werk. So verlangte eine Leserin des "Deutschen Hausschatz" in Karl Mays Reiseromanen eine Liebesgeschichte43, und noch im gleichen Jahrgang wird zugesagt: "Ihr Wunsch, daß in dem Mayschen Reiseroman 'El Sendador' doch auch das schöne Geschlecht eine Rolle spielen möge, wird in dem zweiten, im nächsten Jahrgang erscheinenden Teile: 'Der Schatz der Inkas' erfüllt werden. Dort tritt die schöne, kühne Indianerin Unica auf, welche in ganz hervorragender Weise in die Handlung eingreift44."

   Unser Autor war ein Mensch von großer Anpassungsfähigkeit. Beim Besuch einer von Geistlichen geleiteten Anstalt für den Uradel Österreich-Ungarns in Kalksburg erfand er für seine aristokratischen Zuhörer neue Züge aus dem Leben Winnetous:

    "Er war der Sohn eines Häuptlings der Apachen, ein echter Aristokrat; auch die Indianer nämlich haben ihre Aristokratie und die Häuptlingsfamilien wissen ihre Ahnen auf viele Generationen zurück anzugeben. Dieser Winnetou wurde von Dr. May zuerst in den Anfangsgründen der christlichen Religion



41Vgl. die "Vertrauliche Correspondenz" in "Alte und neue Welt", 1882, Nr. 29, Jänner-Nummer.
42Brief Peter Roseggers an Robert Hamerling v. 12. Juli 1877, abgedruckt im "Heimgarten", 1902, ferner im KMJb 1927, S. 112.
43"Deutscher Hausschatz", 16. Jg., Oktober 1889-September 1890, Heft 11, S. 176.
44"Deutscher Hausschatz", 16. Jg., Heft 43, S. 688.



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unterwiesen. Bald sollte der Lehrer erfahren, wie tief der junge Indianer die christliche Religion erfaßt hatte. Er zeigte sich in der Religion und im religiösen Leben als echter Aristokrat und wiederholt mußte Dr. May aus dem Munde seines Schülers Bemerkungen hören, wie: 'Mein weißer Bruder ist kein Aristokrat des Glaubens, sonst würde er das Heilige höher halten', oder: 'Er ist kein Aristokrat der christlichen Liebe, sonst würde er seinem Gegner nachgegeben haben.' So wollen auch wir, fuhr Dr. May fort, nicht mit dem Gewöhnlichen uns begnügen, sondern Aristokraten der christlichen Religion werden45."

   In einem später wieder fortgelassenen Nachwort zum Band 18 schildert May den brieflichen und persönlichen Ansturm seiner Leser, von dem auch der "Briefkasten" des "Deutschen Hausschatz" ein imponierendes Zeugnis ablegt. Als weiterer Zeuge des herzlichen Kontakts, der Autor und Leser verband, sei Patsch zitiert:

   "Immer höher schwoll die Flut der Leserbriefe an. Kaum vermochte May die vielen und mannigfaltigen Anfragen zu beantworten. Schlichte Männer und Frauen wie Mitglieder des Hochadels, Priester und Klosterfrauen, Backfischchen und Gymnasiasten brachten ihrem Old Shatterhand ihre stürmische Verehrung zum Ausdruck. Unzählige Male wurde es May versichert, welch wohltätigen Einfluß seine Werke allenthalben ausübten. Er wurde um Hilfe gebeten und half. Er wurde um Ratschläge angegangen und erteilte sie. Vorschläge zur Ausführung verschiedenster Pläne wurden ihm unterbreitet. May war berühmt geworden.46."

   Die angeführten Beispiele mögen zum Beweis genügen, daß May seine Leser unmittelbar und mittelbar bei der Gestaltung seiner Erzählungen mitwirken ließ. Und damit kommen wir wieder auf die Bedeutung des Hel-



45"Kalksburger Correspondenz", Juni 1898. Zit. nach Patsch, "Traumwelt", S. 72. Zur Frage der Popularität Karl Mays vgl. auch Siegfried Augustin, "Karl May in München". KMJb 1978.
46Patsch, "Traumwelt", S. 71. Patsch kannte die Leserbriefgebirge aus eigener Anschauung, war er doch damit beauftragt, die im Karl-May-Verlag lagernden Briefmassen zu sichten. Zu seinem Leidwesen mußte er sie waschkorbweise zum Einstampfen aussortieren.



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den [Helden] zurück. In ihm verdichten sich die Träume des Autors und die Bedürfnisse der Leser zu gleichgerichteter Stimmung. Mit den Augen des Helden gestaltet May seine Welt, und aus dem Blickwinkel des Helden betrachtet der Leser das im Werk dargestellte Geschehen. Der Held ist der Maßstab, an dem der Leser die Bedeutung der Mitglieder, die Größe von Vorder-, Mittel- und Hintergrund der Bühne, die Schwierigkeit der Gefahren und Abenteuer ermißt; die Einheit dieses Maßstabes bedingt den Zusammenhalt der Erzählungsteile und damit die Harmonie des Gesamtwerkes.



Beruf und Fähigkeiten des Helden


Forst-Battaglia gibt eine unübertreffliche Charakteristik des Helden und seiner Bedeutung für das Werk:

   "Ein Karl-May-Buch, ob kurz oder lang, beginnt damit, daß ein überdimensionaler Schuft an einem durchaus sympathischen Mitmenschen ein himmelschreiendes Verbrechen verübt . . . ein durchtriebener Betrug zum Zweck, eine riesige Erbschaft oder einen märchenhaften Schatz zu erbeuten. Als unvermeidliche, die Spannung und die Entrüstung steigernde Folge reiht sich ein Mord oder eine Reihe von Morden an die ursprüngliche Untat. Das Laster setzte sich an die reichbeschickte Tafel, wäre nicht der Arm einer schon hienieden strafenden Ewigen Gerechtigkeit: ein Held, frisch, fromm, fröhlich, frei, deutsch also wie der Turnvater Jahn, doch zugleich fremden Völkern gegenüber duldsam und friedvoll wie Stefan Zweig, strahlend wie Lohengrin, belesen wie Maximilian Harden, gelesen wie Emil Ludwig, wandernder Philosoph wie Keyserling, unerkannt wie Harun-al-Raschid, stark wie Herkules, klug wie Sherlock Holmes, verschmitzt wie Arsene Lupin, tapfer wie der Graf von Monte Christo, freigiebig wie Kaiser Josef mit der Brieftasche, fromm wie ein mit Rom versöhnter Vicaire savoyard, lustig wie die Fliegenden Blätter, sprachkundig wie Mezzofanti, unverwüstlich wie eine Wertheim-Kasse . . . ein Deus ex machina in seiner Menschenwerdung,



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einstens Siegfried und heute Tom Mix genannt, hier aber 'Ich', Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, nebst ein paar anders geheißenen Vorläufern . . . Er kommt, sieht und siegt; zwar nicht sofort und auf einmal, sondern in Abständen und je nachdem auf der 20., auf der 600., auf der 15000. Seite. Jedenfalls, er siegt und die Tugend mit ihm . . . jede Schuld rächt sich auf Erden, wird nach einem eigentümlichen Jus talionis gerächt, das gebietet, similia similibus zu bestrafen und womöglich in der Nähe des Tatortes dazu. Zwischen dem traurigen Anfang und dem per saldo stets Happy-End liegt die Jagd nach dem Rädelsführer, der mehrmals entflieht, mehrmals den Rächer fängt, seine Spießgesellen einen nach dem anderen verliert und zuletzt eines verdienten Todes stirbt, bestenfalls mit Wahnsinn oder Krüppelhaftigkeit seine Verbrechen büßt47."

   Mit all seinen großartigen Eigenschaften hält der Held gern hinterm Berg, indem er sich für einen harmlosen Schreiber ausgibt und dadurch prompt den Spott seiner Zuhörer erntet. Zwei Beispiele:

   "Darf ich fragen, was Ihr seid, Sir?"

   "Ich bin Writer."

   Darauf folgt der Spott des Fragers, der jetzt "am ganzen Gesichte" lachte. "Es gab ihm . . . gewaltigen Spaß, daß ein Schriftsteller den Gedanken gefaßt hatte, ganz allein und nur auf sich selbst angewiesen, den gefährlichsten Teil des Felsengebirges aufzusuchen." (Winnetou III, S. 363 f.).

   Ähnlich ergeht es dem Helden auch im Orient. Er wird als Deutscher für einen Gärtner oder Kaufmann gehalten. Als er sich als Schreiber vorstellt, wird ihm folgende Antwort:

   "Ein Schreiber? O jazik, o wehe, und ich habe dich für einen tapferen Beduinen gehalten! Was ist ein Schreiber? - Ein Schreiber ist kein Mann; ein Schreiber ist ein Mensch, welcher Federn ißt und Tinte trinkt; ein Schreiber hat kein Blut, kein Herz, keinen Mut, kein ..." (Bd. 1, S. 177.)

   Im Spott mag sich die Enttäuschung der Eltern Mays spiegeln, die ihren Sohn gern als Arzt gesehen hätten48.



47Forst-Battaglia, a. a. O., S. 36 f.
48Vgl. S. 41 und Patsch, "Dr. med. Karl May". Ungedr. Manuskript, Wien, 1938.



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Vor allem der Vater war vom Beruf eines Federfuchsers nicht gerade begeistert. Auf das Lesepublikum Mays hingegen übte der Beruf des Schriftstellers eine ganz andere Zugkraft aus. Er hatte in dem Jahrhundert vor May beträchtlich an Ansehen gewonnen.

   Als Addison und Steele 1709 mit der Herausgabe der "moralischen Wochenschriften" "Plauderer" und "Zuschauer" begannen, mußten sie sich noch maskieren als Landjunker, Jurist, Großkaufmann, verabschiedeter Offizier und ein "Elegant" aus der galanten Welt. Ein Schriftsteller oder Künstler kam damals überhaupt nicht in Frage. Seit Goethes "Wilhelm Meister" wurde es anders. Das Bürgertum war durch tausend Konventionen eingeschränkt. "Dieses Zwiespaltes halb bewußt, hegt es eine heimliche Liebe für den eigentlich ungehemmten Menschen, den es im Künstler sieht. Er verkörpert das freiere Menschentum, nach dem man sich sehnt, das man aber kaum zu bekennen, geschweige denn zu leben wagt49." In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmet sich sogar die Aristokratie offen der Kunst. Der Künstler, der Schriftsteller beginnen über der Menge zu thronen und sich von den gewöhnlichen Menschen abzusondern. So wurde auch der schriftstellernde Held Mays ein Mann, zu dem man aufsah.

   Mit dem Beruf des Schriftstellers verbindet er den eines Weltenbummlers: "Ich bin Schriftsteller und reise viel, um dann über meine Reisen Bücher zu schreiben50 ." Ausgesprochene Weltvölker, wie die Engländer, pflegten damals längst einen viel reiferen, viel realeren Exotismus: Daniel Defoe wie James Fenimore Cooper stecken bei allem romantischen Zeitgeist voll herber



49Schücking, a. a. O. S. 39.
50Bd. 24, S. 156.



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Sachlichkeit. Welchen Reiz mußte das Reisen auf das deutsche Publikum der Neunzigerjahre ausüben! Wie seßhaft war damals die deutsche Bevölkerung noch, mit welchen Aufregungen und Schwierigkeiten eine Reise verbunden! Wie mußte Reisen noch als eine Herausforderung des Schicksals empfunden werden, wo man schwerlich als der zurückkehrte, der fortging! Mit welchem Stolz lassen Schriftsteller in Nachschlagewerken der damaligen Zeit dem Namen ihre Reisen folgen. Und nun gar der Leser eines kleinbürgerlichen, hausbackenen Deutschland im trauten Lichtschein der summenden Petroleumlampe! Für ihn waren die Reisen anderer eine besonders romantische und bewundernswürdige Angelegenheit, nach deren Beschreibung die Phantasie lebhaft verlangte.

Noch dazu ist der Held Karl Mays kein gewöhnlicher Reisender, wie er selber versichert:

   "Eine Reise per Entreprise oder mit dem Rundreisebillett wird sehr zahm sein, selbst wenn sie nach Celebes oder zu den Feuerländern gehen sollte. Ich ziehe das Pferd und das Kamel den Posten und Bahnen, das Kanoe dem Steamer und die Büchse dem wohl visierten Passe vor; auch reise ich lieber nach Timbuktu oder Tobolsk als nach Nizza oder Helgoland; ich verlasse mich auf keinen Dolmetscher und auf keinen Bädeker; zu einer Reise nach Murzuk steht mir weniger Geld zur Verfügung, als mancher braucht, um von Prag aus die Kaiserstadt Wien eine Woche lang zu besuchen, und - ich habe mich über den Mangel an Abenteuern niemals zu beklagen gehabt. Wer mit großen Mitteln die Atlasländer oder die Weststaaten Nordamerikas besucht, dem stehen eben diese Mittel im Wege; wer aber mit leichter Tasche kommt, der wird bei den Beduinen Gastfreundschaft suchen und sich nützlich machen, drüben im wilden Westen aber sich sein Brot schießen und mit hundert Gefahren kämpfen müssen; ihm wird es nie an Abenteuern fehlen. Wollen wir wetten, daß uns nachher bei unserem Ritt ein Abenteuer passieren wird, mag es auch nur ein kleines sein? Die Recken früherer Zeit zogen aus, um Abenteuer zu su-



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chen [suchen]; die jetzigen Helden reisen als Commisvoyageurs, Touristen, Sommerfrischler, Bäderbummler oder Kirmeßgäste; sie erleben ihre Abenteuer unter dem Regenschirme, an der Table d'hote, bei einer imitierten Sennerin, am Spieltische und auf dem Scating-Ring."(Bd. 1, S. 245 f.)

   Den Typ des reisenden und abenteuernden und neuen Lebensraum suchenden Schriftstellers hat es schon vor May gegeben, und zwar in Wirklichkeit. Sealsfield führt die Reihe jener Männer an; Gerstäckers Leben war voll bunter Abenteuerlichkeit: als Jäger und Rohrschneider, als Bauarbeiter und Heizer hat er die Welt durchstreift. Friedrich Armand Strubberg (1808-1889) führte an der texanischen Indianergrenze jahrelang das einsame Leben eines Siedlers. Möllhausen, Ruppius und Griesinger sind abenteuerumwitterte Gestalten. Auf ihrem Boden steht der Held Karl Mays und übertrifft sie alle im Aufsuchen und Bestehen der Gefahren und durch die Vorzüge des Körpers und der Gesinnung.

   Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi ist ein tadelloser Sportsmann, wie geschaffen, um in unseren Tagen bewundert zu werden51. Im Reiten leistet er Unübertreffliches. Er bändigt - Kraft gegen Kraft - das widerspenstigste Pferd, daß es "trieft vor Schweiß und große, schwere Flocken schäumt52". Die Jagd hinter dem Pferdedieb, dem Ismilaner Deselim "In den Schluchten des Balkan" ist das Musterbeispiel eines Hindernisrennens voll Spannung und Nervenkitzel, nicht in der Bahn, sondern im freien Gelände, über Stock und Stein, Graben und Hecken, über tote und lebendige Hindernisse hinweg.



51Vgl. dazu Ernst Bloch, "Das Prinzip Hoffnung", I. Bd., Aufbau-Verlag Berlin, 1954, S. 369: "Ein wirklicher Ausweg aus der Öde scheint der Sport; echte Wünsche fühlen sich hier am Start; Wettbewerb, für kleine Leute fast ausgestorben, hat Zuflucht."
52Bd. 7, S. 22 f.



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Am Tigris, Bd. 1, sprengt Kara Ben Nemsi übermütig zwischen zehn bewaffneten beduinischen Reitern umher, die Auftrag haben, ihn zu treffen oder zu fangen: Der Held bleibt frei und unversehrt. Ein andermal fliegt er auf dem Rücken seines unvergleichlichen Rapphengstes Rih über die Verräterspalte hinweg, die seinem Todfeind, dem schurkischen Schut, zum Verhängnis wird53. "Im Lande des Mahdi", Bd. I, kirrt Kara Ben Nemsi das falsch behandelte, edle, rassereine Wüstenroß, indem er ihm Erinnerung an seinen früheren Herrn weckt. Haik, ein arabischer Zuruf und eine Dattel, auf flacher Hand dargeboten, sind die Zähmungsmittel.

   Der Held ist ein vortrefflicher Schütze. Er trifft eine Lanze, die man im "Sternenlicht eben noch sehen konnte", mit 15 Schuß fünfzehnmal54. Er schwimmt auf Leben und Tod, kann Wassertreten, Paddeln, Tauchen, Rücken- und Seitenschwimmen55. Im Fechten übertrifft er den "Vater des Säbels" und schlägt ihm die Waffe aus der Hand56, im Speerwerfen tritt er gegen zwei Gegner auf einmal an57, er läuft58, boxt59, ringt60, wirft Tomahawk und Tschakan61, kämpft mit dem Messer, jagt den Büffel, den wilden Mustang, den Grizzly und den Bä-



53Bd. 6, S. 499 ff.; vgl. ferner Bd. 11, S. 300; Bd. 37, S. 37.
54Bd. 23, S. 224 f., vgl. ferner Bd. 2, S. 459 ff.; Bd. 7, S. 375, S. 487 f.; Bd. 10, S. 334 ff., S. 473, S. 572, S. 605; Bd. 21, S. 351 ff.; Bd. 35, S. 208; Bd. 36, S. 398; Bd. 37, S. 29.
55Bd. 6, S. 410 f.; ferner Bd. 7, S. 358 f.; Bd. 21, S. 153.
56Bd. 1, 5. Kap. "Abu Seif" (Vater des Säbels).
57Bd. 21, S. 448 f.; vgl. ferner Bd. 25, S. 423 ff.
58Bd. 1, S. 325.
59Bd. 11, S. 185; Bd. 35, S. 225, S. 248; ferner jeder "Jagdhieb" des Helden.
60Bd. 13, S. 453; Bd. 51, S. 48.
61Bd. 6, S. 16 f.
62Vgl. die Jagden in Bd. 7; Bd. 6, S. 138 f.



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   Wie ein zünftiger Sportler ist er gegen verderblichen Alkoholgenuß. "In den Schluchten des Balkan" lehnt er den Wein ab, den ihm ein Ziegelarbeiter anbietet, er spricht auch in Amadijah, Bd. 2, dem persischen Wein nur mäßig zu, dem Selim Aga und der Festungskommandant zum Opfer fallen. Den Gastwirt und Steuereinnehmer von Khoi warnt er vor den Tücken des Schnapses63 und beklagt die verderbliche Wirkung des "Feuerwassers" auf die Indianer64.

   Old Shatterhand hat unheimliche Kraft, trägt etwa einen Sessel samt dem darauf sitzenden Mann zur Verblüffung der Zuschauer mit Leichtigkeit durch die Gaststube65.

   Dabei wird der Leser durch die genaue technische Kenntnis des Erzählers in Staunen versetzt: er schreibt, wie ein Akrobat, ein Preisschütze, ein Faustkämpfer, ein Kunstreiter schreiben könnte, alle Handgriffe, alle Wendungen, alle Kunstgriffe des Einzelkampfes, der Pferdedressur, der Jagd und des Polizeidienstes sind ihm vertraut.

   Nicht nur sportlich ist der Held auf der Höhe. Er besitzt auch hervorragendes Wissen, und zwar in Geographie66, Geschichte67, Ethnographie und Ethnologie68, Zoologie69, Botanik70, Mineralogie, Astronomie71 und



63Bd. 18.
64Z. B. in der "Einleitung" zu "Winnetou" (Bd. 7).
65Bd. 24, S. 194.
66Bd. 21, S. 299; Bd. 22, S. 206, S. 372; Bd. 41, S. 28, S. 119 f.; S. 373.
67Bd. 23, S. 64, S. 69; Bd. 41, S. 4, S. 392.
68Bd. 21, S. 29 f., S. 79, S. 116; Bd. 22, S. 143, S. 165; Bd. 35, S. 386; Bd. 41, S. 7.
69Bd. 2, S. 149, S. 281 f.; Bd. 18, S. 288; Bd. 35, S. 139; Bd. 41, S. 14, S. 55, S. 108, S. 195, S. 209.
70Bd. 22, S. 122; Bd. 36, S. 125; Bd. 41, S. 140, S. 143, S. 146, S. 196, S. 199.
71Bd. 2, S. 15 ff.; Bd. 41, S. 113.



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Meteorologie72. Oft stellt er seine medizinischen Kenntnisse unter Beweis73. Er spricht die Sprachen vieler Völker, auch der Indsmen, und die meisten Dialekte des Arabischen, zeigt sich auch sonst philologisch gebildet74. Er besitzt philosophisches75 und psychologisches76 Wissen. Auf seine Erfahrungspsychologie gestützt, knüpft er eine Kette von Schlüssen, die nur in den seltensten Fällen nicht zum Ziel führt77. Auch die wichtigsten Geheimwissenschaften und Geheimlehren sind ihm bekannt78. Seine religiösen Kenntnisse ist der Held jederzeit bereit, durch Anschauung und Erfahrung zu ergänzen und zu berichtigen79.

   Kara Ben Nemsi ist bibel- und koranfest80. Mit Überlegenheit führt er Streitgespräche über die Auslegung einzelner Vorschriften des Islams81. Hinzu kommt ein erstaunliches juridisches Wissen, oft mit namentlicher Bezugnahme auf arabische Rechtsgelehrte82. Im Reich der Kunst ist er vor allem im Bereich der Architektur83 und der Musik84 gut beschlagen. Auch in den großen und



72Bd. 22, S. 163; Bd. 41, S. 28.
73Bd. 22, S. 181, S. 445; Bd. 28, S. 345; Bd. 41, S. 463; vgl. die eingehende Darstellung bei Patsch, "Dr. med. Karl May".
74Bd. 24, S. 32 ff.; Bd. 40, S. 103, S. 160; Bd. 41, S. 52, S. 60, S. 132 f.
75Bd. 19, S. 466 (jetzt Bd. 15, S, 490 f.); Bd. 23, S. 64 ff.
76Bd. 22, S. 403; Bd. 28, S. 306 ff.; Bd. 40, S. 160, S. 284; Bd. 41, S. 56, S. 84, S. 289, S. 316, S. 329, S. 441.
77Bd. 41, S. 16, S. 25, S. 63 f., S. 70.
78Bd. 25, S. 114; Bd. 28, S. 33.
79Bd. 5, S. 55 f.; Bd. 7, S. 1 ff., S. 189; Bd. 8, S. 551; Bd. 13, S. 9 ff.; Bd. 16, S. 157; Bd. 20, S. 342; Bd. 21, S. 157, S. 280, S. 314; Bd. 41, S. 1, S. 28, S. 582.
80Bd. 41, S. 52, S. 61, S. 175; vgl. auch die Exposition zu Bd. 1.
81Bd. 1, S. 7; Bd. 25, S. 107 f.
82Bd. 22, S. 46; Bd. 5, S. 11; Bd. 28, S. 571.
83Bd. 35, S. 267, S. 269; Bd. 28, S. 501 ff.
84Bd. 2, S. 11, S. 13, S. 137, S. 180; Bd. 8, S. 176; Bd. 13, S. 358; Bd. 24, S. 226; Bd. 44, S. 497; Bd. 22, S. 142; Bd. 28, S. 534; Bd. 35, S. 92, S. 581; Bd. 41, S. 336.



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kleinen politischen Tagesfragen kann er mitreden85. "Es ist, als ob er in sich verkörpert alle Mitarbeiter eines Konversationslexikons trüge und auch Gefallen daran fände, dieses Wissen zu zeigen86." Ja, der Held steht sogar oft über den Wissenschaften, er zieht in selbstbewußten Tiraden über die Naturwissenschaft und die Philosophie her87 und brüstet sich damit, daß die Werke der "großen Philosophen" in seiner Bibliothek "glänzen", weil er sie außerordentlich schone, indem er sie fast nie zur Hand nehme88.

   Zu diesen Vorzügen des Körpers und des Geistes kommt die vorzügliche Bewaffnung und Ausrüstung des Helden hinzu. Er führt den 25schüssigen Henrystutzen und den weittragenden, doppelläufigen Bärentöter89, Revolver, Messer und Lasso. Mit seinem Fernrohr entdeckt er den Feind, ohne von diesem bemerkt zu werden, ein Fläschchen mit phosphoreszierender Flüssigkeit leuchtet ihm im Dunkeln. Seine Reittiere sind gar vortrefflich, allenthalben erwecken sie Staunen und Bewunderung der Mitmenschen.

   So verstärken Waffen und Ausrüstung die natürlichen Vorzüge des Helden, vermehren die Kraft der Schmetterfaust, verlängern ihre Reichweite, vervollkommnen seinen Gesichtssinn, erhöhen seine Fortbewegung zu atemberaubender Schnelligkeit. Ein uralter Wunschtraum der Menschheit geht in Erfüllung: das Mangelwesen Mensch wächst über sich hinaus und übertrifft die



85Bd. 2, S. 157, S. 517; Bd. 17, S. 109; Bd. 36, S. 36.
86August Niemann, "Das Rätsel Karl May", im KMJb 1920, S. 491.
87Bd. 25, S. 237 f., S. 304, S. 305, S. 325; Bd. 29, S. 245; Bd. 31, S. 334, S. 479.
88Bd. 14, S. 408.
89Vgl. Klaus Hoffmann, "Silberbüchse - Bärentöter - Henrystutzen, 'das sind die drei berühmtesten Gewehre der Welt'. Herkunft, Wirkung und Legende". JbKMG 1974, S. 74 ff.



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muskel- und sinnenbegabtere Tierwelt durch Beherrschung und Ausnützung der Naturkräfte und Gesetze im weitesten Sinn. Was heute der Wunschtraum eines jeden Motorhungrigen ist, erfüllte sich vor 60, 70 Jahren auf dem Rücken eines arabischen Vollblüters oder eines Mustangs indianischer Dressur.

   Vor allem ist Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi Inbegriff der Wunschträume jener Jugendlichen, die eben dem Märchenalter entwachsen sind. Die Wege, auf denen die Natur das Hauptziel der Periode der beginnenden Reife erreicht, Übung des Willens und Intellekts, werden von diesem Helden gebahnt: der Bruch mit der Selbstgenügsamkeit der Kinderjahre, Aufschau zum Mannesideal, der erstarkende Selbständigkeits- und Tatendrang, der wachsende Wissensdurst mit der Neigung zu Kritik. Die Folgen des Kraftüberschusses dieses Alters zeigen sich im selbstbewußten Auftreten, Beurteilen und Beurteiltwerden. "Namentlich die Knaben wollen Anerkennung finden für ihre Leistungen, für Körperkraft, Geschicklichkeit und Betätigungen auf dem Feld ihrer vielseitigen Interessen. Andererseits beurteilen sie sachlich und streng ihre Kameraden. Solche mit besonders guten Leistungen auf dem Gebiete des Schwimmens, Turnens und des Sports verschiedner Art werden gern als überlegen anerkannt. Besonders gilt der Stärkste etwas, der im Raufen und Ringen nie besiegt werden konnte. Anerkannter Führer aber wird ein Knabe, der neben körperlichen Fähigkeiten auch über einen guten Verstand verfügt, über tatkräftige, zielbewußte Klugheit; der Knabe, der in allen Lagen der kameradschaftlichen Gruppe Anregungen zu geben weiß90."

   Das Streben der Knaben dieses Alters nach vollende-



90Hörburger-Sinmonic, "Pädagogische Psychologie", Österr. Bundesverlag, Verlag für Jugend und Volk, Wien, 1951, S. 78.



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ten [vollendeten] Vorbildern führt sie aus der Welt des Alltäglichen hinaus, denn die Personen der Umgebung halten meist ihrer strengen Kritik nicht stand. Darum liebt es die letzte Knabenzeit, in räumlicher und zeitlicher Weite seine Helden zu suchen und zu bewundern. Diese Haltung prägt sich in der bevorzugten Lektüre der Zehn- bis Fünfzehnjährigen aus. Sie lieben Geschichten, "in denen der Held sich mit der Natur auseinandersetzt, Taten und Abenteuer vollführt, auf Entdeckungsfahrten Mut und Ausdauer zeigt90a". Wie muß ihrem Wünschen und Drängen die Gestalt des Mayschen Helden zusagen! In unantastbarer Ferne, entrückt der stets bereiten Kritik, in Situationen höchster Gefahr und größter Leistungsanforderung stellt er sich dem jugendlichen Leser als die überragende Persönlichkeit vor, die in nie versagender Klugheit, mit unerschütterlichem Mut, mit überlegener Körperkraft und Gewandtheit die gefährlichsten Gegner bekämpft und besiegt91.

   Sogar die Mädchen bewundern ihn gern. Sie entdecken einen Amazoneninstinkt in sich, für den sie später Verwendung haben werden, und der durch die Jahrhunderte zu kurz kam. Dabei haben sie die größere Phantasie; es ist ihnen gleich, daß der Henrystutzen heute von jedem Waffenschmied übertroffen werden kann. Sie behandeln die Technik mit souveräner Miß-



90aHörburger-Simonic [sic!], a. a. O., S. 79. Vgl. dazu auch bei Heiner Schmidt, a. a. O., die Einteilung in realistisch-abenteuerliches, Tecumseh- und sachlich-abenteuerliches Lesealter und ihre Beschreibung; ferner bei Eduard Spranger, "Psychologie des Jugendalters", Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, 3. Aufl. 1925, S. 36 f. die Charakterisierung der realistischen Epoche des Kindesalters.
91Dazu aus der Fülle ähnlicher Bekenntnisse ein Beispiel: Die Karl-May-Lektüre "hat auf mich einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, daß ich mich in der Folge bei allem, was ich tun wollte, vorher fragte: 'Was würde Old Shatterhand dazu sagen'"? (Fritz Ströfer, "Der junge Strolch", KMJb 1923, S. 340.)



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achtung [Mißachtung]92. Hingegen vermissen manche Jungen den Kraftwagen und das Flugzeug; sie lassen sich vom berühmten Henrystutzen nicht mehr so recht imponieren in einem Zeitalter, wo die Gangster von Chicago ein Maschinengewehr neben den Schofför stellen und den Verräter im eleganten Vorbeigleiten durchlöchern.

   Die zum Teil sinkende Aktualität des Henrystutzens und der schnellen Pferde konnte indes der Beliebtheit Karl Mays noch keinen Abbruch tun. Auch die Skepsis vieler Erwachsener betreffend Helden und Heldenverehrung berührt die Jugendlichen kaum93.

   Der Mensch ist nach den Erfahrungen und Enttäuschungen der jüngsten Vergangenheit geneigt, bestimmten Motiven den Vorrang zu geben, andere zu dulden, wieder andere abzulehnen. Er fühlt sich von Fürsten, Führern, Industrie- und Handelsherren enttäuscht und möchte sie nicht mehr in Jugendschriften verherrlicht finden. Er glaubt, es sei an der Zeit, den Verachteten, den Unterdrückten, den Durchschnittlichen in den Mittelpunkt des Buches zu rücken. Und mit welchem Erfolg? Manche Zeitungen können keine Woche lang ohne Kaiser-, Königs- und Fürstengeschichten leben, ehemalige Generale finden offene Herzen und Türen bei Redaktionen und Verlagen, wenn sie ihre Memoiren bringen, dickleibige Bestseller strotzen von Heldentaten und werden ins Deutsche übertragen, die verlottertsten Helden von Texas, die abgefeimtesten Verbrecher aus Chicago füllen als unangetastete Größen mit ihren Taten und Untaten Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Comics und Filmstreifen: "Das Volk und be-



92Vgl. Otto Flake, "Karl May bei den Mädchen". "Unterhaltungsblatt" der "Kölnischen Zeitung" v. 24.12.1937.
93Nach Bernhard Saphir, "Amboß oder Hammer sein" in der "Jugendschriften-Warte", Frankfurt a. M., v. 1.4.1953, S. 30 f.



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sonders [besonders] die Jugend stillt mit dieser überfärbten, wertlosen Nahrung seinen gesunden 'Hunger nach Persönlichkeit'. Mühelos fühlt sich die Jugend auf die höchsten Höhen 'menschlichen Seins' getragen und erlebt dabei, oft sogar schon bewußt, eine entsetzliche Scheinbefriedigung94."

  Die Masse der Leser und ein Großteil der Jugend suchen im Buch den Menschen, der im Mittelpunkt eines bedeutenden Geschehens steht, der den Kristallisationspunkt bildet, zu dem sich die Kräfte der anderen Menschen ordnen.



Charakter des Helden


Der Geschmack von Jugend und Volk scheint einem sehr geringen Wandel zu unterliegen95. Der naive, der "nichtliterarische" Leser, vor allem der jugendliche, tritt mit Wertkategorien an die Beurteilung eines Buches heran, die der "geistigen Oberschicht" fehlen. Umgekehrt sind ihm die Maßstäbe des gebildeten Lesers unbekannt. Untersucht man das Lesegut, das Jugend und Volk am meisten fesselt, so findet man in den Helden dieser Bücher häufig Typen, die entweder aus uraltem Volksgut stammen oder aus einer früheren Literaturschicht, einer Oberschicht, die abgesunken und entsprechend verändert worden ist. Oft ist das künstlerisch weniger Gute das Jugend und Volk Gemäße.



94Ders., a. a. O., S. 31.
95Vgl. hierzu Christine Touaillon, "Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts", 1919, S. 368: "Die Ritter- und Schauerromane der Cramer, Spiess, Rambach, August Heinrich Lafontaine usw. unterscheiden sich kaum von unseren heutigen Abenteuer- und Schundromanen, die der Jugendliche und der ungebildete Erwachsene verschlingen."



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   Unterworfen den Gesetzen des Massendaseins, stellen erfolgreiche Bücher eine der Formen dar, in denen das in sein individuelles Ich eingekapselte Bewußtsein aus sich heraus zu einem allgemeinen findet. Die Kräfte, die hierbei wirksam werden, führen auf eine betörende Weise an das Geheimnis des anderen Ich heran:

   "Wessen Stimme ist es, die wir vernehmen, während wir lesen? Wir hören sie und hören sie doch wieder nicht. Es spricht jemand zu uns, der keine Gestalt, kein Gesicht, keinerlei greifbare Realität und also eigentlich auch keine Stimme hat und dennoch unter Umständen ein weit kräftigeres Leben, als irgendeiner der Menschen, mit denen wir täglich in Berührung kommen96."

   Auf zweierlei Wegen kann das Buch zur Masse finden: Erstens, indem der Held den locker in der Masse sitzenden Leidenschaften die Sprache und damit die Richtung gibt, in denen sie zur Tat werden; zweitens, indem sich der Held als Massenführer der Leser bemächtigt und diese zu einem Kollektiv zusammenschließt. May-Leser fühlen sich untereinander auf eine besondere Art verbunden, wie ihr schon erwähnter Zusammenschluß in Klubs und Vereinen beweist. Oft führen sie den Kampf um May mit dem gleichen Fanatismus, den Gustave Le Bon für jede Menschengruppe, die unter dem Gesetz des Massendaseins steht, als charakteristisch bezeichnete.

   Der Held Karl Mays ist der Recht und Gerechtigkeit zum Sieg verhelfende, christliche Ritter ohne Furcht und Tadel, dessen sittliche Strenge durch schelmische, hochstaplerische und abenteuerliche Charakterzüge gemildert wird.

   Das Volk liebt die überschlauen Schelme97, deren



96Christoph Meyer, "Karl May und die Weltgeschichte", im "Münchener Merkur" v. 4.2.1949.
97Vgl. dazu Geheimrat Dr. Erich Wulffen, "Im Reich der Schelme", KMJb 1926, S. 63 ff.



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Klugheit immer wieder den geriebensten Nachstellungen und Fallen lächelnd ein Schnippchen schlägt. Wie kommt da May mit seinen"Listen und Kniffen", seinen Verstellungsszenen den Bedürfnissen des Volkes entgegen! Oft erlaubt er sich in dem breit-epischen oder dramatischen Fluß der Erzählungen noch seine besonderen, persönlichen Späße. "Er ist zugleich Komiker und erster Held. Man merkt ihm die Freude beim Fabulieren seiner Verstellungsszenen an, merkt, er ist 'dabeigewesen', spürt den Schalk in seinen Augen, das Schmunzeln, die vergnügte Selbstzufriedenheit, den andern - den Gegenspieler - mit seiner Maske getäuscht zu haben98."

   So gibt sich Old Shatterhand, um von Fragen unbelästigt zu bleiben, als "Gräbersucher" aus und spielt seine Rolle so gut, daß ihn erst ein gewiegter Westmann, Old Wabble, entlarven kann. "In den Schluchten des Balkan" färbt Kara Ben Nemsi die Haare blond, zieht Pantoffel an, hüllt sich in ein grünes Turbantuch und erscheint als "hinkender Derwisch" auf der Bildfläche. Das schönste Beispiel einer Verstellungsszene bildet ein Zwischenspiel "Im Lande des Mahdi99".

    Es gilt, Achtung und Vertrauen berüchtigter Sklavenjäger zu erwerben, um ihre Pläne durchkreuzen zu können. Kara Ben Nemsi erklärt seinem Diener Ben Nil den Plan, beide geben sich das Aussehen von Eingeborenen. Ben Nemsi lockt durch Schüsse die Feinde herbei, dann widmen sich die beiden ganz unbefangen dem landesüblichen Mehlbreigenuß. Und wirklich: die Feinde erscheinen! Hier flicht Ben Nemsi eine Regiebemerkung ein, die den Leser beruhigt: Ben Nil "spielte seine Rolle ausgezeichnet". Beide werden einem strengen Verhör



98Lisa Barthel-Winkler, "Mensch und Maske", KMJb 1926, S. 133.
99Bd. 16, S. 555 ff.



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unterzogen und mimen dabei anfangs unbefangenste Harmlosigkeit. Mit dem Ausruf des Sklavenjägers: "Dein Leben hängt an einem einzigen, dünnen Haar!" fällt jedoch das Stichwort, und die beiden Komiker verwandeln sich in Helden, ohne indes ihre Maske zu lüften. Kara Ben Nemsi gibt sich als Händler und Bürgermeister von Dimiat aus. Der Sklavenjäger möchte ihn einschüchtern: man nenne ihn "Sohn der Grausamkeit". Dabei blickt er Kara Ben Nemsi an, als erwarte er, ihn erschrecken zu sehen. Dieser jedoch antwortet gelassen: "Und mich benennt man in Dimiat mit dem Beinamen 'Vater des Entsetzens', woraus du wohl ersehen wirst, daß ich ein Mann bin, der wohl Furcht und Angst verbreitet, sie aber niemals selbst empfindet." Der Sklavenjäger hat seinen Meister gefunden! Ben Nil spricht die Gedanken der Leser aus, wenn er sagt: "Welch eine List, Effendi! Jetzt glaube ich, daß du dich vor keinem Feind zu fürchten brauchst. Deine Verschlagenheit ist noch viel größer als deine Tapferkeit. Ich bin überzeugt, daß wir allen Gefahren gewachsen sind."

   Unzählige Male spielt der Held den Trumpf aus, daß der vermeintliche Stubenhocker und Schriftsteller zum Erstaunen seiner Reisebekannten Flinte und Revolver, Tomahawk und Lasso ebenso sicher zu gebrauchen weiß wie seine Feder100. So wird der berühmte Old Shatterhand etwa in Bd. 9, S. 366 für einen Sonntagsjäger gehalten. "Ich bin sogar einmal Schützenkönig gewesen!" protestiert er "mit sehr wichtiger Miene". Damit erntet er jedoch nur Spott und muß sich sogar Old Shatterhand als das Muster des unübertrefflichen Westmannes vorhalten lassen. Statt sich nun zu erkennen zu geben, setzt



100Vgl. Dr. Max Fischer, "Karl Mays Kunst der Erzählung", KMJb 1921, S. 221.



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er vor dem Probeschuß "langsam und sehr bedächtig" seinen Klemmer auf die Nase und erntet damit abermals reichlichen Spott (S. 377). Dann legt er an und holt zur Verblüffung der Zuschauer eine trillernde Lerche hoch aus der Luft herunter: "Aber Sir, das ist ja ein Schuß, wie ich noch keinen gesehen habe", wundert sich der Spötter (S. 378 f.).

   Diese Verkennungs- und Verstellungsszenen entsprechen der Schutzrüstung von Knotigkeit jugendlicher Leser, hinter der die Sehnsucht lebt101. Auch Erwachsene können sich in die Rolle des "verkannten Genies" hineinträumen, die den Mitmenschen gegenüber ihre Maske noch nicht gelüftet haben, sich noch als "Greenhorn102" aufführen, jedoch jeden Augenblick "den Vogel abschießen" könnten. Der Greenhorn-Raum im Selbstbewußtsein des Menschen kann die Funktion eines Naturschutzgebietes erlangen. In ihm kann der Leser Kräfte sammeln für die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit; Gefahr bestünde dann, wenn der Leser sich nicht mehr entschließen könnte, das schützende Gehege zu verlassen, um dem Ernst des Lebens gegenüberzutreten. Daß selbst Karl May dieser Gefahr nicht entrann, wird noch zu erörtern sein.

   In das Motiv des von der Wirklichkeit Verkannten spielt noch ein anderes hinein, nämlich das Motiv des Menschen, dem kraft Abstammung, natürlicher Anlagen und Gesinnung eigentlich eine bevorzugte Stellung im Leben zustünde, die ihm aber durch die Mißgunst des Schicksals vorenthalten wird: das Warbeck- und Demetrius-Motiv. Schiller zählt die Vorteile des Demetrius-Stoffes auf: 1. Die Größe des Vorwurfs und des Ziels. 2.



101Vgl. Spranger, a. a. O., S. 52 f.
102Vgl. Bd. 7, S. 7 f., S. 11, S. 19, S. 30, S. 147, S. 197, S. 260, S. 627 u. v. a.



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[2.] Das Interesse der Hauptperson. 3. Viele glänzende dramatische Situationen. 4. Beziehung auf Rußland. 5. Der neue Boden, auf dem er spielt. 6. Daß das meiste daran schon erfunden ist. 7. Daß es ganz Handlung ist. 8. Daß es viel für die Augen hat. Gegen das Stück führt er u. a. an, daß der Stoff abenteuerlich und unglaublich ist103.

   Die Gründe 1, 2, 3, 7 und 8 sowie der Gegengrund gelten uneingeschränkt, die Gründe 4 und 5 mutatis mutandis auch für Karl May. Was nun Punkt 6 der Schillerschen Aufzählung angeht, so brauchte May keine vorgeformte Erfindung: er schöpfte aus der Tragödie des eigenen Lebens.

Der Held des Romanes "Das Waldröschen" (Ges. Werke Bd. 51-55), Dr. Karl Sternau, ist der uneheliche Sohn des Herzogs von Olsunna. Steinbach, der Hauptheld des Romanes "Deutsche Herzen und Helden" (Ges. Werke Bd. 60-63) ist echter Prinz. Im wirklichen Leben rühmte sich May einer vornehmen Abkunft104, indem er sich als natürlichen Sohn des Prinzen von Waldenburg ausgab. In dieser Angabe spiegelt sich, wie Patsch105 andeutet, die vornehme Abstammung des unehelich geborenen Vaters. Der Schriftsteller mochte also auf adelige Herkunft pochen, und diese Tatsache brachte einen Mißton in sein Dasein, da ihm die standesgemäße Lebensführung versagt war. Hinzu kommt, daß er seine reichen Anlagen nicht wunschgemäß ausbilden konnte106. Die Spannung zwischen dem als rechtmäßig gefühlten Anspruch auf gehobene Lebensstellung und



103Schillers Werke, 6. Teil, S. 132, hrsg. v. Arthur Kutscher. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., o. J. (Goldene Klassiker-Bibliothek. Hempels Klassiker-Ausgaben in neuer Bearbeitung.)
104Vgl. KMJb 1920, S. 199 f.
105Patsch, "Dr. med. Karl May", S. 8.
106Vgl. S. 41



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der niederschmetternden Wirklichkeit stieg ins Unerträgliche und mußte immer wieder in den Wunschträumen der Werke Befreiung suchen. Rastlos und verkannt streift das Ich des Autors durch die Erzählungen, bis dann doch einmal einer jener beglückenden Augenblicke kommt, wo ein arabischer Scheik zu dem Fremdling spricht: "Oh, jetzt weiß ich es. Du tust, wie Harun al Raschid getan hat; du bist ein Scheik, ein Emir und ziehst auf Kämpfe und Abenteuer aus107."

   Wie der Autor sich in seinen Werken die gehobene Stellung beschert, die das Leben ihm versagt hat, so bietet er auch seinen Lesern Ersatz der Wirklichkeit: auch ihnen enthält das Leben Gefühle und Vorstellungen vor, die zu erleben sie das Bedürfnis haben. Gerade dem jugendlichen Leser, der sich entwicklungsgemäß nach den Urformen menschlichen Daseins sehnt, versagen Schulzwang und häusliche Nöte das natürliche Leben. Und so strebt er "aus seiner Haut heraus, er will sich als Held, als Räuber, als Weltreisender glücklich träumen108".

   Bei der Begegnung mit Old Shatterhand gehen seine Wünsche in Erfüllung, das heißt, der Westmann bietet ihm wenigstens in der Form des Scheins, was ihm die Wirklichkeit versagt: Rückkehr zu den Urformen menschlichen Daseins109.

   Auch mancher Erwachsene vermag in der Freundschaft mit dem Helden Karl Mays Befriedigung zu emp-



107Illustrierte Ausgabe, Bd. 1, S. 282.
108Rose von Aichberger, "Kind und Buch", KMJb 1923, S. 88.
109Vgl. hierzu die Ausführungen Gurlitts, a. a. O., S. 104: "Jeden Tag muß er sein Leben verteidigen und neu gewinnen: Er lebt von dem, was sein Gewehr erlegt oder was in harter Arbeit dem noch ungepflügten Boden abgerungen wird; alle Instinkte müssen geschärft, alle Sinne geübt, Selbstbeherrschung muß zum Lebensgesetz, die Achtung der Umwelt durch trotzige Selbstbehauptung erkämpft werden."



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finden, indem er sich durch ihn in die Entwicklungsjahre zurückversetzt fühlt, in die Zeit, in der tausend Zukunftspläne lockten, in die Zeit, in der fast die ganze Fülle des Lebens sich noch zur Wahl stellte. Von da an folgten jedem Schritt unwiderrufliche Einschränkungen, jeder Entschluß erforderte die Abkehr von anderen lockenden Möglichkeiten, bis das Leben endlich in der schmalen, eintönigen Bahn verlief, die die Einordnung in die jetzige Gesellschaftsordnung heischt110.

   So ist es kein Wunder, daß mancher Erwachsene gemeinsam mit Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi die Monotonie des Alltags vergißt und zurückstrebt in die Reifezeit, in die Entscheidungsjahre seines Lebenslaufes, um von hier aus in beglückendem Phantasiespiel und mit dem Wissen des Leiderfahrenen vielfach neue Schicksalsfäden zu spinnen, das Leben in Fülle zu gestalten, das Wesen auszuweiten, die Vorstellungen zu vermehren, die Gefühle zu vertiefen, schlummernde Anlagen zu erwecken, kurz: einen ganzen Menschen



110Vgl. hierzu Konrad Lange, "Das Wesen der Kunst", 2. Aufl., Berlin, 1907, S. 650: "Die Beschränktheit und Einseitigkeit unseres Berufslebens bringt es mit sich, daß wir alle ein äußerst lückenhaftes Dasein führen. Es ist erstaunlich, wie gering die Zahl der Vorstellungen und Gefühle ist, die ein moderner Mensch zu erleben Gelegenheit hat. Der Arbeiter, der sechs Tage der Woche vom Morgen bis zum Abend in dumpfigen, lärmenden Fabrikräumen zubringt und dabei vielleicht nur eine ganz mechanische Handarbeit verrichtet, der Kaufmann, der an seinem Pulte stehend den ganzen Tag über seine Zahlen schreibt, der Gelehrte, der fest an seinem Schreibtisch sitzend, eine vielleicht bedeutende, im Grunde aber sehr einseitige Tätigkeit vollzieht, sie alle sind nur halbe Existenzen. Eine Menge ethisch wichtiger Gefühle, die zum Wesen des Menschen gehören, wie Liebe und Haß, Mut und Verzweiflung, Stolz und Furcht, Mitleid, Grauen, Verachtung können viele Menschen in der Wirklichkeit überhaupt nicht oder nur in ganz abgeschwächter Form erleben, weil der Ernst des Lebens ihnen keine oder nur eine ganz ungenügende Gelegenheit dazu bietet."



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aus sich zu machen. Zwar entstehen auf dem Umweg der Phantasie nur Surrogatgefühle der wirklichen: sie müssen genügen, da es einen anderen Ersatz der wirklichen Gefühle nicht gibt.

   Unsere Untersuchung hat sich inzwischen immer mehr von den schelmischen Zügen des Helden zu den abenteuerlichen hingewendet. Der Typ des Abenteurers war in der Literatur der breiten Masse stets von hervorragender Bedeutung. Zu allen Zeiten hat ihn ein Nimbus umweht, in dem sich Schreck mit Bewunderung mischt111. Sein jeweiliges Gepräge ist eng mit der sozialen Lage der breiten Masse der jeweiligen Epoche verknüpft. Immer hat es eine Menschenschicht gegeben, die - bewußt oder instinktiv - der Gesellschaftsordnung grollt, den "unfehlbar" funktionierenden Mechanismus der ausgeklügelten Gesetze haßt, ihre kaum versteckte Heuchelei verachtet, die abschreckende Häßlichkeit der Armut am eigenen Leib verspürt, die Frechheit des Reichtums verdammt und die unausmeßbaren Tiefen des maskierten Verfalls hoffnungsvoll auslotet. Im gesetzlosen Abenteurer finden die Ausgesperrten den Gesinnungsgenossen, der ihr soziales Drängen auf eigene Faust in die Tat umsetzt. Der Abenteurer der Wirklichkeit wie der Literatur stieg aus den Konflikten des ringenden, rebellierenden Volkes hervor.

   Schon der Schelm der Volksbücher erringt Ruhm und Beliebtheit dadurch, daß er durch List, durch Betrug



111Vgl. "hierzu Dr. Hubert Rausse, "Aus der Geschichte des deutschen Abenteuerromanes", KMJb 1920, S. 348 f.: "Kindlich Volk hat förmlich Hunger nach Furcht, weil sein Leben zu sicher ist, liebt die Geheimnisse, weil ihm alles noch Geheimnis ist, hat eine gewisse Bewunderung" selbst für "Gauner, die es als ausgleichende Gerechte empfindet, braucht Heldenmaße, die jenseits von Gut und Böse liegen, und sucht sie außerhalb seines gewohnten Lebensrahmens, der ihm die Größe beengt."



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oder Gewalt den Reicheren oder Höhergestellten dem Gespött seiner Mitmenschen preisgibt. Sein Gehaben legt Balsam auf die Wunden der unteren Volksschichten und besänftigt die empfundene soziale Ungerechtigkeit. Till Eulenspiegel ist Repräsentant der Enterbten des 14. Jahrhunderts. Im Spanien des 16. Jahrhunderts erstand im "Lazarillo de Tormes" die novela picaresca. Durch Gerissenheit, Schläue und Frechheit setzt sich der Held dieser Gattung durch und findet in Deutschland im "Landstörtzer" und "Mausskopf" alsbald Nachfolge. Auf der Wende zum 18. Jahrhundert ist der Ritter das hervorragendste Muster aller Menschen. Mit unbesiegbarem Arm, unbeschreiblicher Kraft und entsetzlichem Grimm wühlt er im Herzblut lachender Buben und weint gleichzeitig der leidenden Unschuld gefühlvolle Tränen nach. Und wehe dem Feind: Wenn er dem rächenden Arm zum Opfer fällt, reißen sich die Teufel um seinen Leichnam in den Lüften mit Geheul! Ein Jahrhundert später stürmen die Räuber als die personifiziert ausgleichende Gerechtigkeit durch die Welt. Wo ein hartherziger Reicher wohnt, lassen sie Brand, Mord und Verzweiflung zurück, doch wo ein Armer in Tränen sein Brot ißt, da spenden sie Segen und Hilfe oder reiten wenigstens ergriffen und gefühlvoll vorbei.

   Der moderne Abenteurer Europas hingegen wird der Hochstapler. Es ist bezeichnend, daß Cagliostro keinen geringeren als Friedrich Schiller zu seinem "Geisterseher" anregte, und Friedrich II. bot Casanova eine Erzieherstelle in einem seiner Kadettenhäuser an. In drei Exemplaren erreichte das Abenteuertum seine Gipfel: in Don Juan, dem Abenteurer des Herzens, in Münchhausen, dem Abenteurer der Phantasie, und in Casanova, dem Abenteurer der Wirklichkeit. An ihnen können alle anderen Abenteurergestalten gemessen werden. Bevor



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ihre Maßstäbe auf Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi bezogen werden, sei noch ein Blick auf jene Abenteurertypen geworfen, die die Neue Welt hervorgebracht hat: die Gangster und Westerner.

   Der Gangster gehört zur Großstadt:

   "Die Besonderheit des Gangsters ist seine unablässige nervöse Aktivität. Worin seine Unternehmungen eigentlich genau genommen bestehen, bleibt ungewiß, doch es ist immer klar, daß er ihnen ganz verhaftet ist, um so klarer, als er sich außerhalb des Gebietes nützlicher Tätigkeit bewegt. Er ist ohne Kultur, ohne Manieren bzw. er verbringt seine Mußestunden in einer so gezwungen aggressiven Ausschweifung, daß sie nur wie ein anderer Aspekt seiner 'Arbeit' wirken können. Andererseits ist er von einer gewissen tänzerischen Anmut, wenn er sich inmitten der ihn umdrängenden Großstadtgefahren bewegt112."

   Sein Publikumserfolg beruht darauf, daß er an jenen Teil im Menschen appelliert, der nicht an die normale Verwirklichung von Glück und Vollendung glaubt. "Der Gangster ist das 'Nein' auf jenes große amerikanische 'Ja', das so breit und dick quer über die offizielle Kultur Amerikas gestempelt ist und doch im Grunde so wenig mit dem zu tun hat, was man als das eigentliche Leben empfindet113." Indem der Gangster den Erfolg um jeden Preis erringen will und darüber zugrunde geht, befreit er die Menschen von der Sucht nach dem Erfolg, wenn auch nur für kurze Zeit.

   Anders der Westerner. Er ist ein Mann der Muße. Ob er das Abzeichen eines Sheriffs trägt oder eine Ranch besitzt, er scheint ohne eigentliche Beschäftigung. In der Bar pokert er, in der Prärie sitzt er am einsamen Lagerfeuer. So viele Beschäftigungen dem Westerner offen-



112Robert Warshow, "Helden aus dem Goldenen Westen". In "Der Monat", Nr. 66, März 1954, S. 639.
113Warshow, a. a. O., S. 639.



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stehen [offenstehen], er ergreift sie nie, weil er seinen Lebensunterhalt verdienen müßte, und schon gar nicht, um Erfolg zu haben und vorwärts zu kommen. "Was könnte er auch erreichen wollen? Im Augenblick, da wir ihn kennenlernen, hat er bereits alles: er kann tadellos reiten, angesichts des Todes die Fassung bewahren und seine Pistole um den Bruchteil einer Sekunde schneller ziehen und besser damit treffen als irgendwer, dem er begegnen könnte114." Der Westerner ist jederzeit abrufbereit, wenn Ordnung und Gerechtigkeit seinen Schutz erfordern, denn nur dann kann er seinem Stil gemäß leben: er verteidigt die Reinheit seines Bildes, die Ehre. Entzieht ihm die vordringende Zivilisation den Boden für seine Lebensform, so stirbt er entweder oder er bricht in noch entferntere Gegenden auf. Er bietet dem Publikum ein Bild echten Adels, das, wie der Erfolg zeigt, seine Gültigkeit noch nicht verloren hat.

   Nun kann endlich dargetan werden, in welchem Maße Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi Züge älterer Abenteurer in sich aufgenommen und verschmolzen hat, bzw. die Eigenschaften der Helden aus der Neuen Welt vorwegnimmt, und in welchem Maße er über sie hinaus einen Helden neuen, einzigartigen Stils verkörpert.

   In die Rebellion gegen Gesetz und Gesellschaft reiht er sich nur bedingt ein. Zwar liebt er es, Behörden und Amtspersonen übel mitzuspielen115. Er bricht aus Gefängnissen aus, läßt Dorf- und Kleinstadttyrannen verprügeln, setzt bestechliche oder herzlose Beamte ab.



114Warshow, a. a. O., S. 641.
115Vgl. Forst-Battaglia, a. a. O., S. 61: "Im Grunde sind z. B. die ersten sechs Bände der Reiseerzählungen eine einzige Kette von selbstherrlichen Angriffen gegen die damals im Türkischen Reich bestehenden Gesetze und die mit deren Vollzug betrauten Autoritäten." Vgl. ferner Bd. 11, S. 246; Bd. 24, S. 263 f.; Bd. 25, S. 107 f.



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Doch schon hierzu ist er gewissermaßen legitimiert durch das Bu-djeruldi des Padischah, er wandelt im "Schütze des Großherrn, den Allah segnen möge116", und läßt sich dazu vom Pascha noch das Recht der "Zahnvergütung" und Empfehlungsbriefe verschreiben117.

   Er läßt das Böse nie ohne Strafe: "Auf den Pfaden, die Winnetou und Old Shatterhand reiten, werden keine Niederträchtigkeiten geduldet118!" Der Stamm, der einen Krieg angezettelt hat, muß das Los der Besiegten tragen. Er hindert wohl auch einen Schurken durch Verletzung, weiterhin sein schändliches Handwerk auszuführen. Noch lieber überläßt er die Vergeltung schurkischen Spießgesellen oder der göttlichen Vorsehung. Er ist gegen Selbsthilfe durch Ausführung der Blutrache, durch Abhalten von Präriegerichten. Eher liefert er die Verbrecher der weltlichen Obrigkeit aus, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dabei entspringen. Kann er die Gefährten nicht von Schnellgerichten und Blutrache abhalten, so sucht er wenigstens zu mildern und hält sich bei der Urteilsvollstreckung abseits. Immer wieder tritt er für Gerechtigkeit gegenüber den "wilden" Völkern, Indianer und Neger, ein.

   Das Geschäft des Lügenbarons überläßt er gern einem seiner Gefährten, und Hochstapeleien finden sich, wie schon gezeigt wurde, eher im negativen Sinn, indem er sich lieber unter- als überschätzen läßt. Unverkennbar liegt darin ein Zug maskierter Eitelkeit und spießbürgerlicher Überheblichkeit: der schlichte Reisende wird im Handumdrehen Arzt, Feldherr, Erfinder, Entdecker, Missionar, Friedensstifter, ja geradezu Heiland!



116Bd. 1, S. 179.
117Bd. 1, S. 529.
118Bd. 24, S. 317.



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   Mit Don Juan hat der gereifte Held nichts gemein: neben den Gefahren und Strapazen des Weltläufers ist Liebe belanglos. Genauso wie für den Jugendlichen, der sich erst einmal im reinen Verkehr mit Geschlechtsgleichen die Eigenarten und typischen Kräfte des männlichen Geschlechts durch Gleichklang und Resonanz herausarbeitet, sozusagen erst in Reinkultur entwickelt, ehe der Energiestrom über das weibliche Geschlecht geschlossen wird119. Darin wird vielfach ein Vorzug der May-Lektüre für den reifenden jungen Menschen gesehen120.

   Auch mit dem Gangster hat der Held keine Ähnlichkeit, dafür tragen, wie wir später sehen werden, die Gegenspieler verwandte Züge. Vieles verbindet den Helden mit dem Westerner. Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi ist ebenfalls ein Mann der Muße. Zwar wird er vom Leser meist auf einer Studienreise angetroffen, doch hat er immer Zeit, wenn es gilt, Verbrecher zu verfolgen, Bedrängten beizustehen, Gefangene zu befreien, Verfolgte vor dem Tod zu retten. Dabei vollbringt er seine Heldentaten nicht um irdischen Gewinnes willen. Er weist Schätze der Inkas, den Goldregen unerschöpflicher Bonanzas und die Blankoschecks amerikanischer Milliardäre ebenso von sich wie die Juwelen orientalischer Fürsten121. Winnetou kennt viele Bonanzas, Placers, Finding-holes, aus denen er sich mit Nuggets versorgen kann, so viel und so oft er will, und Winnetou bezahlt dann selbstverständlich für seinen weißen Blutsbruder:



119Vgl. hierzu die Ausführungen bei Spranger, a. a. O., S. 96.
120Vgl. Gurlitt, "Der reifenden Jugend Not und Hilfe", KMJb 1928, S. 466 ff.; Eduard Engel, "Unsinnliche Erzählungskunst", KMJb 1928, S. 474 ff.
121Bd. 7, S. 424; Bd. 9, S. 119; Bd. 24, S. 124; Bd. 27, S. 371.



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   "Aber auch dieses Wort 'bezahlen' hat, wenn es für einen anderen, und sei dieser der beste Freund, geschieht, einen anderen Klang, als wenn man für sich selber bezahlt . . . was er (Winnetou) in seiner Tasche hatte, das waren für mich nicht mehr herrenlose Nuggets, sondern das war sein Gold, sein Geld, und wenn er das für mich ausgab, so hatte ich immer das Gefühl, als dürfe ich nicht mit dabei sein, als müsse ich hinausgehen, um es nicht zu sehen122."

   Deshalb sorgt Old Shatterhand dafür, von Winnetous Nuggets möglichst unabhängig zu sein:

   "Sobald wir nämlich in eine bewohnte Gegend kamen, welche Postverbindung hatte, verwandelte ich mich aus dem Westmanne in den Schriftsteller. Meine Arbeiten wurden von jeder Zeitung gern aufgenommen und meist sofort und gut bezahlt123."

   Obwohl der Held ähnlich dem Westerner im Augenblick, in dem er sich dem Leser zeigt, alles hat, wonach sein Herz verlangt, gibt er doch Hinweise auf seine Entwicklung, schildert den Aufstieg vom armen Studenten zum berühmten Westmann124, spricht von der "strengen Schule des Lebens" und läßt den Leser einige Einblicke tun in den Werdegang Old Shatterhands, in seine Ausbildung durch Sam Hawkens und Winnetou125.

   Old Shatterhand beweist an sich selbst, wie wenig seelische Werte von materiellem Besitz abhängen, er verzichtet auf die herrlichsten Schätze, die er mit Händen greifen kann, zeigt, daß nicht Herkunft und Besitz, sondern die Tüchtigkeit entscheidet. Er hat oft unermeßliche Schätze zu verwalten: Gold, Diamanten, Perlen, kostbare Teppiche, Kleidungen, Waffen, zusammengetragen von harten Geldmenschen, blutgierigen Tyrannen, ihren verbrecherischen Helfershelfern, Schmugg-



122Bd. 24, S. 123.
123Bd. 24, S. 123.
124Bd. 24.
125Bd. 7.



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lern [Schmugglern], Hehlern, Stehlern, Dieben, Räubern und Mördern. Manchmal gestattet er seinen Gefährten, sich davon ein weniges zu nehmen als Entschädigung für ihre Verluste und Strapazen, niemals bereichert er sich selbst. Er hat eine freigebige Hand, zeigt oft die Grenzen der Geldesmacht und den Fluch des Goldes: "Tödlicher Staub!" Nie belastet der Held seine "hierselige Ungebundenheit"126 durch materiellen Besitz. Indem er sein Leben nach eigenem Ermessen gestaltet und sich dem Geschick gleich einem Spielball überläßt, gibt das Auf und Ab seiner Abenteuer ein Spiegelbild der Möglichkeiten jeglichen Seins.

   Dabei ist er überzeugt von der Heilsleitung eines gütigen Gottes: "Wohl dem Menschen, welcher erkennt, daß er zwar selbstbestimmend auf sein Schicksal einzuwirken vermag, daß aber doch eine mächtige Hand ihn immer hält und leitet, selbst dann, wenn er diese Hand von sich zu stoßen vermeint127."

   Eine neue und sehr eigenartige Seite des Helden wird sichtbar: er verbindet sein Abenteuertum mit religiöser Einstellung, mit Christentum. Er umfaßt den Apostel Johannes mit seinem "Kindlein liebet einander", verschmolzen in eine Figur mit "Herkules und auch noch dem unfehlbaren Kunstschützen Lederstrumpf. Wenn Herkules und Lederstrumpf nach der Palme des Sieges greifen, kommt Johannes und reicht ihnen den Öl-



126Ausdruck Gurlitts, a. a. O., S. 106. Vgl. dazu Martin Lowsky, "Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen", JbKMG 1978, S. 111 ff. Schulte-Sasse bemerkt, wie sehr der Mythos vom inneren Reichtum den wirtschaftlichen Enttäuschungen der Kleinbürgerschicht zur Zeit der großen Depression 1873-1896 entsprach (Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit, a. a. O., S. 123 ff.).
127Bd. 5, S. 87; vgl. auch Bd. 2, S. 631; Bd. 3, S. 554; Bd. 5, S. 562; Bd. 7, S. 126, Bd. 9, S. 117, S. 332; Bd. 11, S. 322; Bd. 14, S. 396 ff.; Bd. 18, S. 348 ff.; Bd. 25, S. 87 ff.



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zweig [Ölzweig]128". Sein Mut gegenüber dem anmaßenden Feind ist ebenso groß wie sein Edelmut gegen den geschlagenen. Steht er mit dem Christentum schon dadurch im Einklang, daß er jederzeit bereit ist, dem schwachen oder unglücklichen Nächsten zu helfen, so hebt er sich bedeutungsvoll vom üblichen Heldenformat ab als Herold der Feindesliebe. Wie oft verzichtet er auf die ihm gegebene Macht zu strafen und zu töten und bietet statt dessen Verzeihung und Versöhnung und - oft zum eigenen Schaden - auch dem Verworfensten noch Gelegenheit zur Bekehrung. Zwar bereut er hin und wieder seine Nachsicht und zweifelt am Ende seiner Fahrten, ob er nicht statt christlicher Liebe eine christliche Schwäche befürwortet habe129. Oft wird er mißverstanden und verhöhnt. Selbst viele Leser sind enttäuscht. Die Feindesliebe des Helden bildet hinsichtlich des Erfolges eher einen Verlustposten:

   "Denn es muß leider gesagt werden, daß er uns gerade in diesem Punkte keineswegs vorbildlich erschien, mir und keinem derer, die sich damals mit mir auf dem Kriegspfad befanden, und daß wir seine christliche Langmut und Geduld, seine Milde und Versöhnlichkeit, seine Barmherzigkeit und alle sonstigen schwachmütigen Tugenden als einen, den einzigen Flecken an seinem glänzenden Schild empfanden. Nicht daß wir für grausame Blutbäder und Schindereien gewesen wären, aber wir lehnten aus dem Instinkt der Ungebrochenen und Selbstgerechten jene unaufhörlichen Demütigungen und Erniedrigungen ab, die wir den Mann, den wir verehrten, sich selbst bereiten sahen130."



128August Niemann, "Das Rätsel Karl May", KMJb 1920, S. 493. An neueren Beiträgen zur Frage des Christentums bei Karl May seien genannt: Klußmeier, "Das 'katholische Mäntelchen'", 2 Teile, MgKMG 25 u. 26/75; Maschke, "Ave Maria Protectrix", MgKMG 34/77; Schönthal, "Christliche Religionen und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk", KMG Sonderheft 1976.
129In den Bänden 28 u. 31.
130Dr. K. H. Strobl, "Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 226.



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   Der Held bezeugt sein Christentum nie aufdringlich, er verleugnet es auch nie, selbst dann nicht, wenn es die Klugheit geböte. Mehr als durch Worte predigt er durch Taten:

   "Du brachtest keine Lehren; du sagtest keine Worte, aber du sprachst in Taten. Du lebtest ein Leben, welches eine hinreißende, eine überzeugende Predigt deines Glaubens war. Wir waren deine Begleiter und lebten also dieses Leben mit. Der Inhalt des deinigen war Liebe, nichts als Liebe. Wir lernten diese Liebe kennen und liebten zugleich auch dich. Wir konnten nicht von dir lassen und dadurch auch nicht von ihr. Sie wurde größer und immer mächtiger in uns; sie umfaßte nicht bloß dich, sondern nach und nach auch alle, mit denen wir in Berührung kamen. Jetzt umfängt diese unsere Liebe die ganze Erde und alle Menschen, die auf ihr wohnen131."

   Kara Ben Nemsi selbst gesteht der ehrwürdigen Königin Marah Durimeh den letzten Sinn seiner Abenteuerfahrten:

    "Wer in der Wüste schmachtet, der lernt den Wert des Tropfens erkennen, der dem Dürstenden das Leben rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der Sorge lastete, ohne daß eine Hand sich helfend ihm entgegenstreckte, der weiß, wie köstlich die Liebe ist, nach der er sich vergeblich sehnte. Und doch ist mein ganzes Herz erfüllt von dem, was ich nicht fand, von jener Liebe, die den Sohn des Vaters auf die Erde trieb, um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, daß alle Menschen Brüder sind und Kinder eines Vaters. Und wie der Heiland aus den Höhen, wohin kein Sterblicher dringen kann, auf die kleine Erde niederstieg, so gehen nun seine Boten hinaus in alle Welt, um das Evangelium zu verkünden allen denen, die noch in Finsternis wandeln . . . ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir verliehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und zu predigen, nicht durch das Wort, sondern dadurch, daß ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich war in Ländern und bei Völkern, deren Namen du nicht kennst; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und schwarz gefärbten



131Omar Ben Sadek zu Kara Ben Nemsi, Bd. 25, S. 89.



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Menschen; ich war Gast von Christen, Moslemin und Heiden. Bei ihnen allen habe ich Liebe und Barmherzigkeit gesät. Ich ging wieder fort und war reich belohnt, wenn es hinter mir erklang: 'Dieser Fremdling konnte und wußte mehr als wir und war doch unser Bruder; er ehrte unseren Gott und liebte uns. Wir werden ihn nie vergessen; denn er war ein guter Mensch, ein wackerer Gefährte; er war ein Christ.' Auf solche Weise verkünde ich meinen Glauben. Und sollte ich auch nur einen einzigen Menschen finden, der diesen Glauben achten und vielleicht gar lieben lernt, so ist mein Tagewerk nicht umsonst getan, und ich will irgendwo auf dieser Erde mich von meiner Wanderung gern zur Ruhe legen132."

   Wir haben bisher die körperlichen und geistigen Vorzüge des Helden, seine schelmischen, abenteuerlichen und ethisch-christlichen Charakterzüge mit den Bedürfnissen der Leser in Verbindung gebracht. Wir lernten Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi kennen als die Verkörperung des "Übermenschen" des kleinen Mannes: fromm und stark, kühn und verwegen, hart und edel, nahezu allwissend, fast unfehlbar, jeden Gegner durchschauend, jedem Angreifer zuvorkommend in überlegener List oder ihn blitzartig erledigend mit dem berühmten Jagdhieb, unsichtbar als Meister im Anschleichen und Belauschen, Entfesselungskünstler, Zauberer und Arzt, Herr jeder Situation, unfaßbar und schier allgegenwärtig, Besitzer "Rihs", des schnellsten aller Pferde, und des nie fehlenden Henrystutzens. Nicht jeder liebt ihn, er hat viele Feinde133.

   Aber: Ist der Held wirklich ein solches Muster an Heldenhaftigkeit und Tugend? Oft beginnt sein Bild zu



132Bd. 2, S. 633 f.
133Aus der Fülle der Gegner-Stimmen ein Beispiel: Dr. O. Karstedt, "Preußische Lehrerzeitung" v. 11.9.1930: "Der Sinn fürs Heldische wird hier betrogen. Kein Held, sondern eine Abenteuermaschine, geschützt gegen alle Kugeln, Dolche, Schiffbrüche! Kein Mensch, sondern eine hohle, riesengroße Hülse zur Aufnahme von Wundern in Tat und Scharfsinn."



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schillern, es zeigen sich Fehler und Inkonsequenzen. Der Übermensch wird menschlich, oft allzu menschlich, er steigt zu den Lesern herab.

   Er steht im Rufe niemals zu lügen: "Old Shatterhand ist das gefährlichste der Bleichgesichter und mein ärgster Feind; aber er hat nie mit zwei Zungen gesprochen134." Und er lügt doch: "Wir logen eben beide einander herzhaft an135", "'Von Chartum', antwortete ich, gezwungen, die Unwahrheit zu sagen136". "'Ich hatte zwei Messer mit', log ich"137.

   Diese und ähnliche Stellen sind durch die mißliche Lage bedingt, in die der Held geraten ist. Kara Ben Nemsi weiß sich auch zu entschuldigen:

   "Jetzt muß ich gestehen, daß die Umstände mich zwangen, mich leider auf die Lüge zu verlegen; man wird mich damit entschuldigen, daß es geradezu Wahnsinn gewesen wäre, die Wahrheit zu sagen. Ich gehöre übrigens zu den Menschen, welche zwischen Lüge und Unwahrheit ebenso einen Unterschied machen, wie zwischen List und Hinterlist138."

   An anderer Stelle behauptet er jedoch, nichts in der Welt könne die Lüge rechtfertigen:

   "Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte . . . Die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit (!) gesagt hätte . . . Es gibt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden139."

   Wie oft wettert der Held gegen die Zufallgläubigen140



134Bd. 9, S. 547; vgl. auch Bd. 18, S. 429.
135Bd. 6, S. 215; vgl. hierzu Dr. Adolf Droop, "Karl May", Köln-Weiden, 1909, S. 71 f.
136Bd. 17, S. 119.
137Bd. 17, S. 549; vgl. ferner Bd. 10, S. 448; Bd. 16, S. 325; Bd. 25, S. 480.
138Bd. 18, S. 505.
139Bd. 28, S. 375 f.
140Bd. 4, S. 461; Bd. 9, S. 117; Bd. 18, S. 377 ff.; Bd. 23, S. 324; Bd. 24, S. 271; Bd. 26, S. 267, S. 545; Bd. 30, S. 144 f.



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und gebraucht selbst dieses verfehmte Wort bei zahllosen Gelegenheiten, z.B.: "Daß der Barbier aus Jüterbogk diesen Mann kannte, war ein ganz staunenswerter Zufall141."

   Der Held schont ängstlich das Leben seiner ärgsten Feinde142, knallt aber doch gar manchen nieder, der ihm im Wege ist, oder erzählt ruhig, wie andere die größten Grausamkeiten vollführen143, er quält seine Mitmenschen auch wohl selbst und denkt sich nichts dabei144. Oder der "Herold der Feindesliebe" wandelt auf den Pfaden des Rächers:

   "Nun verfolgten wir sie, weil wir die Verbrannten noch zu rächen hatten. Der vierfache Mord schrie zum Himmel auf; er mußte gerächt werden, und wir haben ihn gerächt. Vier hatten wir schon erschossen; am folgenden Tag gab es andere vier; einen Tag später wieder drei", bis Winnetou und Old Shatterhand es auf dreizehn gebracht haben145!

   Des öfteren macht der Unfehlbare Fehler und Dummheiten:

   "Ich habe Halef wegen seiner Unvorsichtigkeit ausgezankt, jetzt war ich selbst viel dümmer gewesen; ich war in eine außerordentlich plumpe Falle gerannt146."



141Bd. 1, S. 159; ferner Bd. 1, S. 300; Bd. 2, S. 90, S. 203, S. 496; Bd. 3, S. 96, S. 458, S. 634; Bd. 4, S. 314, S. 348, S. 539; Bd. 5, S. 439; Bd. 6, S. 115, S. 322; Bd. 7, S. 23, S. 226, S. 439, S. 542, S. 599, S. 602, S. 610; Bd. 11, S. 553, S. 571; Bd. 30, S. 5.
142Bd. 2, S. 155; Bd. 16, S. 280, S. 499, S. 504, S. 550; Bd. 17, S. 182, S. 327, S. 414, S. 418; Bd. 18, S. 211, S. 410; Bd. 20, S. 109, S. 142, S. 467; Bd. 21, S. 21, S. 278, S. 500, S. 534; Bd. 22, S. 32, S. 33, S. 83, S. 380, S. 416.
143Bd. 5, S. 273 ff.; Bd. 7, S. 284; Bd. 8, S. 450, S. 481, S. 490, S. 496, S. 542, S. 546; Bd. 9, S. 40; Bd. 10, S. 106, S. 125, S. 152; Bd. 17, S. 187 ff.; Bd. 20, S. 102; Bd. 23, S. 100, S. 106, S. 142, S. 189; Bd. 24, S. 605; Bd. 27, S. 339. Vgl. auch Bd. 16, S. 464 f.
144Vgl. Bd. 13, S. 320 ff.
145Bd. 22, S. 89 ff.; vgl. auch Bd. 9, S. 503, S. 627.
146Bd. 3, S. 605; vgl. auch Bd. 4, S. 165; Bd. 5, S. 266; Bd. 8, S. 29 f.; Bd. 9, S. 60, S. 512; Bd. 12, S. 96; Bd. 13, S. 144, S. 372 f., S. 557; Bd. 14, S. 183; Bd. 15, S. 624; Bd. 18, S. 256 ff.; Bd. 19, S. 177 f.; Bd. 21, S. 389; Bd. 22, S. 239; S. 306; Bd. 24, S. 271; Bd. 27, S. 210, S. 238, S. 241.



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   Manchmal wird der Held auch vom Scharfsinn im Stich gelassen147.

   Daß sich diese Ungereimtheiten im Charakter des Helden zumeist ergeben, weil sie der Autor zum Fortspinnen der Fabel braucht, tut vom Standpunkt des Lesers aus nichts zur Sache. Er fühlt sich vielmehr geschmeichelt, wenn sich der göttergleiche Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi herabläßt, sich zu ihm aufs Kanapee zu setzen samt seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Oft kann sich der Leser dem Helden sogar überlegen fühlen.

   Schon daß Old Shatterhand von all seinen Fahrten immer wieder nach Deutschland, ins Sächsische, zurückkehrt, daß ihn all seine außergewöhnlichen Abenteuer der Heimat nicht zu entfremden vermochten, gibt dem Leser wohlige Bestätigung der eigenen, gemütlichen Existenz. Und nun gar, wenn am Helden auch im wilden Westen spießbürgerliche Züge sichtbar werden! So, wenn er sich nach befriedigendem Abschluß der Feindseligkeiten neben Winnetou niederläßt, "um etwas zu essen und einige Schlucke Wein zu trinken148". Auch "Im Lande des Mahdi" läßt sich Kara Ben Nemsi gleich mit einigen Flaschen bewirten149. Oder er preist das gute deutsche Bier und hält eine Zigarre in der Linken, an der er "einen kräftigen Zug tat, um den Rauch mit sichtlichem Behagen von sich zu blasen150". Patsch bemerkt hierzu: "Ganz wie der Dichter bei der Ar-



147Bd. 3, S. 36; Bd. 6, S. 456; Bd. 12, S. 184; Bd. 13, S. 27; Bd. 20, S. 83, S. 177, S. 397.
148Bd. 21, S. 118.
149Bd. 17, S. 235.
150"Der Sohn des Bärenjägers", Urausgabe, S. 56.



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beit [Arbeit]151!" Und man könnte hinzufügen: Ganz, wie viele Leser bei der Lektüre!

   Mays Lieblingsgericht, Brathuhn mit Reis, erscheint mehrmals152, auch die Vorliebe des Helden für Pflaumen wird vermerkt153. Selbstverständlich trägt der Held einen Bart, mit dem man einstmals den Inbegriff männlicher Schönheit, Gelehrsamkeit, Männlichkeit und Forschheit verband. Wie freundlich mußte es den Leser berühren, wenn der Held sein Draufgängertum durch Schalkhaftigkeit zu mildern beliebte! So trägt die Herablassung des Helden wesentlich bei zu seinem Erfolg beim Publikum.

   Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen! Es wurde gezeigt, wie der Held in ständiger Wechselwirkung von Leser, Verleger und Wunschtraum des Autors heranreifte, die erfolgtragenden Eigenschaften anderer Abenteuergestalten in sich aufnahm und verschmolz, bis er sich dem Publikum mit seinen vorbildlichen Tugenden darbot, wie Scharfsinn, Geistesgegenwart, Voraussicht, Körperkraft und Gewandtheit, Ausdauer und nie versagender Hoffnungsmut, Tapferkeit, Edel- und Christensinn, Milde gegen die Feinde, Fürsorge gegen die Freunde, Schalkhaftigkeit, Tierliebe, Fähigkeit zur Freundschaft und einen Lebenswandel ohne die sklavische Abhängigkeit vom Erotischen und Weiblichen.

   Neben diesen übermenschlich anmutenden Eigenschaften versichert sich der Held durch seine widersprechenden und spießbürgerlichen Charakterzüge des Ge-



151Patsch, "Spiegelungen", S. 42. Vgl. Anton Haider, "Karl Friedrich May - Grundriß einer Biographie nach den 'literarischen Spiegelungen'". KMJb 1978, S. 21 ff.
152Bd. 4, S. 483; Bd. 5, S. 176; Bd. 6, S. 81.
153Bd. 28, S. 345 f.



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fühles [Gefühles] der Leser, trotz aller Vorzüglichkeiten einer der ihren zu sein.

   In Vorbild und Gleichsetzung entsprach und entspricht er den Bedürfnissen des Publikums nach Ergänzung und Erhebung des Ich, wie es die zeitbedingten, entwicklungsgesetzlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Drangzustände der Leser verlangen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird gezeigt, wie geschickt der Autor seinen Helden mit Kulissen und Personen umgibt, um dessen erfolgtragende Eigenschaften voll zur Geltung zu bringen.




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