Walther Ilmer: Einführung zum Reprint "Krüger Bei" Karl May

Krüger Bei

Die Jagd auf den Millionendieb

1980 REPRINT DER KARL-MAY-GESELLSCHAFT UND DER BUCHHANDLUNG PUSTET, REGENSBURG

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Einführung

von Walther Ilmer, Bonn

I. Winnetou in Afrika! Diese Sensation im Werke Karl Mays birgt heute noch den gleichen Reiz, wie kurz vor der Jahreswende 1894/95, als staunende Leser ihr erstmals in den Seiten der Wochenzeitschrift "Deutscher Hausschatz in Wort und Bild" (DH) begegneten. Sie kam in der Tat als Vorweihnachts-Überraschung - aber nicht nach dem Willen Karl Mays. Der Autor wollte sie etwa zu Pfingsten 1895, als großen 'Knüller' in der branchenüblich so genannten 'Saure-Gurken-Zeit', servieren; im Spätherbst 1894 und im Winter sollten die Leser termingerecht "etwa vierzehn Tage vor Weihnachten" (May) den Ich-Erzähler im Erzgebirge begleiten. Doch vor die Wanderung durch verschneite Wälder und die Begegnung des Erzählers mit seinem Schicksal, der "Frau aus der Heimath", hatten neidische Mächte den Hausschatz-Redakteur Heinrich Keiter gesetzt. Diesem war Winnetou in Afrika viel wichtiger als heimatliche Reminiszenzen seines Reiseschriftstellers, und er legte die ersten 400 Manuskriptseiten brüsk beiseite. Ihr Text - von May wohl auf etwa 19 Hausschatz-Nummern berechnet - fehlt naturgemäß auch in dem hier vorgelegten Faksimile-Reprint.(1)

Der Inhalt dieses Reprints - "Krüger Bei" und "Die Jagd auf den Millionendieb" - bildet den Mittelteil und den Schlußteil einer Trilogie, die mit "Die Felsenburg"(2) beginnt und die in der Buchausgabe des Verlages Friedrich Ernst Fehsenfeld, Freiburg/ Br., 1897, den Sammeltitel "Satan und Ischariot" (I, II, III) erhielt.(3)

II. "Krüger Bei" wurde - im Gegensatz zur voraufgegangenen Reiseerzählung "Die Felsenburg" - ausdrücklich als "Reise-Roman des beliebten und bekannten Erzählers Dr. Karl May" angekündigt(4) und dann auch als Reise-Roman in den Nummern 1 bis 33 des XXI. Jahrgangs des Deutschen Hausschatz (DH 21) abgedruckt. Während die 52 Nummern dieses Jahrgangs den Zeitraum von Oktober 1894 bis Oktober 1895 umfassen, endete "Krüger Bei" bereits im Mai 1895; die restlichen 19 Nummern des DH 21 enthielten keinen May-Text mehr. Dieser für Karl May wahrlich kurze "Roman" umfaßt die Seiten 201 bis 540 des Fehsenfeld-Bandes "Satan und Ischariot II". Jede der 33 Hausschatz-Nummern enthielt also im Durchschnitt 10 bis 11 Buchseiten.

Der Hausschatz-Text schließt in Nr. 33 auf Seite 520 mit dem Satz: "Nun begann für uns die Jagd auf den Millionendieb, die ich in einem weiteren Roman erzählen werde".(5) Und daran schließt sich in Klammern die Bemerkung der Redaktion: "Die Handschrift dieses ... Romans ... liegt uns bereits vollständig vor; ... der Abdruck (wird) sich durch den ganzen nächsten Jahrgang ziehen."(6) Es blieb Redaktionsgeheimnis, warum der Abdruck des vollständig vorliegenden Manuskriptes nicht sofort, ab Nr. 34 im 21. Jahrgang, begann...

Der Erstabdruck der später 615 Fehsenfeld-Buchseiten umfassenden Reiseerzählung "Die Jagd auf den Millionendieb" erfolgte in den Nummern 1 bis 46 des XXII. Hausschatz-Jahrgangs (DH 22), von Oktober 1895 bis August 1896. Die Redaktion verteilte den Text also nicht auf den ganzen Jahrgang, sondern brachte durchschnittlich 13,4 (spätere) Buchseiten je Nummer (anfangs mehr, später weniger) und ließ die Leser in den letzten sechs Nummern des Jahrgangs vergebens auf "ihren" May warten. Das durfte sie ihnen aber wohl auch zumuten, denn mit der "Millionendieb"-Geschichte hatte Karl May seinem Lesepublikum nun wirklich aufwühlende Unterhaltung beschert; über der daraus resultierenden Zufriedenheit ließ sich das 'vorzeitige' Ende gewiß verschmerzen.

III. Karl May hat ab 1881 eigentlich fast nur noch Bemerkenswertes geschaffen. Die dreibändige Erzählung "Satan und Ischariot" aber nimmt auch innerhalb des Bemerkenswerten noch eine Sonderstellung ein.

Die Handlung dient - wie könnte es bei Karl May anders sein - der Ergreifung und dem Unschädlichmachen einiger ausgefeimter Spitzbuben und führt den Leser in einer Kette rasanter Abenteuer von Mexiko über Deutschland nach Kairo und Tunis und in den "Wilden Westen". Heinz Neumann, KMG, schreibt dazu(7): "Mit... der Handlungsgestaltung, den geographischen Räumen, ihren Motivkomplexen und dem Umfang geriet May in bedenkliche Nähe des ungewöhnlichsten aller seiner einstigen Modelle ... 'Das Waldröschen'."(8) Und fährt fort: "Mit 'Satan und Ischariot' hat May die paradigmatische Form der eigentlichen Reiseerzählung zerbrochen."(9) Man mag Heinz Neumann darin folgen. Man mag anderseits auch fragen, ob der Rahmen einer Reiseerzählung wesentlich durch Staats- oder Kontinentgrenzen abgesteckt wird, mag darüber streiten, ob der Begriff Reiseerzählung durch eine Mischung von Motivkomplexen innerhalb der Handlung strapaziert wird und welcher Umfang nicht überschritten werden darf. Karl May hätte natürlich - so läßt sich fraglos argumentieren - rein formal das Paradigma mit Leichtigkeit wahren können, indem er in "Die Felsenburg" jeden Hinweis auf künftiges Geschehen (Brief Jonathan Meltons; Judith als vornehme Dame) unterließ und so das Merkmal eines in sich abgeschlossenen Ganzen betonte. Es gab viele Möglichkeiten, den Erzähler zu einem späteren Zeitpunkt auf irgendeine Weise Kenntnis erhalten zu lassen von der neuen Identität des früher einmal durch Old Shatterhand verfolgten Thomas Melton und von der Schurkerei, die dieser und sein Sohn gegen Small Hunter planten; dabei auf das zurückliegende "Felsenburg"-Abenteuer so nebenher hinzuweisen, wäre völlig legitim gewesen. Doch Karl May hat es eben nicht getan. Er war nicht ängstlich darauf bedacht, die von ihm geschaffene Art der Reiseerzählung exakten formalen Kriterien zu unterwerfen. Über literarische 'Normen' hat er sich oft genug mit Erfolg hinweggesetzt; und dem Wert seines Werkes hat das nicht geschadet. Er ist einzigartig im deutschen Schrifttum und hat Anspruch darauf, nicht mit der allgemein üblichen Elle gemessen zu werden.

So insbesondere bei der hier behandelten Trilogie. Sie bezieht ihre Sonderstellung weniger aus der von Anfang bis Ende ungemein fesselnden Handlung(10), deren Spannungsgehalt von Karl May in keinem anderen Werk überboten wird(11), sondern aus der Schonungslosigkeit, mit der Karl May sich hier in seiner ganzen weltumfassenden Wunschrolle etabliert - ohne die Möglichkeit eines Rückzuges. Mit "Satan und Ischariot" war innerhalb des Gesamtschaffens der Punkt erreicht, an dem Karl May mittels einer genialen tour de force, in kühn zupackendem Griff in die Speichen des Schicksals, seine persönliche Realwelt mit seiner ungewöhnlichen Phantasiewelt vereinte und verschmolz, die drei Pfeiler seiner nach außen und innen behaupteten Existenz sinnfällig als Einheit darbot und sich den nötigen Mut und Schwung verlieh, um vor sich selbst und vor dem breiten Publikum den Boden vorzubereiten für sein Auftreten als Old Shatterhand und als Kara Ben Nemsi in der Öffentlichkeit...(12)

Das Besondere an "Satan und Ischariot" - exemplifiziert in "Krüger Bei" - ist eben, daß verhaltene Identitäts-Andeutungen früherer Zeiten hier zugunsten offener Bekenntnisse aufgegeben werden: Der Autor-und-Erzähler ist ein renommierter Schriftsteller aus Sachsen, war zeitweilig Redakteur, kennt entlegene Örtlichkeiten im Erzgebirge ebenso wie Teile Südamerikas, vereint in seiner Person die deutschen Helden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi (er tritt in ein und derselben Erzählung in beiden Rollen auf!), und er heißt wahrhaft und unverblümt "May".(13) (An anderer Stelle 'kaschiert' er das sehr gekonnt, aus der Situation heraus, mit einer seiner famosesten Großtaten: "wie einer von den zwölf Monaten - März." - DH 22, 42 li; F 22, 35; hier unwesentlich geändert.)

Er ist ein studierter Mann mit Doktortitel, pflegt vertrauten Umgang mit Gelehrten und wird von ihnen als gleichrangig behandelt. Dies allerdings, ebenso wie mancherlei über des Autors beträchtliche theoretische und praktische Kenntnisse im Bereich der Musik, erfährt der Leser eben in jenem Deutschland-Teil, den die Hausschatz-Redaktion damals nicht in ihre Spalten aufnahm.(14)

Karl May bekennt sich gleichermaßen zur Wahrheit wie zur offenen Lüge: Er bezeichnet Dresden als seinen Wohnort, was nicht wenige seiner Zeitgenossen bestätigen konnten, aber für Winnetous Auftreten in Dresden (!), das die Personalunion Autor/Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi unterstreicht, gab es in der

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Realwelt keinen einzigen Zeugen, wiewohl doch ein ganzer Gesangverein den Apatschen gesehen hatte! (DH 21, 55r, 56; F 21, 248 - 250)

IV. Die Gesamthandlung der Trilogie umfaßt einen Zeitraum von mehreren Jahren und wird von May nicht chronologisch, sondern mit Rückblenden dargeboten. Den Ausgangspunkt bildet die Bekanntschaft des Erzählers mit Frau Jäger und der Familie Vogel, also die im hier vorliegenden Reprintband fehlende Heimat-Episode. Bei der Niederschrift jener Romanze der reinherzigen und künstlerisch veranlagten Martha Vogel mit dem Erzähler(17) entstand das Bild jener Emma, die dem von Sehnsucht nach Liebe erfüllten Karl May als ideale Ehefrau vorgeschwebt hatte. Durch Keiters Streichungen wurde die innere Ausgewogenheit des Werkes empfindlich gestört: Der in Rückblende vorgenommenen Erzählung Konrad Werners - die für den Gang der Haupthandlung nicht wesentlich ist und die schadlos hätte gerafft werden dürfen - wird breiter Raum gelassen (DH 21, 11, 12, 13, 14, 23, 24, 26); die ungleich wichtigere Schilderung der Bekanntschaft des Erzählers mit der Familie Vogel, die ja das ganze folgende Geschehen überhaupt erst möglich macht, wird auf wenige Zeilen zusammengedrängt (DH 21, 27). über dieses krasse Mißverhältnis zwischen relevanter und irrelevanter Textmenge mußten schon damals die Hausschatz-Leser stolpern. Dabei aber war Heinrich Keiter recht inkonsequent vorgegangen: Er ließ unbedacht Textstellen unverändert, die nur im Lichte der zwischen Old Shatterhand und Martha Vogel schwebenden Romanze Sinn und Berechtigung haben und nun im DH deplaziert wirkten, weil sie des Zusammenhangs mit dem Früheren beraubt waren. Der über Heinrich Keiter verärgerte Karl May hat dann aber für die Buchausgabe nicht seinen eigenen Originaltext an Fehsenfeld geschickt, sondern eine neue Zusammenfassung geschrieben (F 21, 226 bis 230)(19).

Zwischen den einzelnen Handlungsteilen der Trilogie unternimmt der Erzähler u.a. Reisen nach Südamerika oder in den Orient oder übt seine dem Broterwerb dienende schriftstellerische Tätigkeit aus. Mit genauen Zeitangaben wartet May nicht auf, trotz der trügerisch zahlreichen Einsprengsel in "Krüger Bei" (DH 21, 38 r, 55 r, 58 r, 59; F 21, 81, 231, 232, 247). Einiges Nachrechnen belehrt, daß Small Hunter und sein Doppelgänger etwa zweieinhalb Jahre unterwegs gewesen sein müssen, bevor der Millionenerbe an Thomas Meltons Kugel starb. Und während eines Teils dieser Zeit lauerte Harry Melton im Büro des Anwalts Fred Murphy auf den rechten Augenblick, um Bruder Thomas und Neffen Jonathan zu benachrichtigen (DH 22, 14 r; F 22, 17). Der große Millionen-Coup der drei Meltons ist allerdings auch ihr Verhängnis: Das durch Unrecht erworbene Gut bringt ihnen Verderben. Auf Old Shatterhands Integrität allerdings hat der zeitweilige Besitz der Dollarmillionen keinerlei Einfluß...

V. Die Lebensmaximen Karl Mays begegnen dem Leser auf Schritt und Tritt. Demütige Anerkennung einer höheren Macht ("Wenn der Mensch nur nicht meinen wollte, er könne auch nur für den nächsten Tag bestimmen! Nicht einmal für die nächste Stunde!" - DH 22, 91 r; F 22, 92) und daraus gefolgerte Nutzanwendung ("Da man ... nicht eine Stunde weit in die Zukunft blicken kann, ist es besser, man sieht sich vor." - DH 22, 634 li; F 22, 538), Ehrfurcht vor dem Alter ("Bei den Beduinen wird einer Dschemma die größte Ehrerbietung erwiesen, und mancher junge Civilisations-Fant könnte von diesen ungebildeten Leuten lernen, wie man das Alter zu achten und zu ehren hat." - DH 21, 346 li; F 21, 445), Liebesbereitschaft ("es ist kein Geschöpf Gottes ... so schwach, gering und klein, daß man seine Liebe von sich weisen darf". - DH 21, 395 r; F 21, 474)(22), menschliche Güte und Dankbarkeit ("Mit wie wenigem man doch einen Menschen glücklich machen kann! Und wie reich sich oft ein einziges freundliches Wort belohnt!" - DH 22, 188 r; F 22, 174), Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene gute Sache ("Der Gerechte ist zuletzt immer klüger als der Ungerechte." - DH 21, 155 r; F 21, 325. - "Dem Mutigen lacht der Erfolg ..." - DH 22, 635 li; F 22, 542. - "Man thut, was klug ist." - DH 22, 267 r; F 22, 242. - "Ein Mann muß alles können, was er will; er darf es aber nur dann thun, wenn es gut und nützlich ist." - DH 21, 108 r; F 21, 293), Ermunterung zur Selbstdisziplin ("Der Geist hat ... auch die Nase in seiner Gewalt." - DH 22, 584 r; F 22, 502), zum Optimismus ("Du hast eben die Eigenschaft, allem Schlechten eine gute Seite abzugewinnen." - DH 22, 123 r; F 22, 118) und zur vernunftmäßigen Bewältigung von Schwierigkeiten ("Wir sind gefangen und wollen wieder loskommen. Durch Vorwürfe aber erlangen wir die Freiheit keineswegs." - DH 22, 122 li; F 22, 112. - "Es gibt auch eine Courage, die ihren Grund in der Unkenntnis der Verhältnisse und Gefahren hat, denen man entgegengeht." - DH 22, 171 r; F 22, 165) gehen Hand in Hand mit der Betonung deutscher Vorzüge ("Ein Almani oder Nemsi ist keines Menschen Feind; wir lieben den Frieden und halten Allahs Gebote." - DH 21, 182 r; F 21, 340. - "Ein Germani (sic!) flieht nicht so schnell vor solchen Leuten." - DH 21, 183 li; F 21, 344) wie auch mit dem Auffunkeln unerwarteten Humors ("Ich bin so sicher wie ein eingeschriebener Brief im Postbeutel." - DH 22, 407 r; F 22, 409). Und auch die Dämpfung der geliebten Prahlsucht ("wenn ich auch nur sowenig wie möglich mich dabei in Erwähnung gebracht hatte -" - DH 22, 26 r; F 22, 22. - "Natürlich drängte es mich, dabei die Thätigkeit Winnetous und des Englishman hervorzuheben." - DH 22, 155 r; F 22, 152. - "Sir Emery und Winnetou ... haben alles Lob verdient." - DH 22, 168 li; F 22, 152. - Herabspielen der in der Gefangennahme der

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sechzehn Uelad Ayun erbrachten Leistung, DH 21, 216 li; F 21, 360) wechselt wieder mit halb kritisch-ironischer, halb ernster Einschätzung des Ich: " ... obwohl ich zugebe und auch schon oft bewiesen habe, daß Old Shatterhand noch mit ganz anderen Verhältnissen, als die heutigen sind, und auch mit ganz anderen Menschen, als Ihr seid, fertig geworden ist." (DH 21, 282 li; F 21, 401.) Der Tausendsassa bleibt sich stets selbst treu: Er ist bescheiden und giert doch nach Anerkennung. Am Ende nämlich triumphiert die überschäumende Lust am eigenen Können, entlädt sich alle aufgestaute Selbstlosigkeit in einem dreimaligen Akt unheldischer Protzerei, schlägt Old Shatterhand alias Karl May Feind und Freund deren Inferiorität um die Ohren: Er kann es nicht lassen, vor dem wehrlosen Jonathan Melton, der das Geld vernichtet wähnt, mit eben diesem Gelde zu prunken; er verhöhnt Thomas Melton damit; und er macht Franz Vogel hochfahrend klar, daß dieser kaum der bessere Hüter des Schatzes ist als Mr. Omnipotent Old Shatterhand.(23) Der arme Proletarier(24) demonstriert Größe und Nichtigkeit des beharrlich Gerechten. Die trügerische Plattform für das großsprecherische Auftreten in der Öffentlichkeit ist gezimmert.

VI. "Krüger Bei" und "Die Jagd auf den Millionendieb" wirken wie im Traume, unter freudig ertragener Anspannung, verfaßt. Genau so flüssig und engagiert geschrieben wie "Die Felsenburg", rangieren sie als fesselnde Lektüre, als erregendes Leseabenteuer weit oben in Mays Gesamtwerk: Von Anfang bis Schluß durchgehaltene innere Dichte; trotz häufig wechselnder Schauplätze gewahrte innere Geschlossenheit; eigenartig rastloses Dahinpreschen der Handlung.(26) Kennzeichnend für die fast verzehrende Hast, in der die Ereignisse in Afrika und dann in Amerika sich abspielen - und die zu verdecken Karl May sich kaum bemüht -, ist die Reflexion: "Nie vergeht die Zeit schneller als dann, wenn man sie am nötigsten hat." (DH 21, 474 r; F 21, 518) Das Hinschreiben, das Bewältigen des Stoffes geht dem Autor nicht schnell genug. Er möchte viel mehr zu Papier bringen, viel breiter, viel gelassen-getragener schreiben, aber die Zeit drängt, und das Thema fordert eine straffe, feste Handhabung. Und so gelingt ihm eine verblüffende schriftstellerische Leistung von suggestiv bezwingender Wirkung. Die dem Werk innewohnende merkwürdige Stimmung, die unmittelbar auf die Leserpsyche durchschlägt, resultiert aus der naiven Kunst des Autors, kontinuierlich abrollende Traumbilder - notdürftig mit exotischem Flitter umhängt - abrollen zu lassen, die ihren Ursprung in tatsächlichen Begebenheiten hatten. Die Geschichte wirkt beklemmend wahr. Dabei bezieht sie ihren Spannungsgehalt und ihren Nachhall im Leserherzen nicht aus der vordergründigen Jagd auf die drei Meltons und überhaupt nicht aus dem an der Oberfläche sichtbaren Geschehen. Das Treiben der Meltons ist nur das Girlandenwerk, das sich um die wahren Handlungsträger und die wahren Geschehenselemente rankt: Winnetou und Old Shatterhand, die einander verherrlichen und einander auch erstaunlich kritisieren, und Judith Silberstein, die eigentliche, ebenbürtige Gegnerin, die Vater und Sohn Melton vielfach überlegen ist, und das seltsame Haß-Liebe-Verhältnis, das den Ich-Erzähler und die schöne gewissenlose Frau verbindet...

VII. Von den männlichen Verbrechern hat nur Harry Melton (in "Die Felsenburg") die gleiche weitragende Dimension wie Judith; die beiden anderen Meltons beziehen ihre Bedeutung hauptsächlich aus den Wirkungen, die Harry und Judith ausüben...

Der Adressat des Ausspruchs, daß "Old Shatterhand noch ... mit ganz anderen Menschen... fertig geworden ist" (DH 21, 282 li; F 21, 401), Thomas Melton, der Renegat - und "Ischariot" des späteren Buchtitels "Satan und Ischariot" -, schon in "Die Felsenburg" als verworfen gezeichnet, erweist sich als ein nur von den niedersten Trieben beherrschter brutaler Schurke ohne einen Funken menschlichen Anstands (DH 22, 524 r; 526 li; F22, 452-453: Jonathan über seinen Vater; DH 22, 728 li; F 22, 610: desgl.; DH 22, 696 r; F 22, 587: Old Shatterhand über Thomas Melton). Es leuchtet nicht ein, daß dieser Mann in seiner selbstgewählten Rolle als tunesischer Offizier tapfer, aufrecht und beliebt gewesen sein soll und Krüger Beis ganzes Vertrauen besaß. (Übrigens hätte ein so geriebener Lump, um im neuen Lebenskreis nicht anzuecken, gewiß keinen verdachterregenden Namen gewählt. Insofern handelte Karl May sehr oberflächlich, indem er dem "Kolarasi" einen Namen beilegte, den alle Tunesier akzeptierten und den nur Kara Ben Nemsi sofort als unecht bezeichnete!) Im Ausgleich für den faux pas sorgt May aber dann, erzähltechnisch sehr gewandt, dafür, daß der Schuft sich durch sein eigenes verräterisches Verhalten vor Krüger Bei selbst entlarvt und Kara Ben Nemsi ihn gar nicht erst überführen muß. Der ungemilderten Schändlichkeit Thomas Meltons entspricht nun, ebenfalls im Ausgleich, daß er hinsichtlich des Millionen-Coups im Grunde nur parasitärer Nutznießer ist: Die erfolgreiche Inszenierung des Schwindels hängt vom Geschick Jonathans, als Doppelgänger des legitimen Erben, und Harrys, als 'Wachhund' in der Anwaltskanzlei, ab; und jeder der beiden hätte auch Grips genug, Small Hunter unauffällig zu beseitigen. Indem sie dessen Ermordung kaltherzig dem "Kolarasi" übertragen, macht sich dieser zwar zum Anwärter auf einen Teil der Erbschaft, aber auch zum Werkzeug des Sohnes und des Bruders und bleibt ihnen ständig ausgeliefert; er wird sogar in die Rolle des "Dieners" seines Sohnes degradiert. Das Schicksal Thomas Meltons ist das eines Versagers, dessen Feigheit nur von seiner Gewissenlosigkeit übertroffen wird: Den selbstverschuldeten Klemmen in Fort Uintah und Fort Edwards entrinnt er nur durch Mordtaten; der Bewährungsprobe als Leiter einer Expedition gegen die Uelad Ayar entzieht er sich durch verbrecherische Kapitulation; das Bewußtsein, seinen Reichtum nicht dem eigenen Können, sondern der 'Großmut' von Sohn und Bruder zu verdanken, führt zu Haßtiraden gegen Jonathan (DH 22, 696 li u. r; F 22, 584-585) und, schrecklich in der Konsequenz, zum Brudermord: die unterschwellige wütende Eifersucht des ewigen Verlierers auf Harrys geistige Überlegenheit und auf des Bruders dämonische Größe, deren Thomas schlicht ermangelt, ist das - wenn auch unausgesprochen bleibende - Motiv für die ruchlose Tat. In den Grundzügen ist es die Wiederholung der Ur-Situation Kain/Abel, nur völlig auf der Negativebene angesiedelt. Und zugleich ist es Hinweis darauf, daß Luzifer (verkörpert von Harry Melton) stets gewärtig sein muß, den Vernichtungsschlag aus den eigenen Reihen zu empfangen. Dem Teufel verzeihen die Gefolgsleute keine Schwäche. Und des Teufels eine gute Tat, den herzlosen Bruder retten zu wollen, ist des Teufels unwürdig. So geht Harry an Thomas zugrunde - und den zeitweilig Überlebenden holt die Erkenntnis ein, daß der Verderbtheit der Glanz fehlt, wenn mit Satans Leben auch das Licht in der Hölle erloschen ist. Der Selbstmord des Brudermörders ist der folgerichtige letzte Versuch des Versagers, Rache zu nehmen an einem selbstverschuldeten Schicksal.

Auch Jonathan ist Harry an verbrecherischem Schneid unterlegen. Wie sein Onkel vor Jahren, so läßt er sich von Judith becircen, aber anders als Harry besitzt er nicht die Kraft, sich schleunigst wieder von ihr zu lösen und sein Glück fern von ihr zu suchen. Damit hat er sich abqualifiziert und den Schritt ins sichere Verderben getan. Im Niedergang aber beweist dieser um den großen Erfolg seines Lebens gebrachte Halunke Sinn für Konsequenz und für Einsicht: Er schleudert die schwarze Ledertasche ins Wasser, um das Millionenvermögen zu vernichten, denn von ihm darf man nicht erwarten, daß er das Erbe Small Hunters dessen Verwandten überläßt; und er sieht in Judith die Schlange, die sein Unglück wurde; und er gesteht, wie schicksalhaft er die Verfolgung durch Old Shatterhand empfunden hat. "Weg von mir, Schlange! Wäre ich dir nicht... gefolgt, so hätte ich jetzt alles, wonach mein Herz geschmachtet... hat, auch die Freiheit, die ich nun verloren habe. - Du bist mir zum Unglück über den Weg gelaufen." (DH 22, 522 li; 568 r; F 22, 480; 489). Und an seinen Häscher gewandt: "Ich bin Euch einigemal glücklich entgangen, immer je später desto schwerer. - ... ich sagte mir, daß ich verloren sei, wenn es Euch gelingen sollte, mich noch einmal zu ergreifen." (DH 22, 567 r; F 22, 488-489) Hier läuft der bis dahin kaum konturierte Bläßling zu unerwarteter Form auf. In diesem Erzählfaden liegt auch die absichtsvoll umhüllte Hinwendung zu einem weiteren alttestamentarischen Urthema: Die Versuchung und Verführung Adams durch die Kraft des Urschlechten, sein Schuldbewußtsein und seine Vertreibung aus dem (Schein-)Paradies. Der dem Bösen verfallene Adam (Jonathan Melton) wird, entgegen dem biblischen Urbild, zum Sohne des Brudermörders Kain (Thomas Melton): In diesem Austausch der Generationen liegt der Fingerzeig auf die seit Anbeginn im Menschen wuchernde Fähigkeit zu jedweder Schandtat zu jedweder Zeit.(27) Gier nach verderblichem Wissen, nach Besitz, nach Vernichtung des Mitmenschen sind ständig virulent. In Jonathan Meltons Ausbruch gegen Judith und in seinem Geständnis der Angst vor Old Shatterhand sind des

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Autors Erzähltalent, sein Sinn für dramatische Effekte und sein Glaube an eine übergeordnete Macht der Gerechtigkeit wuchtig eingefangen.

VIII. Ebenso aber wie das Böse blüht im Menschen - und im Schriftsteller Karl May schon gar - die Fähigkeit, durch unerwartete Taten den Ruhm des Guten zu festigen: Karl May schickt Winnetou nach Afrika - und der Aufenthalt dort wird zum Triumph für den Indianer. Von der frohlockenden Überlegung des Erzählers, "erstens fand nun ich auch einmal Gelegenheit, seinen Lehrer zu machen, und zweitens lag für uns die Möglichkeit vor, in Lagen zu kommen, wo das Urteil dieses Scharfsinnigsten aller Scharfsinnigen mir von großem Nutzen sein konnte" (DH 21, 75 r; F 21, 262), bleibt in der Quintessenz nur das "zweitens". Der von Old Shatterhand zu Kara Ben Nemsi wechselnde Freund hält sich mit Belehrungen geflissentlich zurück. Durchweg erhält Winnetou die Palme: Er entwendet auf dem Schiff Jonathan Meltons Brieftasche und schafft sie wieder an ihren Platz; er beherrscht ein Kamel wie einen Mustang ("mit welcher Leichtigkeit er sich in alles fand, was körperliche oder geistige Gewandtheit voraussetzte." - DH 21, 423 li u. r; F 21, 492); er hält feindliche Beduinen in Schach ("So war Winnetou, kaltblütig, verwegen und dabei von einer Überlegung, die ihn selbst im gefährlichsten Augenblick nicht verließ." - DH 21, 203 r; F 21, 354) oder besiegt sie in kühnem Anlauf (DH 21, 504 r; F 21, 531). Er bekommt dank einer dem Erzähler anzulastenden Unvorsichtigkeit (DH 21, 252 li, 264, 266 li; F 21, 388-392) Gelegenheit zu einer besonderen Heldentat, indem er Kara Ben Nemsi befreit und an dessen Stelle gefesselt im Zelt zurückbleibt (DH 21, 294 r; F 21, 411); und er zeigt größere Sensibilität gegen den so freundlichen Welad en Nuri als der sonst so argwöhnische Kara Ben Nemsi (DH 21, 424 li; F 21, 496-497). Winnetous Anteil am Geschehen ist wesentlich größer als der des zwar eindrucksvoll gezeichneten, aber als Titelfigur deplazierten Krüger Bei(28): Der wackere Oberst kommt zu kurz und liefert keinerlei Beispiel für die vom Autor erwähnte lustige Vermengung von Bibel-und-Koran-Passagen (DH 21, 92 li; F 21, 276); auch der alte Sallam, dem die Rolle der auflockernden komischen Figur zufallen müßte, bleibt unbedeutend. An lustigen Gestalten mangelt es überhaupt; es geht erschreckend ernst zu.(29)

Unkenntnis der Landessprache, fremdländische Umgebung sind kein Hindernis für Winnetous Heldentum. Winnetou bleibt auch in Afrika ganz des Erzählers anderes Ich "nach oben hin" - der Einzige, dem der Ich-Held sich gelegentlich unterordnet. Und bezeichnenderweise kommt es nicht zu einem Zusammentreffen dieses "herrlichsten aller Freunde" mit dem zum Orient gehörigen zweiten alter ego des Erzählers, seinem Anderen Ich "nach unten hin", Hadschi Halef Omar(30), der als Sprachrohr des Effendi all das sagen und tun darf, was Kara Ben Nemsi füglich unterlassen muß, der so häufig Anlaß zur Kritik bietet und nur selten Gelegenheit erhält - wie bei Kara Ben Nemsis Gefangenschaft in der Hütte des Bettlers Saban(31) -, fast klüger zu sein als der Herr und Meister. Halef hätte sich bei einer Teilnahme an der Jagd auf Thomas Melton kaum angemessen entfalten können; er wäre zwischen den Giganten Kara Ben Nemsi und Winnetou erdrückt worden. Reizvoll wie die Versuchung für Karl May auch gewesen sein mag, die durch Winnetous Aufenthalt in Dresden und in Afrika unterstrichene Verquickung der um sein Ich gewobenen Legenden noch anzureichern durch ein zwischen Ehrerbietung und Eifersucht schwelendes Zusammentreffen Halefs mit dem "roten Scheik" - und damit den Wahrheitsanspruch ins Ungemessene zu steigern -, er wich dieser Versuchung aus; die Gestaltung hätte seine Kräfte wohl überstiegen und hätte Halef unnötig geschadet. Hingegen Winnetou zu loben, hob das Ansehen des Erzählers Karl May bei den Lesern. Und May konnte großmütig sein: Die - letztlich unausbleibliche - Überlegenheit des Weißen über den indianischen Blutsbruder wird so unauffällig dargeboten, daß Winnetous Bild keinen Glanz einbüßt: Der große Friedensvermittler ist natürlich Kara Ben Nemsi. Er wickelt Uelad Ayar, Uelad Ayun und Krüger Bei um den Finger - und tut recht daran. Und Kara Ben Nemsi bewerkstelligt auch, als der von Gott Begünstigte, die Befreiung aus der schier tödlichen Falle, in die der Felsbrock die drei Verbrecherjäger gerissen hat (DH 21, 487 r ff.; F 21, 521 ff.)(32). Die Falle, vor der Winnetou warnte... Das Moment der Kompensation ist nicht zu übersehen.

IX. Auffallend, fast bestürzend ist dies merkwürdige Bedürfnis nach Ausgleich, nach Balancierung, nach Pendants, nach möglichst gerechter Verteilung von Verschulden und Wiedergutmachung oder Hochleistung und Versagen, nach Duplizierung oder Multiplizierung bestimmter handlungstragender Ereignisse - auch unter Rückgriff auf wesentliche Motive aus "Die Felsenburg". Einige typische Beispiele:

(1) Jeweils einer der Meltons hetzt aus eigensüchtigen Motiven einen Eingeborenen-Stamm auf und veranlaßt kriegerische Auseinandersetzungen: Thomas die Uelad Ayar, Jonathan die Mogollons; beide stehen beim jeweiligen Anführer nicht in sonderlich hohem Ansehen. Ein zusätzliches und doch subtil andersartiges Balancemoment liegt in der Entsprechung der Bündnisse Harry Melton/Yuma-Häuptling Großer Mund ("Die Felsenburg") und Jonathan Melton/Mogollon-Häuptling Starker Wind: Der an verbrecherischer Größe bedeutendere der beiden Schufte findet einen Bösewicht als passenden Bundesgenossen; der in Panik handelnde und von Judith verblendete Jonathan, dem vom verbrecherischen Format des Onkels vieles fehlt, gerät an einen zwar kampfwütig-listigen, aber nicht auf Tücke erpichten Partner. (" ... eine treue, ehrliche Rothaut... eigentlich nicht der Mann, der für... meine Pläne paßt." - DH 22, 526 li; F 22, 454)(33)

(2) Den großen Schurken Harry Melton überwältigt Old Shatterhand ganz allein ("Die Felsenburg") in einem 'Kampf der Giganten', so wie er überhaupt ganz Almaden alto allein aushebt; der Schwächling Jonathan ist einen solchen Kraftakt nicht wert: ihn nimmt Old Shatterhands ganze Truppe gemächlich gefangen.

(3) Die fatale Zuneigung des Yuma-Häuptling Listige Schlange - einem der Zivilisation zugeneigten Mann - zu Judith ("Die Felsenburg") findet ihre Entsprechung in dem Eindruck Martha Vogels auf den Mogollon-Häuptling Starker Wind, der der rauhen Wildnis verhaftet ist (DH 22, 442 r; F 22, 384).

(4) Die Wandlung des Player vom Falschspieler und Räuber zu einem auf Wiedergutmachung bedachten Menschen ("Die Felsenburg") findet ihr Gegenstück im umgekehrt verlaufenden Betragen des Anwalts Fred Murphy: Der vordem anständige Mann gerät unter dem Eindruck der von ihm begangenen Torheit zum undankbaren Widerling. Und der Mordversuch von Weller senior an dem Player ("Die Felsenburg") entspricht den Prügeln, die Murphy von Jonathan Melton bezieht (DH 22, 618 li; F 22, 533).

X. Und inmitten all des Balancierens, der gegenseitigen Entsprechungen, wird unaufdringlich und doch unaufhaltsam, in fortschreitender Nuancierung - ungeachtet aller auf andere Mitspieler gemünzten Lobesworte - die charismatische Superiorität im Tun und Treiben des Ich-Erzählers immer greifbarer und das -trotz aller Beteuerungen des Gegenteils - in Wahrheit zwiegespaltene Verhältnis zum idealisierten Blutsbruder immer krasser herausgestellt. Der kurzlebige Triumph des Apatschen in Afrika, die absolute Einigkeit der Blutsbrüder, wird abgelöst durch erstaunliches Fehlverhalten Winnetous und durch gegenseitiges merklich kritisches Beobachten der Handlungen des anderen, während dazwischenhinein immer wieder laute Lobpreisungen tönen:

- In Afrika inszeniert Thomas Melton die - den Schurken zumindest Zeitgewinn sichernde - Gefangennahme der drei Verfolger durch Uelad Ayun und das Einsperren im Felsenspalt. Winnetou ist der Warner, Kara Ben Nemsi der Draufgänger. Beide schaffen füreinander die Voraussetzungen zur Befreiung - und der blutdürstige Scheik sorgt ungewollt für die zum Entkommen der Drei notwendigen Reittiere. Emery Bothwell ist weder Schuld- noch Lichtträger. - Die gleiche, und doch seitenverkehrte, Situation findet sich in der von Jonathan Melton veranlaßten, ebenfalls den Zeitvorsprung der Gauner garantierenden Gefangennahme der Drei durch Großer Pfeil und seine Komantschen. Old Shatterhand macht warnende innere Stimmen geltend; Winnetou setzt sich darüber hinweg. Beide spielen einander die Mittel zur Befreiung vom scheinbar sicheren Tode zu. Der rachsüchtige Komantschen-Häuptling muß die Fluchtpferde stellen. Emery Bothwell aber werden innerhalb dieses Erlebnisses zwei wichtige Ausgleichsmomente zugewiesen: Seiner Unachtsamkeit bei der Wache verdanken die Drei die Gefangenschaft; dafür ist es gerade Emery, der über den Trick und das Instrument zum Lösen der Fesseln verfügt und beides anzuwenden weiß.

Vom Topographischen her erinnern das Felsengrab des Häuptlings und der die Gefangenen aufnehmende Felseneinschnitt sofort an die Felsspalten-Falle bei den Uelad Ayun.

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- Winnetou ist es, der dank gewagter, aber glücklicher Kombinationen den hilfesuchenden Franz Vogel an Old Shatterhand als den wahrscheinlichen Rettungsbringer verweist und der, nicht zuletzt durch das kühne Unternehmen einer Reise nach Deutschland und nach Afrika, dafür sorgt, daß möglichst wenig Zeitverlust eintritt beim Aufspüren der Schurken. Und dann folgt dem Triumph als böser Ausgleich Winnetous Krankheit, die den Verbrechern allen von ihnen benötigten Zeitgewinn wieder verschafft. Ein Beinbruch, der für die Belange der Story in etwa den gleichen Zweck erfüllt hätte, tut es nicht: Eine Gallen- und Lebererkrankung muß es sein(34), damit der durch die Europa- und Afrika-Reise gewonnenen beglückenden Erweiterung des geistigen und seelischen Horizonts eine vergiftende Gemütsverdüsterung entgegensteht. (Der in medizinischen Dingen bewanderte Autor wußte wohl, was er tat!) Old Shatterhands Loyalität gegenüber dem Blutsbruder hindert ihn natürlich, auf eigene Faust allein nach New Orleans zu gehen und Winnetou der Obhut Emerys zu überlassen.

- Winnetous imponierender Alleingang im Angesicht der bewaffneten Uelad Ayun findet seine Entsprechung in dem, weit verwegeneren, Kutschbock-Abenteuer Old Shatterhands im Angesicht der Mogollon.

- Winnetou leistet unentbehrliche Vorarbeiten in der Vorbereitung des gegen die jeweiligen Feinde gerichteten Schlages - aber dann bezieht er Wartestellung (im Zelt Kara Ben Nemsis, auf der Felsplatte, so wie er vor Almaden alto bei den indianischen Kriegern zurückblieb), und dem Ich-Helden fällt die alles entscheidende Aktion zu.

- Die die wesentlichen Papiere bergende Brieftasche Jonathan Meltons wird zweimal entwendet und (tatsächlich oder scheinbar) wieder an ihren Platz geschafft - einmal von Winnetou auf dem Dampfer zwischen Alexandria und Tunis und einmal von Old Shatterhand im Zeltdorf der Mogollon. Winnetous Geschick beim heimlichen Tun ist kaum noch zu überbieten - und doch ist sein Heldenstück das kleinere der beiden. Die ausschlaggebende Entwendung der Millionenbeute (bedeutsamer als das 'Spionage'-Unternehmen auf dem Schiff) ist Sache des Ich-Helden. Wieder wird Winnetou auf den zweiten Platz verwiesen.

- Die Blutsbrüder sind entgegengesetzter Meinung über den einzuschlagenden Weg (DH 22, 71, 74 li; F 22, 72-75) und über das Verweilen an der Sandsturm-Stelle (DH 22, 91 r; F 22, 91); und Old Shatterhands stiller Tadel ("ich achtete den Scharfsinn und die Erfahrung des Apatschen viel zu hoch, als daß ich ihm hätte in Gegenwart Emerys scharf widersprechen mögen." - DH 22, 71 r; F 22, 74) findet Ausdruck in Winnetous Worten: "Winnetou ist ein Thor gewesen." (DH 22, 74 li; F 22, 75)

- Old Shatterhand stellt Winnetous Leben höher als sein eigenes, indem er Winnetou vor Avat-Uh von der Blutschuld am Tode des Komantschen-Häuptlings Starke Hand entlastet (DH 22, 107 r; F 22, 102); er jubelt ob Winnetous Entrinnen vor dem Mordanschlag der Meltons (DH 22, 170 li; F 22, 157)(35); er nutzt Winnetous Gabe der Diplomatie, um Martha Vogel zum Zurückbleiben in Albuquerque zu bewegen (DH 22, 187 li; F 22, 167); und er betont: "Hier bewährte sich, wie schon so oft, die Meisterschaft des Apatschen" (DH 22, 203 li; F 22, 186); aber er läßt Winnetou die Ergreifung der Brüder Melton verpatzen (DH 22, 170 r; F 22, 159 f.) läßt ihn auch unklug handeln bei den Pueblo-lndianern in Acoma (DH 22, 188 r; F 22, 175) und mit Blick auf den angeblichen Zuni (DH 22, 220 r; F 22, 203 f.), der sich als Yuma entpuppt: In diesen beiden Fällen ist Old Shatterhand der einzig Kluge.

- "Winnetou, der an alles dachte" (DH 22, 252 r; F 22, 233), wirkt grotesk, nachdem gerade vorher bemerkt wurde: "selbst der sonst so umsichtige Winnetou hatte vergessen - - -" (DH 22, 251 r; F 22, 229); und "Mein Bruder (Winnetou) ist der Scharfsinnigste von uns dreien; er irrt sich nie" (DH 22, 267 r; F 22, 242)(36), paßt wenig zu dem unmittelbar voraufgehenden Eingeständnis: "Wir so erfahrenen, wir klugen, wir überklugen Menschen hatten eine ganz armselige, eine ganz beschämende Schlappe erhalten." (DH 22, 267 li; F 22, 239)

- Die stets betonte Übereinstimmung zwischen den Blutsbrüdern zeigt Brüche, wenn May schreibt: "Jetzt passierte mir etwas Seltenes, nämlich ich erriet nicht, was der Apatsche mit diesen Worten meinte" (DH 22, 267 r; F 22, 241) und "'Mein Bruder Scharlieh stellt sich die Sache viel schwerer vor, als sie ist.' So etwas hatte Winnetou mir noch nie gesagt. (Es) war mir, als ob ich mich zu schämen hätte." (DH 22, 296 r; F 22, 268)(37)

- Winnetous Lob für Old Shatterhand, "Mein Bruder hat das Richtige getroffen, wie immer" (DH 22, 603; F 22, 521) und "Mein Bruder hat eine große Heldenthat vollbracht. Man wird an allen Orten davon erzählen" (DH 22, 666 li; F 22, 561), wirkt fast gequält nach der voraufgegangenen Mißstimmung, die Old Shatterhand zu der spitzen Frage veranlaßt hatte, "Warum giebt Winnetou mir diesen Rat? Ist er bei mir nötig?" (DH 22, 584 li; F 22, 499), und die in Winnetous Vorhaltung gipfelte: "(Mein Bruder) hat den großen Geist versucht... Ich muß meinen Bruder ob seiner Verwegenheit tadeln!" (DH 22, 602 r, 603; F 22, 519)(38)

Nach außen hin ist hiervon freilich nichts zu merken. Das Duo Winnetou/Old Shatterhand ist vor der Welt die Einheit und Reinheit schlechthin: "diese beiden Kerls sind selbst bei feindlichen Stämmen so hochangesehen, daß sie viel mehr wagen können als andere Leute" (DH 22, 526 li; F 22, 454); "Ihre Herzen sind mild und rein, obgleich ihre Arme die Stärke des Bären besitzen. Sie ... sehen nicht gern die Wolke der Betrübnis über ein Angesicht gehen" (DH 22, 667 r; F 22, 569); "Hast du schon einmal gehört, daß Old Shatterhand sein Wort gebrochen oder daß Winnetou eine Lüge gesagt hat? Wenn die beiden es mir versprechen, ist es so, als hätte es der große Manitou gesagt!" (DH 22, 668; F 22, 571) Die Welt erfährt nichts von den 'Familiengeheimnissen'...

XI. Zwiegespalten wie die geistig-seelische Beziehung zu Winnetou ist des Erzählers Einstellung zu Judith Silberstein (die er versehentlich auch Silverhill/Silberberg nennt; DH 22, 28 r, 29 li; F 22, 30, 32): Zwischen Empörung und Nachsicht, zwischen Grimm und Verzeihen bewegt sie sich unaufhörlich. Das unleugbare gegenseitige Interesse füreinander beim Kennenlernen in Mexiko ("Die Felsenburg") war durch viele andere - wenn schon nicht wahre, so doch zur Schau getragene - Gefühlsregungen zurückgedrängt worden. Zwischen den Zeilen stand immer Old Shatterhands stilles Bedauern, daß sein so rasches Erkennen der negativen Züge in Judiths Charakter ihn daran hinderte, ihr den Hof zu machen - und damit ihre anderen Anbeter auszustechen -, und stand auch Judiths Bedauern, daß dieser Mann, der ihr imponierte, für sie unerreichbar war. Beim unverhofften Wiedersehen in New Orleans schlägt Judiths Freude offen durch (DH 22, 29 r f.; F 22, 34 f.), und Old Shatterhand wird nur durch das Bewußtsein, in ihr die Freundin und Mitverschworene des gesuchten Verbrechers Jonathan Melton vor sich zu haben, davon abgehalten, in ihr ein attraktives Weib zu sehen. Und beiden macht es unverhohlen Freude, Gegner zu sein, einander Schlappen beizubringen, wenn sie nun schon nicht vereint sein können und einander nicht gleichgültig bleiben dürfen. Auf weite Strecken hin ist "Die Jagd auf den Millionendieb" in Wahrheit die Jagd auf Judith Silberstein, ein Duell zwischen ihren Fähigkeiten und denen Old Shatterhands. Judith ist die ebenbürtige Gegnerin. Ihr Zick-Zack-Denken und ihr Einfallsreichtum zwingen den Verfolgern eine Zick-Zack-Route und immer neue Taktiken auf. Im Gegensatz zu Old Shatterhand, der Würde und Größe wahren muß, darf sie alle Leidenschaftlichkeit entfalten ("... das Weib bisher nur für leichtsinnig gehalten; sie ist aber schlecht -". DH 22, 346 r; F 22, 306. - "Welch ein Haß aber gehörte dazu, welch ein glühender, aller Rücksichten umstoßender Haß!" - DH 22, 407 r; F 22, 359. - "Meinst du denn, daß ich dich geliebt hätte ohne das Geld?" - DH 22, 552 li; F 22, 480) und bleibt unter herbster berechtigter Kritik unbeeindruckt böse ("deine Zunge ist... ein Schlangenzahn, welcher Gift ausspritzt ... gegen einen berühmten Krieger, den nur anzuschauen du nicht würdig bist!" - DH 22, 108 r; F 22, 105).

Old Shatterhand ist ihr natürlich gewachsen, was Winnetou bewundernd anerkennt ("Mein Bruder ist nicht nur klug wie ein Fuchs, sondern sogar klüger wie eine Squaw, was Winnetou nicht von sich sagen kann." - DH 22, 378 r; F 22, 333), dieweil er (Winnetou) im übrigen verächtliche Worte findet für Judith und für die Yumas, die ihr immer noch dienen (DH 22, 268 r, 279 r; F 22, 245-246, 249), und bemerkt: "Wenn eine Squaw Böses thut, so sieht das Böse viel häßlicher aus, als wenn ein Mann es thut." (DH 22, 527; F 22, 459)

Durch die ganze großartige Redeschlacht zwischen Judith und Old Shatterhand (DH 22, 280 r - 283, 295, 296 li; F 22, 252 - 265) und durch die darin aufblitzenden Anwürfe ("Ich habe Sie gehaßt vom ersten Augenblicke, an dem ich Sie sah!" - DH 22, 282 li; F 22, 255. Welcher Widerspruch - psychologisch absolut

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richtig - zur Freude in New Orleans! - "Sie großer Held und Retter von Leuten, die Sie nichts angehen!" - DH 22, 283; F 22, 261) zittert die ungehemmte Wut der sinnberückenden Verschmähten, ebenso wie durch den hohnvollen Ausspruch: "Shatterhand ist ein alberner Wicht -" (DH 22, 378 r; F 22, 331)

Aber Old Shatterhand müht sich - erfolgreich - um die zur "Felsenburg"-Zeit bewahrte und bewährte Gelassenheit und Ironie ("Ich besitze ... ein sehr weiches Herz, tausche aber nicht gern Wachs für Eisen ein." - DH 22, 42 li; F 22, 35. - "Ja, es ist allerdings eine Eigenart von mir, vor Frauenzimmern sofort in die Kniee zu fallen." - DH 22, 106 r; F 22, 97. - "Ich denke, unser neues und schönes Verhältnis wird jetzt erst beginnen." - DH 22, 283; F 22, 260) und bleibt, wenn er es Judith auch heimzahlen möchte ("ich gestehe Ihnen, daß es mich jetzt eine gewisse Anstrengung kostet, nicht gewaltthätig zu sein." - DH 22, 281 li; F 22, 253-254) und um eine gelinde Art zupackender Behandlung nicht herumkommt (DH 22, 295; F 22, 263; DH 22, 408 r; F 22, 363(39), von unnahbarer Überlegenheit. Seine scheinbare Rohheit gegen Judith ist keinem der beiden wirklich unangenehm; aber der Held läßt sich weder in der von Judith insgeheim gewünschten Art noch in der von ihr wirklich gefürchteten Art provozieren. Selbst der gegen ihn gerichtete Mordanschlag der Jüdin, den er knapp vereiteln kann ("Nie habe ich aus einem Gesichte den Schreck so blicken sehen, wie aus dem ihrigen." - DH 22, 408 li; F 22, 360), kann ihn nicht dazu veranlassen, sein voriges Urteil, "die Jüdin mochte moralisch noch so tief stehen, sie war doch ein Weib" (DH 22, 295; F 22, 263), und seine Resignation, "solches Unkraut geht nicht zugrunde" (DH 22, 410 li; F 22, 365), zu ihren Ungunsten zu ändern und ihr Leben zu vernichten. Es ist wie bei der verworfenen Miranda in "Deutsche Herzen, deutsche Helden", die um ihrer perfiden Schönheit willen der Strafe entkam.(40)

Das äußerste, wozu Old Shatterhand sich versteht, ist, Judith als Bedienerin Martha Vogels auszuersehen (DH 22, 618 r; F 22, 534 - 535), doch als es nicht dazu kommt, ist er regelrecht erleichtert. Seine vorgetäuschte Rückkehr zu der Ansicht, sie sei nur leichtsinnig und nicht schlecht ("Zum Eingeständnis eines Irrtums gehört wohl mehr Mut oder Überwindung, als zum Festhalten einer irrigen Meinung." - DH 22, 714 r; F 22, 601), wird von ihr als taktisches Manöver durchschaut - so wie er seinerseits ihre unlauteren Absichten bloßlegt. Er ist nicht einmal erstaunt darüber, daß diese Frau es sogar fertigbringt, die ihr bis dahin fremden Mogollon-lndianer für ihre Zwecke einzuspannen (DH 22, 715 r f.; F 22, 605 f.), aber er maßt sich nicht an, diesem mit fast hypnotischer Macht ausgestatteten Weib, das nur auf Böses zielt, den Untergang zu bereiten. Old Shatterhand muß zwar Stärke demonstrieren, doch er ist Judith gegenüber schwach wie Jonathan Melton, der sich zur Versöhnung mit ihr erniedrigt (DH 22, 714 r f.; F 22, 600 f.). Pikant erschütternder, im Verhältnis des Helden zu einer der Frauengestalten, geht es bei Karl May kaum zu...

XII. Winnetou in Afrika - Paradebeispiel zur Untermauerung des Realitätsanspruchs mittels kühner Übertreibung des Unglaubhaften - und die Übertragung der Rolle des maßgeblichen Unholds auf eine Frau: Diese für die Reiseerzählungen neuen, überraschenden, aufwühlenden Momente sichern dem zweiten und dem dritten Teil von Mays bestkomponierter Trilogie(41) den gebührenden Platz neben dem Ruhmesblatt "Die Felsenburg". Denn in eben diesem kühnen und umwerfend Neuen liegt eine lediglich mit dem Flitter exotischer Abenteuer umhängte Wahrheit: In Winnetou und Judith setzt Karl May sich, stellvertretend für jeden Leser, auseinander mit dem Kampf um die Wahrung von Idealvorstellungen in unzulänglicher Umwelt und mit der naiven Achtung des Mannes vor dem Weibe...

Im Verhältnis Winnetou/Old Shatterhand zeigt sich diesmal die Verletzlichkeit, welcher die in zwischenmenschlichen Beziehungen naturgegebene oder durch bewußte Anstrengung erzielbare Harmonie ausgesetzt sein kann, zeigt sich die Anfälligkeit des Ich für unkontrollierte Fehlhaltungen, erweist sich das menschliche Ringen um Ideales angesichts eigener Unvollkommenheit: Alltägliche Vorgänge im Inneren nahezu jedes Menschen. Und unmittelbar damit verbunden, Prüfstein für die Wahrung der Ideale unter erschwerten Bedingungen, ist der in den Protagonisten der Story abrollende ewige Kampf der Geschlechter... Was Karl May einpackt in spannende Aktionen, wird in den Bezirken des Unterbewußten im Leser allsogleich virulent und zustimmend identifiziert, dieweil der analysierende Verstand zunächst kaum wahrnimmt, daß die Handlung nichts anderes ist als die phantasievolle Spiegelung seelischer Prozesse.

Karl Mays Stil war seine Seele(42), und diese Seele des weltentrückt schreibenden und doch so sehr an der Realität klebenden Autors schöpfte hier wieder einmal aus den Tiefen der Wahrheit und ließ diese schonungslos für sich selbst sprechen - ohne das darin eingefangene Geheimnis offen preiszugeben: Karl May ist auf dem Wege, sich von der - in vielen Bildern rekapitulierten -Anerkenntnis der gegenüber anderen bestehenden Verpflichtung zu lösen, sich ganz auf sich selbst zu verlassen, sich so vollzusaugen mit der Aura Old Shatterhands, daß er genügend gewappnet ist für Auftritte im Kostüm des Überhelden in der Öffentlichkeit - und gewappnet dafür, daß diese Auftritte, oh Teufelskreis, geradezu lebenswichtig werden für ihn als Ventil zum Ablassen des Überdrucks, an dem er schier erstickt. Und das Ringen um diese seine große Rolle hat ihn auch in den Stand versetzt, Kraft aufzubringen zum Durchstehen des Debakels seiner Ehe. Indem er Emma in vielerlei Formen zur Mit- und Gegenspielerin seines Helden macht, besiegt er sie ... ohne von ihr loszukommen.

XIII. Zu den Textunterschieden zwischen der Hausschatz-Fassung und der Buchausgabe (vgl. Anm. 19) gehören kleinere Umwandlungen (z.B. "Sie". "Ihnen", "Ihre" im Dialog - DH 22, 11 r ff., 27 r ff., 44 li - wird zu "Euch", "Eure" - F 22, 9, 27 ff., 44, 45). Erwähnenswert erscheinen vier Schnitzer:

(1) Im DH 22, 90 r, antwortet Old Shatterhand auf Emerys Frage ("den Bärentöter und den Henrystutzen?"): "Die hatte ich damals beide noch nicht." - In F 22, 87, sagt er: "Den Stutzen hatte ich damals noch nicht."

- Übrigens ist sachlich beides inkorrekt: In Old Shatterhands Laufbahn gibt es keine Zeitspanne, in der er mit Winnetou jenes Abenteuer hätte erleben können, ohne beide Gewehre zu besitzen! -

(2) Die sachlich falsche Behauptung, "Von hinten ist der Griff viel schwerer, als von vorn" (DH 22, 136 li), ist in der Buchausgabe berichtigt: "Von vorn ist der Griff viel schwerer, als von hinten" (F 22, 125).

(3) Im DH 22, 540 r, sagt Old Shatterhand zu Scharfes Auge: "alles, was sie bei sich haben, soll euch als Beute gehören." - In F 22, 470, lautet der Satz: "alles, was sie bei sich haben, auch ihre Medizinen, soll euch als Beute gehören."

So ergibt sich innerhalb der Buchausgabe ein Widerspruch zu dem später von Old Shatterhand an Starker Wind gerichteten Satz, daß die Mogollons ihre Medizinen behalten sollen. (DH 22, 667 li u. r; F 22, 567 - 568)

(4) In F 22, 567, zwischen den Zeilen 5 und 6, fehlen die im DH 22, 667 li, stehenden Zeilen 23 von unten bis 15 von unten.

- In der Buchausgabe spricht Winnetou "nur wenig Deutsch" und versteht es "nicht vollständig", während er noch im DH Deutsch weder spricht noch versteht. -

In die Buchausgabe übernommen wurden auch einige Unklarheiten, Unstimmigkeiten, Unschönheiten. Folgende mögen genannt sein:

- In dem Satz, "... hat er den Jungen zu seinem Vater Thomas Melton geschickt, wo derselbe aus dem Wege geschafft werden ... soll" (DH 21, 91 r; F 21, 274), bezieht "derselbe" sich strenggenommen auf Thomas Melton!

- Des vornehmen Englishman (und des Autors) unwürdig sind "die Fußtritte Emerys" (DH 21, 346 r; F 21, 449) gegen Thomas Melton, durch die dessen "Gesicht verschimpfiert" (ebda.) und "grün und blau angeschwollen -" (DH 21, 332; F 21, 442) ist. Vorher war überhaupt nur "ein gewaltiger Tritt" erwähnt worden (DH 21, 283 r; F 21, 407).

- Für die kurze Erklärung, warum er statt Winnetous ins Lager kommt, will der Erzähler keine "kostbare Zeit" aufwenden (DH 21, 295 li; F 21, 414), doch mit dem Unteroffizier und dann noch mit Jonathan Melton führt er unnötig lange Gespräche.

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- Karl May bleibt die Erklärung schuldig über den wahren, den "anderen Grund", warum der Scheik der Uelad Ayar sein Wort gegenüber dem Kolarasi (Thomas Melton) nicht halten kann bzw. nicht zu halten braucht (DH 21, 347; F 21, 449). - (Anmerkung: Thomas Meltons Zorn darüber, daß der Scheik sein Wort, ihn freizulassen, nicht hält, und des Autors Bemerkung dazu, "Eigentlich hatte er (d. i. Melton) recht; das mußte der Scheik sich auch sagen", entbehren der Berechtigung von der Sache her: Melton geriet mit den Uelad Ayar in Gefangenschaft; die Ayar sind besiegt; der Sieger Krüger Bei, Meltons Vorgesetzter, hat jedes Recht, den Verräter nicht frei zu lassen; dagegen kann der Scheik nicht an.)

- Harry Melton, in "Die Felsenburg" Anfang Vierzig (F 20, 24; im DH 20, 28 li, sogar noch zehn Jahre jünger!), kann bei Anwalt Murphy nicht bereits "am Ende der fünfziger Jahre ... stehen"; denn so viele Jahre sind inzwischen nicht vergangen. (DH 22, 14 r; F 22, 18)(44)

- Die Satzkonstruktion, "Avat-Uh heißt großer Pfeil, ein wegen seiner Grausamkeit berüchtigter und gefürchteter Komantschenhäuptling", besagt strenggenommen, daß der Name auch bereits die Charakterisierung enthält! (DH 22, 106 li; F 22, 94)

- Statt "Winnetou hatte natürlich Franz Vogel erkannt" (DH 22, 152 r; F 22, 142) hätte May zutreffender "Franz und Martha" sagen müssen.

- Im Gespräch mit den Geschwistern Vogel (DH 22, 155; F 22, 150 f.) hätte Old Shatterhand vor allem den Brief erwähnen müssen, den er ihnen von Southampton aus schrieb!

- Im DH 22, 651 li, Zeile 21 von unten, muß es "Anführer der Mogollons" heißen, nicht "Anführer der Nijoras"; dementsprechend in F 22, 550, Zeile 11.

Die sonstigen Schnitzer sind unbedeutend. Einer aber ragt über alle hinaus und gehört der Klasse der Schnitzer eigentlich schon gar nicht mehr an: Die malerische Wendung, "der Ärger, der ... wie ein Tiger an ihm frißt und säuft" (DH 22, 680 r; F 22, 579), über die bereits Adolf Droop 1909 den Kopf schüttelte(45), ist eine der schönsten sprachlichen Wundertaten Karl Mays.

XIV. Diese Einführung, umfänglich wie sie ist, verarbeitet nur etwa die Hälfte des mir hierzu vorliegenden Notizenmaterials (und auch diese keineswegs erschöpfend). Die in der Sekundärliteratur bisher wenig beachtete Trilogie "Satan und Ischariot"(46) ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube für den Karl-May-Forscher. Falls meine Ausführungen dazu beitragen können, wenigstens in Umrissen einiges sichtbar zu machen, das eingehendere Erörterung verdient, so liegt darin reichlicher Lohn.

Im Nachwort zum vorliegenden Reprint versuche ich, die nach meiner Ansicht von Karl May hier verarbeiteten Eigenerlebnisse aufzuzeigen. Raumgründe erlauben jedoch nur eine sehr geraffte - und daher lückenhafte - Darstellung.

XV. Für die Hilfe beim Zustandekommen dieses Bandes und für die Gelegenheit, eine Einführung dazu zu schreiben, danke ich sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Claus Roxin, Stockdorf, sowie Herrn Verkehrsdirektor Meyer, der Graphischen Kunstanstalt Fr. Ant. Niedermayr und der Buchhandlung Pustet, alle Regensburg.

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ANMERKUNGEN:

- Bei Hinweisen auf Textstellen lies: DH 20, DH 21, DH 22 = Deutscher Hausschatz, XX., XXI., XXII. Jahrgang, gefolgt von Seitenzahl; li = linke Spalte, r = rechte Spalte. F 20, F 21, F 22 = Fehsenfeld (Buchausgabe) Band 20 bzw. 21 bzw. 22, gefolgt von Seitenzahl. (Die Radebeuler Ausgabe dieser drei Bände ist bis zum 80. bzw. 83. Tsd., 1928, seitengleich mit der Freiburger Ausgabe.)

1) Der Karl-May-Verlag, Bamberg, bietet den ursprünglichen Text in Band 79 der Ges. Werke, "Old Shatterhand in der Heimat" (1997); hierzu Walther Ilmer, "Wirrwarr 'in der Heimat'" in: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hg.), Karl Mays "Satan und Ischariot", Karl May-Studien Bd. 5, Oldenburg 1999 (S. 180-217); ebd. sowie in der "Einleitung" der Hrsg. auch Ausführungen zur Entstehungszeit des Mskr. 'Krüger Bei'/'Die Jagd auf den Millionendieb', d.i. 1891/1892.

2) Herausgegeben im Sommer 1980 (KMG/Pustet) als achter Band dieser Reprintreihe.

3) Band 20, 21, 22 der Gesammelten Reiseerzählungen (in der Radebeuler Ausgabe: Gesammelte Werke). Der Freiburger Text ist zugänglich in der Reprint-Reihe "Freiburger Erstausgaben" des Karl-May-Verlags, Bamberg (1981) sowie in der Reihe "Karl Mays Hauptwerke in 33 Bänden - Züricher Ausgabe", Lizenzausgabe Parkland, 1992 (Bände 22, 23, 24). - Zu den Textunterschieden zwischen der Freiburger und der seitengleichen Radebeuler Ausgabe siehe "Kaum merklich verändert", Sonderheft Nr. 4 der KMG, 1976.

4) Nr. 49 im DH 20, ähnlich in Nr. 48. Faksimiliert bei Gerhard Klußmeier, Karl May und Deutscher Hausschatz IV, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG), Nr. 19, März 1974, S. 18.

5) Faksimiliert bei G. Klußmeier, a. a. O. (wie Anm. 4), S. 19.

6) Wie Anm. 4.

7) Siehe M-KMG Nr. 39, März 1979, S. 43 (Heinz Neumann, Bietigheim: "Zu Adolf Droops Analyse von Karl Mays Reiseerzählungen.")

8) Insoweit besteht in der Anlage der Trilogie auch starke Ähnlichkeit mit "Deutsche Herzen, deutsche Helden".

9) Heinz Neumann, a. a. 0. (wie Anm. 7); hier aus Gründen des Satzbaus geringfügig geändert.

10) Der für manchen abenteuerdurstigen Leser vielleicht 'langweilige' Deutschland-Teil ist im DH und in der dreibändigen Buchausgabe ja ohnehin auf ein Minimum beschränkt. Dem Forscher freilich bietet gerade dieser Teil ungemein reizvollen Stoff.

11) Das ist in Bezug auf das Gesamtgeschehen gemeint. Selbstverständlich sind auch die anderen May-Erzählungen höchst spannend und enthalten punktuell atemberaubende Einzelszenen (z. B. der Ritt über den Schott el Dscherid oder den Schott Rharsa, der Kampf gegen die Aladschy, die Errettung des Sendador vom Felsen, Gefangenschaft bei Ibn Asl, die Ereignisse am Höllenmaul, die vier verschiedenen Zweikämpfe bei den Utahs), und an derartigen frappierenden Höhepunkten mag die Trilogie sogar ärmer sein als andere Bände, jedoch birgt sie eine nur ihr eigene sehr dichte und hochgelagerte Dramatik, die sich unaufhörlich aus sich selber nährt und keine Zeit läßt für ein Verweilen oder für ein Auskosten besonderer 'Knalleffekte'.

12) Die bisher geschlossenste Darstellung zu diesem Lebensausschnitt siehe bei Claus Roxin, Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG)1974.

13) Siehe Band 79 der Ges. Werke (Anm. 1), S. 25

14) Hierzu siehe Dr. E. A. Schmid, Die verfälschte Handschrift, in: Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1926; auch in: ders., Die Lieferungsromane Karl Mays, Radebeul, o. J. (1935); heute verkürzt in Ges. Werke Band 34, "ICH", 28. Aufl. 1971, 29. Aufl. 1975, jeweils S. 376 ff. - Ferner Vorspruch von Dr. E. A. Schmid zur Radebeuler Ausgabe von Band 47 der Ges. Werke, Ostern 1927. - Siehe auch Gerhard Klußmeier, Karl May und Deutscher Hausschatz VIII und IX, M-KMG Nr. 23, März 1975, und Nr. 24, Juni 1975.

Infolge notwendig gewordener Textkorrekturen sind mehrere einstige Anmerkungen entfallen. Die Numerierung der verbliebenen Anmerkungen wurde aus praktischen Erwägungen beibehalten.

17) Siehe Anm. 1).

19) Zur Gegenüberstellung der betreffenden Texte, mit Kommentar, siehe G. Klußmeier, wie bei Anm. 14 (M-KMG Nr. 23 und Nr. 24). Siehe auch Anton Haider, Vergleichslesung 'Satan und Ischariot'. Vom "Deutschen Hausschatz" zur Buchausgabe. Oftersheim 1998. Siehe ferner Walther Ilmers Auflistung in "Der Professor, Martha Vogel, Heinrich Keiter und Mays Ich" (II), in: M-KMG Nr. 48, Juni 1981, S. 7-9.

22) Vgl. Helmut Schmiedt, Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Hain-Verlag 1979. (S. 30)

23) Hiervon abgesehen liefert May eine ungemein eindrucksvolle Beschreibung der Wirkung, die der Anblick des Geldes auf Franz Vogel hat. (DH 22, 679 r, 680 li; F 22, 576-577.)

24) Vgl. Kurt H. Schenk, "Ich der Proletarier" sagte Karl May, in: M-KMG Nr. 19, März 1974.

26) Selbst die Redaktion des DH hat etwas von der Eigenart dieser Erzählung verspürt: " ... nach unserer Ansicht der spannendste (Roman), den wir aus der Feder des beliebten Erzählers besitzen ... der Einfluß einer glücklichen Gemütsstimmung macht sich überall geltend." (Leserbriefkasten, Nr. 37, Juni 1895; faksimiliert bei G. Klußmeier, a. a. O., wie bei Anm. 4, M-KMG Nr. 19, S. 19.) - Allerdings ist dem DH wie dem Autor und später dem Verleger Fehsenfeld der grobe Schnitzer entgangen, daß die von Emery Bothwell aufbewahrte Brieftasche mit den geretteten Millionen (DH 22, 634 r, 635 li; F 22, 541-543) sich unversehens wieder im Besitz Old Shatterhands befindet (DH 22, 679 r, 680 li, 696 r; F 22, 576 - 578, 585 - 586), ehe dieser Bothwell wiedersieht. (Vgl. Sonderheft Nr. 4 der KMG, "Kaum merklich geändert", 1976, S. 29 u. 35). Das Versehen Karl Mays läßt sich leicht aus euphorischer Stimmung erklären.

27) Die anläßlich der Einführung zum Reprint "Die Felsenburg" (vgl. Anm. 2) erwähnte merkwürdige Ähnlichkeit jenes ersten Bandes der May-Trilogie mit dem kunstvoll-phantastischen Werk "Der Herr der Ringe" von J. R. R. Tolkien - der Verschmelzung der wesentlichen mythologischen Elemente abendländischer und morgenländischer Kulturkreise zu einer

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handlungsreich dramatischen, geradlinig aus sich selbst heraus konsequent weiterwachsenden und in sich geschlossenen Geschichte - findet sich auch in der Parallelität der Ereignisse, die einerseits Thomas Melton (May) und das Verräterpaar Schlangenzunge/Saruman (Tolkien) betreffen, anderseits sich um Jonathan Melton, seine angemaßte Rolle als Erbe, seine Allianz mit Judith ranken (May): dem entspricht bei Tolkien die Korrumpierung Sméagols/Gollums durch den goldenen Ring, sein widerwärtiges Zweckbündnis mit Shelob, sein Niedergang im Augenblick des scheinbaren Triumphes. Auf der Gegenseite agiert das von unzerstörbarem Ethos getragene und darum unbesiegbare Freundespaar Frodo/Sam(Tolkien) = Old Shatterhand/Winnetou (May).

28) Als historische Gestalt nachgewiesen u. a. von Franz Kandolf. Siehe KMJB 1979, S. 47 ff.

29) Auch der höfliche und neugierige Scout Will Parker (in der Buchausgabe Dunker geheißen), ein köstlich gelungener Charakter (DH 22, 427 r ff.; F 22, 376 ff.), vermag da wenig.- Dieser Will Parker ist nicht der Gefährte Sam Hawkens' und Dick Stones ("Das Kleeblatt", in "Der Ölprinz" und in "Winnetou I"). - Vgl. auch die Ausführungen von Wilhelm Vinzenz in M-KMG Nr. 39, März 1979, S. 20.

30) Bereits von Arno Schmidt (genüßlich) erwähnt in "Sitara und der Weg dorthin", Stahlberg Verlag, 1963 (S. 219).

31) In "Der letzte Ritt", DH XII, Nr. 8 (S. 122 ff.), Nr. 9 (S. 134 ff.); "In den Schluchten des Balkan", Band IV der Ges. Reiseerzählungen (Ges. Werke), 3. Kapitel.

32) Hier liefert Karl May eine qualvolle Variante zu dem bedrohlichen Kanalgitter-Erlebnis anläßlich der Befreiung Senitzas. ("Giölgeda padishanün", DH VII, S. 360; "Durch Wüste und Harem" = "Durch die Wüste", Band l der Ges. Reiseerzählungen/Ges. Werke, S. 140-141. - Frühere Veröffentlichungen, mit z. T. anderem Personal der Handlung, in "Feierstunden am häuslichen Heerde" unter dem Titel "Leilet" und in "Heimgarten" unter dem Titel "Die Rose von Kahira".) - Der Rückgriff auf dieses Kanalgitter-Abenteuer findet sich in DH 22, 347 li; F 22, 308. Die Wiedererlangung der Freiheit ist jeweils ein regelrechter Neubeginn des Lebens.

33) Hierzu auch Old Shatterhand über Starker Wind: "nicht nur ein tapferer, sondern auch ein wahrheitsliebender Krieger und Häuptling." (DH 22, 667 r; F 22, 568)

34) Vgl. Martin Lowsky, Der kranke Effendi, in: Jb-KMG 1980.

- Winnetou verkörpert hier auch das von Tragik überschattete Prinzip des Ideellen und symbolisiert die dem erbarmungslosen Untergang geweihte rote Rasse, die von außen her infiziert und von dem innerlich wirkenden Gift zermürbt wird. Insoweit zeigt Karl May hier die bedauerliche und doch unabänderliche Überlegenheit des 'Kulturmenschen' gegenüber dem 'Naturmenschen' (als den er Winnetou übrigens ausdrücklich bezeichnet: DH 22, 507 li; F 22, 440): Der kerngesunde Winnetou hätte den Aufenthalt in Deutschland und in Afrika eigentlich mühelos verkraften müssen - wie es dem Europäer Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand, der ja keineswegs stets so naturverbunden lebt wie der Indianer, stets gelingt. (Einschränkung: Die Pest in "Die Todeskaravane"). Jedoch bleibt gegebenenfalls der Naturmensch tatsächlich immer nur unter ganz bestimmten Lebensbedingungen physisch und psychisch gesund, während der 'verweichlichte' Kulturmensch anpassungsfähiger ist an veränderte Umweltbedingungen.

35) Diese Szene sollte bei Gelegenheit ausführlich erörtert werden. Sie verrät eine gewaltige innere Erregung des Autors. Gemessen an den Belangen der Handlung hätte sie viel spröder gestaltet werden können.

36) Ähnlich DH 22, 527; F 22, 458: "Der unvergleichliche Mann dachte an alles und verstand es wie kein zweiter, sich ... jede Lage ... nutzbar zu machen."

37) Beim Niederschreiben einer rein verstandesmäßig konzipierten Story wird ein Autor derlei Inkonsequenzen vermeiden. May überließ sich unkritisch den ihn innerlich bewegenden Kräften. ("Ich schreibe ... wie ich es in mir klingen höre." - Mein Leben und Streben, 1. Aufl., S. 228)

38) Wie Anm. 37.

39) Vgl. Helmut Schmiedt, a. a. O. (Anm. 22), S. 120.

40) Vgl. Walther Ilmer, "'Mißratene' Deutsche Helden", in: Karl Mays Deutsche Herzen und Helden, Sonderheft Nr. 6 der KMG, 1977. (S. 16) - Zwischen den einander ähnlichen Frauen Miranda und Judith steht als Dritte im Bunde die Kronenbäuerin (in "Der Weg zum Glück", Kapitel "Der Samiel"), die jedoch im ganzen maskuliner und gewalttätiger ist als die beiden anderen und ein böses Ende nimmt (nicht zuletzt, weil sie die Blindheit ihres Mannes verursacht hat. Bezogen auf Mays Vita und Psyche ist dies ein sehr 'erhellendes' Moment.).

41) Die kontinuierliche Erzählung "Der letzte Ritt"/"Durch das Land der Skipetaren" (DH XI, XII, XIV; Schluß von Band III der Ges. Reiseerzählungen/Ges. Werke, Band IV, V, VI der Ges. Reiseerzählungen/Ges. Werke - ohne den "Anhang" von Band VI) umfaßt zwar drei Buchbände, ist aber keine Trilogie. - Die "Winnetou"-'Trilogie' ist eine Ansammlung verschiedener Geschichten, die zu verschiedenen Zeiten - ohne innere Verknüpfung zueinander - entstanden und die ein uneinheitliches Winnetou-Bild bieten. (Vgl. Franz Kandolf, Der werdende Winnetou, in: KMJB 1921.)- "Der Mahdi" (DH XVIII u. XIX) ist eine fortlaufende Erzählung von etwas mehr als zwei Buchbänden Umfang, die auch durch den für die dreibändige Buchausgabe aufgepappten Schluß nicht zur Trilogie wird. - Ähnlich ist es mit "Old Surehand" (Ges. Reiseerzählungen/Ges. Werke XIV, XV, XIX), dessen zweiter Band, ein Flickwerk, wenig mit der Titelfigur zu tun hat. - "Im Reiche des silbernen Löwen" (in DH XXIII u. XXIV als Torso; Ges. Reiseerzählungen/Ges. Werke Band XXVI bis XXIX) muß ganz außer Betracht bleiben.

42) Vgl. Mein Leben und Streben, 1. Aufl., S. 228.

44) Diese Altersangabe erklärt sich jedoch sofort, wenn bei Karl May die fortschreitende Assoziation 'Harry Melton/Heinrich Münchmeyer' zugrundelegt wird: Hätte Münchmeyer (verst. 1892) zur Zeit der Niederschrift jener Szene noch gelebt, wäre er in der Tat Ende der 50 gewesen! - Zur (Zerr-)Spiegelung Münchmeyers in Harry Melton siehe das Nachwort zum Reprint "Die Felsenburg" (Anm. 2).

45) Dr. phil. Adolf Droop, Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen. Vlg. Frenken, Köln-Weiden, 1909. (S. 26) - Vgl. Anm. 7.

46) Zu einigen der handelnden Personen finden sich Bemerkungen bei Viktor Böhm, Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Neuausgabe Prisma Verlag, Gütersloh, 1979. Auch bei Otto Forst-Battaglia, Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. KMV Bamberg, 1966. - Forst-Battaglia zählt die Trilogie zum besten in Mays Gesamtwerk, "ausser dem verunglückten Afrika-Einschub" (a. a. O., S. 171), ohne jedoch näher darauf einzugehen oder eine Analyse vorzunehmen. Der "Afrika-Einschub" ist m. E. eine der bemerkenswertesten Leistungen Karl Mays.

Herausgegeben von der Karl-May-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Pustet, Regensburg. Reprint-Druck durch die Graphische Kunstanstalt Fr. Ant. Niedermayr, Regensburg. 1980

ANHANG: Rechtsanwalt Fred Murphy und die Millionen

Längst bekanntgeworden ist Karl Mays köstlicher Schnitzer, daß Old Shatterhand die von ihm geretteten Millionen (Hunters) aus der sie bergenden Tasche herausnehmen und dem perplex dreinblickenden Thomas Melton zeigen kann (XXII 586), obwohl er sie zwecks Sicherstellung vor Gefahr dem Freunde Emery Bothwell zur Aufbewahrung übergeben hatte (XXII 542) und diesem seitdem nicht wieder begegnet war. Im Handlungsgeschehen verbirgt sich aber mit Blick auf das erschwindelte Millionenvermögen noch ein anderer und schwerer wiegender Fehler, der hier kurz erläutert werden soll, da eben die Rückgewinnung des Geldes aus Schurkenhand der Gegenstand der Erzählung ist.

Für Small Hunter lag es auf der Hand, in Briefen an seinen Vater, an Freunde und Bekannte die täuschende Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Langzeit-Reisebegleiter hervorzuheben (wie Jonathan Melton seinerseits im Brief an Harry); erklärlich war auch Fred Murphy davon unterrichtet. Wenn nun nach dem Tode des alten Hunter (auf den die Meltons natürlich warten mußten) Jonathan allein in New Orleans auftauchte, mußte er wegen der dort vorliegenden Mitteilungen des jungen Hunter darauf gefaßt sein, daß man ihn auffordern werde, das unverwechselbare Identitätsmerkmal des Erben, nämlich sechs Zehen an jedem Fuß, vorzuweisen. (Davor schützte ihn auch die von Harry in Murphys Kanzlei geleistete Vorarbeit nicht.) Auch "die Behörden", die May mehrmals als an dem Fall beteiligt erwähnt, hätten darauf bestanden. (Gemeint sein muß damit der Probate Court, der wie das deutsche Nachlaßgericht fungiert.) Daß Murphy - der ja nicht gemeinsame Sache mit Melton macht - sich täuschen ließ (XXII 11-13), zumal angesichts des auch für ihn rätselhaften Benehmens des (falschen) Erben (XXII 31-32), widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit. Unter den gegebenen Prämissen mußte der Plan der Meltons scheitern statt gelingen. Karl May hätte durch gedankliche Arbeit die Schwierigkeiten, denen Jonathan Melton sich gegenübersah, aus dem Weg räumen müssen, hat diese Gedankenarbeit aber nicht investiert.

Es spricht wieder einmal für ihn, daß der Leser ihm trotzdem gern und willig folgt auf dem Weg zur "Rettung der Millionen".

Postskriptum des Verfassers zur überarbeiteten Fassung: Angesichts der in weiteren zwanzig Jahren gewonnenen Lebenserfahrung meine ich, im vorliegenden Nachwort seien gewisse Modifizierungen von Nutzen. Das Bemühen, Karl Mays Seelenlage zu erkennen und das (wahrscheinlich!) aus seinem Unterbewußtsein ins Werk Eingeflossene dingfest zu machen, trägt viele Früchte - und weckt immer neue Zweifel am "Nährwert" dieser Früchte. Mein "Anspruch" lautet nicht: Seht, meine Überlegungen haben mich zur Wahrheit geführt! Er lautet vielmehr: Auch aus irrigen Überlegungen kann für den inspirierten Leser der Funke springen, der  i h n  zur Wahrheit führt. Sollte niemand je sie finden, wird das Faszinosum KARL MAY bis in alle Ewigkeit den Menschen weit mehr zu sagen haben als die Menschen über KARL MAY.

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