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Hans Wollschläger

Menschheitsproblem im Singular

Zweites Gespräch, das Gunter A. Ösler mit den Herausgebern Hans Wollschläger und Hermann Wiedenroth über den Fortgang der Historisch-kritischen Werkausgabe Karl Mays im BÜCHERHAUS BARGFELD führte.*



HW: Sie nahn sich wieder, schwankende Gestalt? Wir dachten schon, Sie hätten unserer Unternehmung die Feindschaft gekündigt, nachdem so lange nichts von Ihnen zu hören war. Aber Sie haben mittlerweile geheiratet - verdanken wir etwa diesem Umstand auch Ihre so seufzende Miene?

GÖ: Nein, Ihrer höchsteigenen Erscheinung, wenn Sie gestatten. Denn um gleich a.a.O. zurückzugeben: des Lebens labyrinthisch irrer Lauf scheint Ihnen auch nicht gerade die Züge geglättet zu haben. Mit Recht so, möchte ich doch sagen - nach soviel Katastrophen.

HW: Nun - next March it will be sixty years that I joined the human race; das ist, wohl zugegeben, nichts Kleines. Und sieben Jahre schon sind's her, daß Sie Ihr »Karl May und kein Ende!« riefen - auf den Tag genau sogar, fällt mir grad ein: eine vorsätzliche Fügung Ihrerseits?

GÖ: Man muß dem unförmigen Weltlauf zu Proportionen verhelfen - haben Sie selber einmal gesagt. Ich stelle mich zum Jubiläum eines Desasters ein, das ich ja nicht nur habe kommen sehen, sondern auch nicht ohne Befriedigung gekommen sehe, wie Sie wissen, und ich finde, das verflixte Datum lädt Sie zur Inneren Einkehr --

HW: - und da wollen Sie nun rasch Gerichtstag über Uns halten. Gemach. Was sind denn schon sieben Jahre bei einer Historisch-kritischen Ausgabe? Andere, die sowas unternehmen, haben da noch nicht einmal den Ersten Band zuwege gebracht.

GÖ: Das sind auch keine so biestigen Überzeugungstäter wie Sie, die sich nach wiederum meiner Überzeugung bloß mit der zeitgenössischen Literaturgeschichte einen riesigen Jux machen wollen -: 99 Töpfe Quark mit kritischem

* Das erste Gespräch Gunter A. Öslers mit Hans Wollschläger und Hermann Wiedenroth über die 1987 bei Franz Greno begonnene Historisch-kritische Ausgabe »Karl Mays Werke in 99 Bänden« erschien erstmals in »Karl May. Eine philologische Streitschrift«, Nördlingen 1988, und wurde nachgedruckt in »Der Rabe«, Magazin für jede Art von Literatur, Nr. XXVII, Zürich 1989, sowie in »Hans Wollschläger: Karl May«, Dresden 1990. Nach Grenos Aufgabe seines Verlags wurde die Werkausgabe zwischenzeitlich im Haffmans Verlag, Zürich, fortgeführt, bis das BÜCHERHAUS BARGFELD, eine unabhängige Unternehmung der Herausgeber, sie endgültig übernahm. Dort erscheint sie nunmehr kontinuierlich mit acht Bänden im Jahr. Das im Frühherbst 1994 in Bargfeld, dem Wohnort Arno Schmidts und Standort des Verlags BÜCHERHAUS, geführte »Zweite Gespräch« zwischen Ösler und den Herausgebern (im Text beide »HW«) erläutert einiges zur Geschichte und zum Selbstverständnis der Ausgabe und erscheint hier erstmals im Druck.


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Apparat - die »Erstgeburten eines Esels«, wie ich Arno Schmidt grad habe schreiben lesen, in Fadenheftung samt Kopfschnitt und Lesebändchen - längst säuerlich gewordenes Massenfutter auf silberner Schüssel, von ausgerechnet Ihren Händen gehalten, als wäre's der Gral! Wahrhaftig, alles andere sähe ich lieber darauf liegen, und wenn's der Kopf des Jochanaan sein müßte - - -

HW: Wollen wir nicht zur Sache kommen, Herr Ösler?

GÖ: Also kurzmündlich stenogrammatisch: Karl May - und wirklich kein Ende? Dabei sind Sie doch nun wahrhaftig genügend gestubst worden, um den Willen Gottes erkennen zu können! Zwei Verleger verschlissen, zweimal Erfahrungen mit der Unbekannten Menge gemacht, die entmutigend genug sein dürften, also zweimal eine - wie ich vermute, auch saftig gebührenpflichtige - Verwarnung ... und Sie wollen die Verkehrswidrigkeit Ihrer Verfahrensweise nicht sehen und setzen sich zum drittenmal hinters Steuer!

HW: Sie sollten die Beharrlichkeit preisen, mit der wir - ja, allen Gewalten zum Trotz uns erhalten und die Verkehrshindernisse geduldig umfahren. Große Sachen sind nie ganz glatt und direkt ans Ziel zu bringen; man muß, solange man die öffentlichen Straßen benutzt, mit Absperrungen aller Art rechnen. Das ist natürlich beschwerlich - aber was beschwert denn Sie daran?

GÖ: Ich beklage ganz einfach, daß Sie sich bei Ihrem Großen Ding nicht endlich darauf beschränken, es gewollt zu haben. Edle Resignation stünde Ihnen durchaus gewinnend zu Gesicht, und notfalls hätte selbst ich mich bereit gefunden, sie der Öffentlichkeit in bewegenden Worten vorzustellen.

HW: Ein reizvoller Gedanke, der uns aber ganz fern liegen soll. Nein, wir haben so wenig aufgegeben, wie uns etwa die Pleite ereilt hat, falls Sie das annehmen. Wir haben nur gewisse Erfahrungen mit dem Verlagswesen gemacht, die uns - nunja, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu denken geben mußten, und allenfalls könnten Sie uns vorwerfen, daß wir, nach ja immerhin gut zweihundert Jahren Erfahrungs-Dokumentation in der Literaturgeschichte, so gescheit hätten sein müssen, sie schon vorher am Strategentisch zu berücksichtigen.

GÖ: Den Weitblick in die Vergangenheit zumindest hätte ich Ihnen unbesehen zugetraut.


Nicht diebstahlsgesichert

HW: Sie werden ja nun auch den in die Zukunft bezeugen können. Die Geschichte - jawohl, »die Geschichte«; wir schlagen bloß ein neues Kapitel auf, wie der Kanzler sagen würde - ist einfach die: daß Wir die Beziehungen beendet haben, noch ehe die betreffende Kiste von selber zu Bruch ging, also vor dem Fall - und entsprechend mit einer gewissen Hochgemutheit. Wir wußten die Zeichen sagen wir der Zeit immer ganz gut zu deuten und haben zugesehen, daß wir rechtzeitig aus dem Staube kamen.

GÖ: In dem sich Ihr Großer Autor selber wohl weidlich hat wälzen müssen Entschuldigung, ich komme just aus Bayreuth, wo man betreffs »Vermarktung« (was für ein Unschuldsmienenwort!) auch so mancherlei lernen kann. Jedenfalls hat er's wohl nie mit idealistischen Strategen der Geistverbreitung zu tun gehabt - oder?

HW: Im Gegenteil: mit skrupellosen Händlern immerzu - mit den sich satt saugenden Fliegen-Flöhen-Wanzen-Läusen der Literatur. Auch die Geschichte hoffe ich noch einmal darstellen zu können, weil sie gar so modellhaft ist wie alles in Mays Leben: von H. G. Münchmeyer, einer kleinen huschenden Ratte des Papierhandels; von seiner Witwe Pauline, dem überhaupt fast unbeschreiblich


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scheinenden Phänomen, hätte nicht Karl May es selber beschrieben; von ihrem Nachfolger Adalbert Fischer, einem aus Raffgier und Sentimentalität gemischten Jobber; ja, und auch von dem Friedrich Ernst Fehsenfeld schließlich, dem der kontostandesgemäße Enthusiasmus sofort abhanden kam, als es galt, Figur zu zeigen -: alles schlimme Vertreter des weltumspannenden Phänomens der Habe-Sucht (»kapitalistische Ausbeuter« sagte man in früheren, jetzt entschwundenen Zeiten). Später folgte dann, post humum, der Karl-May-Verlag, unter dessen Ägide die Texte »auf die jeweiligen Markterfordernisse« hergerichtet wurden ... und schließlich ein Haufen von Spekulanten aller Art, die nach dem Werk grapschten, als die urheberrechtliche »Gemeinfreiheits«-Glocke schlug - weil nämlich das geistige Eigentum im Gegensatz zu anderen Eigentumen in unserem Gemeinen Wesen nicht ausreichend gesetzlich diebstahlsgesichert ist ...

GÖ: Äh - nun - ich kenne Ihre diesbezüglichen Reden an die deutsche Nation; sie waren nicht sehr wirksam, gell?

HW: Nein. Der allgemeine Übelstand dauert fort, und Karl May hat ihn jedenfalls, vortodes- wie nachlebenslang, voll auskosten müssen. Ich drücke mich einmal ganz milde aus: er hat wenig Glück gehabt - auch in seinem literarischen Dasein.

GÖ: Pech gehabt. Wäre er Hoftrompeter beim Grafen von Hinterglauchau geworden. Aber das ist ja nun das Allgemeine Autorenlos, das man sich vorher überlegen kann. Ich habe selber darum kürzlich, alles erwogen, die Abfassung von Büchern aus meinem Lebensplan ausgeschlossen, fraglos zum Nutzen meiner Wohlfahrt. Der Mayster May hat sich dazu leider nicht entschließen können und mußte die Folgen in Verkauf nehmen - bei dem ja doch immerhin noch einiges für ihn abgefallen ist. Kein Stoff zur Tragödie und auch kein - - -

HW: Nein, Moment: darüber wollen wir denn doch nicht so mit Ihrer gezuckten Achsel weggehen. Es geht bei diesen Ur-Sachen nicht um eine mehr oder minder ansehnliche Bilanz am Ende, wie es auch zuletzt nicht darum geht, daß Einer da mit 50 Jahren noch bis zu 5.000 Seiten jährlich schreiben mußte, um das »freie« Autoren-Leben zu fristen: - nur passando mögen Sie sich kurz vorstellen, was das an Nicht-Leben bedeutet, an dauernd erzwungenen Verstößen gegen das Lustprinzip. Nein, es geht um die furchtbare Dunkelziffer des Scheiterns bei diesem trotzigen Trotzdem derer, die mehr Wage-Mut haben als Sie oder, anders gesagt, die der durchdringenden Notwendigkeit des Geistes schutzloser ausgeliefert sind: es geht um die Entwicklungshinderung der so raren Erscheinung »Geist«, um deren Ersticken im Betriebsgetümmel der Materie und ihrer eingetragenen Inhaber. Der Vorgang ist menschheitsschädlich, da evolutions-bremsend, auch wenn die Bremsklotz-Menschheit das nicht so sieht, weil sie ihre Zielbestimmung nicht so sieht ...

GÖ: Sicher, die meisten Gesichtchen auf Erden sind ja schon durch eine Pakkung Ariel-Ultra glücklich zu stimmen ... ich kenne Ihre verstörende Ansicht, daß die ganze Geschichte bloß eine wüste Nonsens-Betriebsamkeit sei, um zur Kulturgeschichte zu gelangen. Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Der Reine Geist ist ein Verstoß gegen die Gesetze des Marktes - das ist nun einmal so und wirkt sich rückschlägig aus, wenn beide zusammenkommen - - -

HW: Der Markt ist ein Verbrechen gegen die Gesetze des Reinen Geistes, mein Herr! Und es müßte Grundsatzentscheidungen dagegen geben, die dem Übel steuern - so ein wenig wenigstens, wie die Strafgesetze es bei den anderen Kriminalien tun ... Das ist natürlich eine Utopie mehr; ich weiß es wohl. Und solange sie nicht in die Greifbarkeit rückt, gilt's eben eine Zwischenlösung zu installieren. Ich will, nur ein Detail daraus, auf dies hinaus: Daß »die Literatur« den Händlern weggenommen werden muß, den schiebenden Marktlieferanten,


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den schielenden Marktspekulanten, den schäbigen, schabenden Murxern und Machern, die den Jungen Autor, wenn er ihnen seine ersten Versuche anträgt, monatelang im Vorzimmer warten und dann einfach rausschmeißen lassen; die den Arrivierten, wenn er es denn trotz ihrer geworden ist, zwar mit geläufiger Routine auf dem Markt ausschreien, aber sofort zum Teufel schicken, wenn der Andrang dort nicht von selber groß genug ist; die den Alten dann schließlich auf der Straße nicht mehr grüßen, weil er ein auslaufendes Modell ist ... lesen Sie mal ein bißchen in der Literaturgeschichte, von Lessing angefangen quer durchs ganze klassische Jahrhundert, bis hin zu den späten Briefen Thomas Manns an seinen Bermann-Fischer, bis hin zu dem sanften Robert Walser, der Max Brod empfahl, mit Verlegern grundsätzlich wie mit räudigen Schweinen umzugehen, bis hin zu Arno Schmidt ... Und von den noch nicht dokumentierten Schicksalen der Gegenwarts-Autoren kann ich Ihnen ebenfalls gern - und keineswegs nur aus meiner eigenen Erfahrung - eine kleine Schreckenskammer voll anbieten, vor der selbst »Horror pur«, eine Anthologie aus unseren Tagen (nein, es gibt sie, vom Verleger freudig gedruckt; ich erfinde nichts) in den Schatten sinkt. Und da wir von Arno Schmidt reden: soll ich Ihnen zitieren, mit welchen Wörtern er mir im Lauf der Zeit, und mit allem Grund und Recht, »seine« Verleger ornamentiert hat? Sie müssen sich fest auf den Gartenstuhl dazu setzen; es sind Ausdrücke, die Sie noch nie im Leben gehört haben, und das in »wiederholungsfreier Fülle«, die Ihnen --


Schon Feinde genug ...

GÖ: Halten Sie möglichst rasch inne; Sie haben schon Feinde genug. »I am afraid all booksellers are rascals«, habe ich grad bei ihm Cooper zitiert gefunden, und das soll mir umfassend genug sein. Wir wollen bei Ihrem Autor hier bleiben, der ja doch sowohl arriviert wie auch beklagenswert ewig-jung unter uns weilt und gerade bei den Markt-Verlegern ein gern gesehener Gast sein dürfte -: was ist da passiert? Gingen Ihre Geschäfte denn so schlecht? Dabei wollten Sie doch gar nicht auf den Mammon schauen und dessen Überhang sogar an eine Stiftung wegschenken!

HW: Richtig, und darum dreht sich's gar nicht - obwohl ich Ihnen auch über die eigenartige »Zahlungsmoral«, die beim Büchermacher zum Geschäft gehört, einige Anekdoten erzählen könnte ... ich selber warte zum Beispiel zur Stunde immer noch, in der Welkzeit des Jahres schon, auf die Überweisung des bereits im Februar ausgerechneten Bißchens Honorar aus den vorjährigen Verkäufen meiner Bücher. Es ist wirklich staunenswert, wie lange die Leute Verleger sein können, ohne erwischt zu werden ...

GÖ: Und deshalb sind Sie damals, historisch belesen, als Kind der Zeit gebrannt, zu dem »Anderen Verleger« gegangen - und prompt mit ihm in der Pleite gelandet?

HW: Franz Greno bleibt ein rühmenswerter Mann, der alles »anders« wollte und vieles auch anders gemacht hat; es sind ihm viele Schöne Bücher zu danken, nicht nur die unseren, und sein Name wird einen Modell-Klang behalten. Wir haben ihn, und zwar mit größtem Bedauern, verlassen, als sein Ende für uns in Sichtweite kam--

GÖ: Ihm gar gekündigt?

HW: - ihm gekündigt, als er der Sache geschäftlich nicht mehr gewachsen war und seine Bedingungen sich änderten. Und auch das, was Sie seine Pleite nennen, war anders bei ihm, jedenfalls was uns betrifft: er hat einsichtig aufgehört und ist uns nichts schuldig geblieben. Sein durchaus ehrenvolles Scheitern -


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imgrunde ist er als Verleger ein Opfer des Verlegerwesens geworden - kam daher, daß er eines Tages nicht mehr nur der Künstler in der Bücherwerkstatt sein wollte, der er war, sondern auch der geriebene Wirtschafts-Tycoon - also einer, der den Drucksachen-Markt selber nach seinem Bilde macht und die große und schnelle Drucksachen-Mark dazu - (wehe, bald wird man das schöne Wort, das ich zur Kennzeichnung der Verleger-Literatur eingeführt habe, nicht mehr kennen, nachdem die Post es abgeschafft und durch das schicke »Info« ersetzt hat; Allah tue ihr dieses und jenes!)

GÖ: Sehr einverstanden. Und Grenos Ableben beklage auch ich durchaus lebhaft. Dann jedenfalls sind Sie zu Haffmans gegangen, der zwar in der Folge mit vielen bunten Taschenbüchern gewimmelt hat, aber mit Ihrer »eigentlichen Ausgabe« nicht so recht vom Fleck kam, und den haben Sie nun ebenfalls verlassen - ihm ebenfalls gekündigt?

HW: Nachdem er der Sache geschäftlich nicht gewachsen war und seine Bedingungen sich änderten.

GÖ: Um Gott, erschaut Ihr Weitblick auch bei ihm schon die Pleite am Horizont?

HW: Sein Horizont ist ein anderer als meiner, und ich schaue dort nicht mehr hin. Ich möchte mich über Gerd Haffmans hier überhaupt nicht weiter auslassen, weder über sein Verlegergebaren noch über sein Verlagsprogramm, nicht zuletzt weil ich durch seit Jahrzehnten gepflegte und auch weiter gehegte Freundschaftsgefühle behindert bin. Wir haben uns nur geschäftlich getrennt, und dabei werden beide Seiten wahrscheinlich ganz gut fahren.

GÖ: Es hat wohl keinen Zweck, wenn ich journalistisch in Sie dringe? Natürlich möchte ich da gern noch wissen, was genau Sie auf Distanz gebracht hat - offenbar ja auch mit Ihren eigenen Büchern - - -

HW: Ihr Wissensdurst ehrt Sie, muß aber vergebens lechzen. Wenn ein Verlag so häufig von Gott und allen guten Geistern verlassen wird, ist's auch für unsereinen Zeit, sich auf die Socken zu machen: - lassen Sie's damit genug sein.


Ein Buchstabenquirl

GÖ: Wenn Sie nichts sagen, muß ich mir was ausdenken, was Sie gesagt haben. Aber sei's drum; ich beklage ja auch gar nicht so sehr das Erlöschen Ihres irren Unternehmens in dieser zweiten Anstalt, wie Sie sich vorstellen können, als vielmehr sein Wiederaufflammen in einer dritten - - - meine Herren, meine Herren! Und ich hoffte Sie ehrlich zu Trost gekommen! Ich denke mir noch, nun geht alles vorüber, nun geht alles vorbei - und was höre ich, was sehe ich schließlich erscheinen - --?

HW: Was sehen Sie denn, Herr Ösler?

GÖ: Die Liebe des Ulanen. Ich sage nichts weiter als: Die - Liebe - des - Ulanen. Wird Ihnen eigentlich vor gar nichts bange?

HW: Fassen Sie sich: der Titel stammt wahrscheinlich überhaupt nicht von Karl May, sondern ist eine Eingebung und Vorgabe des Verlegers Münchmeyer - wie schon beim »Waldröschen«, dem ersten Gebilde dieses Kalibers. Ein Fortsetzungs-, Heftchen- oder Kolportage-Roman eben, deren er bekanntlich Stücker fünf geschrieben hat - auf seinem langen, anstößig steinreichen Unterwegs-Weg zur Literatur.

GÖ: Und dessen gesamten Schotter müssen Sie uns nun, historisch-kritisch verpackt, neu herausgeben! Fünfmal noch so ein aberwitziges Abertausend-Seiten-Ding - am Ende, Moment, Ihr Editionsplan, Abteilung II, 31 Bände zu je über 500 Seiten: also darauf hat die Welt wahrhaftig grad noch gewartet!

HW: - die ihre aberwitzigen Einfälle und Händel lieber in der Wirklichkeit aus


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trägt, von wo sie dann umständlich aufs Literatur-Papier gelangen, wo sie eigentlich zum Vorteil des Publikums direkt abgeliefert werden könnten. Aber was ist Ihnen, Sie wirken denkwürdig gereizt: war die Lektüre so atemberaubend?

GÖ: Ihre wüsten fünf Bände haben mich einen völlig entgeisterten Tag und eine wüste schlaflose Nacht gekostet, und meine Sympathie für Sie, die sonst nicht leicht in Anfechtung gerät, hat dabei allerlei Einbußen - - -

HW: Na sehn Sie. Das ist ein Effekt, den diese Bücher nicht zum erstenmal erzielen. Sie scheinen sie in einem Zuge durchgelesen zu haben; wir gratulieren uns.

GÖ: Nun ja, leider, man ist als Journalist eben die Gründlichkeit gewöhnt, auch wenn sie gegen die Neigung geht. Aber ich befinde mich durchaus in maßvoller Verfassung; ich halte noch an mich und bleibe rein philologisch. Ein Buchstabenquirl von zweieinhalb Tausend Seiten also, diese »Liebe des Ulanen«, von völlig imbezillen Setzern noch zusetzlich um Sinn und Verstand gebracht: mein Gott, diese Druckfehler, diese Textverluste - bloß weil die Kerls nicht richtig hinschauen konnten, diese Panik, die sofort im Setzerkasten ausbricht, wenn ein französischer Eigenname erscheint, zu schweigen vom konsequent verschriebenen Imperator »Bounaparte« -: sagen Sie, haben Sie nicht selber dabei das Gefühl gehabt, Ihrem literarischen Waterloo ganzganz nahe zu sein?

HW: Die Kolportage ist in gewissem Sinne das Waterloo der Hohen Literatur: sie wirft ihr den ästhetischen Machtanspruch ebenso über den Haufen wie den sozialen. Das ist aber schon wieder - was alles auch noch sonst - etwas geschichtlich Dokumentarisches und ein durchaus ernstes Thema, lieber Freund, über das wir unbedingt--

GÖ: Moment, ich bin noch bei der bloßen Philologie - und halte den Blick auf Ihren Editorischen Bericht gerichtet, wo Sie tatsächlich eine Menge dokumentieren und diesen Groß-Defekt von Text wie die Schriftrollen vom Toten Meer traktieren. Ihre explizite »Korrekturen«-Liste zum Beispiel: also derart angewandte Philologie wirkt auf mich einfach unanständig -: wollten Sie denn das ganze Genre verhöhnen? Ich hole mir rasch wieder Arno Schmidt zuhilfe, weil ich mir wohl im klaren bin, daß Sie nur mit starken Autoritäten zu schrecken sind: »Große wissenschaftliche Ausgabe? Oh, ich weiß schon, was die Brüder so nennen: wenn sie uns zu dem Kind noch die placenta servieren!« Eine in der Tat unstatthaft übertriebene Geburtshilfe in diesem Fall.

HW: Die Historisch-kritische Ausgabe läßt nun einmal keine Wahl, und nachdem wir uns entschieden haben, dem alten Mann, dem von den Verlegern die Texte wie keinem anderen zugerichtet worden sind, das Große Instrument zur Verfügung zu stellen, liegt die Verfahrensweise fest: es geht nur streng nach den Regeln oder gar nicht. Uns haben die Text-Defekte auch wahrlich genug Kopfzerbrechen bereitet; aber sie sind eine weitere Zeichensprache im Getümmel dieser raschelnden, ächzenden, quietschenden sieben Millionen Buchstaben, und auch sie mußte gehört - ja, erhört, »erlöst« werden. Nehmen Sie zum Beispiel den Unfall mit dem Kapitel »Ulane und Zouave«, der und das Ihnen ja sicher nicht entgangen ist: Neben den vielen Schicksalen, die in dem Dicken Werk abgebildet sind - und ich meine nicht nur die der Figuren-Stage -, erscheint da auf einmal auch das des Autors, der, durch die Nachricht von der letzten Krankheit seiner Mutter aufgeschreckt, alles Fortsetzen stehen und liegen ließ und nach Hause fuhr, um die alte Frau im Tode zu halten, und dem dies Erleidnis für Wochen die ganze Schriftsprache verschlug: der Verleger, binnen kurzem ohne Stoff, stürzte in die Wohnung seines Sklaven, fand ihn nicht, fand auch kein weiteres Manuskript und nahm dafür einfach ein anderes, angefangenes mit, um es an der Abbruchstelle anzukleben. Dort klebt es nun noch immer mittendrin, und daß es dann selber in seinem Mittendrin aufhört, um wieder dem Hauptroman Platz zu machen, ist zweifellos der Gipfel der Unord-


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nung, aber auch ein sprechendes Armuts-Zeugnis dieser Armen-Literatur mehr. Und sehn Sie, nicht einmal diesen Fremdkörper konnten wir tilgen oder separieren: er gehört zur so mehrschichtig erzählten Geschichte.

GÖ: Gleich werden Sie mir noch die Flecken auf der Druckvorlage soziokritisch interpretieren: Wer nie sein Brot mit Tränen las, eh? Wieso haben Sie dann aber nicht den ganzen Kram so, wie er in der Zeitschrift stand, abgedruckt? Dann hätten Sie Ihre »Dokumentation« voll rabenschwarz auf Blütenweiß gehabt.

HW: Erkennbare Setzerfehler zu konservieren, verlangt auch die strengste Philologie nicht von uns; die im Bericht benannte Quantität gibt genug zu bedenken. Problematischer sind schon die berüchtigten Interpolationen des Verlegers: da hätten wir uns wenigstens genug Sicherheit gewünscht, um die »Stellen« ungefähr markieren zu können. Es war nicht möglich - wenigstens streng philologisch nicht; parlando kann man natürlich, via Stil-Analyse, allerhand bunte Überlegungen anstellen.


Keine Spur von »Sodoms Früchten«

GÖ: Darauf wollte ich als nächstes zu fragen kommen. Da hat ja nun zu allem Überfluß auch noch Herr Münchmeyer selbst allerlei senffarbene Sätze dazwischen geschrieben: »Pornographie«! Ja, gibt's denn sowas überhaupt?

HW: Ein alter düsterer Winkel im Triebleben der Verleger, heute via »Lektorat« befriedigt: die Sucht, doch auch »mitzumachen« bei der Erschaffung der Literatur, statt sich einfach als die Händler zu verstehen, die sie sind, und diesen Status möglichst durch wachsende Geschicklichkeit zu verbessern. Auch Herr Haffmans selbst hat einmal zu dieser Trieb-Feder gegriffen, als er sich besonders verlegerisch aufgelegt fühlte, und uns in einen Editorischen Bericht - bitte, Sie können's selber nachsehen: Band III.5, Zeilen 3/4 - einen Treppenwitz gepatzt, für den ich ohne weiteres das Prädikat »unsittlich« in Anspruch nehmen würde. Möglich also ist's; bei der Wahrscheinlichkeit kann man schwanken.

GÖ: Was stammt denn nun bei all dem »Fremdverschulden«, wie Sie sich so abgehoben ausgedrückt haben, gesichert von Ihrem Tausend-Seiten-Sassa? Ich habe mich, von Ihnen unablässig gereizt, ja leidlich sachkundig gemacht inzwischen und mir angesehen, wie er da mitleidswürdige zwölf Jahre lang prozessiert hat gegen die Ganeffs, bloß um nachzuweisen, daß er berechtigter Urheber sei, und der Öffentlichkeit zugleich darzutun, daß die bewußten Bücher Moment, ich habe mir abgeschrieben, was da notariell eingestanden wurde »durch Einschiebungen und Abänderungen von dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten können.« Also, was hat er denn nun verfaßt - alles exclusive der Pornographie und der Druckteufeleien?

HW: Das sicher - und vielleicht eben doch ein paar von jenen »Szenen« dazu; es ist nicht mehr zu klären, denn auch seine eigene Altersentrüstung taugt nicht zum Beweis, weil sie eben Alters-Entrüstung ist; er könnte in seinen jüngeren Zeiten durchaus lustigere Gefühle gehabt haben. Sie waren, diese Szenen, schon damals, hundert Jahre nach Wieland und Heinse, zweihundert nach dem Großen Barock, eher Abhub der Tradition als ihr Umbruch ins entrüstlich Neue, und heute wirken sie, in ihrer Monotonie und stereotypen Enge, vollends nur albern und elend - elend allerdings auch im Sinne des Elends einer Epoche, die ihre elementaren Phantasien nur noch in derart verkrüppelter Gestalt ans Licht bringen konnte. Inmitten des heutigen Exhibitionismus, einer anderseitigen Verkrüppelung wieder, haben sie keinerlei Aussicht, satanisch aufzufallen, es


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sei denn, sie würden im Vatikan gelesen. Freilich, ich habe Ihrem Medium entnommen, daß in Amerika grad 1 Million voreheliche Jungfräulichkeits-Gelöbnisse abgelegt worden sind; bald wird's auch bei uns, wo sämtliche Alfanzereien des Wilden Westens sofort in Lizenz erscheinen, eine neue Verklemmungswelle geben, und dann dürften unsere »abgrundtiefen Unsittlichkeiten« hier erneuter Aufmerksamkeit sicher werden. Einstweilen gilt, daß wir sie eher als Epochenprodukt lesen denn als individuelle literarische Stimme, und hat der Verleger sie hineingemurxt - um so stimmiger in diesem Sinne.

GÖ: Also ich wag's und sag's: Das können Sie dem Juden Apella erzählen! Mir kommt das schwüle Gedruckse so authentisch vor, so ganz aus einem Guß, daß ich Reichs-Scepter und -Hammer darauf verwetten würde, der Mayster habe es just so geschrieben. Sind wenigstens auch Sodoms Früchte dabei? Ich meine, in den folgenden Bänden, deren genaue Kenntnis Sie mir glücklicherweise noch voraus haben.

HW: Bedaure, keine Spur. Nein, Arno Schmidt hat ausnahmsweise unrecht was mir übrigens viel unbehaglicher ist, als wenn er recht hätte. Schließen wir dies ab; es ist nur eine Bagatelle im Ganzen, und die philologische Beschreibung hat jedenfalls nicht nur Mays eigene Beteuerung ernst zu nehmen, sondern auch das Eingeständnis der von ihm verklagten Täter, es seien Text-Änderungen bis zu einer Quantität von »fünf vom Hundert des jeweiligen Ganzen« vorgenommen worden.

GÖ: Ho, das habe ich in Ihrem Bericht gelesen; das wären demnach - wo steckt denn meine Rechenmaschine - bei zweieinhalb Tausend Seiten pro Roman: - -125 Seiten? Unglaublich.

HW: Auf den »Verlornen Sohn« dürfen Sie trotzdem gespannt sein: da kommt Ihnen nicht nur die ganze Sozialgeschichte der Epoche in konzentrierten Klischees auf den Lesetisch, sondern auch ein Großbeispiel des Phänomens, wie in Decadence-Epochen nicht nur die realistischen, sondern auch die ästhetischen Wahrheiten in den Untergrund gehen, wenn die Hochliteratur sich von ihnen in allzu Lichte Höhen abgehoben hat -: die Kolportage ist sozusagen ihre Kanalisation, und die Abwässer, die dort fließen, sind die ihren.


»Selig im Morgenrot ...«

GÖ: Was sich am Ende daraus in die Elbe ergießt, ist aber doch - nur ruhig, ich sag's ja gar nicht, sondern: - eine Substanz, für die mich am umfassendsten das Kennwort »Kitsch« zuständig dünkt.

HW: Wenn Sie ohne Ihr Aufnahme-Team erschienen wären, nähme sich Ihre ästhetische Entrüstung noch viel eindrucksvoller aus. Aber Ihr aufgetakeltes Medium, das schlechterdings als Institution die Schnulze selber ist, produziert von Ihrer »Substanz« pro Stunde mehr, als unser Autor in seinem ganzen Leben davon zu Wege gebracht hat, und ich schlage doch vor, daß wir uns in Maßen halten - und uns ernsthaft zu bedenken aufgeben, wie schwierig und wandelbar gerade diese Begriffs-Bestimmung ist. Es kann nämlich Kitsch werden, was zu seiner Zeit Kitsch durchaus nicht war, und die zeitgenössische Kritik ist denn auch bezeichnenderweise zwar mit allem möglichen, aber mit dieser Zensur auffallend nicht zur Stelle gewesen. Wenn das Selbst-Bewußtsein des Sozialgefüges sich ändert, ja fort-schreitet, können Tragödien komisch werden und Sisyphus-Anstrengungen lächerlich: eine Vernutzung weniger durch Zeit als durch Geschichte; ähnlich bagatellisieren sich Entdeckungen oder Erfindungen, sobald das kollektive Bewußtsein sie in Gebrauch nimmt. Die Eigenschaft Kitsch ist keine objektive der Sache, sondern wird ihr vom betrachtenden Sub-


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jekt zugeteilt und bleibt so immer abhängig von dessen Qualität. Mit der Kolportage, das sollten Sie nicht vergessen, ist »die Literatur« erstmals in die sozialen Unterschichten vorgedrungen und dort, wie ärmlich sie auch gewandet war, in allem Ernst als Hohe Erscheinung begrüßt worden: es hilft uns gar nichts, wenn wir den Rezipienten von damals verzogene Mundwinkel widmen; sie waren - neben so manchem anderen, das wir ihnen heute voraus-besitzen - nicht im Besitz unseres Blicks. Die Wirkungs-Chancen, die sich daraus ergeben, hat Karl May übrigens immer strategisch bedacht und genutzt; Sie können darüber Diverses in seiner - auch literarisch durchaus großartigen - Selbstbiographie lesen. Er sprach, wie den Dialekt der Jugendlichen, so auch den jener Unterschichten lebenslang fließend, auch als er selber längst Erwachsener und Großbürger geworden war: eine zweite Muttersprache sozusagen, die er über der ersten nie vergaß. Sie hat bewirkt, daß er auch als »Literat« immer »einer von ihnen« blieb, und steht mit im Zentrum seiner merkwürdigen Wirkung überhaupt; sie hat freilich ebenso dazu geführt, daß die Literaturgeschichte, die nur strenge Amtssprache redet, bis heute gezögert hat, ihm den vollen Mitgliedseintrag zu genehmigen ...

GÖ: Ich hoffe, sie bleibt standhaft. Ihre tiefsinnigen Explikationen überzeugen mich höchstens davon, daß da Einer aus der Mezzofanti-Begabung Profession gemacht hat und den armen Leuten mit gekonntem Zungenschlag nur abermals als »Leutnant von Wolframsdorf« erschienen ist, um bei ihnen abzukassieren - Sie verstehen meine gelehrte Anspielung?

HW: »Wer sie und ihr Bedürfnis kennt und es befriedigt, der betrügt sie nicht«, mein Lieber.

GÖ: Damit werden Sie ihn auch nicht aus dem Fegefeuer beten. Die Bedürfnisse in allen Ehren; aber die Befriedigung ist doch die nackt-und-bloße Illusion! Der Hunger wird mit Häcksel abgespeist, mit einer Wörterspreu, die wirklich nur als Ballaststoff verdaulich ist: - wußten Sie schon, daß Ihr geschätzter Kollege Rolf Vollmann Ihren Mayster einen »unerträglich schlechten Autor« genannt hat, einen, der schlicht »nicht richtig schreiben konnte«?

HW: Wußten Sie schon, daß Napoleon ein griechischer Märtyrer war?

GÖ: Das sollte Ihnen ja doch zu denken - wie, was - tatsächlich? Bounaparte? Sie wollen mich nur aus dem Konzept bringen. Wir sind ja nun längst beim Text selbst: er ist, ohne dialektische Umwege, einfach unerträglich schlecht: reflexionslos, zeilenschindend, amtsschimmelwiehernd gespreizt: so als hätten sich Finanzamt und Lehrerseminar zu einer Stilschule zusammengeschlossen; dergleichen sollte mit dem Schierlingsbecher geahndet werden.

HW: Sie meinen, die Jugend würde dadurch schlimmer verdorben als durch die ihr vorgesetzten Abkömmlinge des Lehrerseminars selber? Wie lange ist's her, daß Sie unter einem Katheder Aufsätze geschrieben haben?

GÖ: Lange genug, um mir ... ach ja, richtig, auch bei Ihm steht ja am Anfang jenes Waldenburger Institut. Hat er da auch den Patriotismus her? Kitsch einmal mehr, von wo aus auch gesehen! Es wird einem ja schier ich-weiß-nicht-wie bei diesem ganzen deutsch beherzten Heldenpersonal: selbst in mir selber wären ums Haar bald vaterländische Gefühle aufgewallt, und ich würde Sie doch gar zu gern auch diese Wirkung preisen hören!

HW: Wozu noch, - haben Sie sich nicht kürzlich erst, und ebenso enthusiastisch wie regierungstreu, in diesem nämlichen Sinne an allerhand künstlichen Problemen unserer nun wieder Vereinigten Staaten zu schaffen gemacht? Das kam offenbar direkt aus Ihrer historisch-kritischen Lektüre und bedarf einer weiteren Verstärkung wohl kaum. Mein lieber Herr, Sie glauben gar nicht, wie kitschig in dieser Hinsicht die ganze Epoche war! Und was für Stachligkeiten Karl May ihr, höchst achtenswert, ganz unter der Hand auf die


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Haut gesetzt hat - später sowieso, aber auch bereits hier: Kriegskritik, Straßenlaternen für einen friedlichen Völkerverkehr, Wegemarken für eine Zukunft der Sozialgerechtigkeit: - diese »Stellen« kann ich Ihnen mit Sicherheit als authentisch markieren.

GÖ: Sie müssen mir entgangen sein. Nicht entgangen ist mir allerdings, wie da am Ende - zugegeben: grenzüberschreitend - lauter Glückliche Paare dastehen: Wiedervereinigung der Verkehrten Welt vor dem Traualtar wie im Gothaer Kalender: lieto fine! Kitsch, meine Herren, nochmals. Ach, diese Schlüsse! Alle haben ihre Verhältnisse entwirrt und stehen selig im Morgenrot; schon im »Waldröschen« ging prompt, im Beisein des Großherzogs, schier unausstehlich die Sonne auf; hier läßt gar, ich finde kein angemessenes Adverb mehr, »der neuerrichtete deutsche Kaiserthron seine Strahlen siegreich leuchten«, so daß selbst Doctor Bertrand die Mosel verläßt, um sie mit der Spree zu vertauschen ... Nein, ich passe; das sind Karambolagen mit dem Guten Geschmack, die keine Ihrer Versicherungen deckt; da sind Blechschäden entstanden, die auf den Schrottplatz gehören.


Ein Brautschleier von Kitsch

HW: Langsam; die eigentlichen Schäden kommen doch erst danach! Bis hierher - ja, ist's denn aber bis hierher nicht die, traurig bewußtlos elementare, Wunscherfüllung aller Weiblichkeit? Die schöne Fata Morgana der Urgroßmutter Natur? Nestbau und Eierlege in Sicht - ein bunt betreßtes Männchen, das die Nahrung herbeischleppt? Ich habe kürzlich erst wieder einem Amselpaar bei dieser Unternehmung zugesehen: da trug freilich die Frau die Balken und Bretter zusammen, während das Männchen auf dem Gegenüberast saß und anmutsvoll sang: - weniger kitschig? Leider in der Menschenwelt auch weniger wahr -, und Sie müssen nun auch die ganz stille Ironie sehen, die sich da mit dem Klischee vereinigt. Denn es sind in den Büchern eben die Schlüsse: die trostreichen Buchstaben fallen ins Nichts, und die wunscherfüllend beglückte Leserin und der folgsame Leser werden aus der heilgemachten Welt ins Incipit tragoedia entlassen. Was später kommt, hat man/frau genugsam zuhause: damals wie heute die endlose Knochenzwangsarbeit, um der zwingenden Natur den Fortgang zu ermöglichen, heute als Koda des ganzen Glücks noch zusätzlich die Emanzipation, wo man dem Gatten auf einmal seine Jugend geopfert hat und ihm nun giftend das Alter aufs Gefühls-Eis legt -: Wie gut vom Autor, daß wir das nicht mehr erleben müssen, oder?

GÖ: Reden Sie sich nur um Kopf und Kragen; ich sehe Sie schon als Pascha des Monats mit einem halben Dutzend Roßschweife!

HW: Sehn Sie auch, wie Sie selber auf einmal in die Sonnenstrahlen-Utopie zurückweichen? Das Bedürfnis danach ist groß; das sollte Ihnen meine List nur zeigen. Karl May hat es befriedigt - und es zugleich durch Übertreibung so weit ins gesellschaftlich Exotische verlegt, daß es saugfähig für ironische Kritik wurde. Hatte ich schon erwähnt, daß die Menschheit furchtbar dumm ist? Die deutsche war es immer auf besonders gründliche, hartleibige Weise, was schon öfter zu bedauern stand, und wer sie aufklären will, muß oft sonderbar zu Werke gehen. Karl May war ein geborener Humorist und hat solche subtilen Strategien immer neben dem Tintenfaß gehabt (neben dem - Sie wissen's aus dem »Waldröschen« - ebenso auch, handfester, Parodie und Satire standen), und daß Sie heute »Kitsch!« rufen können, ist einer seiner Erfolge bei Ihnen als Leser.

GÖ: Ich habe das untrügliche Gefühl, daß Sie etwas ganz Falsches sagen. Es stimmt ja alles gar nicht. Es gibt gar keinen Alltag in diesen alleralltäglichsten


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Büchern. In Ulanenkreisen muß auch ehelich nicht gearbeitet werden, und für die Kinder ist die Kinderfrau da, von weiteren Dienstboten zu schweigen -: den Wurm wollen wir doch in diesem Holzklotz exakt ausmachen.

HW: Sicher; aber auch den nehmen Sie nur wahr, weil Sie heute auf »die da oben« nicht mehr aus solcher Entfernung von unten blicken müssen. Ironie einmal mehr - und ganz zart und behutsam gegen »die da unten«, von deren Schicksalen ja doch zumeist die Rede geht - lesen Sie den »Verlornen Sohn« und die sich die furchtbare Distanz überträumen müssen, um wieder in einer Welt mit jenen zu sein -: das ist ein Versöhnungsvorgang, bei dem man zwangsläufig ein bißchen vom Wirklichkeits-Boden abheben muß. Das Armen-Brot »Liebe« spiegelt diese Versöhnung nur genau parallel zur gesellschaftlichen auf der ontologischen Ebene, und da muß wahrhaftig ebenfalls abgehoben werden. Das ist der Grund, weshalb alle sich erfüllenden Liebesgeschichten der Literatur einen hauchdünnen Brautschleier von Kitsch um sich haben und nur zum Ende von Büchern taugen, nicht zu ihrem Beginn; nur die größten Autoren riskieren den Blick darüber hinaus - siehe Odysseus und Penelope bei Joyce - oder auch bei Lord Tennyson, match'd with an aged wife ... sogar Victor Auburtin, Ihr sympathischer Kollege vom Parterre des Jahrhundertanfangs, hat sich recht nett daran versucht - -

GÖ: Mir gefällt sehr wenig, was Sie alles in einen Topf werfen, nur weil es bei Ihnen leider in einem Topf schmort. Ich möchte da doch lieber bei der Sache bleiben, auch bei diesen Sozialriten als Sache: sie sind Klischees, weil ihnen die geschichtliche Dimension als variante Kraft fehlt, und Kitsch ab ovo, ja geradezu ein Definitions-Parameter für Kitsch schlechthin. Vielleicht mögen Sie sich gelegentlich aus meiner Dissertation »Intimität und Prozessualität. Das Interaktionsmedium Liebe und seine soziale Codierung in der Nachromantik« belehren, in der auch gerade die produktionsästhetischen Normen der Trivialliteratur als indifferent gegenüber den kulturrelativen Codes und dem, was ich dort intervenierende Variablen nenne, herausgestellt --

HW: Das wollen wir jetzt gleich wieder lassen, Herr Ösler, und so reden, wie Ihnen der Schnabel ursprünglich gewachsen war. 'tis philosoph's wool, und hier geht es um rein humane - was? Nun, Weißes Nichts - ein wollartiges Zinkoxyd. Ich kenne Ihre Schrift durchaus, und sie hat ja ihren Zweck erfüllt, Sie ein akademisches Podest erklimmen zu lassen; ich hoffe nur, Sie werden uns nicht eines Tages vollends ins dortige Philosophie-Geschäft einsteigen, so à la »Erkenntnis und Interesse«, »Interesse und Wahrnehmung«, »Wahrnehmung und Divergenz«, »Divergenz und---«

GÖ: Oho, habe ich Sie nicht selber jüngst in einer »Zeitschrift für epistemologische Baustellen« sehr hochstechend reden sehen? Lenken Sie mich nur nicht ab: wir sind beim Kitsch als Mangel an Geschichte - alias »Realität« - - -

HW: Nein, wir sind beim Kitsch als Kritik an Geschichte und Realität, und das heißt hier: nicht nur an der geschriebenen seiner Zeit, sondern aller Geschichtsschreiberei von oben überhaupt: die Kolportage nimmt deren Phraseologeme einfach beim Wort - lesen Sie dazu mal, was Gottfried Benn gelegentlich beim Aufschlagen des Kleinen Ploetz alles auf- und einfiel - und überführt sie ins Luftschloß ihrer Utopie: nur dort ist die irr-reale Versöhnung möglich, der liebliche »Friede auf Erden« - auch der soziale, einschließlich Ihres Interaktionsmediums. Mein Lieber, die Kolportage hat es durchaus faustisch dick hinter den Ohren, denn sie hat sehr genau hingehorcht, bevor sie redete, und daß auch die Geschichte, von der sie redet, heute Ihre Lachlust reizt, ist - ich sagte es eben schon - ein Erfolg ihrer durchaus kritischen Botschaft. Diese ganzen Kaiser-Könige-Edelmänner sind nur darum so wundersame Götter ex machina, weil die Historiker sie zeremonienmeisterhaft dazu erklärt haben -: das müs-


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sen Sie mitlesen, wenn Sie in die Sonnenstrahlen des Kaiserthrons blicken, das und noch etwas anderes.


Bloßes Gewerbe einer einstigen Kunst

GÖ: Es wendet sich aber alles so schrecklich zum Guten - - - was denn anderes noch ?

HW: Den im Kitsch zum Schreien gebrachten Kontrast zur Erfahrung -: er ist in dieser Gattung der eigentliche Platzhalter des Realismus, und er stößt die Leser irgendwann inmitten aller träumerischen Wunscherfüllung auf das wahre Gesetz der Geschichte.

GÖ: Welches da lautete?

HW: Arbeit macht arm; Raub und Plünderung adeln; Totschlag krönt.

GÖ: Oh. Jetzt sind Sie aber endgültig aus dem Kontext entkommen - nämlich in die Prähistorie, wo die Erde noch wüst und leer war, während ich mich doch lieber an die wuchernde Fülle hier halte --

HW: Aber die Erde ist wüst und leer dahinter, mein Herr, und Ihr Medium führt sie uns täglich zeichengetreu just so vor Augen - nur eben leider ohne das Kunstmittel der Ironie, für das ich Ihnen bei der Kolportage den Blick zu schärfen suche.

GÖ: Gutgut, ich will Ihrem Aspekt ja folgen - nur, wollen Sie ernsthaft behaupten, das alles sei - Verzeihung - produktionsästhetisch intendiert - und nicht bloß die bekannte unfreiwillige Ironie?

HW: Denken Sie darüber nach, ob ein Autor, der zur gleichen Zeit, wo er sich in exotischen Reisebeschreibungen als unverächtlicher Humorist auswies, freien Willens einen Heimatroman von zweieinhalbtausend Seiten verfaßte und »Der Weg zum Glück« betitelte, - ob ein solcher Autor ohne Ironie an seine Aufgabe gehen konnte, und Sie finden Ihre Antwort selbst.

GÖ: Mir ist schlecht; ich muß etwas Unbekömmliches zu mir genommen haben. Ach Gott, ach Gott, all diese wundersamen Mirakel! Irgendein Fürst des Elends kommt gewiß oder ein Engel der Verbannten oder gar der hochselige König Ludwig selbst - und das soll mir zuletzt den Realismum verstärken? Gleich werden Sie mir den verkappten Doktor Müller noch als Heiligen vorführen!

HW: Ganz recht und gar nicht schlecht -: die Kolportage ist dem Typus »Heiligenlegende« nah verwandt. Beide kommen aus einem Weltbild, in dem der Teufel los ist, und bringen in ihrem Kern die Ziel-Dynamik mit, durch ihre Unwahrscheinlichkeiten auf die Wahrheit hinzustoßen. Karl May hat später, für die »Marien-Kalender«, solche Heiligenlegenden konsequent direkt geschrieben -: er war literarisch immer ein Stratege - sehr suaviter in modo, aber fortissimo in re ... Wollen wir uns vielleicht auf den Begriff »Religiöses Schrifttum« einigen?

GÖ: Sie scherzen.

HW: Sicher, aber nur ganz wenig. Denn alles ist Spaß auf Erden und der ironische Aussichtsturm das eigentliche Haus Gottes.

GÖ: O Wunder desselben! Und die Hunderttausende, die immer noch alljährlich zu den Büchern Ihres Legendenheiligen pilgern, wären dann einmal mehr die Wahren Gläubigen, ja? Wie steht's denn mit den Heilungen an diesen geheimen Wallfahrtsörtern, an denen ich - mir ist ja nicht zu helfen - Papier doch lieber in Rollen vorfinde als historisch-kritisch gebunden ...?

HW: Die Kolportage als Gattung hat für die Literatur durchaus einen therapeutischen Effekt gehabt: sie hat, wie vorher schon erfolglos unterminierend die klassische Trivialliteratur, der klassizistischen Dichtung ihr Ruinenbild vor


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gehalten und zu den Neubauten der Gründerjahre erheblich beigetragen: nämlich dem Realistischen Roman. In Deutschland, wo Revolutionen nie so ganz gelingen, weil die Obrigkeit sie verboten hat, kam er mit Verspätung; in Frankreich aber ist der Zusammenhang deutlich zu sehen: Sue und Dumas haben durchaus die späten Romane von Hugo mit bewirkt, und Zola, Mays Zeitgenosse, ist ohne die beiden gar nicht zu denken; die »Rougon-Macquart« waren übrigens im gleichen Jahr abgeschlossen wie Mays Kolportage, die sich daneben auch artistisch nicht unbedingt schämen muß.

GÖ: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen« - hat der Großjubilar dieses Jahres gesagt; es scheint mir an der Zeit, zu resignieren. Denken Sie etwa auch über die heutige Kolportage mit so kühner Nachsicht?

HW: Nicht doch, die ist rein epigonal - wie überhaupt die meiste heutige Romanschreiberei: bloßes Gewerbe einer einstigen Kunst. Ich will Sie ja gar nicht bis zur Müdigkeit zerquälen, sondern bloß zum Konsens bringen, daß wir das Phänomen ein bißchen ernster nehmen müssen - und den Mann, der sein Meister war, auch darin. Was heute Trivialliteraturforschung heißt, ist bloß ein akademisches Ablagefach für ein Sammelsurium; es wirft alles durcheinander und kennt auch keine Ränge. Verwechseln Sie mir also die Kolportage nicht mit der Trivialliteratur der klassischen Zeit - so Cramer, Meißner, Vulpius und ihre endlosen anonymen Etcetera; das war bloßer Bodensatz der klassischen Literatur und hat in deren Unterwelt ein paar eigene Meriten. Erinnern Sie sich stattdessen, was mit der Kolportage (die ja ursprünglich ein Vertriebssystem meint) der Literatur als wirklich Neues hinzukam: ein neuer Leser nämlich: sie begann mit der Expansion der Zeitschriften auf dem Flachen Land der Kleinstädte und Dörfer - auch über KM als Redacteur ließe sich allerlei Ordentliches sagen - und hat einen unverächtlichen Anteil an den sozialen Aufbrüchen der Zeit. Und das heißt nichts Kleines: sie hat zuletzt für die Literatur eine Neue Welt entdeckt und diese Neue Welt die Literatur entdecken lassen; sie hat sie, kurzum, das Lesen gelehrt und damit Diverses noch mehr. Und daß sie den Realismus in der Literatur provozierte, kam denn keineswegs von ungefähr: er war in ihr angelegt, und sie trug ihn - wie unser Autor hier, ihr Meister, es beweist - von Anfang an im Programm und Gepäck.

GÖ: Und der immerwährende Bonbon-Geschmack wäre dann nur der Zuckerüberzug einer bitteren Arzenei? Meine sehr werten Herren, ich fürchte, ich werde nicht daran genesen. Wenn Sie den »Realismus« dergestalt transkribieren, begreife ich höchstens, warum Sie vorhin schon so unbesorgt das große Wort »Aufklärung« mißbraucht haben -: ich sehe von Ihrem Aussichtsturm nur die bis an den Horizont reichende Selbstverschuldete Unmündigkeit, die dösig vor sich hin träumt.


Literatur in Lumpen

HW: »Träumt Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter«, hat Ernst Bloch erkannt und dies »wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt« genannt. Nein, Sie sehen viel mehr, wenn Sie genau hinsehen. Ich habe Sie eben gebeten, sich zu »erinnern«, denn der literaturgeschichtliche Vorgang der aufklärerischen Provokation des Realismus hat sich ja in uns allen individualgeschichtlich wiederholt, und wir brauchen ihn nur aus der eigenen Entwicklung abzulesen: Mays Bücher haben uns alle mit ihren listigen Strategien erstmals ins Lesen und Denken gezogen - auch Sie, wie ich weiß; aber sie haben uns keineswegs bei sich behalten, sondern weitergetrieben ins weitere, »höhere« Lesen und Denken, und die Kraft, mit der das ge-


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schah, ist eine Qualität der Bücher selbst. Sie sind selber Gestalten des Willens zum Neuen und Nächsten: wahre »Entwicklungsromane« in einem gleich mehrfachen Sinn, Unternehmungen des Revolutions-Elements »Hoffnung« ...

GÖ: Die einzige Revolution, die ich sehe, ist die Kühnheit, mit der Sie mir sämtliche Begriffe verkehren. Die Bücher, von denen wir reden, sind mir dagegen gar nicht so schrecklich aufbegehrend vorgekommen - weder gegen »die Welt« noch gar gegen sich selber.

HW: Gegen die Welt unternehmen sie genug - das werden Sie, wenn Sie so weit sind, im »Verlornen Sohn« sehen: der spielt in einer Zeit, in der die erzgebirgischen Weber an die Kollegen nach München schrieben »Helft uns, wir verhungern!«, und er nennt die Verursacher nicht nur bei Taten, sondern auch bei Namen: die Firma »Seidelmann & Sohn« hieß in der Weltrealität »Seidel & Söhne«, und im Schloß Hinterglauchau können Sie sich zurzeit in einer Ausstellung noch viele weitere Aufschlüsse holen ... Aber das eigentliche Aufbegehren der Kolportage liegt in ihrer Form: sie verklagt auch die Hohe Literatur als den Besitzstand der Wenigen und konfrontiert sie mit ästhetischer Armut und Gebrechlichkeit. Sie formuliert sich selber symbolisch als Protest, und das ist ein durchaus artistisches Moment und mischt sich dem stofflichen Spannungssog bei: alles fließt in der Kolportage, sogar stromschnellenmäßig, wie von einer geheimen Kraft getrieben, und daß Sie sich an den Untiefen und Katarakten immer wieder den Kopf lädieren, hat seinen - - -

GÖ: Echauffieren Sie sich nur nicht. Ich lese den Mangel an Reflexion und Charakterentwurf als Mangel - und keineswegs als Mangel-Kritik. Und ein Text, den ich lese, ist nun einmal, was er ist, und nicht, was er bloß sein möchte. Der hier ist schlecht und bleibt's; es fehlt ihm zuviel.

HW: Für das, was ihm fehlt, haben Wir Arme Leut' noch keine Zeit; es kommt später, aber hoffentlich gewiß. Der Text ist oft schlecht, ja, aber er will es nicht bleiben. Und Sie als Leser sollen nicht bleiben, was Sie in ihm sind, sondern mittreiben ins Andere, Nächste, Nächst-Höhere ... Haben Sie schon einmal bedacht, warum alle Hoffnungs-Literatur »schlecht geschrieben« ist - die erwähnten Heiligen-Legenden eingeschlossen? Auch aus ihr soll man herauswollen - -

GÖ: Ich will gar nicht erst hinein!

HW: - und ich bestehe jedenfalls darauf, daß der kritische Reflex, dieses Unruhe-Gefühl des Lesenden, das alles müßte man eigentlich ganz anders und besser darstellen, als formale Wirkung zu erkennen und ergo als formale Intention zu würdigen ist. Die Kolportage geht als Literatur in Lumpen - aber was sprechen denn diese zuletzt ganz simpel aus? Doch nichts so inbrünstig wie die Hoffnung, auch einmal gut gekleidet laufen zu dürfen. Sie ist Präliteratur, sicher, der ungestalte Stoff, aus dem die bloßen Träume sind, aber ihre armselige, stammelnde Form enthält auch schon das Träumen von der einstigen Macht der Worte - und manchmal sogar einen Vorschein dieser Macht bereits selbst. Dieses Nach-vorn-Sehen und -Gehen der Form ist etwas sehr Unheimliches, und ich ersuche Sie allen Ernstes, im großen Panorama der Literatur einmal darauf zu achten: es ist nämlich ebenfalls etwas sehr Seltenes und, wie es sich trifft, nur den allergrößten Produktionen eigen. »Es gibt keine schönen Landschaften ohne Berge am Horizont« hat - 1805, bei Gelegenheit seiner Voyage au Mont-Blanc der große Chateaubriand gesagt, dessen frühe Romane May übrigens mit Nutzen verehrt hat; in Mays später Mythologie heißen diese Berge »Mount Winnetou« und »Dschebel Marah Durimeh«, und schon von der Kolportage aus sind sie im Nebel zu sehen. Es sind die biblischen, »von denen mir Hilfe kommt«, und mit einigem Sinn hat Claus Roxin etwa das »Waldröschen« einen »metaphysischen Roman« genannt - und nicht nur, weil darin das Große Welttheater nachgespielt wird, was immer auf sehr hölzernen Brettern stattfindet ...


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GÖ: Am Ende weiß Ihr faustischer Streber sogar noch, wo Gott wohnt, eh? Sire, je n'ai pas eu besoin de cette hypothèse.

HW: Aber ich habe durchaus nicht imperatorisch die Hand in der Weste, wenn ich das sage; ich will Sie nur ein bißchen aus der Fach-Idiotie herauslocken. »Streben« ist nur als Wort verdorben und in seinem Grundsinn durch die Grabbelzunge der Vielen beschädigt: - warum wollen wir nicht die Wirkung der großen Werde-Kraft darin für unser Verständnis wiederherstellen? Es ist metaphysischer Natur, und bei May steht es mit vollem Gewicht und Recht im Titel der Selberlebensbeschreibung: er hat diese Kraft tatsächlich in seinem Leben, dem menschlichen wie dem literarischen, auf ganz einzigartige Weise erfahren. Seine Entwicklungsromane schildern nicht nur das Sich-Entwickeln, sondern sind es selbst; darum auch ist er immer, fast gegen seinen Willen, von Heranwachsenden gelesen worden, die das Werden lebendig in sich spüren und in seinen Büchergestalten wiedererkennen.

GO: »Kinder sind unberechenbar!« las ich grad bei der Herfahrt auf einem großen Warnschild an der Straße nach Celle hinein; jaja. Aber ich bin aus dem Alter heraus und strebe nicht mehr mit.

HW: Im Gegenteil, Sie sind bereits selber in diesem Prozeß mit unterwegs - und verharren mit Ihrem Urteilen nur darum so hartnäckig auf der Kolportage, weil Sie die nächste Entwicklungsstation noch nicht sehen. Die »Jugend-«, dann die »Reise-Erzählungen«, Abteilungen III und IV unserer Dokumentation, sind weitere Selbst-Beschreibungen des bewußten Prozesses, für dessen produktions- wie rezeptionsästhetische Dynamik wir ruhig weiterhin »Streben« sagen wollen oder alias auch »Suchen«, und wir sind sicher, daß Sie bis zum Ende dabeibleiben werden - ungewollt, wie ich Ihnen gern bescheinige -: eine übrigens durchaus Hohe Meinung, die wir von Ihnen hegen. Denn »wer da stirbt, ohne gesucht zu haben, der hat nicht gelebt, sondern nur vegetiert und wird Kompost, weiter nichts.«

GÖ: Mich überläuft's: - hat das der Mayster selber gesagt? Wenn ich mich, auf meinem gegenwärtigen Weg zum Glück, nur nicht derart unangenehm thalsohlenmäßig fühlte - - - sagen Sie, weshalb führen Sie mich eigentlich nicht gleich direkt auf Ihre schönen »Berge am Horizont«? Ich will mich ja gern im »Reiche des silbernen Löwen« kräftig umtun - ohne mich allerdings zu verpflichten, bei Ihnen dann auch als Jubelperser anstellig zu werden.

HW: In »Ardistan und Dschinnistan« sehen Sie jene Berge noch deutlicher. Aber betreten werden Sie sie auch dort nicht. Denn nicht das Gewordene wird bei diesem Summen-Paradigma berichtet; auch hier bleibt das Werden und Werden-Wollen Stoff und Gestalt der Kunst und der »Glanz dahinter«, Dschinnistan, unerreicht »am Horizont«. Das ist zugleich eine letzte Provokation des Realismus - und der Ironie, auf deren Ebene »Revolution« auch das gleichbleibende Sich-Drehen der Welt bedeutet, aus dem nicht fortzukommen ist; im Abbruch der großen Parabel hat May das einbekannt. Es gibt das vollkommen Erreichte nicht, auch nicht das vollkommene Kunst-Werk, nur das Kunst-Werden. »Das Weitere liest man später« - das heißt nie.


Das Leben bestaunen

GÖ: Ich erschrecke sehr -: wehe, auch ich werde unvollkommen bleiben ... Durch so viele aspera nicht einmal ad astra?

HW: Eigentlich wollte ich so ernste Dinge noch gar nicht mit Ihnen bereden, denn Sie sind wirklich noch nicht weit genug aus dem Tal, um weit genug zurück und nach vorn blicken zu können. Aber was hier in Rede steht, aus Bü-


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chern spricht, in Büchern vor uns liegt, ist nichts geringeres als das »symbolische« Widerbild eines gewaltigen ontologischen Zusammenhangs, und er heißt, dutzendwörtlich kurz, »Evolution«. Nietzsche war der erste Autor, der die von Darwin aufgelegte Kausal-Statistik zur großen Perspektive aufriß: zum Blick in die unerschöpfliche Grund-Energie der Schöpfung, einem »Ziel« zuzustreben, einer für unser Stadium noch völlig unausdenkbar reichen Formen-Gestalt; - Karl May war der zweite. Er hat das eines Tages, mit Glück wie mit Schrecken zugleich, erkannt: wie nicht nur sein ganzes Leben, sondern auch sein ruhe- und pausenloses Arbeiten mit dessen wunderlichen Inventionen und Inspirationen einer Zwangsläufigkeit, einem Entwicklungs-Sog, einem prädestinierenden Muster gehorchten, und er hat dieses Muster selbst zu erkennen und darzustellen gesucht; seine späte Mythologie war der selbstreflektierende Ausdruck ... Was »Evolution« wirklich heißt, ist von unserer Zeit, die den Ausdruck nur wie ein schwatzendes Zoo-Publikum benutzt, noch nicht einmal im Ansatz angedacht -: es wird, wenn es so weit ist, alles bisherige Denken und Glauben unter die bloßen Ratespiele abstellen - und die naturwissenschaftlich-philosophische Theologie der Zukunft sein ... Die Erkenntnis der Evolution ist das globale Problem, dessen Lösung alle anderen Probleme beendet - die bloß individualen, sozialen, politischen ... Bei Karl May, der es erkannte, heißt das: »Das Karl-May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert ...« Ja, sehn Sie, ich habe früher auch immer weidlich den Kopf geschüttelt über diese kryptischen Sätze mit ihrem befremdlichen Selbst-Bewußtsein, über die ganze daran geknüpfte Lebens-Mythologie, die so schlicht gefügt scheint, daß man sie haarscharf leicht mit bekannten Erbauungs-Platitüden verwechseln kann, - und aber zugleich mit Staunen das Leben betrachtet, das er mit diesem Mythos bewältigte. Vielleicht muß man selber älter werden, ganz alt vielleicht, um auf einmal zu sehen: es ist, wie scharadenhaft auch formuliert, ja nichts als die vollendete Reine Wahrheit--- Herr Ösler?

GÖ: Ich bin vollendet sprachlos. Wissen Sie, was Sie sagen?

HW: Ich sage weniger, als ich weiß.

GÖ: Lobende, schließet mit Amen - kann ich da nur heroisch mit Leander singen. Und mich wieder an die Ulanenliebe halten -: Das Happy-end als Abglanz des Großen Weltzusammenhangs? Ich habe Mühe, mich zu fassen.

HW: »Es ist alles gut in Ewigkeit«, heißt das bei Karl Kraus ...


Aufgeschütteter Ramsch

GÖ: Bei mir wird es eine geraume Weile noch sehr anders heißen. Zwar dämmert es inzwischen, aber nicht mir. Sind Sie einverstanden, daß wir zu den Irdischen Dingen zurückkehren? Nämlich Ihrer besser greifbaren Edition dieser - ich wage gedämpft das Wort - Literatur. Ein kleiner Gang durch die Gründe wäre mir zum Abschluß nicht unwillkommen, die angemessen feld-wald-und-wiesigen vor Ort - die hiesigen, meine ich, auf die sich Ihr Bücherhaus gestellt hat. Sagen Sie - mit den Bergen am Horizont ist es hier nicht so sehr weit her, oder? Wie bringen Sie's zuwege, bei dieser Aussicht das Prinzip Hoffnung bei Laune zu halten?

HW: Wir können nachher zusammen auf den Kronsberg steigen, der sich um durchaus beträchtliche Meter über der Ebene erhebt - und uns symbolisch genug ist: wir wollen gar nicht so hoch hinaus, und mit ein bißchen Ironie wird sich schon etwas draus machen lassen.


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GÖ: Freilich, Ihr ironischer Haus-Autor hat sich ja an solchen Teilchen-Wellen der Erdkrume auch die rockigsten Mountains erträumt und daraus hochgemalt - -

HW: - und so hoch gemalt, daß sie am Ende noch welt-realistischer sind, id est »bedeutender«, als die realen selbst. Und das muß ein Maler erstmal schaffen: daß hundert Jahre später Reisebüros Flug-Travels zu seinen Sujets anbieten.

GÖ: Tatsächlich - rund um die Erde - mit dem Bord-Capitain Ramon Diaz de la Escosura?

HW: So geht's manchmal, wenn in der Thalsohle Realismus provoziert wird. Nun, wir machen ganz schlicht aus unseren Erfahrungen in der Niederung ein bißchen Profession und klinken uns mit unserer Unternehmung aus der Verlegerliteratur und ihrem Markt einfach aus. Und das heißt: a) aus der Eintagsmücken-Züchtung der Verleger überhaupt, b) aus dem Va-banque-Spiel ihrer Vertriebs-Spekulation (und deren handwerklichem Qualitätsverständnis sowieso) und c) aus der Teilhaberschaft der allesfressenden Zwischen-Händler, die das ganze System überhaupt so weit gebracht haben ... aus lauter Abhängigkeiten also, aus dem ewig hektischen Daumen-auf-und-abwärts dieses vollkommen verkommenen Berufsstands.

GÖ: Eintagsmücken - hm. Sie meinen doch nicht ernstlich die ganze Gegenwartsliteratur? Manches flattert doch ganz charmant.

HW: Wir meinen ernstlich drei Viertel der Gegenwartsproduktion. Vielleicht haben wir ja den Bösen Blick, wenn wir alljährlich über den Frankfurter Messemarkt gehen und überall fast nur rotbäckig geschminkte Leichen aufgebahrt sehen: hat das denn keiner gemerkt, daß sie nie geatmet haben? Leider geben uns die Todesanzeigen in den Zeitungen, die bloß mit einem Halbjahr Verspätung kommen, dann immer wieder recht, und nur den Bestattungsunternehmern geht die Luft nicht aus. All den kleinen neuen Wesen wird ja nicht einmal Zeit gegönnt, auch nur Atem zu schöpfen: kaum sind sie »auf dem Markt« ausgeschrien, da werden sie schon wieder davon »weggedrückt«, wie das im zuständigen Räuber-Rotwelsch heißt -: laufen Sie nur, wenn Sie wieder zuhause sind, einmal durch Schwabing, wo die Buchhandlungen sich ballen, und grabbeln Sie ein bißchen in den meterlangen Grabbelkästen an der Straße: da finden Sie jeden Morgen den »Ramsch« aufgeschüttet (doch, es heißt längst offiziell so), alles nagelneue Sachen, die nur betrügerisch auf der Unterseite mit dem Stempel »Mängelexemplar« versehen sind, - betrügerisch auch insofern, als nach dem Norm-Vertrag solche »ausverkauften« Auflagen dem Autor nicht abgerechnet werden. Dabei sind die einzigen »Mängel« die Bücher als Waren selber, nämlich als eilig häßlich bedruckter und zusammengeklebter Stoß Schlecht-Papier, dessen »Einband« - nämlich eine ebenso nur häßlich bedruckte und drumrumgeklebte Pappe - als Auffälligstes ein grobes Strich-Kot-Muster zeigt sowie quer drüber gelegentlich den Abdruck einer Greif- und Stapelmaschine, um anzuzeigen, daß es sich um Dutzendware handelt, mit der ein Greifer und Stapler Händel gesucht hat ...


Raskalische Willkür

GÖ: Ja, unsere täglichen Libellchen - habent sua fata. Sie haben alle »keine Zeit« mehr - wie übrigens auch ich jetzt; ich muß noch heute abend -

HW: Aber wir wollen sie haben - und nehmen sie uns. Wir können nichts mit Leuten anfangen, die ihre winzigen Ideen alle drei Minuten ändern - die ihre einzigen Ideen überhaupt am Super-Markt orientieren und sie sofort hinschmeißen, wenn der ihnen vor der Nase zumacht. Eine historisch-kritische Edition in 99 Bänden ist eine ernsthafte Sache, und wer, um ihr Tempotempo


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zu machen, die Streichung der kritischen Arbeit ins Auge faßt, gehört nicht mehr zu uns; wir lassen ihn im Supermarkt zurück, wo am Eingang entsprechende Behälter stehen.

GÖ: Passen Sie nur auf Ihr Fatum auf -: fast sechzig Jahre sind Ihnen schon hingestrichen - memento!

HW: Vierzig habe ich noch Zeit - ganz im Ernst, auch wenn ich sicher nicht jünger werde.

GÖ: Es kommt mir trotzdem alles ein bißchen viel auf einmal vor. Gut, Sie wollen nicht mehr von Verlegern und ihrer sicher raskalischen Willkür abhängig sein - - -

HW: Das ist nur das eine, und jeder wird's verstehen, dem diese blasierten Emporkümmerlinge einmal einen Verlags-Vertrag zur Unterschrift zugemutet haben - ein Papier, auf dem er sich seiner sämtlichen Rechte an seinem Werk begibt, und zwar gleich für ewige Zeiten und den gesamten Kosmos, und gegen einen Ertrag, der in Prozenten abhängig vom Verkauf bleibt und also voll an dem Risiko teilnimmt, daß der Verleger ein Tropf (oder ein bloßer Wirtschaftsmaschinist) ist, der gar nicht verkaufen kann - - -

GÖ: Wieviel Prozente denn? Sind es nicht in der Regel immerhin zehn?

HW: Im günstigsten Fall und höchstens - und ausgezahlt werden sie nach Jahresfrist, bei Haffmans oft nach Anderthalbjahresfrist ... Karl May bekam vom Lumpen Münchmeyer beim »Waldröschen« 1,75 % vom Ladenpreis: Eins-Komma-sieben-fünf, mein lieber Herr! Und Haffmans hat eben - übrigens über unsere Köpfe hinweg, wie es seine Art ist, und obwohl der Vertrag längst gelöst ist - ein Lizenzgeschäft mit unserer Ausgabe getätigt, bei dem für uns Herausgeber 2,7 % abfallen; davon behält der Verleger als »Nebenrechtsanteil« noch 40 % ein, bleiben 1,62 % - und die gehen noch durch 2, weil wir ja zweie sind, so daß am Ende jeder von uns 0,81 % bekommt: - möchten Sie gern mitarbeiten? Null-Komma--

GÖ: Behüte! Nein, Moment - ich rechne rasch - - das sind: - - - bei der bewußten Ausgabe, die ich gesehen habe - - - 4 Pfennige und ein paar Zerbröckelte pro Buch - - - Verzeihung, ich muß mich vertan haben - noch einmal - - -

HW: Nein, Sie haben völlig korrekt gerechnet. Aber das ist nur das eine, wie gesagt. Die zweite Abhängigkeit, aus der wir herauswollen, ist die von den Händlern - und die Zahlen wollen wir doch gleich kurzab danebensetzen: die »Auslieferung« bekommt 7 bis 15 %, der reisende »Vertreter« (ein graziöser Beruf übrigens, der direkt zum Häuslebauen führt) 5 % und mehr, der Buchhändler schließlich, löwenanteilig, 45 % -- und was der Fiskus sich vom Mehrwert unter den Nagel reißt, ist im Ladenpreis ebenfalls drin ...

GÖ: Nun, die »Realkosten«: man muß ja seinen opulenten Laden unterhalten, nein, ich meine den Buchhändler: selbst die dämlichsten Abge ich meine Angestellten sind teuer - die Mieten werden immer unerschwinglicher - - -

HW: Für den Autor werden's die Realkosten beim Bücherschreiben auch - und beim Schreiben von »Literatur«, die bei den Händlern kaum Chancen hat, vollends ... Sie verstehen meinen Zorn von vorhin - und daß wir ein bißchen nachdenklich geworden sind, wie Abhilfe möglich wäre? Es geht aber nicht darum, daß die Literaturmacher immer Hungerleider waren und sind, sondern darum, daß dieses Wirtschaften einem Zustand zutreibt, in dem das Literaturmachen überhaupt unmöglich wird ...

GÖ: Und Sie wollen Ihre Rechnung nun ohne alle diese Wirte machen? Es läuft also auf einen neuen, ganz speziellen Kleinverlag hinaus, stimmt's?

HW: Die Bewirtungskosten sind, hier wie überall, einfach zu hoch geworden. Nein, es läuft auf eine Art »Privatverlag« hinaus: wir bringen ausschließlich unsere eigenen Bücher und Editionen.


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GÖ: Haben Sie denn noch Erweiterungspläne - über Ihren Caballero de triste figura hinaus? Ah, richtig, Ihre eigenen Schriften - crescant, floreant. Aber sonst?

HW: Mit meinen »Schriften« wird, 15 Bände vorerst, noch in diesem Jahr begonnen - und dann kann endlich auch der II. Band meiner »Herzgewächse« erscheinen, wenn die Leser mitmachen. Dann planen wir, in noch ein bißchen Ferne, eine kleine Sammlung »Europäischer Barock« - und schließlich, auch in Kürze gestartet, eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Friedrich Rückerts, in 50 Bänden.

GÖ: Gott sei bei Uns! Ich habe ja Ihre Edition der »Kindertodtenlieder« gesehen - auch Greno einst, jetzt Insel ... sehr schön, aber davon 50 Bände? Sie führen mir hier beide ein derart zuversichtliches Mienenspiel vor, daß mir doch bange wird: denn ich sehe Sie ins Verderben taumeln ... Blüht etwa das Geschäft bereits?

HW: Nicht so, daß Sie eine Handsalbe erwarten dürften; lassen Sie den Greifarm sinken. An »geschäftliches« Blühen ist gar nicht gedacht: Mit dem Markt-Geschäft um Karl May, wo er immer noch Hunderte mit Tausendern ernährt, haben wir nichts zu schaffen; meine eigenen Sachen sind wirtschaftlich Nihilominus, Rückert sowieso (von den »Kindertodtenliedern« hat Insel im letzten Halbjahr ganze 35 Stück abgesetzt) -: nein, was wir machen, ist überhaupt kein Modell für ein »Geschäft«, sondern nur für die Möglichkeit, Projekte, die keiner will, zu verwirklichen - und am Ende ein paar neue Schöne Sachen auf die Welt zu bringen. Kein zureichender Grund?

GÖ: Jedenfalls »idealistisch« genug. Aber wo haben Sie denn das Viele Geld dazu her? Hm, Bargfeld - Reemtsma - ah ja.

HW: Ah nein. Die Arno-Schmidt-Stiftung sieht unserem Treiben zwar wohlwollend zu, weil ja auch ihr Namensgeber das sicher getan hätte, aber sie »beteiligt« sich keineswegs daran. Und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: das Viele Geld ist überhaupt nur nötig, wenn die erwähnten Zwischenhändler zugelassen werden; das treibt die »Deckungsauflage« auf 1.600 Stück und mehr und ist die Wurzel aller Vermarktungs-Übel. Wir lassen sie nicht zu und kommen deshalb im Nu mit einem Viertel aus.

GÖ: Was - wirklich? Das liefe dann ja auf die berühmten 465 »Eigentlichen Literaturleser« hinaus, die Sie uns nach der Schmidt-Formel einmal ausgerechnet haben. Auf die also rechnen Sie?

HW: Man muß das Besondere auch durch Seltenheit definieren -: sie werden, denken wir, unser Unternehmen tragen - und vielleicht sogar eine »Ehre« darin sehen, es als ein hochnöthiges Trotzdem der Zeit zu tragen. Deshalb drucken wir sie auch in einer Abonnenten-Tafel hinten ab, wie es Klopstock als erster erfolgreich getan hat: mit einer solchen Buch-Gemeinschaft im Rücken kann man tatsächlich »unabhängig« sein - nicht nur vom Saus und Braus des Kulturbetriebs sondern sogar von den kritischen Wettermachern wie Ihnen, und wenn sie noch so lauthals in allen Medien dawider hadern. Jedenfalls sind wir - Sie haben's richtig beobachtet - mit diesem Konzept im Kopf wesentlich zuversichtlicher, als wir's mit einem Verlagsvertrag in der Tasche je sein konnten.


Unbekannte Aussicht

GÖ: Freiheit - Silberklang dem Ohre! Klopfen Sie aber da nicht ein bißchen zu zeigestöckisch auf den Busch? Die Buch-Händler werden Ihnen schwerlich applaudieren.

HW: Nun, wir stehen im VLB, dem »Verzeichnis der lieferbaren Bücher«, und


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sie können bei uns ordern. Aber für ihr bißchen Tipptapp am Bestell-Computer bekommen sie nur 20 %, und damit basta; sie werden nicht einmal ermutigt, sich mit uns abzugeben, weil das - als »Werbeaufwand« - sowieso nichts erbrächte. Paßt ihnen das nicht, so bekommen sie überhaupt nichts mehr und können sich ungestört dem Verhökern ihrer Reiseführer und Kochbücher widmen. Die wenigen, die sich noch an die Literatur und an ihre eigene Berufungstradition erinnern, werden's einsehen. Im übrigen liefert das BÜCHERHAUS, wie bei einer Buchgemeinschaft, an den erlesenen Leser direkt.

GÖ: Wäre es Ihnen heilsam hinderlich, wenn ich jetzt das Wort »Elitär!« riefe? Wahrscheinlich bekäme ich aber bloß zur Antwort, daß auch die Schlösser auf dieser Welt nur für Wenige gebaut werden, und irgendwo haben Sie ja recht. Aber wissen möchte ich jetzt doch gern noch, wer dieses große WIR nun eigentlich ist!

HW: Das ist rasch dargelegt: Friedrich Forssman, hochmögender Typograph und Gestalter in Kassel, und dann Wir Beide hier, deren Verdienste um die Literatur wir Ihnen vielleicht ein andermal erläutern dürfen.

GÖ: Sie spannen mich auf die lange Folterbank. Und Sie haben gar keine Angst, daß man Ihnen am Ende den Großen Adlerorden der Babinischen Republik umhängt?

HW: Solange es nicht das Bundesverdienstkreuz ist ... Wir sind, wie es sich trifft, auch Freunde; wir können uns vertrauen und auf unsere Sachkundigkeit gegenseitig verlassen; wir machen in präziser Verteilung die Arbeit brauchen also keine »Personalkosten« - und bezahlen gemeinsam die Herstellung; bis zur Erreichung der Deckungsauflage »entnehmen« wir nichts, um sodann wirklichen »Rein-Gewinn« zu ernten -: imgrunde ist das nichts weiter als das Beim-Wort-Nehmen des Prinzips »Investition«; sie zahlt sich eines Tages aus - wie eine Rente das Arbeiten. Und wenn sie sich nicht auszahlt, besteht der »Schaden« lediglich in einem bißchen verlorner Liebes-Müh, die auch auf anderen Gebieten ja oft verpufft, aber nicht in Deutscher Mark. Denn die paar Hundert Individuen, die wir zur materiellen Kosten-Neutralisierung brauchen, werden sich doch wohl aus den Hundert Millionen, die Deutsch lesen können, bei uns zusammenfinden - oder das Abendland wäre bereits untergegangen.

GÖ: Vor ein paar Jahren haben Sie immerhin gesagt, es sei schon rüstig dabei. Ich will's nicht beschreien. Noch steht die Welt und ... Wo steht mein BÜCHERHAUS?

HW: Sie sitzen bequemlich mitten auf seiner Terrasse.

GÖ: Was - dieses Ländliche Anwesen mit Blick auf den Abend mit Goldrand? Ich hatte mir unter einem Verlag bisher immer irgendwie eine große Betonschachtel vorgestellt, in lauter kahle Fächer eingeteilt, zwischen denen hochwichtige Männchen betriebsam hin und her eilen und allerlei kaffeetrinkende Damen sitzen.

HW: Hier sehen Sie, als abermaliges Problem im Singular, nur Uns - aber hoffentlich formatfüllend. Daß man auf dem Lande, in Gesellschaft von Bäumen, besser dichtet und denkt als zwischen Ihren Betonschachteln, muß ja gerade in dieser Ortschaft nicht bewiesen werden; als Neues, im Moment nur erst glaubwürdig zu versichern, kommt hinzu: es verlegt sich dort auch viel besser.

GÖ: Beängstigend idyllisch jedenfalls. Jedoch ... es dunkelt schon in der Haiden: ich muß, wie gesagt, heut abend - - und dann ja auch noch an den Schneidetisch, um unser Gespräch von allerlei Weitschweifigkeiten und Unstimmigkeiten zu befreien.

HW: Nichts mehr mit dem Kronsberg? Wir würden Ihnen gern noch eine Unbekannte Aussicht zeigen.


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GÖ: Ich werde wiederkehren, um sie zu erblicken. Und wenn ich - nein, ich weiche nicht - Ihr sagen wir »Phänomen«, Ihren mir nach wie vor hochnotpeinlichen Horizont-Maler dann nicht mehr bei Ihnen anträfe, weil Sie zu Standesbewußtsein gekommen sind, sollten Sie mir doppelt lieh und wert sein. Im Moment dämpft er mir noch empfindlich den Beifall, und meine Berichterstattung wird entsprechend mezzoforte ausfallen ---

HW: Macht nichts - allez à la crier. Und was das Phänomen Karl May betrifft, so werden Sie in seiner Gesellschaft bleiben - wie wir selber auch; wir werden uns weiter gemeinsam mit ihm entwickeln. Und als eine Evolutions-Erscheinung par excellence werden wir ihn mit unserer Ausgabe in die Welt-Literatur überführen, denn da gehört er hin. Still, bleiben Sie jetzt sprachlos. Ob ich, nochmals wie vorhin ? Ich antworte mit Ja, und auch dabei bleibt es.-


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

Veröffentlichungen zu Karl May

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