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Heiko Postma

Old Shatterhand & Old Jumble

Notizen zu Karl Mays Roman »Weihnacht!«


Im Spätherbst des Jahres 1897 zieht sich der bekannte Schriftsteller Dr. Carl May aus Radebeul in das böhmische Dorf Birnai a.d. Elbe zurück, um dort, im Gasthof Herzig, ungestört sein neues Buch schreiben zu können. Er arbeitet fieberhaft wie stets und braucht kaum länger als eine Woche für die abenteuerliche Goldsucher-Geschichte mit ihrem großen Finale am »Finding-Hole«, hoch im Felsengebirge von Wyoming. Pünktlich zum Weihnachtsgeschäft wird der Band bereits in den Schaufenstern liegen. Sein suggestiver Titel: »Weihnacht!«.

Der Rückzug des Autors in die abgelegene (und anonyme) Stille ist dringend nötig gewesen. Der Rummel um seine Person hat allmählich überhand genommen und ein ordnungsgemäßes Schreiben verhindert. Freilich mochte auch noch ein anderer Grund mitgespielt haben, ein wesentlich unangenehmerer. Wie auch immer: 1897 ist Karl May äußerlich auf der Höhe seines Ruhms. Er ist Deutschlands erfolgreichster Reise-Schriftsteller.

Wahrscheinlich ist er der populärste deutsche Autor überhaupt, seit der junge Verleger F. E. Fehsenfeld aus Freiburg im Breisgau fünf Jahre zuvor die Idee gehabt hat, Karl Mays orientalische, amerikanische oder sonstwie exotische Reise-Schilderungen in einer eigenständigen Buchreihe herauszubringen. Bis dahin waren sie nur den Lesern der (sehr) katholischen Familienzeitschrift »Deutscher Hausschatz« ein - hochkarätiger - Begriff. Nun gewannen sie in atemberaubendem Tempo das allgemeine Publikum: Und die grünen Bändchen sehen ja obendrein noch faszinierend genug aus: Einheitlich gestaltet im kompakten Kleinoktav, mit gold-ovalen Rückschildern - wie eine Klassiker-Edition.

Durch Wüste und Harem hieß (ein bißchen im Gegensatz zu seinem eher keuschen Inhalt) der erste Band. Danach ging's Durchs wilde Kurdistan und weiter Von Bagdad nach Stambul. Allein die Titel verlockten durch ihren poetischen Rhythmus. Und irgendwann erhielt auch der Eröffnungshand einen neuen Namen, den Titel aller Titel Durch die Wüste. Fast eine existentielle Metapher.

Nachdem das Morgenland fürs erste abgegrast war, kam der Wilde Westen dran: Winnetou, der rote Gentleman, trat auf, jagte und starb; und mit ihm kamen Sam Hawkens (wenn ich mich nicht irre, hihihi), Dick Stone & Will Parker (das alte Coon), Hobble Frank und Old Wabble, Old Firehand und Old Surehand, vereinzelt auch mal eine Squaw wie Nscho Tschi; vor allem aber einer, der Held der Helden - Old Shatterhand.

Und der Autor ließ keinen Zweifel: Er selber war dieser Mann. Von Gestalt zwar eher schmächtig; bebrillt; leicht mit einem Greenhorn zu verwechseln; doch mächtig von Faust, ob beim Jagdhieb oder mit dem Federhalter. Auch in »Weihnacht!« belehrt der grad mal wieder Unterschätzte eine Zweiflerin über seine Doppel-Identität: Ich habe nämlich die eigentümliche Gewohn-


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heit, eigentlich ein deutscher Schriftsteller, nebenbei aber auch Old Shatterhand zu sein. (Nach solchem Muster funktionierte später auch »Superman«.)

Und die eigentümliche Gewohnheit seines erzählenden Ich galt nicht bloß innerhalb der Bücher, die der arglose Fehsenfeld anfangs als Reise-Romane deklarierte, was Karl May ihm rasch austrieb: Das waren keine erfundenen Stories, das waren authentische Abenteuer eines Vielgereisten! Die handelnden Personen waren so echt wie ihr Autor, und der war in der Heimat Karl May, im Orient Kara Ben Nemsi und im Fernen Westen eben Old Shatterhand, hough.

Das Lese-Volk glaubte es, sah in Karl May so etwas wie einen wilhelminischen Reinhold Messner und wollte den Volksschriftsteller (wie May sich gern nannte) nun auch gern persönlich erleben. So entwickelte sich ein Starkult verblüffend modernen Zuschnitts. Der Gefeierte ließ Postkarten drucken, die ihn im arabischen Beduinen-Burnus zeigten oder als Trapper in Lederkluft. Dazu die Bildunterschrift: Dr. Carl May, genannt Old Shatterhand.

Im ganzen Land hielt er Vorträge. In den gerammelt vollen Sälen rissen sich die Fans, um einen Blick auf den gelehrten Abenteurer und Globetrotter werfen zu können und um dabei zu sein, wenn er wieder mal ein Extra-Stückchen vortrug, das noch nicht in seinen Büchern stand - wie er am sterbenden Winnetou die Nottaufe vollzog, oder wie er es schaffte, insgesamt mehr als 1200 Sprachen und Dialekte zu lernen. Spektakuläre Auftritte.

In seiner Radebeuler Villa Shatterhand, die er sich von den so unvermutet herbeigeströmten Honoraren gekauft hatte, drängten sich die Besucher, um die dort aufgehängten legendären Schußwaffen zu bewundern - den Bärentöter oder auch Winnetous originale Silberbüchse (obwohl die doch, laut Text, gemeinsam mit dem hingemeuchelten Apatschen-Häuptling bestattet worden war...). Doch nicht nur das einfache Volk war hinter ihm her. Der Weitgereiste wurde in die exklusivsten Kreise gebeten - zur Privataudienz bei königlichen, selbst kaiserlichen Hoheiten, wo er anschaulich und plastisch von seinen Fahrten erzählte. Auch von seinen künftigen Reiseplänen.

Der Doktor May war zwar schon 55, aber er wirkte kein bißchen müde. Er war obenauf. Zumal er ja noch eine zweite erfolgreiche Schriften-Serie laufen hatte: Für den Stuttgarter Union-Verlag verfaßte er insgesamt acht größere Erzählungen speziell für jugendliche Leser, die erst in der Zeitschrift »Der gute Kamerad«, dann auch, prächtig ausgestattet, in Buchform erschienen. Hier wurden richtige Geschichten erzählt, schlicht, auktorial, spannend und frisch. Und wenn die Söhne den Schatz im Silbersee, den Ölprinz oder die Sklavenkarawane durchhatten, übernahmen die Väter. Und weil Fans nun einmal unersättlich sind, weil sie über ihren Star-Autor einfach alles wissen wollen (wie war Ihre Kindheit, Herr Doktor? Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?), gibt ihnen Karl May 1897, in »Weihnacht!«, nicht nur eine der gewohnten Verfolgungs-Jagden aus den dark and bloody grounds (für die sogar der tote Winnetou noch einmal auferstehen muß); er präsentiert überdies, im umfangreichen Einleitungskapitel, ein Stückchen aus seiner eigenen Lebensgeschichte: Porträt des Autors als junger Mann, als armer Gymnasiast May, der seine höhere Schulbildung mühsam, doch redlich mit Stundengeben erhungert; der in seiner kargen Freizeit geistliche Lieder komponiert und mit einem 32-strophigen Weihnachtsgedicht, das er heimlich verbrochen hat, am Lyrik-Wettbewerb einer Zeitschrift teilnimmt.

Und ebenso gerührt wie ergriffen


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folgt der Leser dem leicht schlotternden Gymnasiasten ins Allerheiligste, ins Direktorenzimmer, wo der Alte, der von der literarischen Sünde seines Zöglings Kenntnis erhielt, mit Donnerstimme anhebt: May! ... May!! ... May!!! ... Sie - - sind - - ja - - ein - - ganz - - -. Aber natürlich hat der gütige Patriarch nur einen kleinen Scherz machen wollen. In Wahrheit ist er stolz auf diesen armen, braven und vor allem - hochbegabten Jungen und 1. Preisträger, dem gleichen Tags von einem zweiten väterlichen Freund noch eine weitere Freude bereitet wird: Der alte Musiklehrer hat eine Motette des Knaben Karl hinterlistig zum Druck befördert (obwohl ein giftiger Neider ein paar schräge Noten in das Jungmay'sche Original gefälscht hatte).

Solchermaßen liebevoll umsorgt, gefördert von freundlichen Mentoren, wächst der angehende Schriftsteller also heran; das so überraschend eingekommene Doppel-Honorar ermöglicht es ihm obendrein, eine lang ersehnte Winter-Wanderung durch Böhmen zu verwirklichen, und zwar in Begleitung seines engsten Freundes Carpio, durch den man übrigens beiläufig erfährt, daß der junge May auch einen poetischen Spitznamen trug: Sappho - etwas sonderbar für einen jungen Mann, der Name grad dieser antiken Liebesdichterin aus Lesbos. Doch wenn Karl May selber es so gesagt hat...

Der Rest jedenfalls spielt in Amerika. Aus dem Weihnachtsdichter von einst ist der berühmte Schriftsteller und Westmann geworden. Auch Carpio lebt jetzt drüben: Old Jumble wird er genannt - der »alte Wirrkopf«. Zerstreut und konfus wie eh und je, phantasiert er sich sein verfehltes und gescheitertes Leben in phantastischen Geschichten zu einer sinnvollen Einheit zusammen und merkt selber gar nicht, wie verrückt das alles wirken muß. So steckt er, in seiner Wirrnis, einmal eine Pfeife ein, die ihm nicht gehört, und erzählt dann eine wilde Story darüber. Am Ende stirbt er in den Armen seines verständnisvollen Jugendfreundes May/Old Shatterhand - am Weihnachtsabend, das alte Weihnachtspreislied auf den Lippen.

»Weihnacht!« war die letzte nach traditionellem Muster gebaute abenteuerliche Reise-Erzählung Karl Mays. Sein letzter echter Buch-Erfolg zugleich. Denn bald darauf kam's knüppeldick für ihn. Und Einiges davon hatte sich schon seit einiger Zeit angekündigt - auch darum die Besinnungspause im Herbst 1897, die schöpferische Retirade ins Böhmische. Wenige Wochen zuvor hatte nämlich der »Hausschatz«-Verleger Pustet bei seinem so christlichen Großautor brieflich angefragt, ob er etwa identisch sei mit jenem »May, Carl«, den der Dresdner Kolportage-Verlag Münchmeyer im Gesamtkatalog des deutschen Buchhandels seit neuestem namentlich als Verfasser bedenklichster, ursprünglich wohl pseudonym erschienener Schundromane anführe.

Der solcherart Verdächtigte sagt dazu einstweilen weder ja noch nein; nur soviel, er werde Münchmeyer verklagen. Doch er wußte nun Bescheid. Er stand im Zenit seines, Ruhms, aber zum ersten Mal hatten | ihn die Schatten der Vergangenheit erreicht. »Weihnacht!« war darum auch ein (erster) Versuch, mit dieser neuen Situation fertig zu werden.

Danach ging's Schlag auf Schlag. Der Literaturchef der renommierten »Frankfurter Zeitung«, Fedor Mamroth (ein Vorgänger auf dem Stuhl Marcel Reich-Ranickis und auch sonst vielseitig mit diesem vergleichbar), äußerte in einem Karl-May-Special höhnische Zweifel, ob der kultisch verehrte Weltreisende jemals die deutschen Grenzen verlassen, geschweige denn, die


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Schluchten des Balkan gesehen habe. May konnte nur den Kopf einziehen. Er wußte - genau so war es. Außer in Böhmen war er in seiner Frühzeit nirgendwo gewesen (und die Erinnerung speziell an  d i e s e n  böhmischen Aufenthalt war weder angenehm noch heldisch erzählenswert, wenn auch abenteuerlich).

Wenig später begann der katholische Literat Hermann Cardauns öffentlich, den sittlichen Unwert Karl Mays zu geißeln, der die Verfasserschaft an jenen verderblichen Kolportage-Romanen nun nicht länger leugnen konnte und nur angab, die Münchmeyer-Redakteure hätten ihm damals (à la »Weihnacht!« !!) ein paar bedauerlich erotische Stellen hineingekupfert. Was die Herren um Cardauns freilich am meisten erregte, war, daß May stets den Eindruck erweckt hatte, katholisch zu sein, und jetzt stellte sich heraus, er war Protestant.

Und noch eines stellte sich heraus: Er war nicht nur kein Katholik, er war auch kein Doktor. Zwar behauptete Karl May bei einer behördlichen Vernehmung, er besitze ein chinesisches Diplom, weit hochrangiger als ein deutscher Doktortitel, aber dazu schüttelte man in den sächsischen Amtsstuben bloß den Kopf.

Doch all das war nur ein Vorspiel. Denn nun trat der gewaltigste Feind auf den Plan - in Gestalt des kleinen, verkrachten Journalisten Rudolf Lebius. Und der enthüllte dem staunenden Publikum, daß Karl May, der gefeierte Volkserzieher, acht Jahre seines Lebens in Gefängnissen, Arbeits- und Zuchthäusern zugebracht habe. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, endgültig und grausam. Und diese Vergangenheit entsprach nun überhaupt nicht dem idyllischen Bild, daß er in seinem Roman »Weihnacht!« entworfen hatte. Kein Gymnasium. Kein Studium. Keine behutsamen Lehrer. Keine Literaturpreise. Keine Reisen in ferne Länder. Nichts davon. Nur die Armut des Jungen, die war echt. Karl May war 1842 in Ernstthal am Rand des Erzgebirges geboren worden als fünftes von vierzehn Kindern des Webers Heinrich May und dessen Frau Christiane, die von 1846 an die Großfamilie praktisch allein am Leben hielt: Sie war Hebamme; mit dem Weberhandwerk stand es dagegen schlecht. Gleichwohl wollte der Vater seinem einzigen Sohn Karl eine gehobenere Bildung verschaffen. Fürs Gymnasium fehlte das Geld; so besuchte Karl May, nach der Konfirmation, das Lehrer-Seminar in Waldenburg.

Und damit beginnt die Serie der traumatischen Weihnachtsfeste in seiner Biographie. 1859, kurz vor dem Beginn der Weihnachtsferien, wird entdeckt, daß der 17jährige Seminarist ein paar anstaltseigene Kerzen beiseitegebracht und in seinem Koffer versteckt hat. Er wird auf Weisung des Kultusministeriums (!) relegiert und kann erst nach einem Gnadengesuch des Ortspfarrers seine Ausbildung an einem anderen Seminar fortsetzen.

Zwei Jahre später, abermals zur Weihnachtszeit, hilft ihm nichts und niemand mehr. May hat inzwischen sein Lehrer-Examen bestanden und sich bereits bei der schönen, leider verheirateten Frau Meinhold fristlos um seine erste Stelle geliebt. Nun ist er Fabriklehrer in Altchemnitz. Als er Heiligabend nach Haus, in die Ferien fährt, hat er die Uhr und die Pfeife (Carpio!) seines möblierten Zimmerkollegen dabei. Der erstattet Anzeige wg. Diebstahls, der verwirrte May leugnet, als die Polizei anrückt, den Besitz, wird verhaftet und anschließend zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Schlimmer noch: Sein Lehrer-Examen wird kassiert. Das heißt praktisch: lebenslängliches Berufsverbot.


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Karl May ist außer sich und sinnt auf Rache: Hat ihn die Gesellschaft einmal zum Verbrecher gestempelt, nun gut, dann wird er es eben der Gesellschaft zeigen! Dann wird er richtige Verbrechen begehen! Das ist die simple Logik mancher seiner späteren Roman-Figuren. Er aber tut es auch in Wirklichkeit.

Nicht, daß es schwere Verbrechen gewesen wären. Eher verrückte Trick-Betrügereien mit hochstaplerischer Beifärbung. Als Augenarzt Dr. med. Heilig ergaunert er sich ein paar Kleidungsstücke, untersucht aber auch einen Patienten und schreibt ihm ein feines Rezept. Als er sich einen Biberpelz erschwindelt, nennt er sich übrigens Hermes - er ist nicht kleinlich, es muß schon gleich der Gott der Diebe sein. Resultat jedenfalls: vier Jahre Arbeitshaus in Zwickau. Zuletzt leitet er dort die Anstalts-Bibliothek, liest viel geographische Bücher und schreibt auch ein 32-strophiges Weihnachtsgedicht...

Doch kaum ist er (wegen guter Führung: vorzeitig) entlassen, da taucht er als Polizeileutnant von Wolframsdorf bei einem Krämer auf und konfisziert vermeintliches Falschgeld. So und so ähnlich geht es weiter. Natürlich wird er eines Tages gefaßt und gefesselt abtransportiert. Doch er zerbricht die Ketten und entkommt über die böhmische (!) Grenze. In Böhmen wird er aufgegriffen und erzählt den Behörden eine abenteuerlich exotische Lebensgeschichte, die man ihm fast abnimmt. Trotzdem wird er nach Sachsen ausgeliefert: Vier Jahre Zuchthaus, die er in Waldheim absitzt.

Die Rache des jungen May: Die Gesellschaft ist um knapp 100 Taler geschädigt; er selber verbringt fast acht Jahre seines Lebens in Haft.

Sein Roman »Weihnacht!«, das ist wohl deutlich, entwirft eine verzweifelte Wunsch-Biographie: So hätte es sein können, wären die Verhältnisse nicht so gewesen. Es ist kein Anlaß, darüber zu spotten. Deutlich wird aber auch, daß Karl May in diesem Buch, wenn schon nicht öffentlich nachvollziehbar (weil er halt keinen Schlüssel mitlieferte), so doch vor sich selber, in der Gestalt des Carpio die Dinge bei einem wahreren Namen nennt. Old Shatterhand und Old Jumble gehören enger zusammen, als der zeitgenössische Leser ahnen konnte. Sie sind zwei Ich-Abspaltungen Karl Mays: Wunschprojektion und Wirklichkeit.

Die Kriminalstatistik hat Karl May nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus dann nur noch peripher bereichert: 1879 mußte er im Ortsgefängnis seiner Heimatstadt 3 Wochen wegen »Amtsanmaßung« absitzen - da hatte er Detektiv gespielt und sich als Vorgesetzter des Staatsanwalts ausgegeben. Bestimmte Dinge konnte er halt nie ganz lassen. Davon abgesehen, erledigte er seine Bedürfnisse nach Hochstapelei und Camouflage aber fortan auf sublimiertere Art, meist auf literarische, jedenfalls nicht mehr auf kriminelle. Die erste Chance dazu gab ihm Heinrich Münchmeyer, der Dresdner Kolportage-Verleger. Er engagierte den Ex-Zuchthäusler als Redakteur und Autor für seine Familienzeitschrift »Der Beobachter an der Elbe«. May entwickelte dann kurz darauf das Konzept für eine Bergarbeiter-Zeitschrift (Schacht und Hütte), die nicht recht lief und durch die Feierstunden am häuslichen Heerde ersetzt wurde. Er schrieb auch für Münchmeyers »Deutsches Familienblatt«, und so schaffte er den Einstieg in die Bürgerlichkeit.

Im Verlag hieß er nur der »Herr Doktor«, und warum sollte er dem widersprechen. Allmählich fand er auch Kontakt zu anderen Verlegern; und als er das Gefühl bekam, Münchmeyer wollte ihn allzu eng an sich (vor allem an seine Schwägerin


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Minna Ey) binden, kündigte er kurz entschlossen und riskierte es, von einem redaktionellen Zwischenspiel beim Münchmeyer-Konkurrenten Radelli abgesehen, fortan als freier Schriftsteller zu leben.

Er brachte sein erstes Buch Im fernen Westen heraus (Hauptheld ist darin einstweilen noch Old Firehand), dann kam die entscheidende Offerte des Regensburger Pustet-Verlags: Nun also christliche Reisen im Schatten des (moslemischen) Großherrn. Karl May heiratete Emma Pollmer aus dem heimatlichen Hohenstein, eine hübsch üppige Frau, die sich nicht sonderlich für Literatur, aber durchaus für ein angenehmes Leben interessierte. Zwangsläufige Folge, den »Hausschatz«-Honoraren zum Trotz: Finanzielle Probleme.

Die Rettung brachte dann wieder einmal Münchmeyer. Der engagierte May, einen umfänglichen Lieferungsroman zu verfassen - hundert Heftchen, bei wöchentlicher Erscheinungsweise. Reißendste Kolportage also, doch pekuniär einträglich. Und May schrieb in der Folgezeit, zwischen 1882 und 1887, gewissermaßen parallel zu seinen »seriösen« Reiseerzählungen, gleich fünf von diesen Riesenschmökern: Rein quantitativ die Hälfte seines Gesamtwerks.

Vier von diesen spannungsgeladenen Romanen, die dann zehn Jahre später sein Verhängnis einleiten sollten, erschienen anonym oder pseudonym, allemal effektvoll betitelt: Deutsche Herzen, deutsche Helden hieß einer; ein anderer - Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends, womit das erzgebirgische Weber-Elend gemeint war, denn auch diese Scharteke hat viel von einer Wunsch-Biographie ihres Autors. Das gewaltigste dieser Bücher aber war das erste: Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura. Ein frühes Kapitel dieses Romans heißt übrigens Die Weihnacht des Gefangenen und wird eingeleitet durch ein Gedicht: Darum gilt auch dir die Freude, / Die uns widerfahren ist, / Denn geboren wurde heute / Auch dein Heiland, Jesus Christ!

Eine von 32 Strophen. In einem späteren Roman wird der jugendliche Dichter Karl May damit einen Literaturpreis gewinnen...

Es gibt Karl-May-Leser, die der festen Überzeugung sind, diese Kolportage-Romane zwischen Schloß Rodriganda und Schloß Königsau seien das Beste, was der Radebeuler je geschrieben hat. Für die ernsthaft forschenden Geister unter seinen Jüngern beginnt das, was sie »das eigentliche Werk« Karl Mays nennen, freilich erst später, erst nach (oder zumindest: mit) seinem Bekenntnisbuch »Weihnacht!«. Man mag darüber streiten (oder statt dessen etwas Wichtigeres tun). Sicher ist, daß dieser Roman »Weihnacht!« Abschluß und Neu-Anfang zugleich war.

Mays letztes Lebens-Jahrzehnt war düster. Es stand im Zeichen von Beleidigungsklagen, Zivilprozessen, endlosen Presse-Kampagnen, gegenseitigen Entlarvungen. Auch seine Ehe zerbrach darüber. May war nun freilich wohlhabend genug, die Länder, die er so lange nur auf Baedecker-Basis ausphantasiert hatte, auch realiter zu bereisen. Um die Jahrhundertwende durchquerte er anderthalb Jahre lang den Orient, 1908 war er für ein Vierteljahr in Amerika. Deprimierend: Reise-Erzählungen nach alter Art hat er nie wieder geschrieben. Dafür entstand nun seine mystische, symbolhaft überhöhte (und gleichermaßen überanstrengte) Altersprosa. Ardistan und Dschinnistan - eine Lebens-Pilger-Reise empor ins Reich der Edelmenschen. Et in Terra Pax -


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ein ästhetisch eher belangloser, gedanklich ernsthafter Aufruf zum Völkerfrieden und zur Toleranz, eine Absage an jeglichen Rassismus.

Und noch einmal, wie schon in »Weihnacht!«, verarbeitete er das, was ihn im wirklichen Leben so bedrängte, zu einem autobiographischen Schlüsselroman, diesmal im orientalischen Gewand. Im Reiche des silbernen Löwen heißt das Buch, und in dessen zwei Schlußbänden gehen sie alle um: Fedor Mamroth und Hermann Cardauns und F. E. Fehsenfeld. Die Rolle des treulosen Lesers spielt Sir David Lindsay. Auch die Noch-Ehefrau Emma ist dabei - als Köchin Pekala, aber sie wird schon sichtlich in den Schatten gestellt von der lieblichen Schakara. Und deren Urbild, Klara Plöhn, wurde dann 1903 Karl Mays zweite Frau. Allmählich lichteten sich auch die Wolken über ihm. Die Gegner wurden leiser. Und als Karl May am 30. März 1912 in seiner Radebeuler Villa Shatterhand starb, war er gerade von einem begeistert aufgenommenem Vortrag zurückgekommen, den er in Wien gehalten hatte. Thema: Frieden. Kurz zuvor hatte er noch den ersten Band seiner unverschlüsselten, freilich hübsch zurechtstilisierten - Autobiographie Mein Leben und Streben publiziert: Eine umfassende Beichte, mit leichten Vorbehalten zu studieren.

Aber ein Satz aus dem Kindheitskapitel ist dann doch sehr anrührend: Überhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen.


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

Veröffentlichungen zu Karl May

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