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Erich Heinemann

Der »ganze Karl May«: Eine »fröhliche Wissenschaft«

Kleine Visitenkarte der Karl-May-Gesellschaft


Karl May ist naiv zu genießen oder
von einem höheren Punkte aus.

Werner Bergengruen



Karl May (1842-1912), ein »verwirrtes Proletarierkind«(1) aus dem sächsischen Erzgebirge, kam als junger Lehrer mit dem Gesetz in Konflikt, begann, noch »Hinter den Mauern«(2), zu schreiben, schlug sich anfangs mit kleineren Arbeiten in Familienzeitschriften durch, bis er, vorwiegend im »Deutschen Hausschatz«, Regensburg, mit seinen »Reiseerzählungen«, einem von ihm geprägten Zweig der Unterhaltungsliteratur, Erfolg hatte.

Diese in der Ich-Form geschriebenen Romane kamen ab 1892 gesammelt im Verlag Fehsenfeld, Freiburg / B., als Buchreihe heraus und begründeten seinen eigentlichen Ruhm. Noch heute erscheint diese Reihe, die 1913 auf den eigens gegründeten Karl-May-Verlag, damals Radebeul, übergegangen und mittlerweile auf 77 Bände erweitert ist. Die Gesamtauflage, einschließlich zahlreicher Übersetzungen und Ausgaben in anderen Verlagen, dürfte sich auf die 100 Millionen zubewegen.

Am beliebtesten sind immer noch die in Amerika und im Orient spielenden, abenteuerlich-bunten Reiseerzählungen, doch findet auch sein symbolisches, dem Surrealismus nahestehendes Alterswerk in neuerer Zeit immer mehr Beachtung.

Bergengruen fährt in seinem oben aufgeführten Zitat(3) fort: Die Vereinigung der beiden Momente, des naiven und des höheren Standortes mache die Beglückung des Lesers aus. Er hat damit eigentlich den tieferen Beweggrund aufgezeigt, der vor 26 Jahren, im März 1969, zur Gründung der Karl-May-Gesellschaft (KMG) führte.

Elf »Ur-Mitglieder« haben sie damals gewissermaßen aus dem Nichts heraus geschaffen, ohne Geld, ohne Publikations- und Kommunikationsmittel, ohne Verleger - und sogar unter widrigen Umständen. Inzwi-


1 Ernst Bloch in der Frankfurter Zeitung vom 31.3.1929: »Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er eben kein armer, verirrter Proletarier gewesen ...«

2 Fragment von Karl May, vermutlich um 1876 entstanden (Jahrbuch der KMG 1971, S. 124f.).

3 Schweizer Bücherzeitung ..., 59. Jg. 1947, S. 84f.


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schen (1995) zählt sie im In- und Ausland 1700 Mitglieder, Männer und Frauen mittleren Alters, die den verschiedensten Berufen angehören, mit einem auffällig hohen Anteil an Pädagogen - gerade jenen, die früher einmal den Stamm der May-Gegner bildeten.

Die Gesellschaft nahm sich bei ihrer Gründung vor, ihrem Namensträger einen Platz in der Literaturgeschichte zu verschaffen. Selten wird man diesen Passus in der Satzung einer literarischen Gesellschaft finden. Tatsächlich war es so, daß sich die Literaturwissenschaft mit diesem wohl meistgelesenen deutschen Schriftsteller bis dahin nicht beschäftigt hatte; allein Ernst Bloch hatte an verschiedenen Stellen seines Werkes auf ihn aufmerksam gemacht.

Das ist anders geworden. Karl May hat inzwischen sein Entree in Universitäten und Hochschulen gefunden. In der Literaturgeschichtsschreibung sucht man seinen Namen nicht mehr vergeblich. May-Doktoren, junge Wissenschaftler, die mit ihm ihren Doktorhut erwarben, gibt es in beträchtlicher Zahl.

Ein weiteres wichtiges Ziel war die Beschaffung forschungsrelevanter Texte. Auch das ein Novum in der Literaturgeschichte. Die vom Herausgeber - teilweise sogar recht erheblich - bearbeiteten Leseausgaben waren für Forschungszwecke ungeeignet. Die KMG half diesem Mangel ab, indem sie die noch von Karl May autorisierten Zeitschriften-Erstdrucke nach und nach in einer nunmehr 33 Bände umfassenden Reprintreihe vorlegte. Für weitere gesicherte Texte sorgten die Faksimileausgaben anderer Verlage, so daß heute der »ganze« Karl May im Original zu haben ist.

Wenn sich die May-Gesellschaft auch als eine Vereinigung versteht, die wissenschaftliche Forschung betreibt, so heißt das nicht, daß es in ihren Reihen immer stockernst zugehen muß. Auch Karl May besaß viel Humor, und das Kompliment, sie habe sich als »fröhliche Wissenschaft« etabliert, das in der Presse über die KMG zu lesen war, hat sie gern vernommen. Sicher hätte auch Nietzsche gegen dieses Lob nichts einzuwenden gehabt.

Alle zwei Jahre wird eine Mitgliederversammlung einberufen, alle vier Jahre der Vorstand gewählt. Den Hauptteil dieser Tagungen bestimmen Vorträge, Film- und Lichtbildervorführungen; meistens findet eine Auktion einschlägiger Literatur statt. Oft steht der Tagungsort in einer besonderen Beziehung zu Karl May. In den Tagungsräumen wird eine zum Thema passende Ausstellung veranstaltet. An den Rednerpulten stehen bekannte Professoren. Universitäten laden zu Symposien ein.

Durch ihre zahlreichen Publikationen ist die KMG inzwischen, zumal im wissenschaftlichen Bereich, weithin bekannt geworden. Bisher sind 25 umfangreiche Jahrbücher erschienen (1970-1994), mehr als 100 Ausgaben der vierteljährlichen »Mitteilungen« und »KMG-Nachrichten«, über 100 Sonderhefte, jedes einem Einzelthema gewidmet, 15 Materialien- und 33 Reprint-Bände.

Die KMG förderte auf Karl May bezogene Veröffentlichungen in anderen Verlagen, so das von ihren Autoren geschriebene Karl-May-Handbuch des Kröner-Verlages, das Große Karl May Figurenlexikon, eine 837 Seiten umfassende May-Biographie und die umfassende Chronik, die aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Karl-May-Gesellschaft erschien.

Vorstandsmitglied Hans Wollschläger und KMG-Mitarbeiter Hermann Wiedenroth geben die erste, auf 99 Bände angelegte historisch-kritische Ausgabe von Karl May heraus.


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Was nach 26 Jahren erfolgreicher Arbeit noch zu tun bleibt: die Erschließung von Mays handschriftlichem Nachlaß und Briefwerk, die Auswertung der Prozeßakten seines letzten Lebensjahrzehnts, Werkinterpretationen und Mithilfe beim Aufhau eines Karl-May-Forschungszentrums für Reise- und Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts, das vom Institut für Amerikanistik der Universität Dresden geplant ist. Um nur einige Beispiele zu nennen ...


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

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