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Martin Lowsky

More geometrico oder Der Brotlaib auf dem Schreibtisch

Über Karl Mays Erzählen



Karl May schreibt: »Nun sahen wir eine ganz eigenartige Berggestaltung vor uns. Eine kompakte Masse stieg rechts und links allmählich zu bedeutender Höhe an und war in der Mitte tief bis herunter auf die Steppe eingeschnitten. Es sah aus, als ob ein Riese, ein gigantisches Wesen sich ein Brot gebacken, es hierher gelegt und dann mit einem mehrere Kilometer langen Messer bis ganz nach unten durchschnitten und nachher die beiden Hälften ein wenig auseinander gerückt habe.« Man befindet sich hier, im Mittelteil der Erzählung Satan und Ischariot, auf einem Ritt durch Tunesien. Die Passage ist nur eine knappe Landschaftsbeschreibung, enthält aber im Kern all das, was Mays Erzählen so anziehend macht. Zum einen wird geographische Exaktheit vorgeführt: es geht um einen Berg oder vielmehr Doppelberg, der sich aus der tunesischen Steppe erhebt, er liegt so und so da (nämlich wie ein Brot) und mißt mehrere Kilometer im Querschnitt. Der Leser wird genau, sozusagen messerscharf, ins Bild gesetzt; diese Abenteuerkulisse ist ihm fortan vertraut. Zum anderen bekommt diese Geländeformation den Flair der Verfügbarkeit und des Legendenhaften, denn »ein Riese« scheint sie geschaffen und mit seinem großen Messer ein Bergerücken veranstaltet zu haben. In aller Kürze wird dem Leser ein Schöpfungsmythos entwickelt. So wirken in diesen Mayschen Sätzen geographischer Exaktheitsanspruch und mythenhafte Bildlichkeit ineinander, und dies ist en miniature ein Zusammenspiel, das alle Mayschen klassischen Reiseerzählungen prägt, das Zusammenspiel von geographisch-ethnographischer Genauigkeit und mythisch-überzeitlicher Verdichtung. Mays Hauptheld, der wißbegierige Reisende und mutige Abenteurer Old Shatterhand / Kara Ben Nemsi, ist Wahrheitsfanatiker und Mythomane zugleich.

Doch das Zitat sagt uns noch mehr. Richten wir den Blick auf das Allernächstliegende! Mays sinnlicher Vergleich des Berges mit einem riesenhaften Brot führt zunächst nicht in die Ferne oder in die Mythologie, sondern hält sich ans Häusliche, ans Alltägliche, beruft sich auf die Tisch- oder Schreibtischplatte, wo der Brotlaib liegt oder liegen könnte. May lenkt, während er zu phantasieren und zu erzählen beginnt, seine Sinne auf das, was er unmittelbar vor Augen hat, er konstruiert aus dem Hier und Jetzt seiner Schreibtisch-Welt das Abenteuerszenarium. Der Leser folgt ihm mit Leichtigkeit, kann er doch das Bild vom daliegenden Brotlaib nachempfinden und unter der Anleitung des Erzählers sofort in die Exotik des Romans übertragen.

Die Frage, ob ihm hier die tunesische Wirklichkeit gezeigt wird, stellt sich ihm nicht. Karl May ist der Schreibtischarbeiter par excellence - nicht nur, weil er seine geographischen Studien statt in der Wirklichkeit am


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Schreibtisch betrieb, nicht nur, weil er sich durch das Niederschreiben von Abenteuern für die Unbill in seinem Leben entschädigte, sondern auch, weil sich sein Erzählen selbst immer wieder als ein Konstruieren am Schreibtisch ausweist. Mays Faszination auf den Leser, der, mit dem Buch in der Hand, sich in einer ähnlichen Situation wie der schreibende Autor befindet, erklärt sich zu einem guten Teil daraus.


»Jene weiten Prärien ...«

Wenn wir Mays Konstruieren am Schreibtisch verfolgen, so geht es uns nicht darum, die Stellen aufzusuchen, in denen er offen über sein Tun in der Studierstube spricht. Das sind etwa jene, in denen der Held zugibt, von seinem Bücherwissen zu profitieren; so zu Beginn der Sklavenkarawane, wo der europäische Reisende den Eingeborenen klarmacht, daß er sich per Buch auf seine Nil-Reise vorbereitet habe, oder jener Absatz im La Plata-Roman, wo die Hauptperson im Hotelzimmer sich mittels Buchlektüre auf das zu durchwandernde Land einstimmt.

Solche Deklarationen, die den Fleiß am Schreibtisch preisen (den Passus in der Sklavenkarawane hat May zweifellos für lernmüde Schulknaben entworfen), bestehen aber auf der bitteren Trennung zwischen Buch und Leben; sie bilden eine Art Rahmenhandlung. Dort dagegen, wo die schreibtischgemäße Konstruktion selbst erscheint, entsteht der Eindruck von Totalität.

Eine solche Passage ist auch die im 2. Band von Old Surehand, die eine längere Handlungssequenz um Seeleute und Präriejäger einleitet. Es heißt hier: »Jene weiten Prairien Nordamerikas, welche sich westlich vom >Vater der Ströme<, dem Mississippi, bis an den Fuß des Felsengebirges und von dem jenseitigen Abhange derselben wieder an die Küste des stillen Weltmeeres erstrecken, haben nicht nur in physikalischer Beziehung mancherlei Ähnlichkeiten mit den unendlichen Fernen, welche die Wogen des Oceanes erfüllen.«

Diese Gleichsetzung von Prärie und Meer in der etwas steifen Formulierung (die May aus einer früheren Erzählung übernommen hat und jetzt dem Berichterstatter einer Binnenerzählung in den Mund legt) liest man dennoch mit Behagen; schon deswegen, weil sich mit ihr gleich zwei Abenteuerszenarien eröffnen, vor allem aber, weil aus ihr die Situation des Autors spricht, der diesen Regionen fernsteht, also dieselbe Situation wie die des Lesers.

Denn die behauptete Ähnlichkeit zwischen Prärie und Meer liegt doch allein in der >welligen Flächigkeit< dieser Regionen, also in dem, was schon in den Mustern eines Sofapolsters, in der Maserung einer Tischplatte aufscheint. Wenn ein Schriftsteller die Abenteuerflächen Meer und Prärie in dieser Weise nebeneinanderstellt, abstrahiert er aus der Situation seines Arbeitsplatzes heraus. Doch ein Schreibtischarbeiter formuliert nicht nur, er zeichnet auch. Im Jahrgang 1896 des >Deutschen Hausschatzes< legte May seinen Lesern mitten im Text diese Zeichnung vor (die sich auch in der zugehörigen Buchausgabe Satan und Ischariot III wiederfindet):


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»Die Ruinen von Babylon ...«

May erläutert dieses Dreieck, das eine Hochfläche in den Rocky Mountains bezeichnet, mit den Worten: »Die hintere Seite a ist die langgestreckte, felsige Höhe, hinter welcher ein Teil unserer Krieger versteckt lag. Die vordere Seite b deutet den Wald an« - und so geht es weiter bis zum Buchstaben e, der den Beginn eines Hohlweges angibt. Die Figur ist eine Veranschaulichung der Örtlichkeit, dies jedoch nicht primär, jedenfalls nicht für den Autor; für ihn hat sie als Handlungsentwurf gedient. Denn da er die Buchstaben dem Abc nach benutzt und nicht geeignete Abkürzungen, >H.< für Höhe etwa und >W.< für Wald, war offenbar das abstrakte Dreieck mit seiner ebenso abstrakten, nämlich dieser alphabetischen, Beschriftung zuerst da, als Skizze auf dem Papier; in einem zweiten Schritt hat Mays Phantasie sie mit landschaftsszenischen Elementen ausgestattet.

Diese gedankliche Genesis vom nackten Dreieck hin zum variationsreichen, mit Bewegung erfüllten Gelände erlebt der Leser mit, indem er Bild und Kommentar nacheinander vor die Augen bekommt. Wieder erfährt er, wie May aus seinem Hier und Jetzt heraus konstruiert. - Einen ähnlich am geometrischen Bild orientierten Prozeß enthält der erste Band von Im Reiche des silbernen Löwen, wo May diese Zeichnung vorgibt:

Der Schauplatz sind hier die Ruinen von Babylon, und diese »ganz regelmäßige Figur von gleichgroßen Vierecken«, wie May seine Erläuterung einleitet, bedeutet unterirdische Räume für Gefangene.

Was May uns aber zeigt, ist eine geometrische Zeichnung; wir bewegen uns in der Mathematik. Unter den Wissenschaftlern ist der Mathematiker (gemeint ist hier nicht der in der >angewandten Mathematik< Tätige, sondern der >reine Mathematiker<) der typische Vertreter des Schreibtischarbeiters. Er bildet sich seine Begriffe und forscht mittels Papier und Bleistift; alles, was er für den Fortschritt seiner Arbeit benötigt, alle ihm hilfreiche Empirie kann er spontan für sich selbst in einer Skizze entwerfen.

Der Mathematiker hat damit eine singuläre Stellung im Wissenschaftsbetrieb (die allerdings seit dem Einzug von Computern auch in die reine Mathematik Wandlungen erfährt). Man hat daher den Mathematiker und den Dichter als verwandte Schöpfernaturen angesehen; Karl Löwith spricht in seinem Valéry-Essay von der »Macht (...) des gedanklichen Konstruierenkönnens«, über die der Mathematiker wie der Dichter verfüge.

Mays Abenteuerkonzepte bezeugen in besonderer Weise diese Macht. Es


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wundert nun nicht, daß Karl May, der kein Mathematiker war - und den man, wollte man ihn in die Nähe der Wissenschaftler rücken, einen Ethnographen oder Geographen oder auch Pädagogen nennen könnte -, der aber andererseits nur am Schreibtisch arbeitete, sich auch auf mathematisches Terrain begab.

Keimzellen seines Phantasierens sind eben auch die abstrakten Dreiecke und Vielecke, die sich rasch auf dem Papier entwerfen lassen. Auch der erwähnte sinnliche Vergleich mit dem Brotlaib, seiner Durchschneidung und seiner Verrückung ist eine Art geometrischer Abstraktion.


»Mit Tinte und vielem Papier ...«

All die Mayschen Umzingelungen, Einkesselungen und Abriegelungen, die wie von selbst funktionieren, benutzen eine Geographie, die aus der Geometrie des Schreibtisches erwachsen ist. Lapidar heißt es im Schwarzen Mustang, als Indianer über einen Umweg anrücken: Wer ihnen zuvorkommen will, muß »einen noch bedeutenderen Bogen schlagen«. Das kann, da der erste Bogen nicht zu erkennen ist, nur auf dem Papier gelingen, aber Mays Helden schaffen es auch in ihrer Wirklichkeit.

Unter dem geographisch-mythischen Abenteuergeschehen, das man gemeinhin für die Hauptsache bei May hält, ist eine Folie von Abstrakta verborgen. In der Forschung wurde bereits auf das »Spiel mit Räumen« (Helmut Schmiedt) in Mays Erzählweise aufmerksam gemacht, und wenn ein Interpret feststellt, daß bei May der »dreidimensionale Raum als Handlungsort« erscheint (Werner Kittstein) - dort nämlich, wo der Reisende aus der Raubvogelschar am Himmel auf eine entfernte Mordstelle schließt -, so zeigt diese Beobachtung auch, daß May bei aller Abenteuerlichkeit seinen Lesern den Blick für die reine Geometrie freihält.

Das, was wir als Mays schreibtischorientiertes Konstruieren bezeichnet haben, ist eine von vornherein präsente abstrakte Fundierung seiner Phantasien. Man möchte Karl May, dem in mancherlei Hinsicht kindlichen Phantasten, diese Fundierung nicht zutrauen. Aber abstraktes Denken hat ja auch frühkindliche Züge, die Züge einer vorsubjektiven Welterfassung. Daher kommt es, daß dieser Schriftsteller sowohl unter den Jugendlichen als auch unter den Intellektuellen seine Freunde hat.

May hat sich zu dem abstrakten Grundton seines Schreibens an einer entscheidenden Stelle bekannt, im 1. Band seines Winnetou-Romans, als er nach einer Reihe von Wildwesterzählungen der Initiation seines jungen Helden die endgültige literarische Form gab. Die Bezirke des Westens, lesen wir, öffnen sich dem Helden gerade dadurch, daß er in einem »Bureau« ein Examen als Feldmesser besteht. Zuvor wird er gefragt: »Habt Ihr Mathematik getrieben?«, worauf er antwortet: »War eine meiner Lieblingswissenschaften.«

Hier liegt der existentielle Anstoß: als Feldmesser an der Eisenbahntrasse, als Geodät, als Mathematiker zieht der Held in die Prärie und tritt Winnetou vor die Augen, nicht als Abenteurer, auch wenn er sich im Laufe neuerlicher, andersgearteter Prüfungen zu einem solchen entwickelt und die Feldmesserei aufgibt.

Im 4. Band dieses Romans, siebzehn Jahre später entstanden, vollendet sich der Prozeß in der Weise, daß aus dem Abenteuerland der Rückzug an den Schreibtisch stattfindet, eine Rückverwandlung, die nun Winnetou leistet. Denn in seinem halb indianisch, halb europäisch eingerichteten Haus gibt es, wie man nach seinem Tode entdeckt, eine »Arbeitsstube« und darin einen »Schreibtisch«, versehen mit »Kästen, Federn, Tinte


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und vielem Papier«. Viel Papier! Der Lebensweg im Wilden Westen führt schließlich zu >pencil-work<, zu dem für May Existentiellen.


»Geraden Weges nach der Sonne ...«

Mit diesem Zitat haben wir Mays Alterswerk betreten. Für diese Kreationen, die gleich Mays bekanntesten Werken sich Reiseerzählungen nennen, gilt der allegorische Zug als Charakteristikum. Ihr Inhalt bestehe »fast nur aus Gleichnissen«, sagt May in Mein Leben und Streben, und so gegensätzliche Kritiker wie Arno Schmidt, der May nur wegen seines Alterswerks zu den Literaten zählte, und Ernst Bloch, der Mays späte Schaffensphase ablehnte, sind ihm darin gefolgt. Doch charakteristisch für Mays Alterswerk ist auch, daß die geometrisch-abstrakte Schicht zur Handlungsoberfläche vordringt und dort das Konkrete zu ersetzen sucht. Man denke nur an die ellipsenförmigen Felsenkessel im 4. Winnetou-Band, die durch ihre zwei Brennpunkte Schallwellenbündelungen und Belauschungen ermöglichen (und damit die Handlung wesentlich bestimmen), oder an die Übertragung dieser Rundformen in globale Maßstäbe, wenn May die indianische Sage von den Aleuten erfindet: die Ideen der asiatischen Friedensfürstin Marah Durimeh kommen nicht nur im Verein mit Shatterhand über Europa nach Amerika, sondern auch über die legendarisch ausgestaltete Westverbindung, wodurch sich ein Kreis um die Erde ergibt.

Auf dem abgewandten Weg erreicht man das vorne liegende Ziel. »Kann die Finsternis verdichtet werden, so verdichtet, daß sie die Wirkung des Lichtes bekommt? « fragt May im Silbernen Löwen. So findet wohl bei seiner indianisch-asiatisch-europäischen Weltumrundung an einer Stelle der »Durchgang durch das Unendliche« statt, von dem Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das >Marionettentheater< geschrieben hatte und dabei zu der Erkenntnis gekommen war: »das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«.

Karl Mays Suche nach dem Goldenen Zeitalter, die er im geographischen Bild der Weltrundreise ausdrückt, ist von dem mathematikbegeisterten Kleist beeinflußt. - Schließlich, in seiner letzten großen Veröffentlichung, schweift Mays Phantasie sogar in die Ekliptik und deren runde Form. Denn seine Selbstbiographie beginnt mit den Worten: »Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus« -


»Das stand in keinem Buche ...«

Eine Fülle von geometrischen Elementen bietet schließlich Mays Altersroman Ardistan und Dschinnistan. Nicht nur erscheinen runde und viereckige Figuren als Embleme für das Weibliche und das Männliche, nicht nur werden bei der Betrachtung von Architektur komplizierte, durch »Interpunktion« gewonnene (hyperbelähnliche) Linien als Symbole für die hochentwickelte Zivilisation von Ardistan benutzt das ist eine eher konventionelle Bildhaftigkeit, die noch nicht Abstraktion bedeutet -, sondern es werden auch mehrfach Probleme des perspektivischen Sehens erörtert, und vor allem kommen die Objekte der euklidischen Geometrie unverschlüsselt zur Sprache.

Über das Zentrum von Ussulistan schreibt May: »Die Stadt lag auf einer ebenen Fläche, die nicht die ge-


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ringste Erhebung zeigte und durch unzählige Kanäle und kleinere Gräben in Vierecke geteilt wurde. Zuweilen bildete sich auch, wenn mehrere Gräben zusammenstießen, entweder ein Drei- oder Mehreck.« Ebene, Fläche, Dreieck, Mehreck: May zählt die Grundlagen der Schulgeometrie auf. Dieser schlichten Geometrie (das Land Ussulistan steht für die primitive Erdverbundenheit!) setzt May später die schwer faßlichen Bewegungen von »Ecken, Kanten und Linien« - ihr »Aufstrahlen und Niedersinken«, ein Flimmern »in voller Reinheit« - entgegen, die sich beim Ausbruch der Vulkane von Dschinnistan entfalten. Über mehrere Seiten geht die Beschreibung, wobei der fast selbstironische Satz erscheint: »Das stand in keiner Physik, überhaupt in keinem Buche!«

Der Aufstieg aus den niederen Regionen in das glückselige Dschinnistan wird in dieser Ausbruchsphantasie oder diesem himmlischen Zeugungsakt zu einem Aufstieg aus der traditionellen euklidischen Geometrie. Sollte Karl May etwas von der neuen Mathematik des 19. Jahrhunderts, von der Überwindung Euklids durch Gauß, Lobatschewskij und andere gewußt haben? Sollte er gar an »das vernünftige Chaos« gedacht haben, über das der Romantiker Novalis schon vor zweihundert Jahren theoretisiert hat?


»Wasser die Hülle und Fülle ...«

Im Klingsohr-Märchen des >Heinrich von Ofterdingen< leuchtet bei der Erlösungssuche ebenfalls ein Vulkan, auch dort wird die schlichte Geometrie (»eine Menge Zahlen und geometrische Figuren«) besiegt. Übrigens sind Mays geometrisch-utopische Entwürfe keineswegs an symmetrische Formen gebunden, wie es bei den großen mathematisch interessierten Utopikern fast immer der Fall ist; May ist in mathematicis viel phantasievoller als Campanella oder Jules Verne.

Doch May ersinnt noch einen zweiten Weg in die dschinnistanischen Gefilde. Im Tiefland gelangt man an einen mit einer Engelsstatue versehenen Brunnen, und dort, unter einer Schicht verwehten Sandes, entdeckt Halef, der Begleiter des Helden, eine, wie er sagt, »Figur mit drei Spitzen«. Es handelt sich natürlich um ein Dreieck; enthüllt wird es somit von einem Mann, der es wohl aufspüren, aber nicht benennen kann.

Dieser Halef ist vielleicht der Leser, den Karl May sich für seine klassischen Reiseerzählungen vorstellte, einer, der unter der bewegten Abenteuerhandlung, unter der Schicht des Wüstensandes also, die abstrakten Anfänge des Konstruierens am Schreibtisch aufdeckt. Das Dreieck am Brunnen nun, das mit Sorgfalt eingraviert worden ist, ist ein Gotteszeichen und ein Symbol für Dschinnistan, und von ihm ausgehend, gelangt der Held dann an die Schöpfräder und an das lebenspendende Wasser.

In der Episode vom Brunnen (deren Motivreichtum auch schwer >auszuschöpfen< ist) vereinen sich also Abstraktheit, Naturwissenschaft und Fruchtbarkeit oder - um es mit den Stichworten zu sagen, die interessanterweise der Text selbst benutzt -: »Geometrie«, »Mechanik« und »Wasser die Hülle und Fülle«.

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In Mays Alterswerk geht das Abstrakte dem Konkreten nicht mehr voraus, sondern es nimmt seinen Platz neben diesem ein. Es bildet sich eine neue Totalität, die ständige Übergänge zwischen hier und dort zuläßt. Damit stellt sich eine Frage, die auch auf das frühere Werk zu beziehen ist: Wieso stört das >reine< Dreieck die Abenteuerfabel nicht? Wie kommt es letztlich dazu, daß die


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Konkretheit des phantastischen Erzählens und die Abstraktheit so gut zusammenpassen?

Versuchen wir die Antwort. Es liegt daran, daß beide denselben Grad von Realitätsferne haben; Realitätsferne aber hat paradoxerweise etwas mit Wahrhaftigkeit zu tun. Der Schriftsteller Theodor Fontane sagte über die Phantasiewelt des romantischen Romans: »Was zu  k e i n e r  Zeit geschah, darf in  j e d e r  geschehen«, und der Philosoph René Descartes stellte über die Geometrie und die Arithmetik fest, daß sie »etwas von zweifelloser Gewißheit enthalten«, weil sie hinsichtlich ihrer Objekte »sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht«.

Sowohl die Phantastik als auch die Mathematik bezeugen dadurch, daß sie dem Realen fernstehen, Wahrhaftigkeit. Mays beste Passagen prägt diese doppelte Wahrhaftigkeit. Aus dem machtvollen Wirken von mathematisch orientierter Abstraktion und phantastischer Konkretheit ergibt sich die stimmige Geschlossenheit von Karl Mays erzähltem Kosmos, entsteht, um Ernst Blochs Urteil aus einem seiner May-Essays zu wiederholen, »das Allerrealste von der Welt«.



Anmerkungen:

Die Zitate Karl Mays sind folgenden seiner Werke entnommen: Satan und Ischariot. II. Bd., S. 393f.; Old Surehand. 2. Bd., S. 116; Satan und Ischariot. III. Bd., S.548f; Im Reiche des silbernen Löwen. 1. Bd., S. 586; Winnetou der Rote Gentleman. 1. Bd., S. 24, 15; Winnetou. 4. Bd., S. 429; Im Reiche des silbernen Löwen. 4. Bd., S. 331; Ardistan und Dschinnistan. 2. Bd., S.92; 1. Bd., S. 248, 333, 331, 489-503 (alle in der Reihe: Karl May's gesammelte Reiseerzählungen. Freiburg 1892-1910. Reprint Bamberg 1982-84); Der Schwarze Mustang und andere Erzählungen. (Karl Mays Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Abt.III, Bd.7.) Zürich 1992, S.124; Mein Leben und Streben. Freiburg (1910), S. 211, 1 (Reprint Hildesheim / New York 1975).

Ferner wird zitiert aus: Karl Löwith: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens. Göttingen 1971, S. 13; Helmut Schmiedt: Helmers Home und zurück. Das Spiel mit Räumen in Karl Mays Erzählung >Der Geist des Llano estakado<. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1982. Husum 1982, S.60-76; Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman >Der Geist des Llano estakado<. Ubstadt 1992, S. 79; Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. München 1971, S. 951, 948; Novalis Werke. München 1987, S. 455, 241, 236; Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Abt. III, 1. Bd. Aufsätze und Aufzeichnungen. München 1969, S. 320; René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Leipzig 1904, S.14; Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1977, S. 181.


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