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Kolportage


Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen her trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. - Ja, so muß ein Buch anfangen, das ein Reißer werden will. Ruhig und spanisch. Der Rhythmus der Sprache folgt dem Trab des Tieres, doch in den winkligen Gassen Manresas wartet das Abenteuer. Gleich ist der Leser gefangen; unrettbar gefesselt an die Geschehnisse, die noch vor ihm liegen; gebannt von einer Geschichte aus Verrat und Liebe, Treue und Wahnsinn, Scheintod und Eifersucht. 2612 Seiten lang, von einem Atemraub zum anderen.

Hohe Literatur kann solche Spannung nicht (mehr) erzeugen. Rote Leseohren macht nur die Kolportage; denn sie hat den Mut zum Einfachen, zum Mythos und zu den starken Gefühlen: »Carlos, mein Carlos!« rief sie. »Du bist es?« - »Ja, mein Leben, meine Seligkeit, ich bin es«, antwortete er mit zitternder Stimme. Schön, nicht? Fast so schön wie der Titel dieser Scharteke: »Waldröschen oder Die Verfolgung rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura«.

Stolz will ich den Spanier; da macht es überhaupt nichts, daß der Dichter weder Capitain noch Spanier war, sondern ein Ex-Lehrer aus Sachsen. Exotik gehört zum Genre wie Hadschi Halef Omar zu Kara Ben Nemsi. Wer will schon Wirklichkeit, wenn er einen Traum haben kann; den Traum vom großen Leben. Und groß ist in der Kolportage alles, das Geheimnis wie die Enthüllung, der Schmerz und das Glück, die Abgefeimtheit des Bösen und die Widerstandskraft des Guten.

Aus der Elite-Prosa haben sie sich längst verabschiedet, im Schmöker leben sie weiter: der große Held und der große Schurke oder gar der ganz Große, der schwarze Doppelspieler, der - alle Welt täuschend - beides ist, ehrbarer Richter und Flußpirat auf dem Mississippi. Und sage niemand, so etwas sei unrealistisch, sonst nenne ich Beispiele aus dem richtigen Leben.

Nein, Kolportage bezieht ihre Stoffe schon aus der Wirklichkeit, nur sorgt sie für ein günstigeres Ende. Wenn der scheinbar Unscheinbare, der Unterschätzte, der Belächelte, sich auf einmal, im Augenblick höchster Gefahr, als Super-Mann entpuppt: Damit kann man sich gut identifizieren. Und dann liest man es immer wieder neu.

Das ist das Eigenartige dieser Gattung: Man durchschaut mit der Zeit sämtliche Tricks dieser Kolporteure und fällt jedesmal bereitwillig drauf rein. Sieben mal habe ich das »Waldröschen« schon gelesen, und immer fiebere ich der Szene am Alligatorenteich entgegen - wie schafft es der finstere Graf bloß, gefesselt über dem Wasser hängend, den schnappenden Bestien zu entkommen? Die große Jagd aufs große Abenteuer. Im Reißer gibt es sie noch. Man nimmt das Buch, schlägt es auf und - von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen her trabt ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Wunderbar.

Heiko Postma


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

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