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Vom Büchersammeln


Büchersammeln ist eine Manie, eine Krankheit. Sie kann ganz harmlos anfangen. Nehmen wir an, ein Jugendlicher bekommt einen Karl-May-Roman zum Geburtstag - eines dieser faszinierend kleinformatigen, goldornamentierten grünen Leinenbändchen. Der erste Ritt durch die Wüste erfordert die anschließende (neuerdings sogar aktuelle, also lehrreiche) Reise durchs wilde Kurdistan, dann geht's von Bagdad nach Stambul und so weiter. Irgendwann entdeckt der junge Leser, daß die ganze Reihe über siebzig Nummern umfaßt und wie schön sich diese vollständig gesammelten Werke im eigenen Regal ausnehmen würden.

Der erste, gefährliche Schritt zur Sammelsucht ist getan. Die Feststellung, daß der vierte »Winnetou« weit langweiliger ist als die drei ersten und der Pilgerzug von Ardistan nach Dschinnistan reichlich verquast - sie richtet schon nichts mehr aus: Man will die Reihe komplett. Erst dann wird Ruhe sein. Glaubt man.

Noch könnte alles gutgehen, Episode bleiben. Dann darf nur eines nicht passieren - daß unserem jungen Freund, etwa auf dem Flohmarkt, ein ältlicher Karl-May-Band in die Hände fällt, der ganz ähnlich aussieht wie ein neuer, doch kunstvoller gebunden, mit urtümlicherem Titelbild versehen, in schöner Frakturtype gesetzt. Nanu? Wie eine sogleich eingeholte Information ergibt (der Sammler entwickelt sich auf seinem Gebiet mit der Zeit zum Kenner), enthält dies antike Exemplar obendrein den unbearbeiteten Originaltext - es ist eine »Erstausgabe« und eine »Ausgabe letzter Hand« zugleich! (Auch diese beiden magischen Fachausdrücke gehören in frappierend kurzer Zeit zum Repertoire des Einsteigers.)

Wirf das Buch weg! Nein, er trägt es nach Hause und beginnt mit der Einrichtung einer zweiten Karl-May-Abteilung. Die Warnung kam zu spät. Er hat den Punkt überschritten, an dem der Sammler zum Jäger wird. Denn diese Uralt-Scharteken sind nurmehr antiquarisch zu ergattern, und auch das bloß unter Mühen und mit viel Glück. Vom Geld nicht zu reden.

So nimmt die Leidenschaft dann ihren Gang. Denn bei Karl May bleibt keiner stehen. Wem verdankte nämlich Karl May seine Ideen? Den Reiseromanen Gerstäckers oder J.F. Coopers. Neue Jagdgründe tun sich auf. Und wer je hinter den unzähligen Duodez-Bändchen der Sauerländerschen Cooper-Ausgabe hergewesen ist, der weiß: Hier wartet eine Lebensaufgabe.

Und von J.F. Cooper ist es nur ein winziger Schritt zu Walter Scott, seinem Vorläufer, oder zu Edgar Allan Poe, seinem Rivalen und Erzkritiker. Und so füllen sich die Regale mit den wunderbarsten Raritäten, und die Jagd auf Bücher geht immer weiter; und eines Tages, so nimmt man sich vor, wird man sie alle einmal lesen.

Heiko Postma


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

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