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RUDOLF BEISSEL

»Und ich halte Herrn May für einen Dichter . . .«

Erinnerungen an Karl Mays letzten Prozeß in Berlin


Im Leben eines jeden Menschen gibt es Tage, die aus tausend anderen herausragen und unauslöschlich im Gedächtnis bleiben. Oft verklärt die Phantasie die Ereignisse eines solchen Tages ins Legenden- oder Sagenhafte und entwickelt sie in Dichtung zur Unwahrheit. Jeder Psychologe und jeder Richter weiß, wie unzuverlässig das menschliche Gedächtnis ist.

Für mich war der 18. Dezember 1911 solch ein unvergeßlicher Tag, doch was ich nun darüber berichte, ist nicht überzogen von der schimmernden Patina der Zeit, sondern wurde schon damals in Einzelheiten und Wortwendungen schriftlich festgehalten, es ist also keine mühsam wieder erweckte und phantasievoll ausgeschmückte Erinnerung, sondern beruht auf den frischen Eindrücken eines Augen- und Ohrenzeugen. Ich schicke das voraus, um klarzustellen, daß ich hier keinen »Tatsachenbericht« gebe, wie er von einem Autor nach Quellenstudium ohne Selbsterlebnis erdichtet wird. Es ist der Bericht eines jungen Menschen, der mit heißem Herzen, aber auch kühlem Verstand an dem letzten Akt der Schicksalstragödie eines Mitmenschen teilnahm und ihn in den wichtigsten Phasen mitschrieb.

Dieser 18. Dezember 1911 war ein Montag, ein trüber Wintertag. 20 Minuten vor 9 Uhr betrat ein großer, schlanker Bursche von 17 Jahren in einem Lodenumhang in Berlin-Moabit von der Straße her den Eingang des Treppenhauses, das zu den Zuhörerräumen einer Anzahl von Sitzungssälen des Kriminalgerichts hinaufführte. Eigentlich hätte er jetzt in Schöneberg auf der Schulbank sitzen müssen, denn in drei Wochen sollte er ins Abitur steigen, und da war jede Stunde wichtig. Aber wichtiger als die Größen der Vergangenheit als Homer und Horaz, als Schiller und Goethe und als Adam Riese, erschien ihm jetzt ein


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Schriftsteller der Gegenwart, den die Literaturwissenschaft nicht registrieren wollte und den die Kunst- und Kulturwärter am liebsten vom Büchermarkt gestäupt hätten - Karl May.

Als er vor fünf Jahren zum erstenmal eines der Bücher Mays gelesen hatte, da war der Knabe zunächst von dem abenteuerlichen Geschehen gefesselt worden. Je mehr er dann aber las, desto mehr regten diese Reiseerzählungen vielseitig, vor allem in Erd- und Völkerkunde, seine Wissensbegier an, und ihr Held, der durch die Lande zog und überall Gutes tat, wurde zum Leitbild des Heranwachsenden, der anfangs den Schriftsteller mit seinem Ich-Helden identifizierte.

Dann aber war die Stunde gekommen, in der alle Jugendträume zerplatzten, eine Fiktion entschwand und ein Image sich verzerrte. Da stand in allen Zeitungen zu lesen, dieser Karl May sei ein Zuchthäusler gewesen, ein ehemaliger Räuberhauptmann, ein Schwindler, der erst als alter Mann gereist war, ein Schreiberling ohne Moral, der zum Millionär geworden war, indem er gleichzeitig fromme Traktätchen und abgrundtief unsittliche Hintertreppenromane verfaßt hatte.

Es war im April 1910, als ein gewisser Rudolf Lebius, seines Zeichens Journalist und Herausgeber von Winkelblättchen antisemitischer Prägung, vom Amtsgericht in Berlin-Charlottenburg freigesprochen wurde, weil er Karl May einen »geborenen Verbrecher« genannt hatte, und als in der gesamten deutschen Presse seine Enthüllungen über das Vorleben Mays verbreitet wurden. Die Schriftgelehrten der öffentlichen Meinung verdammten mit wenigen Ausnahmen entrüstet die Bücher, die sie bisher gelobhudelt hatten, und die Pharisäer der Bildung dankten ihrem Herrgott, daß sie nicht so waren wie dieser Karl May.

Damals stand der l6jährige vor der Frage, ob er nicht enttäuscht verbrennen sollte, was er bisher gläubig verehrt hatte. Doch er entschloß sich, zuerst einmal zu prüfen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Er befaßte sich mit dem »Problem Karl May« und beschaffte sich alles, was darüber schon geschrieben war: Broschüren und Aufsätze in Zeitschriften und Zeitungen, pro und contra. Er studierte alles kritisch, und als im Herbst 1910 Mays Beichte »Mein Leben und Streben« erschien, da bekam er einen Begriff, welche Tiefen und Höhen manch ein Mensch in Schuld und Sühne durchwandern muß. Und als er ein Jahr später erfuhr, daß in Moabit die Berufungsverhandlung gegen Lebius stattfinden sollte,


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da stand für ihn fest, daß er diese Gelegenheit wahrnehmen mußte, Karl May nun auch zu sehen und vielleicht persönlich kennenzulernen.

Ich sehe - als wäre ich's nicht selber gewesen - diesen jungen Mann ungeduldig vor der noch verschlossenen Tür des Zuhörerraums warten. Allmählich füllte sich das Treppenhaus mit Männern und Frauen, mit Jüngeren und Älteren. Aus Fetzen leise geführter Gespräche erkannte ich, daß es Freunde und Feinde Mays waren. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloß, die Tür wurde geöffnet, und als erster betrat ich den Zuhörerraum, der rückwärts anstieg. Auf einer der ersten Bänke hinter der Schranke, die ihn vom Verhandlungsraum trennte, nahm ich Platz. Es war kurz nach 9 Uhr. Die Verhandlung hatte noch nicht begonnen, aber auf dem erhöhten Podium saßen bereits die Richter und unmittelbar davor die gegnerischen Parteien mit ihren Verteidigern im Talar, an der Wandseite zu meiner Linken der Angeklagte Lebius und an der Fensterseite zu meiner Rechten der Kläger May. Zwischen ihm und mir befand sich nur der Tisch der Pressevertreter, der Raum in der Mitte war frei, und gegenüber standen die Bänke für die Zeugen und saß ein Justizwachtmeister neben einer Tür, die in den Flur des Gebäudes führte. Hinter dem Richterpodium war noch eine Tür, die zum Beratungsraum des Gerichts ging.

Nach mir drängten die Menschen in den Zuhörerraum, der bald dicht besetzt war. Ich achtete gar nicht auf sie, ich sah nur ein paar Schritte vor mir Karl May, wie ich ihn von Bildern kannte, seinen schönen Kopf mit dem zurückgekämmten silberweißen Haar, mit den ernsten blauen Augen, mit dem Schnurrbart und der kleinen Fliege am Kinn. Er sah mich an, und ich blickte ihn wieder an, und nur die Schranke hinderte mich, zu ihm zu gehen und ihm die Hand zu drücken. Er wandte den Blick von mir, als die schlanke Frau mit der hochgeschlossenen dunklen Bluse, die neben ihm saß - Frau Klara May - leise etwas zu ihm sagte. Auch seine beiden Anwälte, Justizrat Sello und Netcke, zogen ihn nun in ein Gespräch, und ich schaute hinüber zur anderen Seite.

Hatte ich bei May auf den ersten Blick Sympathie empfunden, so war das Gegenteil der Fall bei Lebius, der dort mit seinem Anwalt Paul Bredereck saß. Dieser blondgelbe Mann mit dem Spitzbart und den erregt funkelnden Augen erinnerte mich unwillkürlich an Mephisto. Während von May die Ruhe des abgeklärten Alters ausstrahlte, ver


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mochte Lebius die Leidenschaft feindseligen Hasses nicht zu verbergen. Der Lärm hinter mir verebbte, es wurde still. Der Vorsitzende des Gerichts, Landgerichtsdirektor Ehrecke, erhob sich, nahm das Barett ab und sprach ein kurzes Gebet. Dann setzte er sich wieder und eröffnete die Verhandlung, indem er die Parteien vorstellte und einen Vergleich anregte. Ob es nicht möglich sei, die Streitaxt zu begraben und einen ehrenvollen Frieden zu schließen? Es wäre doch angebracht, daß die Parteien sich nicht weiter bekämpften, sich um ihre Ruhe brächten und ihre Finanzen schädigten. Es handle sich in diesem Prozeß doch nur um eine Bagatelle, gewissermaßen um einen Nadelstich gegenüber den Keulenschlägen, die in den anderen schwebenden Prozessen geführt würden. Auch sei doch der Wert des Briefes, in dem die Bezeichnung »geborener Verbrecher« gebraucht war, nicht so groß - es sei doch lediglich ein Privatbrief und kein öffentlicher gewesen.

Dann kam der Vorsitzende auf die Verhandlung des Charlottenburger Schöffengerichts vom April 1910 zu sprechen. Dort seien sozusagen zwei Urteile verkündet worden - immerhin ein sonderbarer Fall, und angesichts dieser beiden Urteilsverkündungen sei die Sache juristisch zweifelhaft. Der Gerichtshof werde sich die Frage vorlegen müssen, welches Urteil des Schöffengerichts gültig sei. Sollte das erste gelten, dann müßte der Beklagte die Kosten tragen. Es könnte sehr wohl die Absicht einer Beleidigung vorhanden gewesen sein, und dann wäre Lebius zweifellos einer groben Beleidigung schuldig.

Darauf hielt der Vorsitzende Karl May vor, daß es kaum zu vermeiden sein werde, den nun einmal vorhandenen dunklen Punkt in seinem Vorleben hier zur Sprache zu bringen. Dieser dunkle Punkt auf der weißen Weste sei ja durch die Verdienste des Privatklägers verblaßt, und diese Vorgänge in längst vergangenen Zeiten könnten seinen Ruhm nicht verkleinern, doch möge May daran denken, daß der dunkle Punkt durch das Waschen im Gerichtssaal nicht beseitigt würde, sondern nur gelbe Ränder bekäme. Es sei fraglich, ob ihn das Urteil befriedigen werde. Der Vorsitzende betonte noch einmal Mays große Erfolge, seine Verdienste und seinen Ruhm und wies auf seine schlechte Gesundheit hin, der solche Auseinandersetzungen nur noch mehr schadeten. Er spreche hier teils als Mensch, teils als Richter.

Für Lebius sprang Rechtsanwalt Bredereck auf und erklärte hart und


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mit lebhaften Gesten, die Sache lasse keinen Vergleich zu. Zwischen den Parteien schwebten noch weitere erbitterte Kämpfe, es liefen zahlreiche Prozesse - so zwei von Lebius gegen May, und viele Strafanzeigen seien gegenseitig erstattet worden.

Dann stand Karl May auf. Er habe wahrhaftig keine Angst wegen des Fleckens auf seiner weißen Weste. Er wolle aber zu einem Vergleich in diesem Prozeß bereit sein, weil es sich im Hinblick auf die anderen Prozesse hier wirklich nur um eine Bagatellsache handle. Er erklärte sich grundsätzlich zu einem ehrenhaften Vergleich bereit. Er sei willens, alles mögliche zu tun, um in diesem wirklich nebensächlichen Punkt Frieden zu schließen, zumal ja die ganze Angelegenheit noch ausführlich in den zu Dresden und Hohenstein-Ernstthal schwebenden Prozessen erörtert werden müsse.

May sprach mit leicht sächsischem Tonfall, er sprach ruhig, und seine Stimme klang angenehm, im Gegensatz zu der von Lebius, der erregt nach ihm den Vergleichsvorschlag des Vorsitzenden brüsk ablehnte. May habe ihn aufs schwerste beleidigt, und diese ehrenrührigen Beschuldigungen seien von seinen politischen Gegnern ausgenutzt worden. Sie würden seit Jahren in der sozialdemokratischen Presse gegen ihn verbreitet. Deshalb habe ein Friedensschluß für ihn keinen Wert, weil die Beschuldigungen gegen ihn weiter verbreitet würden. Auch seine Organisation - die sogenannten gelben Gewerkschaften der Unternehmer - sei für keinen Vergleich zu haben. Er bestehe auf dem Standpunkt, daß May als Zeuge unglaubwürdig sei.

Mays Verteidiger Netcke verlangte als Grundbedingung für einen Vergleich die Erklärung des Angeklagten, daß er May nicht habe beleidigen wollen.

»Wir kommen um diesen Prozeß nicht herum«, widersprach Lebius. »Und findet die Beweisaufnahme jetzt nicht statt, dann in einem anderen der schwebenden Prozesse! Und die anderen Prozesse sind ja gerade bis zum Ausgang dieses Prozesses zurückgestellt worden!«

Mays Hauptverteidiger Justizrat Sello bemerkte, ihm scheine dieses Schlachtfeld denkbar ungeeignet für den Kampf zwischen May und Lebius zu sein, worauf Bredereck erwiderte, dann wisse er nicht, warum May überhaupt geklagt habe. Gegen die von Lebius vorgebrachten Tatsachen habe May nichts unternommen, er scheue offenbar die


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gerichtliche Klarstellung. Darum habe er auch nur wegen des vielleicht formal beleidigenden Ausdrucks »geborener Verbrecher« geklagt.

»Wir sind nicht gesonnen, die Sache vergleichsweise zu erledigen!« rief er emphatisch.

Dagegen erklärte Netcke, es seien gegen alle von Lebius aufgestellten Behauptungen Strafanträge gestellt worden. Es bestehe keine Scheu vor einer Tatsachenoffenbarung. Gegen jedes Flugblatt des »Bund« - des Blattes von Lebius - sei Strafantrag gestellt, wenn auch dieser Prozeß nicht auf diesen Flugblättern basiere.

Der Vorsitzende nahm ein Buch zu Hand und sagte:

»Herr May hat mir dieses Buch überreicht, in dem er sich als gläubigen Christen bezeichnet, sich als gottergeben hinstellt und alles auf sich nehmen will, um seinen Lebensabend in Ruhe zu verbringen.« Er wies auf ein Gedicht in diesem Buch hin und fuhr fort: »Ein christliches Gebot lautet: »Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch verfolgen!« Wie reimt sich nun mit dieser Gottergebenheit die Privatklage zusammen?«

May antwortete ihm:

»Wenn ich mich als gläubigen Mann ausgegeben habe, so soll damit doch nicht gesagt werden, daß nun alle Welt nach Belieben auf mich losschlagen darf. Es handelt sich um meine Ehre. Wenn ich mich nicht verteidigte, wäre ich kein Christ, sondern ein Lump!«

Noch einige Worte ohne Bedeutung wurden gewechselt, und die Vergleichsverhandlungen waren gescheitert. Eine halbstündige Pause wurde eingelegt, dann begann die Beweisaufnahme. Die Zeugen wurden aufgerufen: Landgerichtsrat Wessel, Assistent Moldenhauer, Frau Emma Pollmer geschiedene May, Fräulein vom Scheidt und Frau Achilles. Nacheinander erschienen sie durch die Tür vom Flur her und stellten sich vor dem Richterpodium auf. Die beiden ersten warfen keinen Blick auf den Zuhörerraum, im Gegensatz zu den übrigen.

Wessel war ein älterer Herr, dem anzumerken war, wie unangenehm ihm die Sache war. Moldenhauer war der Typ eines jungen pflichteifrigen Angestellten. Frau Pollmer machte einen gedrückten Eindruck, ihre Augen wanderten scheu umher. Die Hofopernsängerin Selma vom Scheidt war die Künstlerin, die vor einem Publikum aufzutreten gewohnt ist. Am auffälligsten gab sich Frau Achilles, eine Frau um die


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Fünfzig, aufgetakelt, mit gewöhnlichen Gesichtszügen, aus denen eine große Einbildung sprach, in denen aber von Bildung nichts zu lesen war. Sie schaute selbstbewußt um sich und kam sich offensichtlich furchtbar wichtig vor.

Fräulein vom Scheidt bat das Gericht sogleich dringend, als erste Zeugin vernommen zu werden. Sie habe Theaterprobe in Weimar, und ihr Zug fahre um 10.30 Uhr. Wenn sie diese Probe versäume, könne das ihre Stellung gefährden und ihr materiellen Schaden bringen.

»Die Zeugin hat nur Angst vor der Vernehmung!« rief Rechtsanwalt Bredereck.

Er bestand darauf, daß sie zur Verfügung bliebe, und meinte unter allgemeiner Heiterkeit, das königlich-preußische Gericht gehe vor dem großherzoglichen Dienst. Sollte der Zeugin durch Erfüllung ihrer Zeugenpflicht wirklich Schaden erwachsen, so werde er eine Klage gegen den Großherzog von Weimar führen. Das Gericht schlug ihre Bitte ab, weil vor ihrer Vernehmung eine andere wichtige Frage zu klären sei. Bis auf Landgerichtsrat Wessel verließen die Zeugen darauf den Gerichtssaal, um auf dem Flur zu warten, bis sie aufgerufen würden.

Dann wurde das Urteil der ersten Instanz verlesen, gegen das May Berufung eingelegt hatte, im Anschluß daran die Vorstrafen des Lebius, der am 17. Mai 1900 wegen Beleidigung 3 Monate Gefängnis und später aus demselben Grund noch einmal 3 Wochen Gefängnis erhalten hatte.

Der Vorsitzende stellte die Frage, ob das Urteil der ersten lnstanz überhaupt gültig sei. Wessel, der beim Schöffengericht in Charlottenburg den Vorsitz geführt hatte, war bereits dabei gewesen, ein Urteil zu verlesen, in dem Lebius zu 15 Mark Geldstrafe verurteilt wurde, da hatte ihn Bredereck, der Lebius auch damals verteidigte, unterbrochen. Er hatte dann das Urteil nicht zu Ende verlesen, sondern Bredereck ein langes Plädoyer halten lassen und später ein neues zweites Urteil verkündet, in dem Lebius freigesprochen wurde. Immerhin ein recht sonderbares Vorkommnis, das nur dadurch möglich wurde, daß May ohne Anwalt vor dem Schöffengericht erschienen war. Ein juristisches Curiosum, das offenbar die Versetzung des Landgerichtsrats in den Ruhestand bewirkt, für May aber katastrophale Folgen gehabt hatte, da nunmehr die Presse die Behauptungen des Lebius als erwiesen verbreitete.


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Bredereck vertrat die Ansicht, das erste Urteil sei noch nicht rechtsgültig verkündet gewesen, weil der letzte Satz noch nicht völlig ausgesprochen worden und auch keine Begründung erfolgt sei. May sagte dagegen, er habe geglaubt, es sei ein Urteil ergangen.

Als der Landgerichtsrat i. R. nun als Zeuge vernommen wurde, war es geradezu peinlich zu erleben, wie dieser Mann, der in seinem Leben schon tausende von Urteilen gesprochen hatte, sich verlegen wand. Ich war überzeugt, daß er von May noch nie etwas gelesen hatte, daß die Beleidigungsklage May/Lebius für ihn nur eine der vielen läppischen Streitsachen gewesen war, wie sie jedes Amtsgericht alltäglich zu erledigen hat, und daß er sich als Richter von dem forschen Rechtsanwalt hatte ins Bockshorn jagen lassen.

Wessel wußte keine Erklärung für sein sonderbares Verhalten. Er habe das erste Urteil schnell verlesen, sei damit aber nicht zu Ende gekommen, sondern nur bis zu den Worten »fünfzehn Mark«, da habe ihn der Verteidiger unterbrochen und nochmals ein langes Plädoyer gehalten. Daraufhin habe er dann das zweite freisprechende Urteil verkündet. Als der Vorsitzende ihm entgegenhielt, daß im Widerspruch zu seiner Darstellung im Gerichtsprotokoll das erste Urteil vollständig enthalten sei und daß er dieses Protokoll doch unterzeichnet habe, gab er das zwar zu, blieb aber bei seiner Aussage. Offenbar hatte er das Protokoll unterschrieben, ohne es gelesen zu haben.

Justizrat Sello stellte fest, daß der Zeuge Wessel sich also anders erinnere, als das Protokoll es aussage, das er unterzeichnet hatte. Eine Fälschung des Protokolls sei jedoch wohl ausgeschlossen. Eine solche bestritt auch bei der nun folgenden Vernehmung der Assistent Moldenhauer, der als Gerichtsschreiber das Protokoll angefertigt hatte. Als er aber befragt wurde, ob damals das erste Urteil wirklich vollständig verlesen worden sei, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Nicht nur der Vorsitzende schüttelte den Kopf - es war ein Lehrbeispiel für den Quellenwert amtlicher Dokumente.

Das Gericht ließ die Frage offen, verabschiedete die Zeugen Wessel und Moldenhauer und schritt zur Vernehmung des Beklagten Lebius. Dieser posierte als die vom Haß des Klägers verfolgte Unschuld. Er sei vor Jahren bei Verhandlungen wegen der Herausgabe einer Schrift über Karl May mit diesem in Differenzen geraten. May habe ihn sofort


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wegen Erpressung und Verleitung zum Meineid angezeigt und das in die Presse lanciert. Seine - des Lebius - politischen Gegner hätten das ausgeschlachtet, vor allem die sozialdemokratische Presse. Man habe sogar behauptet, er sei wegen Erpressung verhaftet worden und werde ins Zuchthaus kommen. Bei allen Angriffen habe man sich immer wieder auf May berufen, der als ein angesehener Jugendschriftsteller bezeichnet worden sei. Er - Lebius - habe darum beweisen müssen, daß May ein moralisch minderwertiger, unglaubwürdiger Mann sei. Zu diesem Zweck sei er nach Hohenstein-Ernstthal, dem Geburtsort Mays, gefahren, wo man ihn an Frau Emma Pollmer, Mays geschiedene Frau, verwiesen habe, die ihm manches sagen könne. So habe er dann im Jahre 1908 die Frau Pollmer in Weimar aufgesucht.

Er müsse bemerken, daß diese Dame sehr abergläubisch sei, führte Lebius weiter aus. Sie lege sich jeden Tag die Karten, um ihr Schicksal vorauszusehen. Wie er später erfahren, habe Frau Pollmer gerade am Tag seines Besuchs in den Karten gelesen, daß auf dem Weg zu ihr ein blonder Herr sei, der ihr wieder zu ihrem Recht verhelfen werde. Er habe gewußt, daß sie Spiritistin sei, und so sei er von ihr mit offenen Armen empfangen worden, als er sich auch als Spiritist ausgegeben habe. Sie habe ihm ihr Herz ausgeschüttet und ihm erzählt, daß ihre Ehe mit May lediglich aufgrund von Geisterbriefen geschieden worden wäre.

Es schien Lebius gar nicht bewußt zu werden, wie böse er sich mit dieser selbstgefälligen Darstellung selber kennzeichnete. Durch eine Lüge hatte er sich das Vertrauen einer arglosen Frau erschlichen, und was sie ihm in ihrer Torheit anvertraute, das verwertete er nun rücksichtslos und eigennützig in Artikeln gegen May. Dabei fand er nichts, wohl aber hielt er es für bösartig, daß May nach dem Erscheinen dieser Artikel seiner geschiedenen Frau die Monatsrente von 250, - Mark entzog. Daraufhin habe er - Lebius - der armen Frau eine Unterstützung von 100, - Mark im Monat zukommen lassen.

Was war er doch für ein guter Mensch! Die gerührte Frau Pollmer habe ihm nun mitgeteilt, daß die jetzige Frau Klara May, als sie noch Privatsekretärin ihres Mannes war, ihr durch Geisterbriefe ihr erspartes Vermögen von 42000, - Mark abgenommen habe. Der Geist ihres verstorbenen Großvaters habe ihr einmal geschrieben: »Emma, gib sofort deiner Freundin Klara 30000, - Mark!« Das habe Frau Pollmer


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auch gehorsam getan, sie glaube auch jetzt noch an solche Geisterbriefe. Lebius, der sich bei der Frau als Spiritist eingeführt hatte, erzählte das unverfroren und berichtete ohne Hemmungen weiter, was er angeblich noch von ihr erfahren habe. Als ihre Freundin Klara nach dem Tod ihres ersten Mannes Plöhn Mays Privatsekretärin wurde, habe sie mit diesem ein Verhältnis begonnen und alles darauf angelegt, Emma von ihrem Mann zu trennen. Um heiraten zu können und Emmas Einwilligung in eine Scheidung zu erzwingen, hätten Karl und Klara May zu spiritistischen Mitteln gegriffen. Nur durch solche Vorgänge sei die Ehescheidung zustande gekommen. Darum habe er die jetzige Frau May wegen Meineids angezeigt und der Frau Pollmer geraten, auf Rückzahlung der 42 000, - Mark und Weiterzahlung der Monatsrente von 250, - Mark zu klagen.

Davon habe Frau Pollmer aber nichts wissen wollen, und da er ihr nicht mehr als 100, - Mark im Monat habe zahlen wollen, weil sie noch zahlreichen Schmuck besessen habe, habe sie versucht, sich mit May auszusöhnen, um ihre Monatsrente von 250, - Mark wieder zu bekommen. Sie habe ihre Freundin Fräulein vom Scheidt veranlaßt, nach Radebeul zu May zu fahren. Es seien ihm dann allerlei Ausdrücke zu Ohren gekommen, die Frau Pollmer oder May über ihn gebraucht hätten, darum habe er Fräulein vom Scheidt in dem inkriminierten Brief gewarnt. solche Ausdrücke zu kolportieren. Er habe ihr geschrieben, May kenne kein Mitleid, und er halte ihn für einen geborenen Verbrecher. Damit habe er sagen wollen, May sei nicht in der Lage, wie ein normaler Mensch zu denken, er könne beim besten Willen nicht die Wahrheit sagen und begehe unter einem unwiderstehlichen Drang Vergehen und Verbrechen. Diesen Brief habe Fräulein vom Scheidt dann dem Kläger ausgehändigt, und so sei es zu diesem Prozeß gekommen.

Was ich hier in Kürze wiedergab, ist das Wesentliche der langen und breiten Ausführungen, in denen es Lebius sichtlich darum ging, Publikum und Presse für sich einzunehmen. Aber er war kein Redner, sondern ein Agitator, er appellierte an die Gefühle und vergaß dabei die Logik. Was er bot, war Schauspiel einer Schmiere. Er überzeugte weder in seiner Rolle als selbstloser Schutzengel einer dummen Frau noch in der des Racheengels gegen einen verbrecherischen Mann.

Ich spürte die Ironie, als sich der Vorsitzende nun an Lebius wandte:


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»Den Wahrheitsbeweis wollen Sie also folgendermaßen führen - einmal durch die Vorstrafen, die May wirklich erlitten hat, dann durch Straftaten, die er begangen hat, ohne dafür gerichtlich bestraft zu sein, durch seine pathologische Lügenhaftigkeit, durch die unberechtigte Führung des Doktortitels, durch seine unwahren Angaben über seine Sprachkenntnisse, durch die Tatsache, daß er zu gleicher Zeit unzüchtige und fromme Bücher schrieb, dadurch, daß er in seinen Schriften schwindelhafterweise seine Erzählungen als eigene Erlebnisse hinstellt, daß er die Kenntnis von Ländern vorgibt, die er nie mit eigenen Augen gesehen hat, dadurch, daß er ein literarischer Plagiator ist, dadurch, daß er bei der Ehescheidung seine erste Frau durch spiritistische Schwindelmanöver benachteiligt, und schließlich dadurch, daß er noch in den letzten zehn Jahren Diebstahlsgelüste gezeigt hat? Das ist wohl so ziemlich alles?«

Die Frage löste im Zuhörerraum Heiterkeit aus.

»Nicht ganz!« antwortete Lebius. »May besitzt eine ganz gefährliche Waffe. Er hat eine Reihe von Zeugen an der Hand, die alles bekunden, was er wünscht, um mich in der Öffentlichkeit zu blamieren und sich an mir zu rächen.«

Er erinnere nur daran, daß May noch 1909 hoch in der allgemeinen Achtung gestanden habe. Damals sei in Augsburg ein wahres Volksfest für May gefeiert worden, der Verein Laetitia und der Verein Concordia dort hätten ihm Huldigungen dargebracht. Diese Dinge hätten ihn - Lebius - geradezu gezwungen, gegen May aufzutreten und in sein Vorleben hineinzuleuchten. Was May in den letzten Jahren getan habe, genüge allein schon, um ihn als geborenen Verbrecher zu charakterisieren.

»Wir haben noch ganz neue Einzelheiten zur Charakterisierung Mays auf Lager!« rief der Verteidiger Bedereck. »May hat noch in jüngster Zeit einen Pferdediebstahl begangen. Er führt den Doktortitel einer freien amerikanischen Akademie, die aus einem Barbier und einer Hebamme besteht. Er hat noch in letzter Zeit in einem Brief an den Verleger Dr. Langenscheidt erklärt, die von ihm herausgegebenen Phantasieprodukte seien die Schilderungen von Erlebnissen.«

Der Vorsitzende winkte ab und meinte, da werde wohl der Einwand der inneren Erlebnisse gemacht werden können. Dann befragte er


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Lebius, was er denn 1909, als er den Brief geschrieben habe, schon über May gewußt habe.

Er habe gewußt, daß May wegen Einbruchdiebstahls in einem Uhrenladen verurteilt worden sei, behauptete Lebius. Allerdings sei das Urteil jetzt vernichtet. Er habe gewußt, daß May für den Verlag Münchmeyer in Dresden unzüchtige Kolportageromane geschrieben habe. Durch gefälschte Akten, die er in den Prozessen gegen die Witwe Pauline Münchmeyer durch den späteren Inhaber des Münchmeyer-Verlags Adalbert Fischer habe einschmuggeln lassen, habe er dafür noch ein Honorar von circa 300000, - Mark zu erschwindeln gesucht. Darüber besitze er - Lebius - einen Brief von Fischer. Er habe ferner gewußt, daß May oft die Unwahrheit gesagt habe, so in einer Pressefehde mit Professor Schumann vom Dresdener Anzeiger. Er habe gewußt, daß May unwahre Zeugen zur Seite stünden . . .

Der Vorsitzende winkte ab und begann nun den Brief des Lebius an Fräulein vom Scheidt zu verlesen. Er lautete:

»An die Opernsängerin
Fräulein vom Scheidt
Weimar

Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Da ich seinerzeit mit dem Schriftsteller Karl May, den ich für einen geborenen Verbrecher halte, sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte, so wandte ich mich im Frühjahr dieses Jahres an seine geschiedene Gattin, die auch ein Opfer seines kriminellen Egoismus geworden war. Frau Emma bat mich mit Thränen in den Augen, ihr wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen. Sie sagte mir, sie hätte seit Jahren nach einem Schriftsteller ausgeschaut, der für ihre Sache auch vor der Öffentlichkeit kämpfen wolle. Sie brachte mir Feder und Papier und diktierte mir alle für einen solchen Kampf wichtigen Angaben. Als nun May im Verlaufe dieses Kampfes seiner geschiedenen Frau die Monatsrente entzog, habe ich Frau Emma mit mehreren hundert Mark unterstützt und ihr gesagt, daß ich ihr bis an ihr Lebensende hundert Mark Monatsrente gewähren würde, falls von May die Rente auf rechtlichem Wege nicht zu erhalten sei. Auf Anraten meines Rechtsanwalts habe ich


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allerdings im Hinblick auf eine gerichtliche Einigung mit May verlangt, daß Frau Emma erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, weil das nach außen hin einen besseren Eindruck macht. Ich habe mich sodann mit aller Macht des Rechtsschutzes der Frau Emma angenommen und hintereinander folgende Rechtsanwälte mit der Bearbeitung der Mayschen Akten betraut: 1) Rechtsanwalt Medem, 2) Rechtsanwalt Dr. Miethke, 3) Rechtsanwalt Dr. Blau, 4) Geh. Justizrat Überhorst und 5) Rechtsanwalt Dr. Gerlach.

Nachdem ich nun in diesem Rechtskampf mehrere hundert Mark Verbindlichkeiten eingegangen bin, höre ich plötzlich zu meinem größten Befremden in einem von May verfaßten Schriftsatz, daß Frau Emma, ohne mich und ihre Rechtsanwälte zu benachrichtigen, durch Sie mit May in direkte Verhandlung getreten ist. May schreibt sogar, Frau Emma hätte durch Sie ihm erklären lassen, »Lebius sei ein Schuft, der über Leichen geht.« Ich ersuche Sie höflichst um Aufklärung, widrigenfalls ich gegen Sie und Frau Emma Privatbeleidigungsklage anstrengen werde. Ich habe auch durch meinen Syndikus Herrn Geheimrat Überhorst Schritte vorbereiten lassen, um wieder zu meinem Geld zu kommen.

Hochachtend!
Rudolf Lebius.«

Was Lebius zuvor in vielen Worten über sein Vorgehen bei Frau Pollmer erzählt hatte, das bestätigte dieser Brief: er hatte die Frau, deren Aussagen er für seine Artikel und Prozesse ausnutzen wollte, durch Lügen und Versprechungen kirre gemacht, er hatte sich als ihr Wohltäter aufgespielt, ihr dann nach ein paar Zahlungen zugemutet, ihren letzten Schmuck zu versetzen, um sie so völlig in der Hand zu haben, und ließ am Ende, als sie allmählich merkte, wem sie ins Garn gegangen war, unter versteckten Drohungen eine ganze Kolonne von Rechtsanwälten gegen sie aufmarschieren. Und diese Taktik stellte er als berechtigte Notwehr eines unschuldig Verfolgten dar - wie schmutzig sie war, kam ihm augenscheinlich gar nicht zu Bewußtsein.

Sein Verteidiger wollte den Eindruck verwischen, den dieser Brief auf die meisten Zuhörer gemacht hatte, und durch einen ganz anders gerichteten Angriff davon ablenken: May wolle auch Chinesisch und


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Arabisch verstehen und Übersetzungen aus indianischen Büchern gemacht haben. Dabei gäbe es gar keine Bücher in indianischen sprachen!

Karl May hatte bisher alle Anwürfe mit äußerster Ruhe, wenn auch gewiß mit innerer Erregung, schweigend über sich ergehen lassen. Nun aber stand er auf und sagte, der soeben verlesene Brief charakterisiere Herrn Lebius wohl genügend. Dann überreichte er dem Gericht einen Verlagskatalog mit Anzeigen indianischer Bücher, sowie den Katalog seiner Bibliothek um zu beweisen, daß es sogar sehr schöne Sachen über indianische Dialekte gebe. Und zwar gebe es Sachen über die Ursprachen der Indianer und Arbeiten über die verschiedenen Sprachfamilien. Er selber habe bloß behauptet, daß er so viel von diesen Sprachen beherrsche, wie er für seine Bücher brauche.

»Wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie die englische Sprache beherrschen?« rief Bredereck.

»Ich lasse mich hier nicht examinieren«, erwiderte May empört. »Auch nicht von Indianern wie Ihrem Ojijatheka Brant-Sero! Ich bin hier nicht im Theater, sondern an einem ernsten Ort.«

Dieser Brant-Sero war ein junger Mohawk-Indianer, den Lebius in der Schaubude eines Rummelplatzes aufgetrieben, als Studenten ausgegeben und der Presse in Artikeln als Zeugen für die Unglaubwürdigkeit der Mayschen Erzählungen präsentiert hatte.

Ich dachte bei mir, daß es für einen Mann, der eine Sprache wirklich beherrscht, eine Kleinigkeit sein müsse, darauf fließend eine englische Antwort zu geben, aber darauf lauerte ich vergebens. Stattdessen sprang Mays Verteidiger Netcke auf und verwahrte sich dagegen, daß hier nur allerhand Klatsch vorgebracht würde.

Erst in späteren Jahren ist mir aus eigenen Erfahrungen klar geworden, wie verschieden doch der Begriff »beherrschen« ausgelegt werden kann. Ich habe Gelehrte kennengelernt, die mehrere Sprachen »beherrschten«, aber nicht imstande waren, darin Konversation zu machen. Perfekte Dolmetscher erwiesen sich als unfähig, belletristische Werke sinnreich zu übertragen, und wiederum begannen ausgezeichnete Übersetzer fremder Romane zu stottern, wenn sie sich in der von ihnen doch »beherrschten« Sprache unterhalten sollten. Ich bin überzeugt, daß May sich genügend englische Sprachkenntnisse angeeignet hat, um übersetzen


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zu können, was er las, daß ihm aber für die freie Konversation die notwendige Übung gefehlt hat. Doch das nur nebenbei aus heutiger Sicht.

Netcke fragte den Beklagten, ob er all die Dinge, die er hier als Tatsachen hinstelle, auch geprüft habe, oder ob seine Behauptungen nur auf den Angaben einer Frau beruhten, von der er selber sage, sie glaube alles, was ihr die Karten verkündeten. Was der Beklagte hier vorbringe, sei nur ein Gemisch von Dichtung und Wahrheit, und nur der hundertste Teil davon sei wahr.

»Diese Allgemeinheiten können auf uns keinen Eindruck machen«, entgegnete Bredereck. »Wir berufen uns auf die vorliegenden Urteile der Gerichte und eine große Zahl von Zeugen. So hat Pastor Laube in Hohenstein alles bestätigt, was von uns über die verbrecherische Tätigkeit des jungen Herrn May behauptet worden ist. Wir behaupten nur, May sei etwa so zu beurteilen, wie sich Lombroso über den Typ eines geborenen Verbrechers ausgedrückt hat.«

Lebius nannte eine Reihe von Zeugen, bei denen er sich über das Vorleben Mays eingehend informiert habe. Karl May sei das Urbild des Hauptmanns von Köpenick. Er habe sich als Polizeileutnant ausgegeben, sich in die Wohnungen geschlichen und nach angeblich falschem Geld gesucht. In Wirklichkeit habe er sich die Barschaft der Leute angeeignet. Er habe Pelzdiebstähle begangen. Er sei ein Pferdedieb und in einen Uhrenladen eingebrochen. Steckbriefe seien hinter ihm erlassen worden. Er habe als Räuber in den erzgebirgischen Wäldern gelebt.

Das habe ihm - Lebius - in Hohenstein-Ernstthal ein gewisser Krügel erzählt, der ein mit Zuchthaus vielfach vorbestrafter Mann sei. Wegen dieser Mitteilungen habe May den Krügel zum Schein verklagt. Damit habe er der Öffentlichkeit aber nur Sand in die Augen gestreut, denn er habe sich mit Krügel abgesprochen und vor Gericht nur Theater gespielt. Er habe Krügel bestochen: wenn er in der Verhandlung sagte, es sei alles unwahr, dann wollte May die Klage zurückziehen. May habe Krügel dafür Geld und Krügels Kindern Sparkassenbücher gegeben.

»Und dieser Krügel hat dann von mir behauptet, ich hätte ihn zum Meineid verleitet«, rief Lebius entrüstet. »May hat mich deswegen verklagt, ist aber in drei Instanzen abgewiesen worden. Denn ich konnte


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den Wahrheitsbeweis durch einen Pastor Laube führen, einen würdigen 80jährigen Mann, der die Eltern Mays gekannt und im Nachbarhaus gewohnt hat. Laube hat als Zeuge bekundet, daß die ganze Familie May an Kleptomanie gelitten und lange Finger gemacht hat. Der Vater sei Weber gewesen, habe aber seinen Beruf wenig ausgeübt und sich meist mit Vogelstellen beschäftigt. Die Mutter sei Hebamme gewesen und habe in der Hauptsache die Familie ernährt. Sooft die Mutter Mays in seiner Wohnung ein- und ausgegangen sei, sei sie fleißig und nichts an ihr auszusetzen gewesen, obwohl seine Frau vor ihr gewarnt worden sei, sie sei diebisch. May habe damals Räubereien in den erzgebirgischen Wäldern verübt, und Feuerwehr, Turnverein und Militär seien ausgezogen, um ihn zu fangen.«

»Dazu möchte ich nur bemerken«, warf Mays Anwalt Netcke ein, »daß Herr Pastor Laube auf Mays Antrag hin vernommen ist. Er ist ein ehrenwerter Herr, aber wegen seines Alters etwas geistesschwach. Auf seine Aussagen ist also nicht viel zu geben.«

Lebius zog es vor, auf die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen nicht näher einzugehen, sondern nannte als Quelle für weitere Informationen die Fabrikantengattin Frau Achilles, eine Freundin der Frau Pollmer. Diese Dame habe 1903 beantragt, daß Mays Ehescheidung untersucht werde, weil sie durch Meineid zustandegekommen sei. May habe versucht, sie zu bestechen, sei aber an die Falsche geraten. Er - Lebius - bringe hier keinen haltlosen Klatsch vor. Frau Achilles könne bezeugen, welch ein großes Kind die Pollmer sei. So habe sich May zum Beispiel einmal zu seiner minderjährigen, zehnjährigen Nichte ins Bett gelegt und sie stundenlang abgeküßt. Seine Frau, die Pollmer, habe vor der Tür gestanden und gejammert, er solle aufmachen. Schließlich sei sie zu Frau Achilles gelaufen, und erst als diese gekommen sei, habe May die Tür aufgeschlossen.

Bevor May etwas dazu sagen konnte, fragte der Vorsitzende Lebius, was er sonst noch vorzubringen habe.

Lebius kam nun auf die Broschüre »Karl May als Erzieher« zu sprechen, die der Verleger Fehsenfeld herausgegeben habe, als in der Frankfurter Zeitung und in der Kölnischen Volkszeitung die ersten Angriffe gegen May erschienen waren. Der Schriftsteller Max Dittrich - Verfasser einer Verteidigungsschrift für May - habe ihm gesagt, daß


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May diese Broschüre selber verfaßt habe. Darin vergleiche May sich mit Christus und stelle sich als einen Säkularmenschen hin, der größer sei als Bismarck. Seine Wohnung habe May mit einer Menge blutbefleckter Indianerskalps - von Indianern, die er angeblich selber getötet habe - ausstaffiert. Dort bewahre er auch eine silberne Flinte auf, mit der er hunderte von Indianern totgeschossen haben wolle. Dabei sei er nach Auskunft seiner geschiedenen Frau bis zum Jahr 1900 überhaupt noch nicht aus Sachsen herausgekommen. Aber in seiner Villa zeige er den Mayfreunden diese Skalps und die Silberbüchse. Er zeige seinen Lesern, die ihn besuchten, auch ganze Stöße von Fürstenbildern, die eigenhändige Widmungen fürstlicher Persönlichkeiten enthielten. Das sei aber alles Schwindel, denn May habe die Widmungen und Unterschriften selber geschrieben.

Bei diesen Ausführungen wurde Lebius immer wieder von Mays Anwälten unterbrochen.

»Der Angeklagte nutzt die Gelegenheit, um aufs neue eine ganze Flut von Anschuldigungen gegen den Privatkläger loszulassen«, erklärte Justizrat Sello. »Es ist unmöglich, diesen ganzen Wust sofort zu widerlegen. Diese Behauptungen müssen in geordneter Weise einzeln bewiesen werden, dürfen aber nicht in so allgemeinen Redensarten vorgebracht werden.«

Daraufhin benannte Lebius den Rechtsanwalt Dr. Gerlach als Zeugen für die gefälschten Briefunterschriften in der Broschüre »Karl May als Erzieher« Max Dittrich, der übrigens auch im Zuchthaus gesessen habe, könne bekunden, daß May die Briefe im Anhang der Broschüre selber verfaßt habe. May habe auch für Dittrich Fälschungen begangen. Kahl, der 1908 eine Broschüre »Karl May, ein Verderber der deutschen Jugend« herausgebracht habe, dieser Kahl habe später ihm - Lebius - vorgeworfen, diese Broschüre geschrieben und seinen Namen dafür mißbraucht zu haben. May habe ihm tausend Mark für eine falsche eidesstattliche Versicherung gezahlt.

Der Vorsitzende ließ den Angeklagten sich nun setzen und wandte sich dem Kläger zu:

»Der Privatkläger gibt, was sein Vorleben betrifft, ja wohl zu, dreimal vorbestraft zu sein?«

Daß ich vorbestraft bin, habe ich nie geleugnet«, antwortete Karl


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May. »Das liegt alles weit zurück, hat sich aber alles ganz anders zugetragen, als hier behauptet wird.«

»Sie geben folgende drei Strafen zu?« fragte der Vorsitzende. »In Chemnitz 1862 wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängnis verurteilt - in Leipzig 1865 wegen qualifizierten Betruges zu 4 Jahren 1 Monat Arbeitshaus, wo Sie 1868 begnadigt wurden - die Haft dauerte vom 14. Juni 1865 bis zum 2. November 1868 - , und endlich in Mittweida am 3. Mai 1870 wegen Diebstahls und Betruges zu 4 Jahren Zuchthaus. «

»Das ist richtig, alles andere ist erfunden«, erklärte May und fügte hinzu, er würde Stunden brauchen, um alle die unwahren Behauptungen der Gegenseite zu widerlegen.

Um das aufzuzeigen, verlas er einige Auskünfte, die er von den Behörden eingeholt hatte. Die Polizeiakten über seine Eltern - seine Mutter war eine geborene Weise - stellten diesen das beste Zeugnis aus und besagten nichts über Kleptomanie. Eine andere Behörde bestätigte, daß in Hermsdorf ein Gutsbesitzer namens Leonhard, den May beschwindelt haben sollte, seinerzeit überhaupt nicht existiert hatte. Wieder eine andere, daß ein gewisser Vogel niemals Mays Hehler gewesen sein könnte, und wieder eine, daß ein gewisser Lange niemals in der Gegend gewohnt hätte.

»Alles, was Lebius vorgebracht hat, ist unwahr«, rief May, und aus seiner Stimme klang seine Erregung.

Es sei ihm nie eingefallen, ein Räuberleben zu führen. Er bitte den Gerichtshof, nicht zuzulassen, daß in solcher Menge Schmutz gegen ihn gespritzt werde. Was die Haufen von Leserbriefen betreffe, die er in seinem Hause bewahre, so seien sie durchaus echt, und es wären allerdings auch Briefe von Fürstlichkeiten darunter.

»Ich habe hier eine Zeitung mit einem Bild, das Sie in Ihrem Arbeitszimmer zeigt«, bemerkte der Vorsitzende. »Das sieht ja wildromantisch aus.«

May bestätigte die Richtigkeit des Bildes, und ein Beisitzer wünschte zu wissen, in welcher Beziehung der Privatkläger zu dem ausgestopften Löwen stehe, der da in seinem Arbeitszimmer zu sehen sei. May lehnte eine Auskunft ab, weil er wisse, daß jedes Wort, das er hier dazu sagen würde, in der Öffentlichkeit anders ausgelegt werde.


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Bredereck warf ein, der Privatkläger habe sich auch in der Tracht eines amerikanischen Trappers photographieren lassen.

May entgegnete darauf, jeder Schauspieler lasse sich im Kostüm photographieren, wie es ihm beliebe. Warum dürfe sich ein Schriftsteller, der über amerikanische Dinge schreibe, nicht als Trapper abbilden lassen?

Darauf entgegnete Bredereck spöttisch, er habe das nur vorgebracht, um die pathologische Lügenhaftigkeit des Privatklägers zu illustrieren.

»Aber ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht«, erklärte der Vorsitzende. »Und ich halte Herrn May für einen Dichter.«

Er sagte das so betont und ernsthaft, daß nachdenkliches Schweigen im ganzen Raum entstand. Nach all den giftig geifernden Verdächtigungen, mit denen man die Person des alten Mannes da abzuwerten versucht hatte, wirkten diese ehrlichen, ganz sachlichen Worte des erfahrenen Richters, der vornehm und unvoreingenommen seines Amtes waltete, wie ein frischer Wind, der Nebelschwaden vertreibt und die Sicht wieder frei macht.

Selbst Bredereck war um eine Antwort darauf verlegen und wich aus, indem er noch einmal auf die Briefe Mays an den Verleger Langenscheidt zurückkam. Darin habe May geschrieben, er habe alles, was er geschrieben habe, selbst erlebt. Auch daraus gehe hervor, daß er ein pathologischer Lügner sei.

»Auf die Frage, ob die Reisebeschreibungen Mays Schwindel sind oder nicht, können wir hier nicht eingehen«, erklärte der Vorsitzende.

»Nein, davor scheue ich mich nicht«, widersprach May. »Ich bitte sogar darum. Die Briefe an Langenscheidt stimmen. Dr. Langenscheidt hat mich ersucht, den zweiten Band von Manolescus Memoiren zu schreiben. Ich habe ihm geantwortet, ich schriebe keinen R o m a n für ihn. Was ich schriebe, hätte ich alles selbst erlebt.«

»Dagegen haben wir hundert Gegenbeweise!« rief Lebius.

Und Bredereck behauptete, daß Karl May sich vorzüglich zur Abfassung der Memoiren des Hochstaplers Manolescu eigne, habe Dr. Langenscheidt aus einem in seinem Verlag erschienenen Buch des Dresdner Staatsanwalts Wulffen geschlossen, in dem May als der Typ des geborenen Verbrechers geschildert werde. Im übrigen beantrage er für


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seinen Klienten den Schutz des §193 - Wahrung berechtigter Interessen.

Es kam zu einem lebhaften Rededuell zwischen den Anwälten der Parteien, in dem Netcke nochmals feststellte, daß die meisten Behauptungen des Lebius unwahr seien, während Bredereck erwiderte, May habe heute zum erstenmal zugegeben, daß er vorbestraft sei.

Diese ebenso dumme wie dreiste Lüge bewies mir, mit welchen Mitteln Lebius und sein Anwalt Stimmung für sich zu machen suchten. Stand doch bei mir zu Hause Mays Buch »Mein Leben und Streben«, in dem May seine Vorstrafen bekannt hatte, und Lebius hatte dieses Buch wegen einiger ihn belastenden Passagen wahrscheinlich sogar mit Brederecks Hilfe beschlagnahmen lassen.

»Das habe ich nie bestritten«, rief May.

Der Vorsitzende beendete den Streit damit, daß er eine kurze Pause anordnete. Der Gerichtshof zog sich zurück, um über die Beweisaufnahme zu beraten. Erwartungsvoll blieben die Zuhörer im Saal. Hier und da entspannen sich hinter mir leise Debatten.

Nach einer Weile erschienen die Richter wieder, und der Vorsitzende verkündete, die Beweisaufnahme solle zunächst auf die Frage beschränkt werden, ob dem Angeklagten der Schutz des §193 des Strafgesetzbuches zuzubilligen sei.

Als erste Zeugin wurde Fräulein vom Scheidt aufgerufen. Sie wurde über die Umstände vernommen, unter denen Lebius an sie den Brief mit dem Ausdruck »geborener Verbrecher« geschrieben hatte. Frau Pollmer sei zu ihr gekommen und habe sie gebeten, zu May zu fahren, sagte sie. Dann sei plötzlich der Brief von Lebius gekommen. Frau Pollmer habe ihr damals gesagt: »Lebius ist ein Schuft, der über Leichen geht.« Sie habe eine Dummheit begangen, als sie sich Lebius anvertraute. Sie habe ihn gebeten, nichts zu veröffentlichen, aber er habe es doch getan. Er habe der Pollmer anfangs monatlich hundert Mark gezahlt, aber nur ein paar Monate. Sie - Fräulein vom Scheidt - habe May den Brief gegeben, als er sie darum gebeten habe.

May bemerkte dazu nur, die Zeugin sei damals wegen der Rente bei ihm gewesen, und so habe er sie kennengelernt.

Rechtsanwalt Bredereck behauptete, die Pollmer habe 42 000, - Mark gespart gehabt. Die habe sie May gegeben - aber nicht auf spiritisti-


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schem Weg. Daraufhin habe sie nach der Scheidung von May eine Jahresrente von 3000, - Mark unter der Bedingung erhalten, daß sie nicht gegen May arbeite. Als dann Lebius zu ihr gekommen sei, habe May ihr die Rente entzogen. Bredereck gab zu, daß Lebius der Pollmer bisher nur 200, - Mark gezahlt hatte. Seit sie sich wieder an May gewendet habe, zahle er ihr nach Belieben.

Lebius fügte hinzu, May habe 1900 für eine Reise nach Palästina 72 000, - Mark ausgegeben und lasse jetzt die Pollmer hungern. Netcke bezeichnete das als eine neue Unwahrheit.

Nun wurde Mays geschiedene Frau aufgerufen und befragt, wie sie Lebius kennengelernt habe. Sie hielt den Blick gesenkt und vermied es, zu May hinüberzuschauen. Sie mußte einmal eine schöne Frau gewesen sein, und das hatte den jungen May an sie gefesselt. Jetzt sah sie verhärmt aus, und sie sprach zögernd und unsicher. Sie erschien mir wie ein Blatt, das vom Zweig gerissen war und nun welkend im Wind trieb.

Vor zweieinhalb Jahren - so erzählte sie - habe sie in Weimar in ihrer Wohnung gesessen und sich die Karten gelegt. Sie habe immer gehofft, ihr Schicksal werde wieder eine Wende nehmen, und nun habe sie aus den Karten gelesen, in kurzer Zeit werde ein blonder Mann zu ihr kommen und ihr hilfreich zur Seite stehen. Als tags darauf dann Lebius gekommen sei, habe sie ihn als einen Boten des Himmels empfangen. Er habe sich ganz harmlos nach ihren Lebensverhältnissen erkundigt und sei dann allmählich auf ihre Ehescheidung zu sprechen gekommen. Und da habe sie ihm gesagt, es sei dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Sie habe Zettel gefunden: »Wenn Du jetzt nach München durchbrennst ... « oder »Du bist eine Verbrecherin!« und Briefe, in denen ihr gedroht worden sei, sie komme ins Zuchthaus und werde dem Staatsanwalt übergeben. So sei sie eingeschüchtert und daran gehindert worden, bei der Ehescheidung ihre Rechte in der gehörigen Weise wahrzunehmen.

»Das haben Sie alles gleich einem ganz fremden Mann erzählt?« fragte der Vorsitzende.

Frau Pollmer bestätigte das und gab zu, auch von spiritistischen Dingen gesprochen zu haben, die bei ihrer Ehescheidung eine Rolle gespielt hätten. So sei sie eines Abends mit ihrem Mann allein gewesen und habe ihn gefragt, was denn nun eigentlich geschehen solle. Da habe


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May ihr geantwortet, er mache die Trennung von dem Ergebnis einer spiritistischen Sitzung abhängig.

Befragt, was Lebius nun zu all dem gesagt habe, antwortete sie, Herr Lebius habe ihr zugeredet, etwas über ihre Erlebnisse mit ihrem Ehemann zu veröffentlichen. Das habe sie aber abgelehnt und gesagt, das dürfe sie nicht, weil sie dann die von May bewilligte Jahresrente von 3000, - Mark verlieren könne. Daraufhin habe Lebius sie auch beruhigt, er habe gar keine Zeit für solche Veröffentlichungen. Dann aber sei am 1. April ihre Rente ausgeblieben. Die Veröffentlichungen des Lebius seien doch erschienen, und so habe sie ihre Rente verloren. Als sie nicht mehr weiter gewußt habe, sei sie nach Berlin zu Lebius gefahren. Sie habe von ihm 200, - Mark bekommen, aber er habe von ihr verlangt, daß sie ihre Schmuckstücke versetze, weil das nach außen hin Eindruck mache.

Auf eine weitere Frage schilderte Frau Pollmer, wie sie Fräulein vom Scheidt kennengelernt hatte. Das sei vor 9 Jahren gewesen, als sie damals, als der Scheidungsprozeß noch geschwebt habe, sich in Weimar eine Wohnung gesucht habe. Sie sei dann geschieden und zum schuldigen Teil erklärt worden. Doch sei damals ein Vertrag mit der jetzigen Frau von Karl May zustande gekommen, wonach ihr die Rente gezahlt wurde.

»Haben Sie gesagt, Lebius ist ein Schuft, der über Leichen geht?« fragte der Vorsitzende.

Frau Pollmer wollte nicht mehr genau wissen, ob sie das gesagt hätte, gab dann aber zu, daß sie das vor ihrer Fahrt nach Berlin gesagt haben könnte.

»Hat May Ihnen gesagt, wenn du so oder so aussagst, bekommst du deine Rente wieder?«

Das bestritt Frau Pollmer ganz entschieden. Sie habe immer gedacht, ihr Mann lasse sie nicht verhungern.

Auf Befragen erklärte auch die Zeugin Fräulein vom Scheidt, es sei unwahr, daß sie der Frau Pollmer geraten habe, sie solle nur so aussagen, wie May es haben wolle. Sie sei nicht von May beeinflußt worden.

Nach einem kurzen Disput der Anwälte über einen Brief, den Frau Achilles an Fräulein vom Scheidt geschrieben hatte, versicherte Frau Pollmer nochmals, sie habe Lebius nicht erlaubt, etwas von ihren


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Mitteilungen zu veröffentlichen. Lebius habe sogar 300, - Mark von ihr verlangt, weil sie bei ihrem Aufenthalt in Berlin bei ihm gegessen habe. Damit war ihre Vernehmung abgeschlossen.

Die Frau tat mir leid. Ich hatte den Eindruck, daß sie geistesschwach und nicht mehr ganz normal war. Ihre erstaunliche Naivität war echt und nicht gespielt. Sie hatte in Lebius wirklich einen Engel gesehen, der ihr wieder zu dem entschwundenen Glück vergangener Zeiten verhelfen würde, und in ihrer abergläubischen Vertrauensseligkeit nicht gemerkt daß sie diesem geriebenen Menschen nur eine willkommene Trumpfkarte in seinem Spiel gegen Karl May war. Dieser mein Eindruck wurde etwa anderthalb Jahre später noch verstärkt, als Frau Pollmer eines Tages unerwartet auf einer Versammlung der nach dem Tod Mays in Berlin gegründeten Karl-May-Vereinigung erschien. Sie war in Begleitung eines unansehnlichen, aber überheblichen jungen Mannes namens Appunn, der sich Kapellmeister nannte. Er war 21 Jahre alt, sah aber zwanzig Jahre älter aus. In der kurzen Unterhaltung, die Redakteur Fritz Barthel und ich mit den beiden hatten, sagte sie über Karl May nur Gutes und schob die Schuld für die Trennung auf seine zweite Frau. Was sie eigentlich wollte, war ihrem kindlich-verworrenen Gerede nicht zu entnehmen, und Appunn war sichtlich bemüht, möglichst schnell wieder mit ihr zu verschwinden . . .

Sie nahm jetzt auf der Zeugenbank neben Fräulein vom Scheidt Platz, und als nächste Zeugin wurde die verwitwete Frau Baumeister Achilles aufgerufen. Schon als die Dame mit dem homerischen Heldennamen in den Saal stolzierte, erregte sie Heiterkeit. Es war wie das Intermezzo des Komikers, der im Drama nach einer düsteren Szene voll Tragik die Stimmung wieder aufhellt. Zur Person gab sie an, bereits viermal verheiratet gewesen zu sein, aber sie betonte, daß sie niemals geschieden worden wäre, sondern alle ihre Männer durch den Tod verloren hätte.

»So sieht die ooch aus«, sagte jemand hinter mir halblaut. »Mensch, is det een Drache!«

Theatralisch leistete sie den Zeugeneid und erklärte anschließend pathetisch, wenn sie jetzt hier sei, dann tue sie das alles nur für ihre liebe, liebe Freundin Emma. Sie gab an, Mays seit 1890 zu kennen. Seit 1901 habe Frau Plöhn, die jetzige Frau May, die an allem schuld


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sei, versucht, die Eheleute auseinander zu hetzen. Die Pollmer, ihre liebe, liebe Emmy, habe ihr den Hergang des Streites erzählt. Als nach den Veröffentlichungen des Lebius die Rente fortgefallen sei, habe Emma sie in Berlin aufgesucht, um mit Lebius zu sprechen.

Was sie denn von den Veröffentlichungen des Lebius halte, fragte der Vorsitzende.

Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, vor dem sie stand, und rief, May habe Lebius angegriffen, und dieser habe sich nur verteidigt.

Mays Verteidiger Netcke las ihr ein von ihr beschworenes Protokoll vor, in dem sie sich ganz anders geäußert hatte. Darauf meinte sie, daran könne sie sich nicht mehr genau erinnern, da habe sie sich damals wohl geirrt. Erregt stampfte sie mit dem Fuß auf. Sie sage hier nur die reine Wahrheit.

Dann berichtete sie bewegt, ihre liebe Emma sei einmal sehr krank gewesen, und da habe May, der froh gewesen wäre, Emma loszuwerden, ihr - Frau Achilles - einen Heiratsantrag gemacht.

Hierauf stand May auf und sagte mit einem leisen Lächeln, Frau Achilles sei früher einmal auch in ihn verliebt gewesen - daher ihre Leidenschaftlichkeit. Als seine Frau einmal krank gewesen sei - aber gar nicht schlimm -, hätte man eines Abends in einer Tischrunde im Wirtshaus davon gesprochen. Die Anwesenden hätten alle von der Liebe der Frau Achilles zu ihm gewußt, und da habe er im Scherz gesagt, er wolle sie heiraten.

Auf eine Frage des Vorsitzenden mußte Frau Achilles ihre frühere Liebe zu May eingestehen, dann aber schlug sie wieder mit der Faust auf den Tisch und rief, diese Liebe sei längst erloschen. Frau Plöhn sei diejenige, die alles verschulde. May und die Pollmer seien unschuldig. Damit war ihre Vernehmung beendet.

Der Vorsitzende ersuchte nunmehr Rechtsanwalt Bredereck darum, seine Beweisanträge zu stellen. Dieser beantragte zunächst Beweiserhebung darüber, daß der Staatsanwalt Wulffen über den Privatkläger May dieselbe Meinung habe wie der Angeklagte. In seinem bekannten Werk »Psychologie des Verbrechers« habe Wulffen gerade May als den Typ des »geborenen Verbrechers« hingestellt. Diese Überzeugung habe Wulffen aus den ihm bekannt gewordenen Akten Mays gewonnen. Bredereck verlas aus dem Buch die betreffende Stelle.


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Rechtsanwalt Netcke bestritt, daß alles das in den Akten stehe, was Wulffen in seinem Werk über May behaupte. Darin sei eine ganze Menge zusammengetragener Gerüchte als Tatsachen gebracht. May warf ein, ihm sei gleichgültig, was Wulffen über ihn veröffentliche. Er habe ihm geschrieben, daß er ihn für keinen Kriminalpsychologen halte, und darauf habe ihm Staatsanwalt Wulffen sehr höflich geantwortet.

Bredereck erwiderte, schon das Urteil, durch das May mit 4 Jahren Zuchthaus bestraft sei, ergebe, daß May ein geborener Verbrecher sei. Er beantragte Verlesung des Urteils. Es zeige, wie May es sehr gut verstanden habe, allerlei Waren nach Häusern mit zwei Ausgängen kommen zu lassen und nach Empfangnahme der Waren damit zu verschwinden. Es zeige, wie er in der Maske eines Polizisten zu einem Bauern gekommen sei, angeblich um nach Falschgeld zu fahnden, und wie er dem Mann sein Geld abgenommen habe. Es zeige, wie er einen Einbruch in einem Uhrenladen ausgeführt habe, und dergleichen mehr.

»Das ist doch unerhört«, rief May empört. »Ich habe nie einen Einbruch begangen, und nie in einem Uhrenladen!«

Seine innere Erregung war zum Durchbruch gekommen. Seine Frau zog ihn auf seinen Sitz zurück und redete ihm leise zu. Netcke stand auf und bat darum, doch dem alten Mann die Quälerei zu ersparen. Es handle sich doch um lange zurückliegende Jugendsünden.

Bredereck beantragte weiterhin Beweiserhebung darüber, daß die Eltern des Privatklägers schon Kleptomanen gewesen seien. Wenn die Mutter als Hebamme geholt worden sei, dann hätten die Leute schnell silberne Löffel und andere Wertgegenstände verschlossen. Pastor Laube werde bekunden, daß May selbst schon als Schüler lange Finger gemacht habe.

»Wenn das wahr wäre, dann würde ich wohl niemals in ein Seminar aufgenommen worden sein«, rief May. »In kein Seminar wird man ohne Zeugnis - und zwar ein gutes - des Bürgermeisters und anderer Persönlichkeiten kommen. Pastor Laube ist ein alter Mann von 80 Jahren, und er ist schon etwas schwach.«

May berief sich weiter auf das Sittenzeugnis seiner Eltern.

Bredereck beantragte Heranziehung der Leipziger Polizeiakten über die von May begangenen Pelzdiebstähle, der Gerichtsakten von Mittweida über gewisse Pferdediebstähle und die Vernehmung von Pastor


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Laube über Mays Räubereien und Verkleidungen im Erzgebirge. Laube werde bekunden, daß May sich mit dem Verbrecher Krügel in einem erzgebirgischen Wald herumgetrieben und Frauen beraubt habe, die vom Markt heimkehrten. Feuerwehr und Turnverein seien aufgeboten worden, um die beiden Räuber zu fangen. May aber habe sich die Uniform eines Gefangenenaufsehers verschafft und sie angezogen, habe dem Krügel die Hände auf den Rücken gebunden und sei mit ihm auf diese Weise unbehelligt entkommen.

Netcke gab den Pferdediebstahl zu. bestritt aber das Räuberleben. Die Strafakten Krügels stammten aus einer ganz anderen Zeit.

»Die Sache erledigt sich schon dadurch, daß ich zu der Zeit, in der ich die Räubertaten mit Krügel begangen haben soll, gesessen habe«, erklärte May nun wieder ruhig. »Der ganze Wald, um den es sich da handelt, ist in zwei bis drei Minuten zu durchmessen, und darin soll ich nun meine Höhle gehabt haben! Und da soll es den doch sonst recht hellen Sachsen, die mit Feuerwehrmännern, Turnverein und Schützen den Wald umstellt hätten, nicht gelungen sein, die Räuber zu fangen! Wenn sich die Geschichte zur Zeit eines Schinderhannes abgespielt haben würde, dann könnte man sie vielleicht glauben.«

»Wir bitten statt dieser allgemeinen Bemerkungen des Privatklägers doch endlich um seine Aufklärung, weshalb er denn zu 4 Jahren Arbeitshaus verurteilt worden ist«, forderte Bredereck. »Darüber schweigt er sich aus, und die Akten sind nicht mehr vorhanden.«

Er beantragte ferner Beweiserhebung darüber, daß May gleichzeitig fromme katholische Schriften und unzüchtige Hintertreppenromane verfaßt habe. In diesem Zusammenhang erwähnte er ein Manuskript »Delilah«, das der Verleger Fischer einem Justizrat Bondy gegeben habe.

May erklärte dazu, es sei nachgewiesen, daß seine Münchmeyermanuskripte geändert worden seien.

Nun, ich hatte diese »abgrundtief unsittlichen« Romane gelesen: sie waren weder in der Tendenz unsittlich noch in der Darstellung unzüchtig. Da gab es wirklich schlimmere Romane, und ausgerechnet Herr Lebius hatte einen Roman »Gärung« verfaßt, der nicht nur amoralisch, sondern sogar widerlich war. Ich erwartete, daß ihm Mays Anwälte dieses Machwerk unter die Nase reiben würden, aber leider wurde über dieses Thema nichts mehr gesagt.


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Bredereck beantragte noch Beweiserhebung darüber, daß May den Doktortitel zu Unrecht geführt habe. In Kürschners Literaturkalender habe er sich selbst als Doktor bezeichnet. Es solle Beweis darüber erhoben werden, daß May seine erste Frau durch Drohungen und spiritistische Tricks gewissermaßen hinterrücks zur Ehescheidung bestimmt und die Zeugen beeinflußt habe.

Als Beweis für sich führte May die Briefe an, die ihm Frau Pollmer während der Scheidung geschrieben hatte. Aber Bredereck hielt ihm entgegen, daß er auch in anderen Fällen die Zeugen beeinflußt habe. Das beste Beispiel dafür sei die Meineidssache Kahl. In der Broschüre »Karl May als Erzieher« habe er ja auch den größten Teil der abgedruckten Briefe »dankbarer May-Leser« selber verfaßt oder gefälscht. In dieser Broschüre werde May als eine Art Heiland, Messias, Säkularmensch, zweiter Bismarck usw. gefeiert. Und der Pater Pöllmann habe ihn einen Plagiator genannt.

May warf ein, daß er Pöllmann wegen Beleidigung verklagt habe. Bredereck spielte nochmals auf den Briefwechsel zwischen May und Langenscheidt an, worauf May noch einmal betonte, er schreibe nur, was er selber erlebt habe. Seine Werke beruhten auf dem Grund eigener Beobachtungen und Erlebnisse. Der Vorsitzende kürzte das Wortgeplänkel ab, und Justizrat Sello stellte zu allen Beweisanträgen Gegenanträge, welche die Unwahrheit der aufgestellten Behauptungen dartun sollten.

Der Gerichtshof zog sich zurück zur Beratung. Es war inzwischen draußen dunkel geworden, im Saal wurde Licht gemacht. Das Summen im Zuhörerraum verstummte, als die Richter nach einer Weile wieder erschienen.

Der Gerichtshof hatte beschlossen, alle heute gestellten Beweisanträge und die Gegenanträge abzulehnen. Nur das Erkenntnis der Mayschen Ehescheidung sollte verlesen und durch Vernehmung der Frau Pollmer und der Frau Achilles festgestellt werden, was dem Angeklagten Lebius über die Ehescheidung mitgeteilt worden war.

Das Ehescheidungsurteil wurde also verlesen, und der Vorsitzende entnahm daraus, daß May folgende Scheidungsgründe gehabt hatte:

1) Seine Frau hatte ihn bestohlen, ihm nach und nach große Summen heimlich entwendet.


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2) Sie hatte Geschäftsbriefe von ihm vernichtet oder versteckt und ihn so geschädigt - besonders einen für ihn sehr wichtigen Verlagsvertrag hatte sie beseitigt.

3) Sie hatte ihn mit Schimpfworten wie »Saukerl« - »du siehst aus wie ein Louis« usw. verfolgt. Dadurch wurde die Ehe zerrüttet. Sie hatte geäußert, sie wolle das Leben allein genießen und werde ihn schon kleinkriegen.

Frau Pollmer, für die May die Prozeßkosten bezahlt hatte, wurde nun noch einmal darüber vernommen, was alles sie dem Lebius über diese Ehescheidung gesagt hatte. Zaghaft und langsam erzählte sie die Vorgänge, die zu ihrer Ehescheidung geführt hätten. May sei überarbeitet gewesen und nervös. Da seien sie zuerst nach Berlin und dann nach Hamburg gereist - mit Frau Plöhn. Es habe ständig Reibereien zwischen ihrem Mann und ihr gegeben. Die Plöhn habe immer Partei für ihren Mann ergriffen und ihn dort schon mit Beschlag belegt. Von Hamburg seien sie nach Südtirol gereist. May und die Plöhn hätten in einem Abteil gesessen, sie in einem anderen bis Bozen. Im Hotel auf der Mendel hätten sie drei Zimmer gehabt. Bei Spazierfahrten seien sie in zwei Wagen gefahren - May und die Plöhn in dem einen, sie in dem anderen allein. Eines Tages habe dann die Plöhn plötzlich zu ihr gesagt, May und sie wollten heiraten. May habe sich nicht von ihr sprechen lassen, sondern mit der Plöhn eingeschlossen. Am nächsten Tag hätten sie dann einzeln Kaffee getrunken, und sie habe kein Mittagessen gehabt. In der Nacht sei dann eine spiritistische Sitzung gewesen, wo beschlossen worden sei, daß May und Frau Plöhn abreisten, während sie noch 6 Wochen auf der Mendel bleiben solle. Sie habe ein Schriftstück unterzeichnet, und darauf sei May mit der Plöhn abgereist und habe die Scheidung eingereicht. Sie habe 5 bis 6 Drohbriefe von May bekommen, und erst nach dem Urteil sei sie nach Dresden gefahren und habe sich an einen Rechtsanwalt gewandt.

Das war im Wesentlichen ihre sprunghafte und oft unklare Aussage. Zwischenfragen von Mays Verteidigern beantwortete sie erst nach einigem überlegen und unsicher. Schließlich bemerkte Justizrat Sello, daß die Zeugin früher alles anders dargestellt habe. Sie habe brieflich kundgegeben, daß ihr die Scheidung ganz gleich sei, wenn sie nur Geld bekomme. Sie habe weiter erklärt, die Artikel des Lebius beruhten auf


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Entstellungen ihrer Mitteilungen, jetzt rede sie nur von Verwechslungen des Lebius. Dagegen habe sie früher seine Behauptungen als wahrheitswidrige und bodenlose Kombinationen bezeichnet. Darüber liege ja eine schriftliche Erklärung von ihr vor.

Diese Erklärung der Pollmer nannte Lebius unterschoben. Als Sello noch weitere Erklärungen der Pollmer vorlegte, behauptete er, diese seien in Not und Verzweiflung abgegeben, um nur die Rente wieder zu bekommen. Nach diesem Hin und Her stellte der Vorsitzende fest, daß die Zeugin jetzt das Gegenteil von dem ausgesagt habe, was sie früher erklärt hatte. Zweifellos trüge ihre Erinnerung. Er las eine Erklärung der Pollmer vor, in der sie sagte, Lebius hätte sie zu überreden versucht, einen leeren Bogen Papier mit ihrer Unterschrift zu versehen, und es wäre möglich, daß er diesen Bogen dann für seine Zwecke benutzt hätte. Frau Pollmer gab zu, diese Erklärung abgegeben zu haben, aber das wäre in der Not geschehen, und nicht alles darin wäre wahr.

Abschließend stellte das Gericht fest, daß Frau Pollmer dem Angeklagten zwar die Ehescheidungssache erzählt habe, wie und was, sei aber nicht zu erkunden. Lebius berief sich darauf, daß auch Frau Achilles ihm das Leben bei Mays geschildert habe, mußte jedoch zugeben, daß er zu jener Zeit, als er den Brief an Fräulein vom Scheidt schrieb, Frau Achilles noch gar nicht gekannt hatte. Damit wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Anwälte erhielten das Wort für ihre Plädoyers.

Doch vorher kam es noch einmal zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen, als Bredereck noch einmal betonte, Lebius habe nur in Notwehr gehandelt. Nur durch seine politischen Gegner in den sozialdemokratischen Gewerkschaften, die May als Zeugen gegen ihn anführten, sei er gezwungen worden, dessen Unglaubwürdigkeit nachzuweisen. Netcke erinnerte daran, daß Lebius bereits vor seiner Fehde mit den Gewerkschaften May in seinem Blatt »Sachsenstimme« angegriffen habe, worauf Bredereck erwiderte, es sei May, der sich als einen zweiten Christus bezeichne und trotzdem immer wieder Lebius angreife.

Während dieses Rededuells setzte sich ein Mann neben mich, der mir schon eine Weile dadurch aufgefallen war, daß er in dem längst nicht mehr vollen Zuhörerraum umherhuschte und bald auf diesen, bald auf jenen einsprach.


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»Ich kenne Lebius ganz genau«, flüsterte er mir zu. »Das ist ein Mann, der noch nie gelogen hat!«

Er wollte wissen, für welche Zeitung ich alles mitschriebe. Wen das wohl etwas anginge, fragte ich und sagte, ich sei über seinen Herrn Lebius sehr genau im Bilde. Daraufhin verdrückte er sich mit einem schiefen Blick.

Der Vorsitzende erteilte nun Justizrat Dr. Sello das Wort zum Plädoyer. Dieser vertrat zunächst juristisch den Standpunkt, daß die Strafkammer noch nicht zuständig sei, da zwei sich völlig widersprechende Urteile des Schöffengerichts ergangen seien, das heißt also kein Urteil vorliege, das verwertbar sei. Nach Ausweis des Protokolls des Charlottenburger Gerichts sei das auf 15,- Mark Geldstrafe lautende Urteil schon rite verkündet gewesen. Bei dieser Sachlage müsse das Schöffengericht noch einmal mit der Sache befaßt werden.

Zur Sache selbst bestritt Sello, daß dem Angeklagten der Schutz des §193 des Strafgesetzbuches zuzubilligen sei. An und für sich sei Lebius berechtigt gewesen, diesen Paragraphen zu gebrauchen, aber er habe ihn mißbraucht. Er habe der Sache einen Mantel umgehängt und so getan, als wolle er die Interessen der Frau Pollmer wahrnehmen. Er habe sie aber nur aufgesucht, um sie auszuhorchen. Er habe sich für seine Recherchen die unlauterste Quelle gesucht, und was er erfahren habe, gleich ohne Prüfung veröffentlicht. Lebius sei unbillig, grausam und leichtfertig vorgegangen. Es sei ihm nicht um die objektive Feststellung der Wahrheit zu tun gewesen, sondern nur um die Beschaffung und Ausnutzung ungeprüften Materials zur Bekämpfung und Brandmarkung seines verhaßten Gegners.

Lebius habe sogar bedenkenlos dem Interesse der Frau Pollmer geschadet, indem er sie durch den Verlust ihrer Rente dem Hunger aussetzte. Er habe sie nur ausgehorcht und mißbraucht und ihr Interesse gefährdet, um den eigenen Interessen zu dienen. Der Brief des Lebius an Fräulein vom Scheidt sei ein Drohbrief, die Behauptungen darin seien größtenteils unwahr. Seine Absicht sei gewesen, vor einer Einigung zwischen May und der Pollmer zu warnen.

Mit den wissenschaftlichen Thesen des Staatsanwalts Wulffen sei in diesem Fall nichts zu machen, führte Sello weiter aus. Man müsse beim Alltag bleiben. Und da sei lediglich richtig, daß der Privatkläger, der


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sich nach schweren Schicksalsschlägen zu einer hochgeachteten Stellung emporgerungen habe, sich vor 40 Jahren einiger Verfehlungen schuldig gemacht habe. Das aber gebe Lebius in keiner Weise das Recht, durch solch tödlichen Streich persönlicher Rache seinen Gegner in den Abgrund zurückzuschleudern.

Sello zählte noch einmal alle Gründe auf, die in die Waagschale fielen, und beantragte, den Angeklagten zu verurteilen.

Nach ihm erhielt Rechtsanwalt Bredereck das Wort. Er bestand darauf, daß das zweite Urteil des Schöffengerichts gültig sei, und verlangte für seinen Klienten den Schutz des §193 StGB. Lebius habe erstens aus eigenen Interessen gehandelt und zweitens in den Interessen der Frau Pollmer. Er habe sich insbesondere der von ihrem früheren Ehemann ganz unglaublich behandelten, in Not und Bedrängnis geratenen Frau angenommen, und er müsse sich dagegen verwahren, irgendwie unmoralisch gehandelt zu haben. Was seine eigenen Interessen anbelange, so sei Lebius der geistige Führer der nationalen gelben Gewerkschaften geworden, nachdem er seine Pressestrafen als sozialdemokratischer Redakteur erhalten habe. Damit habe er sich den Haß der Sozialdemokratie zugezogen. Um seinen Wert herabzusetzen, sei von der sozialdemokratischen Presse immer wieder auf Karl May als Zeugen gegen Lebius Bezug genommen. Deshalb habe Lebius das dringende Interesse gehabt, einmal darzulegen, wes Geistes Kind denn dieser Karl May sei. Zweifellos habe dieser bei seiner Ehescheidung eine Roheit der moralischen Empfindung bekundet, die ohnegleichen sei, und nach 23jähriger Ehe die arme Frau schließlich abgeschüttelt. Der Angeklagte habe nach allem, was ihm bekannt war, das Recht gehabt, Karl May als einen geborenen Verbrecher zu bezeichnen. Darum beantrage er seine Freisprechung.

Nach ihm sprach Mays zweiter Anwalt Netcke. Er plädierte - um die Sache zu einem Ende zu bringen - ebenso wie Bredereck für die Gültigkeit des zweiten Urteils des Schöffengerichts. Wenn Lebius aber Interessen verfolgt habe, dann nur die eigenen. Das gehe klar aus seinem Brief hervor, in dem er der Pollmer mit einer Klage drohe. Er müsse sich entschieden dagegen verwahren, daß die Behauptungen der Frau Pollmer hier als Tatsachen hingestellt würden. Der Haß, der durch die ganze Sache gehe, zeige, daß Lebius habe beleidigen wollen. Sonderbar


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sei ja, daß seine Flugblätter gegen May immer gerade zu Weihnachten herausgekommen seien. Im weiteren schloß sich Netcke den Ausführungen Sellos an und beantragte die Verurteilung des Angeklagten.

Nach ihm wurde May das Schlußwort erteilt. Es wurde still, das Getuschel im Zuhörerraum verstummte. Karl May stand auf. Man fühlte, wie ihm das Sprechen schwer wurde. Er habe über drei Worte reden wollen, sagte er: erstens »Delinquent«, zweitens »Schundschriftsteller und Spitzbube« und drittens »Kläger«. Aber er lasse das fallen, da er zu viel Stoff dafür habe. Er wolle nur noch das Wort eines Menschen sprechen, und da wolle er als fühlender Mensch nur noch folgendes sagen: er habe heute so oft und mit bitterer Empfindung hören müssen, daß er ein Verbrecher sei. Er nehme es dem gegnerischen Anwalt nicht übel, daß er ihn für einen Verbrecher halte. Es sei ja richtig, er habe als Mensch gefehlt und sei in jungen Jahren in den tiefsten Abgrund gesunken. Aber er sei durch ungeheure Kraftanstrengungen wieder gestiegen, und es sei traurig, daß nun Superkluge und Pharisäer kämen und sich bemühten, ihn abermals von der mühsam erreichten Höhe hinunter zu stürzen.

Nach diesen wenigen Worten setzte er sich wieder, aber diese wenigen Worte und ihr Ton hatten einen tiefen Eindruck gemacht. Welch anderes Bild war doch dieser alte Mann mit dem weißen Haar, der so abgeklärt über seine Vergangenheit sprach, als sein verbissener Gegner, der ihn mit haßerfüllten Augen anstarrte, und dessen hochmütiger Rechtsanwalt, der ihm nur zu antworten wußte, May sei stets der Angreifer gewesen.

Ein Sprichwort sagt: Hochmut kommt vor dem Fall. Einige Monate später flüchtete dieser forsche Vertreter des Rechts, der sich so erhaben über den Verbrecher May dünkte, nach Brasilien, weil er durch Fälschungen selber zum Verbrecher geworden war. Während des Krieges wurde eine Amnestie erlassen, und er kehrte zurück. Bezeichnend für ihn ist, daß er es ungeachtet seiner Verfehlungen wagte, sich im März 1920 in dem kurzlebigen Kabinett der Kapp-Regierung als Justizminister herausstellen zu lassen. Er flüchtete abermals, und seitdem ist er nicht mehr in Erscheinung getreten.

Nach May erhielt nun Lebius das letzte Wort. Er wiederholte zum Überdruß, was er schon den ganzen Tag geredet hatte. Es war die Schau


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eines Demagogen: er gestikulierte mit den Armen, und sein Spitzbart zuckte auf und ab. Er konnte seinen Haß nicht verbergen, und er redete sich sichtlich immer mehr in Wut. Von der Plöhn, die sich durch die Heirat mit May ein Unterkommen gesucht habe, und von Mays Zeugen, die in den Prozessen ständig Meineide schwörten, kam er auf die eigene Selbstlosigkeit. Er habe der Frau Pollmer nur helfen wollen, und damals in Weimar habe er nichts gewußt von der Rente, die sie dann verloren habe. Er zahle ihr jetzt die dann von ihm versprochene Rente, aber nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil er sich mit Rücksicht auf die Presse nicht unfair zeigen wolle. Die Pollmer sei glaubwürdiger als May mit seiner Vergangenheit.

Er begann noch einmal die Verbrechen Mays aufzuzählen, bis Netcke aufsprang und Verwahrung dagegen einlegte, daß der Angeklagte immer neue Beleidigungen aufstelle. Daraufhin erklärte der Vorsitzende auch die Plädoyers für geschlossen, und das Gericht zog sich zur Urteilsfindung zurück.

Es war inzwischen schon 7 Uhr abends geworden. Ich sah mich um. Viele Zuhörer waren bereits gegangen, einige neue hinzugekommen. Einige tauschten leise ihre Meinung aus. Erwartungsvolle Spannung lag über dem Saal. Ich saß vorn auf meiner Bank ganz allein. Karl May sprach leise mit seiner Frau und seinen Anwälten, die ihre Akten in die Mappen packten. Frau Pollmer starrte vor sich hin. Lebius machte ein finsteres Gesicht und debattierte im Flüsterton mit Bredereck.

So verging eine halbe Stunde, dann erschien der Gerichtshof wieder, und das Urteil wurde feierlich verkündet.

Das Gericht vertrat die Meinung, daß nur ein rechtsgültiges Urteil des Schöffengerichts vorläge, und zwar das freisprechende. Es sah in dem Ausdruck »geborener Verbrecher« keine wissenschaftliche Kennzeichnung, sondern eine allgemeine Bezeichnung: »geboren« sei so viel wie »durch und durch« oder »wie es im Buche steht«. Der Brief des Lebius sollte der Aufklärung dienen, aber zugleich auch eine Drohung sein, daß ein Vergleich mit May der Frau Pollmer zum Schaden ausfallen könnte. Der Relativsatz - »den ich für einen geborenen Verbrecher halte« - falle aus dem Zweck des Briefes heraus. Die Absicht der Beleidigung sei da, ja sie sei durch das »geboren« gesteigert. Die Schutzgrenzen des §193 StGB, dessen Schutz das Gericht an und für sich dem


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Angeklagten zubillige, seien überschritten. Mit Rücksicht auf die Schwere der Beleidigung verurteile das Gericht den Angeklagten zu 100, - Mark Geldstrafe bzw. 20 Tagen Gefängnis und lege ihm die Kosten des Verfahrens auf.

Das Urteil war gesprochen, das Gericht zog sich zurück. Es ging wie ein Aufatmen durch den Saal, ein Beweis, wo die Sympathien der meisten Zuhörer lagen. Lebius verschwand mit seinem Anwalt. Hinter mir leerte sich der Raum. Auch May rüstete sich zum Aufbruch. Wie gern hätte ich ihm die Hand gedrückt, dem Mann, der mir mit seinen Büchern so viele schöne Stunden und mehr als das gegeben hatte! Aber zwischen uns war die Schranke, die den Gerichtssaal vom Zuhörerraum trennte. Jetzt oder nie, rief mir eine innere Stimme zu. Kurz entschlossen stützte ich mich auf die Schranke, war mit einem Schwung hinüber und ging auf May zu.

Dann stand ich vor ihm - mit meinen 1,80 Meter etwas größer als er. Fragend schaute er mich an. Mit einer Verbeugung stellte ich mich vor und beglückwünschte ihn zu seinem Sieg. Sagte, ich glaube an sein ehrliches Wollen, und er werde die Jugend immer auf seiner Seite haben. Auch ich würde für ihn eintreten. Er sah mir tief und lange in die Augen. Was er mir dann mit einem freudigen Aufleuchten geantwortet hat, weiß ich nicht mehr, es muß mir wohl nicht recht zu Bewußtsein gekommen sein in der Erregung. Aber sein Blick sagte mir mehr als alle Worte, ich hatte ihm eine große Freude gemacht. Er schüttelte mir kräftig die Hand, dann riß ich mich los, verbeugte mich noch einmal vor ihm, seiner Frau und den Anwälten und eilte aus dem Saal - es war ein Abschied für immer.

Leer und öde lagen die Gänge des Justizgebäudes. Hinter all den Türen schwiegen zu dieser Stunde Hader und Haß, Leidenschaft und Lüge. Es war mein erster Besuch in einem Gerichtssaal gewesen, meine erste Begegnung mit der gemeinen Wirklichkeit der menschlichen Gemeinschaft. Erfüllt von dem Erlebnis dieses Tages fuhr ich nach Hause.

Mochte der alte Mann in seiner Jugend gestrauchelt sein, mochte selbst bei seiner Ehescheidung nicht alles ganz einwandfrei vor sich gegangen sein - welcher Mensch war ohne Fehler und Sünden? Wenn ich May mit seinem Gegner verglich, dann stand hier ein geifernder Eiferer, der noch nichts von Bedeutung geleistet hatte, und dort ein


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Mann, der mit seiner Feder etwas geschaffen hatte, der Millionen junger und alter Herzen begeistert und zur Nächstenliebe ermahnt hatte. Gewiß, er war nicht der Old Shatterhand seiner Romane, nicht der untadelige, starke Held, sondern nur ein schwacher Mensch, der Versuchungen erlegen war, aber was er auch in seinem Leben gefehlt haben mochte, durch sein Werk hatte er es wiedergutgemacht. Zum erstenmal dämmerte mir in meinem Leben der Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, und doch stand ich noch dumm und unerfahren vor dem Tor des Lebens, dieses Lebens, in dem jeder scheitert, der nicht die Synthese zwischen Wahrheit und Dichtung findet . . .

Einige Wochen später hatte ich mein Abitur bestanden, und mein Vater stellte mir einen Wunsch frei: ich hatte nur den einen, nach Radebeul zu fahren und Karl May zu besuchen. Ich hatte von seinem Vortrag in Wien gelesen, wußte aber nichts von seiner Erkrankung. Die Uhr der nahen Kirche zeigte auf 4, als ich an der Vorgartentür der »Villa Shatterhand« klingelte. Es war der 1. April 1912, ein Montag. Ein schwarzgekleidetes junges Mädchen öffnete, und ich bat um die Zeit für einen Besuch am folgenden Tag. Sie lief mit meiner Besuchskarte ins Haus, kam aber nach wenigen Minuten schon wieder.

»Frau Doktor bedauert sehr, augenblicklich keinen Besuch empfangen zu können, denn Herr Doktor ist am Sonnabend gestorben. «

»Was?« konnte ich nur hervorbringen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

»Ja, am Sonnabend um 10 ½ Uhr hat er einen Herzschlag bekommen.«

Ausgelöscht war meine frohe Erwartung, ich fand nur noch einige Worte zu der Bitte, mein herzlichstes Beileid auszurichten. Dann warf ich noch einen Blick auf die Villa, die nun die irdische Hülle des Mannes barg, mit dem zu sprechen mein sehnlichster Wunsch gewesen. Ich war zu spät gekommen, er war schon am 30. März gestorben. Als ich nach Dresden zurückkam, stand die Todesnachricht in allen Zeitungen. Ich nahm den nächsten Zug nach Berlin, und in dem leeren Abteil erlebte ich noch einmal den Gerichtstag in Moabit . . .

Noch heute, wo ich selber älter bin, als er es damals war, sehe ich den alten Mann im weißen Haar vor mir, wie er aufrecht und würdig mit traurigem Ernst dasteht, und Pfeil auf Pfeil wird auf ihn ab


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geschossen - Old Shatterhand am Marterpfahl Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, die Feinde, die seinen Ruf morden und sein Werk vernichten wollten, würden in sechs Jahrzehnten vergessen sein, seine Bücher aber würden noch immer gelesen werden, er würde es vielleicht nicht geglaubt haben

Es sind jetzt hundert Jahre her, da schlossen sich die Tore des Zuchthauses hinter dem verirrten, verzweifelten Karl May, der aus seinem Beruf als Lehrer geworfen und von der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Aber ohne dieses grausame Schicksal wäre er sein Leben lang ein biederer Volksschullehrer geblieben und niemals der weltbekannte Schriftsteller geworden, der Millionen Menschen Millionen Stunden der Freude geschenkt hat.

So oft wie die Mode hat sich auch der Zeitgeist in diesen hundert Jahren gewandelt. Das Werk Mays, dessen Bücher vor sechs Jahrzehnten kaum noch ein Buchhändler im Schaufenster auszustellen wagte, hat alle diese Wandlungen überdauert zwei Weltkriege, Inflationen, politische Umwälzungen, Hungerzeiten und Wohlstand.

Und fast unverständlich erscheinen aus heutiger Sicht die Vorwürfe, die man dem alten Mann einst gemacht hat. Was er in seiner Jugend verbrochen hat, würde heute kaum so streng bestraft worden sein, und heute ist es kein Makel, sondern fast ein Gütezeichen, wenn ein Schriftsteller im Zuchthaus gesessen hat. Und wie lächerlich erscheint angesichts der Porno-Welle in Literatur und Film der Streit um die »abgrundtiefe Unsittlichkeit« der Münchmeyer-Romane! Wen erregt noch die Old-Shatterhand-Legende, die May einmal um sich gesponnen hat? Und wer darf sich anmaßen, in seiner Intimsphäre mit den umstrittenen Thesen der Psychologie die Wahrheit zu finden?

Ein Mensch wurde schuldig, aber welcher Mensch wird das nicht? Wie schwer Karl May hat sühnen müssen, das hat mir sein letzter Auftritt vor einem irdischen Gericht an jenem 18. Dezember 1911 offenbart, in dem der Richter das klügste und schönste Wort sprach:

»Und ich halte Herrn May für einen Dichter ... «


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