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WOLF-DIETER BACH

Muttergedichte Karl Mays und Hermann Hesses


Vier Gedichte, zwei von Karl May, zwei von Hermann Hesse, vergleichbar im Sentiment, im seelischen Substrat: ihr Thema ist die Trennung von der Mutter, die Sehnsucht nach Aufhebung dieser Trennung, das Zurück, die Heimkehr, die wiedererlangte volle Versöhnung, die Restitution eines verlorenen Glücks, der Urstand kindlicher Wunscherfüllung, hier imaginativ und im Gefühl vollzogen. Sehr allgemeine Inhalte also, fast schon Klischees - aber C. G. Jung, der Schweizer Psycholog, dem vorgehalten wurde, seine Archetypen seien Klischees, stimmte den Kritikern zu: das seelische Fundament sei eben kollektiv, also bei allen gleich. Die traumatische Erfahrung des Kindes, das, um reifen zu können, sich von der Mutter lösen muß, erst von ihrem Leib und dann aus ihrer Obhut, hat jeder gemacht - wenn auch verschieden stark und mit unterschiedlichem Gelingen der Verarbeitung. Die psychoanalytische Literatur hat derlei im Detail beschrieben, und wer die Muster der Wünsche und Verhaltensformen kennt, findet sie wieder in den Muttergedichten Hesses und Mays.

Da ist das Gefühl der Trennung, das einhergeht mit dem Gefühl, noch etwas sagen zu wollen oder zu müssen - Frustration also durch ein Zuwenig an mündlicher Verbindung, ursprünglich erlebt in der Phase des sauglustigen, mit seinem Munde die Welt erfassenden Kleinkindes, doch beim Erwachsenen gespiegelt auf der analogen Verdrängungsebene der ihm gemäßen oralen Tätigkeit: des Sprechens. Dazu ein diffuses Gefühl der Schuld oder des Versagens, in dem auch dann, wenn es auf konkrete biographische Begebnisse bezogen werden kann, untergründig mächtig doch das Schuldgefühl des Kindes wegen der ihm versagten ödipalen Wünsche mitschwingt. Schließlich die wiedergefundene Einheit mit der Mutter, intensiv imaginiert und überhöht durch Bilder der Weite


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und Fülle bis hin zum umschließenden Sternenmantel, dem kosmischen Attribut allumfassender archetypischer Mütterlichkeit, wie bei den Schutzmantelmadonnen des Mittelalters oder der Ischtar Altbabylons.

Auffällig, wie in Karl Mays Gedichten, anders als in jenen Hesses, das psychische Grundgebirge nur wenig durch Findlinge aus dem Geschiebe der literarischen Tradition überschichtet ist. Die psychische Facies Mays ist anstehendes Gestein. Aber: haben diese empordringenden Ergüsse plutonischer Schmelze, die, überhitzt und aufquellend, kaum noch zu körniger Form erstarrt sind, hat dieses larmoyante Vibrato aus tiefem Seelendrange, hat dieses herzensgründige Schluchzen der Mayschen Verse noch etwas mit Kunst zu tun? Der offizielle Geschmack von heute spricht lächelnd: nein! Für ihn gilt bestenfalls das sorgfältig unterkühlte, das mit Mikrometerschraube genau zwischen reflektierendem Spiegel und auflösungsstarker Optik adjustierte, metallbeschichtete Gefühlsobjekt - wie könnte es anders auch sein in der gegenwärtigen Welt, tel quel. Indes unterliegen weder May noch Hesse als Autoren einer vergangenen Epoche einzig und allein den heutigen Maßstäben. Dies nicht nur aus Gründen einer etwas allzu abstrakten historischen Gerechtigkeit. Es ist vielmehr gut und nützlich zu wissen, daß es Zeiten gegeben hat, die Männertränen und überhaupt das Schluchzen natürlich fanden, die es kulturell sanktionierten und als kommunikatives Element der Gesellschaft verfeinerten. Der Gedanke drängt sich auf, warum diese Verhaltensweise seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zusehends der Ächtung verfiel. Sollten Tränen etwa gestört haben beim Visieren über Kimme und Korn auf dem großen abendländischen Übungsgelände für den Marsch in die Unmenschlichkeit? Die Ideologie der Hartmacher ist auch ins ästhetische Bewußtsein infiltriert, das ja nie ohne Zusammenhang mit den Zuständen der Gesellschaft ist. Mit dem Verdikt »Kitsch!« sind die gestrengen Normenausschüsse der offiziellen Kunstbewertung nicht nur bei Erscheinungen der Subkultur schnell zur Stelle, sondern auch da, wo unkontrolliertes Gefühl - man beachte das Adjektiv: es ist Polizeisprache - aus dem raffinierten Gefängnis gesellschaftlicher und ästhetischer Präjudizien auszubrechen sich anschickt. Allein, die Generation der Hippies und Flowerchildren läßt sich nicht die Hände an die ästhetische Hosennaht pressen, so wenig wie an sonst eine. Vielleicht ist deshalb die Zeit nicht ungünstig, den Einwand »Gefühlskitsch«, dem


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die Mayschen Muttergedichte ob ihres ungehemmt schluchzenden Tones sicher begegnen werden, in seiner historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit durchschaubar zu machen. Er kann jedenfalls nicht als Argument für das Absprechen künstlerischer Qualität herhalten. Ebenso aber müßte durchschaubar werden, warum Mays Strophen doch wiederum auch von dünnen Rissen des Mißlingens durchzogen sind. Zweifellos fehlt ihnen, was große Verse auszeichnet: Unbefangenheit gegenüber der sprachlichen Konvention, phantasievolle Selbstherrlichkeit des Ausdrucks, die kunstvollen Verschiebungen und Erweiterungen der assoziativen Aura eines Wortes im Konnex anderer Wörter - , also jene wechselseitigen Prozesse der Anregung und Schwingungsinduzierung, die einen fernen Saum entlegener Bedeutungen im Gedächtnis flattern und leuchten lassen, bis plötzlich der ganze Horizont der Sprache phosphoresziert, wie ein Vorhang aus Nordlicht aufweht oder flammend verschießt.

Die letzte Tür in die Freiheit unverstellter Rede wird hier nicht aufgestoßen, Befangenheit bleibt, wie angestrengt das Bemühen auch ist, sie abzustreifen. Zwar läßt die Spur auf das Ziel hin sich gut verfolgen, doch bricht sie zuvor ab. Der psychologische Fährtenleser erkennt Bekanntes: die abbrechende Spur ist die des Weges der Mutter. Auch über dem Gelingen der Gedichte, als dem Surrogat einer gewünschten realen Erfüllung, dürfte jenes Tabu gelegen haben, das bereits dem Kinde die Wunscherfüllung versagte. Erweitert mag dies für das Gesamtwerk Mays gelten. Letzte Erfüllung durfte der groß angelegten literarischen Kompensation des kindlichen Traumas nicht gewährt werden. So blieb May einige Stufen unter dem Olymp deutscher Dichter, und Arno Schmidt hat ihm auch nur einen Fuß, den in der persischen Papusche, auf die Gipfelflur zu setzen vermocht.

Freilich erklärt auch hier die Individualpsychologie allein nicht alles. Nicht nur ein psychologisches Verdikt lag über Karl May, sondern auch ein soziales. Wie er dem Trauma der Kindheit nie ganz entrann, so auch nie ganz dem Dunstkreis der Kolportage, auf die seine soziale Herkunft ihn hinwies. Gerade in diesem partiellen Scheitern eines Versuchs zur Befreiung liegt aber die anrührende menschliche Wahrheit Mays. Aus den wundengleichen Rissen, die sein Werk beschädigen und die nur Ausläufer größerer Brüche sind, die unsere gesellschaftliche Wirklichkeit und unsere Verfassung als Menschen durchziehen, dringt daher


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immer auch ein Schimmer vom Astrallicht aus der Lampe des Ustad. Literatur besteht nicht nur aus den wenigen vollendeten Werken einer geglückten Befreiung, getting into one's own, sondern in der Mehrzahl aus Texten, die angestrebt Großes nur halbwegs erreichten - aber auch sie haben Anrecht auf Würdigung. Hermann Hesses Gedichte stehen in Lesebüchern, Anthologien. Warum nicht auch die Karl Mays? Beide sind nicht Hölderlin oder Brecht.

Was aber die Muttergedichte Mays angeht, so sind sie besser als die Hesses. Sie sind konsequenter im Ausdruck des Gefühls, deutlicher in der Darstellung des Themas, kräftiger gezeichnet. Ihr Sprachrhythmus ist ungleich reicher, differenzierter, sicherer; er ist musikalischer, stärker durchatmet. Wo Hesse einsilbige Wörter aneinanderreiht, klingt seine Sprache matt, tritt auf der Stelle. Karl May reiht noch längere Perlschnüre aus Einsilbern, aber ihre Sequenzen haben Dynamik, die Silben rücken im Ohr vor und zurück, schwingen auf und ab.

Auch im Grade der Originalität gibt es Unterschiede. Mays fast orientalische Gefühlsemphase mit pietistischem Arom ist unverwechselbar. Mögen da Anklänge an Rückert sein, an Freiligrath und an Schiller - sie erscheinen mehr wie Parallelen, nicht wie Einflüsse. Und ein so reißend schwärmerisches Schluchzen wie »Komm mir im Traum; komm in der Dämmerstunde, wenn Stern um Stern der Himmel uns umarmt« - Gottfried Benn erst wieder zog den lyrischen Fiedelbogen ähnlich breit über die Saiten. Dagegen bleibt Hesse mehr in der Sphäre des kultivierten Zitierens. Mit Goethe läßt er seinen Schmerz sich wunderlich vergessen, weil auch die klassische Tradition mit tausend Fäden um ihn ist. Nicht nur die Mutter, auch Mörike lacht zwischen den Zeilen.

Je zwei Gedichte zweier Dichter, miteinander verglichen, ergeben nichts über deren Rangverhältnis. Ohnehin sind literarische Personalhierarchien ebenso prekär und öde wie andere auch. Hesses Verse neben denen Karl Mays sollten auch nur ein Plädoyer illustrieren, das lautet: Gerecht bemessene Anerkennung dem Lyriker Karl May! Und: Kritik an etablierten literarischen Wertungen!

Karl Mays Gedicht »An die Mutter« stammt aus der Sammlung »Himmelsgedanken«, Freiburg 1900, »Der Mutter Antwort« aus dem Nachlaß. Unser Erstabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Karl-May-Verlags Bamberg, der das Manuskript besitzt. Hermann Hesses Muttergedichte entnahmen wir dem Gedichtband seiner Gesammelten Werke, Suhrkamp-Verlag, Berlin; sie entstanden um 1902 und 1905.


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