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EKKEHARD BARTSCH

Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation


Karl Mays »Wiener Friedensrede« ist jedem, der sich mit der Lebensgeschichte des Schriftstellers beschäftigt hat, ein fester Begriff. Nach den vielen Prozessen und Pressekämpfen hatte der alte Mann noch einmal Gelegenheit, vor der Öffentlichkeit Zeugnis abzulegen von seinem Denken und Wollen; und enthusiastisch feierte ihn die aus allen Bevölkerungsschichten kommende Zuhörerschar. Dieser Umstand und die Tatsache, daß Karl May acht Tage später starb, verleiten dazu, Karl Mays Wien-Besuch und den Erfolg seines Vortrags zu glorifizieren. Wer das Karl-May-Museum in Bamberg betritt, findet dort - unter Glas gerahmt - ein Plakat, auf dem der »Akademische Verband für Literatur und Musik« zu Karl Mays Vortrag einlädt. Und auch das Gründungsdatum der Karl-May-Gesellschaft, der 22. März 1969, ist nicht zufällig gewählt, sondern in Erinnerung an den 22. März 1912.

Dabei ist das Material zum Wiener Vortrag, das dem Karl-May-Freund an die Hand gegeben ist, bis heute sehr begrenzt. Die Rekonstruktion der Rede, »nach dem flüchtigen Entwurf des Dichters und persönlichen Erinnerungen der Zuhörer« konzipiert, die Klara May bereits der zweiten Auflage von »Mein Leben und Streben« (1912) anfügte und die bis heute im Biographieband »ICH« enthalten ist, entspricht fast ausschließlich dem handschriftlichen Konzept Karl Mays, das hier erstmals im Original veröffentlicht wird. Sie macht keinen Begriff vom persönlichen Eindruck, den der Vortragende bei den Zuhörern hinterlassen hat. Der Wiener Redakteur Alexander Salkind, der über »Karl May in Wien« berichtete (Karl-May-Jahrbuch 1928), beschränkte sich auf einige ganz allgemeine Worte. Und Fritz Barthels packende Schilderung (»Letzte Abenteuer um Karl May«, Bamberg 1955) ist leider durch keinerlei Dokumente gesichert: allzu freizügig dürften sich Dichtung


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und Wahrheit gemischt haben (zumal Barthel beim Vortrag gar nicht selbst zugegen war).

Annonciert wurde der Vortrag mit breitester »Streuung« durch stilvolle Großplakate, mittelgroße Aushängebögen und kleine Karten, die offenbar gezielt versendet wurden:

Werbezettel 1912 (25k-GIF)


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Kaum berücksichtigt wurde von der Forschung bis heute die zeitgenössische Presse. Ist sie auch selten ein völlig objektiver Kommentator von Zeitereignissen, so gibt sie doch den Eindruck Außenstehender wieder. Und mag deren Blick auch manchmal von Vorurteilen verstellt sein - er ist doch immer noch unbefangener als das ehrfürchtige und verklärende Aufschauen des Enthusiasten. Daß sich die meisten Zeitungen keineswegs, wie Salkind behauptet, »auf kurze Bemerkungen beschränkten« (KMJB 1928, 156), mag diese Dokumentation beweisen. Sie nach nun fast 60 Jahren zu lesen, dürfte für den Karl-May-Forscher äußerst reizvoll sein; strahlen doch diese Berichte - ob positiv oder negativ - eine ungeheure Gegenwartsnähe aus. Welchen Eindruck machte die Persönlichkeit des alten Karl May? Wie wirkten seine Bekenntnisse und weltanschaulichen Betrachtungen auf den unbefangenen, unvorbereiteten Zuhörer? Das Presse-Echo soll es zeigen.

Bereits am 13. und 14. März kündigten die Wiener Zeitungen Karl Mays Erscheinen an. Während sich die »Neue Freie Presse«, das »Neue Wiener Journal« und das »Neue Wiener Tagblatt« vom 13. März auf eine kurze Nachricht beschränkten, machte das »Illustrierte Wiener Extrablatt« am 14. März bereits seinem Unmut Luft.

Wir werden ersucht, folgender Mitteilung Raum zu geben: » K a r l M a y, der bekannte Romanschriftsteller, dessen Schaffen und Persönlichkeit heute ein öffentliches Problem geworden sind, hat sich entschlossen, einer Einladung des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik stattzugeben und zum ersten Male in Wien am Vortragspult zu erscheinen. Karl May spricht Freitag, den 22. März, ½8 Uhr abends, im Sofiensaale über das Thema: Empor ins Reich der Edelmenschen.« Man kann den Veranstaltern nur beistimmen, wenn sie das Schaffen und die Persönlichkeit Karl Mays ein Problem nennen. Denn daß Beides problematischer Natur ist, darüber sind schon längst die - Gerichtsakten geschlossen. Um so verwunderlicher erscheint es, daß der Akademische Verband für Literatur und Musik, der bereits eine stattliche Reihe vornehm-künstlerischer Veranstaltungen auf sein Verdienstkonto buchen darf, sich veranlaßt fühlt, das Problem Karl May, das bereits im Gerichtssaal diskutiert wurde, nun auch im Vortragssaale aufzurollen. Wir sind jedenfalls furchtbar neugierig, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, wie sich ausgerechnet Karl May den »Aufstieg ins Reich der Edelmenschen« vorstellt.

Daß Karl May »heute früh hier eingetroffen und im Hotel Krantz abgestiegen« sei, meldete das »Neue Wiener Tagblatt« am 20. März. Bereits jetzt, also schon zwei Tage vor dem Vortrag, brachte diese Zeitung ein Interview mit Karl May; Gesprächspartner war - nach


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einer Notiz in Karl Mays Wien-Unterlagen - wahrscheinlich Adolf Gerber. Später gewährte May auch dem »Neuen Wiener Journal« und dem »Forum« ein Interview. Jeder dieser drei Berichte spiegelt auf seine Weise eindringlich ein Stück der Persönlichkeit des Dichters. Und da Karl May in diesen Zeitungs-Interviews zum letztenmal, neben dem Vortrag selbst, das Wort ergreift, seien alle drei im Anschluß an diese Dokumentation wiedergegeben.

Der Vortrag fand programmgemäß am Freitag, dem 22. März, statt. Hier das Faksimile einer Original-Eintrittskarte:

Eintrittskarte zum May-Vortrag

Trotz zahlreicher Veranstaltungen, die in diesen Tagen das Interesse des Wiener Publikums fesselten, war der Vortrag ausverkauft. »Über 3000 Personen« registrierte die Presse (»Deutsches Volksblatt«, Wien, 23. 3.1912), doch halten Kenner des Sofiensaales in Wien aus reinen Platzgründen diese Zahl für zu hoch geschätzt. Immerhin dürften es gegen 2000 Zuhörer gewesen sein: »Alt und Jung, auch Hoch und sehr Niedrig: - vorn sitzt Bertha von Suttner, weiter hinten soll, nach einer Überlieferung, Adolf Hitler gehockt haben« (Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, S. 147). Da immer wieder die Frage auftaucht, worauf diese »Überlieferung« beruhe, mag hier auch auf dieses Thema eingegangen werden.

In Nr. 40/1935 brachte die tschechische Wochenschrift »Moravsky ilustrovany zpravodaj« (»Mährischer illustrierter Berichterstatter«) unter der Überschrift »Mein Freund Hitler« die »Erinnerungen eines Ungenannten«. Dieser Ungenannte erzählt folgende Episode (Wiedergabe in freier Übersetzung):


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Eines Tages überraschte mich Hitler mit der Bitte, ihm auf einige Stunden mein zweites Paar Schuhe zu borgen. Als ich ihn verwundert nach seinem Vorhaben fragte, erzählte er mir freudig, daß Karl May in Wien einen Vortrag halten werde, und zwar über das Thema »Empor ins Reich der Edelmenschen«. Hitler habe sich vorgenommen, diesen Vortrag unter allen Umständen zu besuchen, koste es, was es wolle. Seine Bitte habe ich ihm erfüllt. ... Hitler hat dann den Vortrag tatsächlich besucht, und sowohl der Vortrag als auch die Person Karl Mays hatten ihn überaus begeistert ...

Mag es sich um ein wahres Erlebnis gehandelt haben oder um eine der vielen »Erinnerungen« angeblicher Jugendfreunde des »Führers«, die nach der Machtergreifung in überraschender Zahl auftauchten, unsere jüngste Geschichte hat jedenfalls gezeigt, daß Hitlers »Begeisterung« für Karl Mays Friedensgedanken nicht von ewiger Dauer war.

Akustische Aufzeichnungen von der Rede existieren leider nicht, doch ist, wie erwähnt, Karl Mays Konzept größtenteils erhalten geblieben. Eigentlich sind es mehrere Konzepte: eine sechs Folioseiten umfassende Gliederung »Empor ins Reich der Edelmenschen«, eingeteilt in 15 Punkte; ein »Edelmensch« überschriebener drei Seiten umfassender Entwurf, der wohl den Beginn des ausgeführten Vortragstextes enthält; außerdem zwei fragmentarische Entwürfe, von denen der eine wohl ebenfalls den Versuch darstellt, den Einleitungstext zu formulieren. Typisch für alle diese Konzepte ist der breit ausgeführte Beginn, dann die immer flüchtiger werdende und schließlich nur mehr in Stichworten endende Textgestaltung. So ist anzunehmen, daß die Disposition (Punkt 1 - 15) tatsächlich nur das Gerippe darstellt und daß Karl May einen beträchtlichen Teil des Vortrags nicht konzipiert hat. Hierfür spricht auch der Augenzeugenbericht von Amtsrat Sandner, der schildert, daß Karl May meistens frei gesprochen habe, auch einen Teil der Gedichte. Ein Konzept hat Sandner nicht bemerkt; vielleicht sei es, meint er, hinter Büchern verborgen gewesen (nach privaten Notizen).

Hier sollen nun die erhaltengebliebenen Aufzeichnungen Mays zur Wiener Friedensrede ungekürzt abgedruckt werden; ihre Veröffentlichung wurde uns vom Karl-May-Verlag, in dessen Besitz sich die Originale befinden, dankenswerterweise gestattet. Die Wiedergabe erfolgt buchstabengetreu mit allen Abkürzungen. Lediglich das häufig gebrauchte Kürzel M= »Mensch« wurde ausgeschrieben, da es im gedruckten Text gar zu grotesk wirkt (Mheitsfrage, Mheitsweh usw.).


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E m p o r i n s R e i c h d e r E d e l m e n s c h e n !

1. Kennst du den unergründlich tiefen See,
Auf dessen Fluth ich meine Ruder schlage?
Er heißt seit Anbeginn das Menschheit- W e h,
Und ich, mein Freund, ich bin die Menschheits- F r a g e.

2. Anrede: Hochgeehrte u.s.w.

3. Vorwort: Sie haben mich gerufen, einen Vortrag, eine Vorlesung hier zu halten. Ich bin gekommen, und zwar gern, weil A.) ich Oesterreich resp. Wien liebe. B.) grad jetzt die richtige Zeit zu diesem Vortrage ist: Osterzeit, Frühlingszeit, Frühling des Jahrhunderts.

4. Mein Thema: Ist ein großes, allgemeines Menschheitsthema und ein Thema auch für jeden Einzelmenschen, auch für mich. Die Menschheit soll empor in das Reich der Edelmenschen und jeder Einzelne ebenso. Wie aber komme grad ich dazu, Ihnen dieses Thema zu bringen? Weil es ein Thema meines ganzen Lebens, meines ganzen schriftstellerischen Wirkens, das Thema jedes einzelnen meiner Bücher ist. Ich habe viel darüber nachgedacht und fühle mich verpflichtet, das Resultat dieser Gedanken mitzutheilen.

5. Mein Ich: Wer aber bin ich, daß ich es wagen adrf, meine Gedanken für so wichtig zu halten, daß ich sie mitzutheilen habe? Das will ich Ihnen aufrichtig sagen. Ich stelle mich Ihnen hiermit vor:

Ich habe, wie jeder andere Mensch, ein äußeres und ein inneres Leben. Beide sind auszugestalten, daß sie zur Persönlichkeit werden. Viele, sehr Viele bringen es nie zur inneren Persönlichkeit, ja, leider Viele nicht einmal zur äußerlichen.

Meine äußerliche Persönlichkeit wird Karl May genannt und beschäftigt sich mit Schriftstellerei. Meine innere Persönlichkeit hat keinen Namen. Sie werden sie aber kennen lernen. Denn grad sie ist es, die heut zu Ihnen spricht. Meine äußere Persönlichkeit darf sich keiner großen Wichtigkeit rühmen. Sie würde sehr, sehr schnell abgethan sein, wenn ich nicht gezwungen wäre, von anderer Seite, einige Bemerkungen über sie zu machen. Es giebt nämlich zwei grundverschiedene Karl May, einen ächten und einen gefälschten, einen wirklichen und einen erfundenen, einen ernsten und einen carikirten, den man in hunderten von Zeitungen als Luftikus und


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Hans Wurst gezeichnet findet. Der ächte wurde in Hohenstein-Ernstthal, einem kleinen, erzgebirgischen Städtchen geboren, die Carikatur aber in Dresden, in einem Kolportageroman- und Schundverlagsgeschäfte, in welchem man aus prozessualen Gründen den ehrlichen Karl May zur schwindlerischen Fratze gestaltete und hinaus in die Zeitungen schickte. Da aber der Akadem. Verband für Lit. und Musik nicht dieses Zerrbild berufen hat, einen Vortrag hier zu halten, sondern den wirklichen, unverfälschten Karl May hören will, so sei und bleibe diese Angelegenheit dem Strafgericht, wohin sie überhaupt und allein gehört, überlassen.

6. Also nicht meine äußere, sondern meine innere Persönlichkeit soll zu Ihnen sprechen, mein Herz! Das ist das Richtige! Die Seele zur Seele, das Gemüth zum Gemüth, das Herz zum Herzen. D a n n werden wir uns verstehen! So bin ich aber verpflichtet, Ihnen diese Meine Seele, mein Gemüth, mein Herz offen und ehrlich zu zeigen, damit Sie mich kennen lernen, nicht wie ich von falsch unterrichteter Seite beschrieben werde, sondern w i e i c h w i r k l i c h b i n ! Wer und was aber bin ich?

»Grüß Gott, du liebes Tröpflein Thau.«

»Ich fragte zu den Sternen.«

Was für einen Ort aber verstehe ich unter diesem »hier« unter diesem »Himmel«, an dem solche Sterne strahlen? Ich bin da, es Ihnen zu sagen.

7. D r e i W e g e : Es führen 3 Wege hinauf: Wissenschaft, Kunst, Religion. Wissenschaft bringt Erkenntniß; Kunst bringt Offenbarung; Religion bringt Erlösung. Die Kunst dringt in das Innere der irdischen Materie ein, um das Innere herauszuholen und das Äußere damit zu verklären. Sie söhnt Wissenschaft und Religion mit einander aus. Sie weißt nach, daß alle Wege endlich doch vereint nach demselben Ziele streben. Ich bin nicht Gelehrter und bin auch nicht Theolog. Ich habe mich also aller gelehrten und theologischen Streitigkeiten zu enthalten. Ich habe über sie zu schweigen. Ich stehe auf dem mittleren Wege, auf dem Wege der Kunst, und spreche zu Ihnen nur als Schriftsteller, als unfanatischer Laie, der nichts und nichts erstrebt als nur das eine, große, irdische Ziel: »Und Friede auf Erden!«


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8. P o e s i e: Also auf dem Pfade der Kunst, der Poesie empor in das Reich der Edelmenschen! Was ist Poesie?

»Da oben, wo das Meer des Lichtes flammt.«

Diese Formen sind also tausendjährig, aber doch nicht ewig. Sie veralten, wie alles Irdische veraltet, um sich neu zu verjüngen. Wir stehen grad jetzt in einer Zeit, die alte Formen zerbricht u.s.w.

Die allerhöchste, inhaltsreichste und mir liebste Form der Poesie ist das Märchen. Ich liebe das Märchen so, daß ich ihm mein ganzes Leben und meine ganze Arbeit gewidmet habe. Ich bin Hakawati. Dieses orientalische Wort bedeutet »Märchenerzähler«. Wer nicht weiß, daß ich Hakawati bin, der beurtheilt mich falsch, weil er mich unmöglich begreifen kann. Wie ich Hakawati geworden bin, das werde ich Ihnen erzählen. Vorher aber frage ich:

9. Was ist das Märchen? Irdische Wahrheiten und himmlische Wahrheiten. Die irdischen werden uns von der Wissenschaft gebracht. Die himmlischen steigen an den Strahlen der Sterne zu uns nieder,,,,,.

10. D a s M ä r c h e n v o n S i t a r a. Vorlesen. »Leben und Streben«. »Babel und Bibel«.

11. W a s w i l l d i e s e s M ä r c h e n u n s s a g e n? Das werden wir sofort erfahren. Vorher aber mache ich auf ein ganz bestimmtes Wort am Beginn des Märchens aufmerksam: Nicht g e h t, sondern f l i e g t. Ja, können wir denn fliegen? Endlich, ja, endlich! Aber wir k ö n n e n nicht nur, sondern wir s o l l e n, ja, wir m ü s s e n fliegen, wenn wir die Aufgaben dieses Jahrhunderts erfüllen, die Räthsel der Zukunft lösen wollen. Der Versuch des Menschen, zu fliegen, ist uralt. Aber ich meine hier weniger den körperlichen als den seelischen Flug, obwohl beide enger zusammenhängen, als man gewöhnlich meint. Das Volk, welches nach einem Corps von leiblichen Fliegern strebt, muß schon vorher kühne und erprobte geistige Flieger haben. Als in Frankreich die Mongolfièren und Charlièren zu steigen begannen, hatte sich vorher schon eine ganze Reihe berühmter geistiger Aeronauten in die freien Lüfte gewagt. Dann kamen die beiden großen deutschen Ballons: Göthe, Schiller, einige kleinere hinterher, doch mit geringem Erfolg. Man blieb darum noch an der Erde, aber man vervielfältigte die bis-


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herigen Bewegungsweisen: Man erfand die Draisine, das Einrad, Drei- und Zweirad, das Motorrad, das Auto. Vor allen Dingen die Lokomotive. Auch in der Dichtkunst wird Rad- Auto- und Bahngefahren (Beispiele). Da kommt plötzlich ein Graf Zeppelin, ein Major Parsival. Sie bauen Luftschiffe. Das Volk jubelt ihnen zu. Hierauf folgen die verwegenen Ein- und Zweidecker, die Aviatiker. Ihnen jubelt man noch mehr zu. Aber jubelt man auch den geistigen Aviatikern zu, die sich mit wenigstens ebenso großer Kühnheit hoch über die alt hergebrachten Mauern, Zäune und Schranken, der Wissenschaft und Kunst erhoben? Oder spricht man da vielleicht von Lüge, von Schwindel, von Phantasterei, von literarischer Hochstapelei? Ich lasse diese Frage fallen und bitte Sie, sich getrost meinem Aeroplane anzuvertrauen und mit mir den alten, staubigen Boden, auf dem wir stehen zu verlassen. Wir fliegen drei Monate lang der Sonne entgegen und dann noch drei Monate lang über sie hinaus. Da treffen wir auf - - - - den Stern Sitara? Allerdings. Aber auf wen noch? Auf die Erde (Nachweis daß Sitara die Erde ist. Nicht geographisch, sondern a u s s c h l i e ß l i c h e t h i s c h betrachtet. Da kann es nicht 3 oder gar 5 Menschenrassen und 5 Erdtheile geben, sondern nur 2 Erdtheile mit einer einzigen Rasse, die aber nach gut und bös, nach hoch oder niedrig denkend, nach auf- oder abwärtsstrebend geschieden ist. Körperbau, Hautfarbe u.s.w. sind da vollständig gleichgültig, verändern nicht im geringsten den Werth oder Unwerth des betreffenden Menschen. In Ardistan leben die Niedrigen, die Unedlen, in Dschinnistan die Hohen, die Edlen. Beide sind verbunden durch den schmalen, aufsteigenden Streifen von Märdistan, wo im Walde von Kulub der »See der Schmerzen« und die Geisterschmiede liegt. Das ist derselbe See, den ich in meinen Eingangsworten erwähnte:

»Kennst du den unergründlich tiefen See« ,,,

12. W a s i s t d i e M e n s c h h e i t s f r a g e? Sie wurde von Gott geschaffen, wie er den Menschen schuf. Dieser lebte im Paradiese von Dschinnistan. Die Früchte des Sumpflandes Ardistan waren ihm verboten. Er stieg trotzdem hinab, sie zu genießen. Kaum hatte er das gethan, so sah er daß er nackend war, entkleidet alles Adels, aller Hoheit, aller Reinheit, aller Würde. Es war nichts mehr an


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ihm, was ewig Ist; er hatte sich den Tod erworben. Er versteckte sich. Da kam der Herr und rief: »Adam, wo bist du?« Adam heißt Mensch. Gemeint ist Edelmensch. Also: »Mensch, Edelmensch, wo bist du?« In diesem Augenblicke war die Menschheitsfrage geboren. Sie verließ mit Adam das Paradies. Gott war gnädig mit ihm, der nun in Ardistan wohnte und darum sterben mußte. Er verlieh ihm die Erlaubniß der Nachkommenschaft, in der er weiterleben durfte um im Laufe der Jahrtausende durch fortgesetzte Läuterung nach Dschinnistan ins Paradies zurückzukehren. Als Gewissensprüferin war ihm und seinen Nachkommen die Menschheitsfrage beigegeben Wohin sie sich immer wendeten, die Menschheitsfrage ging mit. Hochragend, groß, schritt sie durchdringenden Auges durch die Jahrhunderte und Jahrtausende, durch alle Länder der Erde, durch die ganze Menschheitsgeschichte bis auf den heutigen Tag. Sie stand auf allen Schlachtfeldern der Erde um auszurufen: Adam, wo bist du? Wo ist die Edelmenschlichkeit? Ich sehe sie nicht. Zu jeder Zeit und überall, wo Menschen gegen Menschen sündigten, erhob sie ihre Stimme. Sie schien ewig zu sein, weil das Menschenleid kein Ende zu nehmen scheint. Und sie schien allgegenwärtig zu sein, weil das Menschheitsweh allgegenwärtig ist. Aber nicht blos bei großen, gewaltigen Völkerschmerzen tritt sie als Klägerin heran, sondern sie steht bei jeder einzelnen Menschenseele, die irgend ein Leid zu tragen hat, und flüstert bittend: »Du bist in der Geisterschmiede. Schrei nicht! Werde Edelmensch. Dann kommst du frei und wirst als Sieger die Qual verlassen. Bleib nicht hier unten. Dein Ziel ist Dschinnistan!« Woher weiß ich das? Ich will es Ihnen erzählen.

13. M e i n e J u g e n d: Am Besten: Vorlesen.

Ich wurde im tiefsten, im allertiefsten Ardistan geboren. Meine Eltern waren blutarm. Mein Vater, meine Mutter, zwei Großmütter, fünf Kinder, zählten wir neun Personen. Wir haben da fleißig gearbeitet und ebenso fleißig gehungert. [am Rand: b l i n d !] Nie sind meine Eltern irgend einem Menschen auch nur einen Pfennig schuldig gewesen. Vater streng, doch gut. Jähzornig. Nächtelang lesen. Mutter:

»Ich hab gefehlt, und du hast es getragen.«


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Großmutter:

»Sie trug mich stets auf ihren Armen «.

Bilderbibel. Kräuterbuch. Hakawati. »Großmutter, ich will Hakawati werden. Ich will von Dschinnistan erzählen; darum muß ich aus Ardistan hinaus!« Und ich bin Hakawati geworden, weite nichts, weiter nichts. Wozu? Wozu?

[durchgestrichen:]

14. M e i n e W e r k e. Ich habe in den 4 Eingangszeilen gesagt: »Und ich, mein Freund, ich bin die Menschheitsfrage«. Das war nicht etwa zu viel gesagt. Das war nicht Einbildung, Ueberhebung, sondern Pflicht. Jeder Mensch hat die Pflicht sich mit der Menschheitsfrage zu identifizieren. Sobald er sich innerlich betrachtet, fühlt er, wie ähnlich seine ganze Entwicklung der ihrigen ist. So auch ich [am Rand: L i c h t ! L i e b e !]

14. U m d i e W a h r h e i t e n d e r Z u k u n f t , die man jetzt von fast allen Thüren weist, weil nur Wenige sie erkennen, in das Gewand des Märchens zu kleiden, damit man sich ihrer erbarme.

Ich bin trotz allen Erdenleides ein unendlich glücklicher Mann. Habe mich aus Abgründen emporgearbeitet, werde von Hunderten, von Tausenden mit den Füßen immer wieder zurückgestoßen und liebe sie doch alle, alle Ich habe meinen Beruf, meinen Erfolg, mein Heim, meinen unerschütterlichen Glauben an Gott und die Menschheit. Dieses große, große Glück möchte ich so gern auch anderen Menschen bereiten, allen, allen, nicht nur meinen Freunden, sondern auch vor allen Dingen meinen Feinden. Darum lege ich dieses mein Glück und diesen meinen Sonnenschein in Alles, was ich schreibe. Aber Glück und Sonnenschein kommen v. oben. Ich mußte also hinauf, mußte fliegen. Ich that es. Um Sonnenschein zu geben, schrieb ich zunächst Humoresken. Ich hatte Glück damit. Ich baute mir den Aeroplan »E r z g e b i r g i s c h e D o r f g e s c h i c h t e n«. Die Zahl meiner Leser wuchs. Von diesem Aeroplan sah ich weiter. Ich baute mir also einen zweiten: »Reiseerzählungen«. Als ich nun von diesen Höhen aus die Wege nach Dschinnistan betrachtete (Wissenschaft, Kunst, Religion) sah ich, daß alle drei nach der Geisterschmiede führten. Auf ihnen war also das Menschheitsleid nicht zu umgehen. Aber ich sah auch, daß man diesen Ort ver-


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meiden kann, nämlich wenn man - - - f l i e g t. Der Ort, an dem der Flug zu beginnen hat, ist ein hoher Berg. 2 Namen. Mount Winnetou. Dschebel M. Dur. Ich zeige ihn im Alabasterzelt Schloß der Wasserscheide. Schüler v. Winnetou.

Nach diesem Berge führen die 2 Wege meiner Bücher: Prairie nach Mount W. Wüste nach Dschebel M. I c h f ü h r e d a s a u s. Hirtenbub.

Vorwürfe: U n s i t t l i c h. J u g e n d s c h r i f t e n. Diese Vorwürfe kommen aus der Tiefe, aus Ardistan. Sie sind aus der Luft gegriffen, aus der dortigen Atmosphäre.

Vor allen Dingen: bisher nur S k i z z e n , V o r ü b u n g e n.

Ich habe Fehler gemacht.

Ueberhaupt, wer hat hierüber zu urtheilen? Doch nur Berufene, Koryphäen u.s.w. Ich habe keine Kritik zu scheuen. Denn diese Berufenen, also Künstler, Musiker, Bildhauer, Maler, Dichter, Schriftsteller, K r i t i k e r, sind Fürsten im Reiche der Geister. Sie haben fürstl. zu denken, zu empfinden, zu wollen und zu handeln, nicht niedrig wie in Ardistan, sondern hoch und edel wie in Dschinnistan. Diese Edelkritik kann und soll zwar meine Fehler finden und tadeln, kann aber niemals meine Feindin sein. Der niedrigen Kritik aber rufe ich zu:

Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag

15. S c h l u ß. M e n s c h h e i t. Das Leben des Einzelnen ist das Menschheitsleben im Kleinen. Auch das meinige. Was ich von mir sagte, habe ich auch von der Menschheit zu sagen: E m p o r i n d a s R e i c h d e r E d e l m e n s c h e n ! Wie ich mir als Einzelmensch dieses Empor gedacht habe, sage ich in meinen »Himmelsgedanken«.

»Schon weicht die Fläche hinter mir«. Ich bin Christ. Wie ich mir dieses Empor für die Menschheit im Allgemeinen denke, sage ich im Silb. Löwen:

»Ich komm zu dir im Sonnenstrahl«. Beide kommen einander entgegen im Sonnenstrahl. Gott naht sich uns nicht mehr in Donner und Blitz, sondern nur noch in L i e b e.

Das Menschheitsleben vollzog sich bisher nur unten in Ardistan. Geschichte mit Blut geschrieben. Wir kennen dieses Ardistan.


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Leiter, leiter, wir lieben es. Theater, Literatur ,,,, Aber glauben wir ja nicht, daß die Sehnsucht nach Dschinnistan erst von heut ist! O nein! 1.) Heiden. Religion der Inder, Chinesen, der Inkas zeugen von großer Sehnsucht nach Edelmenschlichkeit. Gesetzgeber H a m m u r a b i ! Wie das heutige Heidenthum hierüber denkt, lasse ich von einem malayischen Priester sagen in »Friede auf Erden« .

»O komm, sei wieder Gast auf Erden!«

Und I s r a e l, das Volk Gottes! Was haben wir von ihm überkommen und geerbt! Nie können wir genug dankbar sein! Was ist sein Gott für den Poeten! Welche Regeln der Menschlichkeit! Ich habe die Weissagung gesungen: Jesaias 9. Und es genügt mir hier das eine Wort aus dem 60. Kapitel Vers 1: Mache dich auf, werde Licht! Und der Islam!

»Ich spreche hier von unsrem heilgen Glauben , ,«

Und nun das C h r i s t e n t h u m ! Was soll ich da noch sagen? Das heutige Christenthum?

B e r t h a S u t t n e r: Oesterreich. Wien.

E r f o r s c h u n g v o n D s c h i n n i s t a n

O e s t e r r e i c h i s t u n s v o r a n. Wer hat bei uns gesagt, daß wir fliegen sollen? Meines Wissens noch Niemand. Hier ist eine, die es längst schon sagte!

[durchstrichen:] Kaiserhaus. Viel gelitten. Geisterschmiede. Aber dafür auch die Freude, daß Oesterreichs Denker und Dichter ,,,

empor, empor! Ins
Das walte Gott

Ich kam nach hier zurück.
Buch: Suttner.
Frühling. Diesem Frühling der Sommer folgt und der Herbst, der uns die Früchte bringt.

bildlich.

Ich bringe heut nur den Rahmen zu meinem Bilde, das Postament zu meiner späteren Figur.


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(Die folgenden Notizen, die mit auf dem Manuskript stehen, gehören vielleicht nicht zum Vortrags-Konzept:)

Ich habe gezeigt:
für die Baukunst:

Die Prachtbauten am Mahalamasee.
Den Rosentempel am See der Dschamikun.
Das Alabasterzelt an demselben See.
Das »Hohe Haus«. »Die Religionen«.
Das Schloß der Wasserscheide an der Grenze v. Ardistan.
Die Kathedrale in der Hauptstadt v. Ardistan.
Das Schloß in d. Stadt der Todten.
u. s. w.

Bildhauer: Wasserengel in der Wüste.
Die Dschemma der Todten
" " Lebenden.

Maler. Wie dem Teufel sein eigenes Gewissen erscheint.
Der Mir v. Ardistan.
Der Mir v. Dschinnistan.



E d e l m e n s c h.

Kennst du den unergründlich tiefen See,
In dessen Fluth ich meine Ruder schlage?
Er heißt seit Anbeginn das Menschheits w e h,
Und ich, mein Freund, ich bin die Menschheits f r a g e.

Hochverehrte Damen und Herren. Liebe, liebe Leserinnen und Leser. Und vor allen Dingen sehr geehrte Mitglieder des Akad. Verbandes für Kunst und Musik.

Es wurde bei mir angefragt, ob ich geneigt sei, im Bereich des genannten Verbandes eine Vorlesung oder Vortrag über mich und meine Werke zu halten. Auf den Vortrag ging ich ein. Die Vorlesung lehnte ich ab. warum? Oeffentlich vorlesen kann man doch nur wissenschaftlich oder künstlerisch Hervorragendes. Ich aber bin trotz meiner 70 Jahre noch kein Gewordener sondern noch immer ein erst Werdender, und so kann


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das, was Ihnen mein Vortrag bringt, nicht etwa in gebieterischer, sondern nur in bittender Weise bei Ihnen anklopfen, um freundlich eingelassen zu werden.

Wissenschaft. Kunst. Religion.

Ich habe das Thema »Auf, ins Reich der Edelmenschen« aus guten Gründen gewählt. Es ist das Hauptthema des großen Menschheitslebens, das Hauptthema jedes einzelnen Menschenlebens und auch das Hauptthema meines eigenen Lebens. Jedes Portrait bedarf der haltenden Leinwand und des Rahmens, jedes Monument oder jede plastische Figur eines tragenden Postamentes. Wenn ich Ihrem Wunsche, mich als Autor kennen zu lernen, nachkommen will, so würde es in hohem Grade verfehlt sein, irgend eines meiner Bücher hier in die Hand zu nehmen, um Ihnen daraus vorzulesen Sondern ich habe Ihnen vor allen Dingen die Leinwand zu zeigen, an welche vor nun 70 Jahren das Schicksal trat, um mich zu portraitiren. Ich habe Sie an das Fundament zu führen, auf dem sich meine innere Gestalt bisher entwickelt hat und noch weiter entwickeln wird. Erst wenn ich das gethan habe, werden Sie mich und meine Bücher verstehen, sonst aber nicht. Ihnen diese Leinwand, dieses Fundament zu zeigen, stehe ich heut hier. Und ich sage Ihnen in aller Aufrichtigkeit, daß ich gern, aber wie so gern gekommen bin, weil ich Ihr schönes, braves Oesterreich liebe und weil besonders Ihre prächtige Kaiserstadt mein ganzes Herz gewonnen hat und für immer festhalten wird. Die Hauptursache aber, daß ich so gern gekommen bin, (gestrichen: liegt in der vollen, ehrlichen Sympathie und Anerkennung) ist der literarische, der künstlerische Frühling, der bei Ihnen längst schon angebrochen ist, während wir da oben in unserm berühmten Norden noch in den alten, abgelaufenen Filzschuhen stecken und uns an mittelalterlichen, längst zersprungenen Ofen-Kacheln wärmen. In diesen Filzschuhen steckend, sprechen wir von den großen Aufgaben des angebrochenen 20ten Jahrhunderts. Wir sehnen uns nach neuen Idealen, nach einer neuen Kunst, nach dem Drama der Zukunft, nach dem großen Meister, der da kommen soll u.s.w., können aber trotzdem nicht von den alten Satzungen lassen und verrammeln mit ihnen dermaßen die Thür, daß das Neue unmöglich Raum gewinnen kann, hereinzutreten. Bei Ihnen aber stehen Thür und Fenster offen; der Frühling ist da, und wohin man schaut, blüht und duftet und singt und klingt es der Zukunft


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entgegen. Hier spricht man nicht von neuen, kommenden Idealen, sondern man hat sie bereits. Man schreibt, man zeichnet, man componirt, man arbeitet für sie, ohne viele Worte zu machen und sich etwas darauf einzubilden. Ich unterlasse es, Namen zu nennen, aber es sind deren genug, und ich kenne sie alle. Darum hat es mich und, ich kann sagen, mein Herz hierhergezogen. um diesen Bahnbrechern der Zukunft, welche Gegenwart zu werden hat, wenn auch nur von Weitem die Hände zu drücken und ihnen von dieser Stelle aus zu sagen, daß ich alter Mann die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe, denselben Zielen weihe, die auch die ihrigen sind.

- - -

Ich habe vorhin, als ich begann, eine vierzeilige Frage ausgesprochen, die ich jetzt wiederhole, um sie stärker zu betonen.

Kennst du den unergründlich
In dessen
Er heißt seit Anbeg
Und ich, mein Freund,

Meine Freundin, mein Freund, weißt Du, wer oder Was die Menschheitsfrage ist? Gott d.H. ist ihr Schöpfer ebenso wie der unsrige. Sie ist ebenso aus seinem Munde geflossen, wie die Menschheit selbst, wie auch wir. Es war im Paradiese. Suchen wir dieses Paradies ja nicht in Asien, Afrika, Europa, Amerika, sondern da oben in jenem Lande, zu dem wir heut emporzusteigen haben! Dort oben, im herrlichen Dschinnistan, wohnte Adam. Adam heißt »Mensch«. Das tiefer liegende Land von Ardistan mit den dortigen Sumpfpflanzen und Sumpffrüchten war ihm verboten. Er stieg trotzdem hinab und kostete von ihnen. Damit hatte er das (gestrichen: Recht) Bürgerrecht von Ardistan verloren. Gott kam, ihn zu rufen. Adam aber versteckte sich. »Adam, wo bist Du?« rief der Herr. d. i. Mensch, wo bist Du? Mit diesem göttlichen Worte entstand die Frage nach dem Menschen, die Frage nach dem Edelmenschen von Dschinnistan, die große, von Jahrhundert zu Jahrhundert immer höher wachsende Menschheitsfrage. Denn als Adam endlich antwortete und sich zeigte, stand er nicht mehr als Edelmensch von Dschinnistan vor dem Herrn und mußte hinab nach Ardistan, wo er gesündigt hatte. Er hatte durch diese Sünde das Leben verwirkt. Gott aber, der Allgütige, schenkte ihm dafür die Erlaubniß der Nachkommenschaft, in der er


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weiterleben durfte, um sich durch fortgesetzte innere Läuterung und Veredelung zu befähigen, nach Dschinnistan, dem Lande des Paradieses, zurückkehren zu dürfen.

Er ging nicht allein in die Verbannung. Die Menschheitsfrage begleitete ihn, um zu erinnern, zu erziehen. Seit jener Zeit erklang es überall, wo Menschen gegen Menschen sündigten: »Mensch, wo bist Du? Edelmenschenthum von Dschinnistan, wo bist Du hin? Komm wieder! Kehre zurück!« Dieser Klageruf erscholl in Ardistan zum ersten Male, als Kain seinen Bruder Abel erschlug. Von da an ist er stets und stets erklungen, so oft ein Mensch auf den andern Menschen, ein Volk auf das andere schlug. Auf allen Schlachtfeldern des Alterthums, des Mittelalters, der neuern Zeit schrie mit der Stimme des rauchenden Blutes derselbe Jammer zum Himmel empor. Wie die Menschheit durch alle Länder und alle Zeiten schritt, so schritt mit ihr die Sünde. Oft in finstrer, häßlicher, oft und meist aber in verlockender Gestalt. Sie vermehrte sich, wie die Menschheit sich vermehrte. Sie schwang sich auf Throne und überfiel ganze Völker.

der richtige und der falsche K May.

Kunst: Außen Tempel, innen
Herr, gieb mir Schwingen, aufzusteigen
Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag.

Fischers Erben.
Schriftsatz vom 25. Septbr. 09.
Fischers Brief.

Keine Unsittlichkeiten?
Nicht für die Jugend.

Schluß: Oesterreich


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[unvollständiges Konzeptblatt; oberer Rand abgerissen:]

3. V o r w o r t: Sie frugen brieflich bei mir an, ob ich wohl geneigt sei, hier, in Ihrem Kreise, einen Vortrag, eine Vorlesung zu halten. Ich ging darauf ein und bin gern, sehr gern gekommen, erstens weil ich Ihr schönes Oesterreich und Ihre prächtige Kaiserstadt samt Allen, die da wohnen, herzlich liebe und zweitens weil es niemals eine geeignetere Zeit geben kann, mein Thema zu behandeln, als grad die gegenwärtige. Wir stehen vor Ostern; mein Thema ist ein Osterthema, ein Auferstehungsthema. Wir stehen im Frühling; mein Thema ist ein Frühlingsthema. Der Frühling, in dem wir stehen, ist ein Doppelter. Erstens unser jährliches Neuerwachen der irdischen Natur. Dieser Frühling bricht bei Ihnen eher an als bei uns im Norden. Unsere Füße stecken noch in alten Filzschuhen, und wir wärmen uns noch an alten, zerbrochenen Ofenkacheln, während bei Ihnen schon Alles im Grünen, Blühen und Duften steht. Zweitens der Frühling des kürzlich begonnenen neuen Jahrhunderts, welches Aufgaben an uns stellt, wie noch niemals ein Jahrhundert sie an die Menschheit stellte. Auch da sind Sie uns voraus. Auch da sitzen wir noch am alten Kachelofen, die Füße in Filzschuhe gesteckt. Wir sprechen von neuen Idealen, von einer neuen Kunst, einer neuen Wissenschaft, vom Drama der Zukunft u.s.w. Sie aber sind schon eingetreten in diese neue Kunst; Sie arbeiten schon an ihr. Sie haben die Ideale, nach denen wir noch trachten, schon erfaßt. Darum komme ich so gern zu Ihnen!, um Ihnen die Hand zu drücken und Ihnen zu sagen, daß Ihre Aufgabe auch die meinige ist, der die kurze Zeit gehört, die ich Siebzigjähriger noch zu leben habe. Darum bringe ich grad dieses Thema zu Ihnen: »Empor in das Reich der Edelmenschen.«. Es ist das Hauptthema des ganzen, großen Menscheitslebens, jedes Einzellebens, auch meines Lebens und ebenso des Ihrigen. Ich konnte für Sie kein besseres, kein wichtigeres, kein höheres und edleres wählen.

Wie aber komme grad ich dazu, zu Ihnen über dieses Thema zu sprechen? Genau so, wie ich dazu gekommen bin!, über dieses Thema zu schreiben. Ich habe diese Aufwärtsgedanken in ein Buch niedergelegt und diesem Buche eine »Widmung« (2) und eine »Legitimation« (1) vorausgeschickt, die ich auch meinem heutigen


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Vortrage vorauszuschicken habe, um so viel wie möglich verstanden zu werden. Der Titel dieses Buches ist »Himmelsgedanken«. »Widmung« (2) und »Legitimation« (1) lauten:

(Rückseite des Konzeptblattes; auch hier fehlt der obere Rand und damit etwas Text:)

»Ich fragte zu den Sternen.«

Was meine ich mit diesem »hier«, mit diesem »Himmel«? Es giebt 3 Wege nach dort hinauf: die Wissenschaft, die Kunst, die Religion. Die W. bringt uns Erkenntniß. Die K. bringt uns Offenbarung. Die Religion bringt uns Erlösung. Die W. beschäftigt sich mit den irdischen Dingen, die R. mit den himmlischen. Die K. hat beide miteinander zu versöhnen, hat nachzuweisen, daß beide in derselben Richtung gehen und daß der Weg der Einen doch endlich in den Weg der Andern mündet. Für welche nun von diesen Dreien habe ich hier zu sprechen? Ich bin kein Gelehrter; die Wissenschaft fällt also für mich hier aus. Auch Theolog bin ich nicht, sondern Laie. Ich spreche darum auch nicht als Streiter für eine bestimmte Religionsform, für eine bestimmte Confession. Ich stehe also vor Ihnen nicht als Gelehrter und nicht als Theolog, sondern nur als &nbspM e n s c h, als Schriftsteller resp. Künstler, der, mögen sie noch so hoch stehen, nur &nbspr e i n &nbspm e n s c h l i c h e &nbspZiele verfolgt. Doch, um nicht den Anschein zu erwecken, ich sei glaubenslos oder ich halte aus irgend einem Grunde mit meinem Bekenntnisse hinter dem Berge, will ich es offen und ehrlich hier ablegen, und zwar in der Form, wie ich es in meinem Buche »Friede auf Erden« niedergelegt habe. Da lautet es:

»Tragt Euer Evangelium hinaus.«

Diese Wünsche sage ich als &nbspM e n s c h, als Schriftsteller, als Dichter, als Poet, der auf dem Wege der Kunst emporzusteigen hat nach den Zielen, die wir uns heute stecken. Was ist nun Kunst? Und was ist Poesie? Die Kunst dringt in das Innere der irdischen Wesen ein, um das, was himmlisch an und in ihnen ist, herauszuholen, zu offenbaren, damit zu verklären. Die Poesie?

»Das ist die Poesie, die aus dem Himmel stammt.«

Diese Formen sind 1000jährig, aber nicht ewig. Grad unsere Gegenwart ist daran, alte Formen zu zerbrechen und neue an ihre Stelle


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zu setzen. Die alten Formen sind uns alle bekannt. Welches wäre ihre schönste, liebste, höchste? Das Märchen.

Was ist das Märchen?
Märchen von Sitarah.

[fragmentarisches Konzeptblatt:]

greifen kann. Wie ich Hakawati geworden bin, das werde ich Ihnen erzählen. Vorher aber frage ich:

9. W a s &nbspi s t &nbspd a s &nbspM ä r c h e n ?

Irdische Wahrheiten und himmlische Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns von der Wissenschaft gebracht. Die himmlischen Wahrheiten kommen von oben. Sie steigen an den Strahlen der Sterne nieder,,,,

10. D a s &nbspM ä r c h e n &nbspv o n &nbspS i t a r a. Vorlesen »Leben & Streben«

»Babel und Bibel«.

11. W i e &nbspk a m &nbspi c h &nbspz u &nbspd i e s e m &nbspo r i e n t a l i s c h e n &nbspM ä r c h e n ?

Vater: Gut und streng. Lernen! Bücher lesen.

Mutter:

»Ich hab gefehlt, und du hast es getragen«.

Großmutter:

»Sie trug mich stets auf ihren Armen«.

»Großmutter, ich will Hakawati werden. Ich will von Dschinnistan erzählen; darum muß ich aus Ardistan hinaus!«

Siehe stellenweis vorlesen aus »Leben und Streben«.

12. S o &nbspb i n &nbspi c h &nbspH a k a w a t i &nbspg e w o r d e n. Und so muß man meine Bücher lesen (Seite 31).


Nur wenig lassen diese skizzenhaften Aufzeichnungen ahnen von der Wirkung des gesprochenen Wortes. Der anfängliche »Ruck der Enttäuschung«, den Sandner durchs Publikum gehen spürte, wandelte sich bald in stürmische Begeisterung, in einen »Jubel der Massen« (Ludwig


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Ullmann). Sandner erwähnt auch, daß Karl May am Schluß von Klara einen Kuß erhielt - eine kleine rührende Geste.

Einen Text Karl Mays gibt es noch, der bisher nicht erwähnt wurde: seine Berichts-Unterlage für die Presse. Hier hat er versucht, die Grundgedanken seines Vortrags knapp formuliert wiederzugeben:

Pressetext zu Mays Vortrag 1 (28k-GIF)


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Pressetext zu Mays Vortrag 2 (42k-GIF)


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Die Handschrift dieses Textes trägt den Bleistift-Vermerk: »50 St. 8º bis Sonnabend«. Falls damit Sonnabend, der 23. März, gemeint war, kam dieser Sonderdruck freilich zu spät. Denn die meisten Berichte erschienen bereits am Samstag. Und tatsächlich dürfte kaum einer der Journalisten diese Unterlage verwendet haben. Jedenfalls lassen die Kritiken fast durchweg eigenständige Berichterstattung erkennen.

»Kleine Österreichische Volkszeitung«, 23. 3. 1912

Im Sophiensaale gab's gestern einen interessanten Gast. Herr Karl May war nach Wien gekommen, um, einer Einladung des Akademischen Vereins folgend, vor den Wienern zu sprechen. Der Saal war ausverkauft bis auf den letzten Platz. Die Jugend hatte gestern das Vorrecht. Sie drängten sich auf der Tramway, sie stürmten die Garderobe, die Jungen, die den Phantasien dieses eigenartigen Schriftstellers seit Jahren Gefolgschaft leisten. Er tut Unrecht daran, den Vorwurf des »Jugendschriftstellers« von sich zu weisen, denn die Anziehungskraft seiner Werke auf die Jugend, das ist seine Stärke.

Karl May ist aber noch in anderer Hinsicht interessant. Er hat Prozesse gehabt und durchaus nicht Prozesse gewöhnlicher Art. Man hat ihm vorgeworfen, daß er ein echter Räuberhauptmann gewesen sei, daß er gar nicht die fremden Länder gesehen habe, die er schilderte. Außerdem aber warf man ihm noch Gesinnungswechsel und derlei vor.

In wehrhafter Weise hat sich Karl May gegen seine Feinde verteidigt. Sein Hauptruhm war: Das Eingestehen seiner Jugendverfehlungen und der Schmerzensschrei: »Ich komme aus der Tiefe, ich lasse mich aber nicht mehr in die Tiefe zurückstoßen.« - Man war also neugierig, das persönliche Erscheinen des Schriftstellers war der Erfolg des gestrigen Abends.

Wie er aussieht? Schmächtig, dürr, aber unglaublich zäh. Ein Mann, mittelgroß, mit leicht herabhängendem Schnurrbart, scharfem Profil und blitzenden, jungen Augen. Ein Siebziger, mit der Konstitution eines Vierzigers. Und Trotz gegen alles, was sich ihm gegenüberstellt, lebt in diesen Zügen. Er wird jubelnd begrüßt, und da er sich linkisch, unbeholfen, sichtlich überrascht bedankt, wird der Beifall zehnfach stärker. Die Jungen erhoben sich von den Sitzen und grüßten den Mann, der ihnen den Winnetou schenkte, das heißt, ihn wieder zum Leben erweckte.

Man erwartete Abenteuer, Reiseschilderungen, vehemente Angriffe, Karl May aber sprach über das Thema »Auf ins Reich der Edelmenschen«.

Das war eine Enttäuschung. Der alte Herr las, statt von den Reisen - die er ja wirklich gemacht hat - zu erzählen, unglaublich viele Gedichte aus Büchern vor, die dutzendweise herumlagen. Das ermüdete. Dann erzählte er Märchen und wurde erst interessant, als er die Figuren seines Vaters, seiner Mutter und seiner Großeltern erstehen ließ. Waren Weberleute und lehrten ihren Kindern das Hungern. Aus diesen Niederungen raffte sich der junge May empor und wurde endlich nach vielen Jahren Schriftsteller. Von Jerusalem beginnt er zu sprechen und vom See Genezareth und man lauscht gespannt und glaubt einen Blick in die Tiefe dieser sonderbaren Menschenseele zu schauen, aber im nächsten Moment wird er wieder Phantast und schwer verständlicher Philosoph.


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Einen Augenblick Pause. Karl May bittet um Entschuldigung, er ist krank. Er nimmt eine Pille und dann spricht er weiter. Er erzählt von seinem Doppelleben, von seinen Irrtümern, von seinem seelischen Streben und mit einemmal überrascht er mit einer Mitteilung. Alle seine Schriften sind nur symbolisch aufzufassen, sind nichts anderes als - Einleitungen. Jetzt erst, da die Anfangsstadien überwunden sind, will er zu arbeiten beginnen. Man bewundert die Jugendkraft dieses Alten, der seiner siebzig Jahre spottet und mit flammendem Auge von seiner Zukunft spricht.

Noch ein kleiner Streifblick auf seine Leiden - er war blind als Knabe, und lernte erst das Sehen - und dann wirft er sich auf die Männer, die ihm vorwarfen, Schundromane geschrieben zu haben. Alle anderen Verdächtigungen beleuchtet er nicht.

Nach zweieinhalb Stunden schloß Karl May, bejubelt und umringt von seinen Jüngern. Ihnen ist er eine Idealfigur und sie ließen sich's nicht nehmen, ihn zu feiern. Auch die Aelteren, Besonneneren klatschten ihm Beifall. Ihr Beifall galt nicht so sehr dem Schriftsteller einer toll aufschäumenden, wenig anspruchsvollen Jugendperiode, sondern dem Mann, der es verstanden hat, aus dem Straßenkot sich in die lichten Höhen einer immerhin respektablen Kunst der Schilderung zu schwingen.

»Neues Wiener Journal«, 23. 3. 1912

Einer recht weitläufigen Osterpredigt glich der Vortrag, den Karl May, der Lieblingserzähler unserer Jugend, gestern im bis zum letzten Plätzchen gefüllten Sophiensaal hielt. Es war der ganze Kreis seines Wiener Leserpublikums, der zur Vorlesung wie zu einer Sensation gekommen war, viel Jugend, viele Neugierige, die Enthüllungen über Mays Prozesse und Affären erwarteten. Ueber seine persönlichen Angelegenheiten kam der Vortragende aber erst am Schlusse seiner Ausführungen zu sprechen, über den Menschen May, den man, wie er sagte, zu einer Karikatur verzerrt hatte.

Ein Sturm von Beifall begrüßte den Schriftsteller schon bei seinem Erscheinen, und es vergingen Minuten, ehe er zu Wort kommen konnte. Die ältere Generation der Zuhörer interessierte zunächst die äußere Gestalt des Schriftstellers. Ein etwas hagerer Greis mit merkwürdig scharf geprägten Zügen und einem martialischen Schnurrbart, der ihm das Aussehen eines alten Haudegens gibt. Die Stimme klingt zuerst hell und durchdringend und ermattet dann während der weitläufigen Darlegungen, deren Zickzackgängen man nur schwer folgen kann. Man bekam eine Ueberfülle von Gleichnissen, Märchenmotiven, Zitaten und Gedichten. Am stärksten wirkte May, als er von seiner eigenen entbehrungsvollen Jugend und von seinem Elternhause sprach, und stürmischer Beifall unterbrach ihn, als er ein seiner Mutter gewidmetes Gedicht, das voll von ergreifenden Tönen war, vorlas.

Einleitend erzählt May, daß er sich nur schwer entschließen konnte, nach Wien zu kommen. Er sei ein Genesener, der wochenlang mit dem Tode gekämpft. Was er geschaffen, sind trotz seiner siebzig Jahre nur Skizzen und Anfänge, die er jetzt erst zusammenfassen wolle. Ganz besonders hat ihn die Wienerstadt angelockt, wo jetzt das Regen eines geistigen Frühlings zu spüren sei. Ueber den Frühling wolle er auch sprechen, über Tod und Auferstehung, über Leiden und Erlösung wie über ein großes Menschheitsthema. »Bin ich aber hiezu der Richtige und Berufene?« fügte der Vortragende fragend hinzu. Karl May heißen viele, und es gibt deren echte und unechte, wahre und falsche, eine Karikatur dieses Namens, die der Haß geschaffen und die ins Strafgericht gehöre. Hier aber spreche einer mit seiner Seele, die voll Leid, Liebe und


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Streben ist. Himmels- und Erdengedanken wolle er verkünden, Träume, wie er sie auf dem Wege von Jerusalem nach Bethlehem geträumt.

Der Vortragende bezeichnet die drei Wege zum Edelmenschentum: die Wissenschaft, die Kunst und die Religion, und knüpfte dann an ein arabisches Märchen vom Stern Sitara an, der die Erde bedeute. Dieser hat nur zwei Weltteile: Ardistan, das sumpfige, tiefliegende Land der Gewaltmenschen, die ihren Nächsten nur die Teufel sein wollen, und das hochgelegene Dschinnistan mit einer Geisterschmiede, in welcher die Menschen von den Schlacken befreit werden. Hier ist das Paradies, welches Adam verlor und die Menschen durch Liebe und Leid zurückgewinnen müssen. Wenn Gott im Paradiese rief: »Adam, wo bist du«, so hat das jetzt zu heißen: »Edelmensch, wo bist du?« Wir haben mit unserer bisherigen Entwicklung nur Ardistan gekannt. Dschinnistan aber ist das Gebiet, das es zu erobern gilt. Wie alles Leid durch einen einzigen Menschen auf die Erde kam, so wird es auch durch einen einzigen überwunden werden, wenn alle Menschen in brüderlicher Harmonie einem einzigen Edelmenschen gleichen werden.

May schloß mit einer autobiographischen Schilderung und erzählte von seinen Eltern, die arme Webersleute waren und in ihrem Elend doch die Liebe kannten. Von der Großmutter habe er das Märchenerzählen gelernt, seine Lieblingsform, zu den Menschen zu sprechen. Die Greisin besaß ein altes arabisches Märchenbuch, aus dem sie dem Kinde vorlas, und er selbst sei ein richtiger Hakawei geworden, wie der Märchenerzähler vom arabischen Volksmund genannt wird. Man habe seine Schriften als Schund bezeichnet. Aber es waren nur die Verleger, die 1500 Seiten seiner dreißigbändigen Schriften gefälscht und in Sensationsschund umgewandelt haben.

Mit einem Zitat aus Berta von Suttners »Der Menschheit Hochgedanken«, die einen Beweis von dem Geistesfrühling Oesterreichs geben, schloß Karl May seine etwas zusammenhanglosen Erörterungen. Die Jugend drängte sich an ihn heran und bereitete dem greisen Schriftsteller langanhaltende Ovationen.

»Fremdenblatt«, Wien, 23. 3. 1912

Der 70jährige Karl M a y wurde gestern im Sofiensaal von einer Publikumsmenge, die Kopf an Kopf gedrängt war, mit einem Enthusiasmus begrüßt, wie sonst kaum ein beliebter Komiker bei der zweihundertsten Aufführung einer Operette. Karl May hatte vom »Akademischen Verband für Literatur und Musik« eingeladen, das Thema »Empor ins Reich des Edelmenschen« gewählt. Es ist bekannt, daß man es Karl May sehr verübelt hat, daß seine Jugend- und Reisegeschichten nicht tatsächlich von ihm erlebt wurden. Der Vorwurf ist läppisch. Aber wem das Indianer-System zum Zwecke der Unterhaltung und Phantasieanregung für jugendliche Gehirne überhaupt unzweckmäßig erscheint, den wird es noch mißtrauischer gemacht haben, daß sich der sächsische Schriftsteller, bevor noch die absolute Abenteuerlosigkeit seines Lebens bekannt gemacht wurde, allzuoft in Wildwestkostümen photographieren ließ, wohl auch jugendlichen Verehrern Narben von Wunden zeigte, die ihm angeblich Winnetou oder ein Grizzlybär beigebracht hatten. Von einer weitaus unsympathischeren Seite noch zeigte sich Karl May gestern. Die Pose des Menschheitsbefreiers bei dem Manne, der ja erwiesenermaßen nicht nur Reiseschilderungen, sondern auch aufgelegte Schundromane geschrieben hat, dieses ewige Zitieren eigener Werke, nicht etwa der amüsanten Reiseszenen, sondern solcher plattester Art, dieses Vorlesen eigener Verse,


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die den Idealen sentimentaler Köchinnen entsprechen mögen, dieser immer wiederkehrende versteckte Hinweis darauf, daß der Vortragende selbst auf dem einzig richtigen Wege zum Edelmenschen sei, wirkte bald nicht nur peinlich, sondern tödlich langweilig. - Ein Wort noch über den »Akademischen Verband«. Eine Vereinigung junger Studenten von so hohen intellektuellen Zielen hätte Karl May natürlich niemals einladen dürfen. Die Begeisterung, die er bei seinem Publikum - offensichtlich keines, das den Bestrebungen des »Akademischen Verbandes« sonst nahesteht - weckte, obwohl die Plattheit dieses Vortrages offen am Tage lag, dies sei der Leitung des Verbandes eine weise Lehre. Es gibt weltdurchwandernde Künstler, Johannes V. Jensen, Ewers, Hermann Hesse, Finckh, um nur einige zu nennen. Und es wäre vielleicht eine würdigere Aufgabe für einen »Akademischen Verband«, denen die mit kritikloser Emphase einem Talmikünstler anhängen, zu erweisen, daß die Kunst nicht weniger kurzweilig zu sein vermag.

»Neue Freie Presse«, Wien, 23. 3. 1912

Interessant war heute abends vor allem das Publikum dieses Vortragsabends. Kleinbürgerliche und vorstädtische Frauen und Männer, kleine Angestellte, halbwüchsige Jünglinge und Mädchen, selbst Knaben. Jeder von ihnen ist gewiß in einer Leihbibliothek einer Volksbücherei abonniert und hat sämtliche 60 Bände der gesammelten Werke Karl Mays gelesen, die phantastischen Reiseerzählungen und Romane, deren Echtheit man so oft angezweifelt und die sogar der Gegenstand langer erbitterter Prozesse gewesen sind. Ob Karl May die merkwürdigen Reisen wirklich getan hat oder nicht, ist wohl egal. In der Phantasie seines Publikums weiß er jedenfalls Bescheid, und er versteht seine Leser zu packen. Das sieht man an diesem dicht gefüllten Sophiensaal, an diesen erwartungsvollen Augen und Mienen, die auf ihren Lieblingserzähler warten. Dazwischen verstreut einzelne Damen und Herren, die sicherlich keine May-Enthusiasten sind und die nur der Kuriosität halber hergekommen sind. Dann erscheint Karl May auf dem Podium. Ein echter großer Dichter kann nicht stürmischer, enthusiastischer begrüßt werden. May ist ein alter Herr von siebzig Jahren; eine hagere, altmodische Erscheinung, mit einem halb bureaukratischen, halb pädagogischen Kopfe, den kurze weiße Locken umgeben. Vor die vergnügten blauen Augen setzt er abwechselnd einen Hornzwicker oder eine Brille. Sein Vortrag, der den pathetischen Titel »Auf ins Reich der Edelmenschen« führt, ist nun freilich für solche Zuhörer, die keine enthusiastischen May-Leser sind, eine arge Geduldprobe. May legt in ziemlich formloser und sprunghafter Weise seine Weltanschauung dar. Er habe immer nach oben gestrebt, in ein freieres, geistiges Reich von Edelmenschen. Er bezeichnet sich abwechselnd als Seele, Wassertropfen und mit Vorliebe als geistigen seelischen Aviatiker und greift öfters unter dem Tisch nach einem der zahlreichen Bände seiner gesammelten Werke, um daraus mehr oder minder philosophische Betrachtungen, Märchen, Gleichnisse und Gedichte vorzulesen. Das Merkwürdigste an seinen Ausführungen ist der Ernst, die pathetische echte Begeisterung, die etwas von einer religiösen Begeisterung hat. Auch über seine schriftstellerische Tätigkeit und seine Prozesse verbreitete er sich mit einem Selbstbewußtsein, das aber durch die naive Art eher rührend wirkt. Das Publikum folgte dem mehr als zwei Stunden dauernden Vortrag mit kaum ermüdetem Enthusiasmus, der sich am Schlusse wieder heftig entlud. Der Karl May-Abend war vom Akademischen Verband für Literatur und Musik veranstaltet worden.


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»Neues Wiener Tagblatt«, 23. 3. 1912

Karl M a y erschien gestern abend als Gast des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik im Sophiensaal. Das Publikum, das den Saal in allen seinen Räumen dicht füllte und das vielleicht nicht einmal ausschließlich aus den enthusiasmierten Lesern seiner Werke bestand, begrüßte den Verfasser des »Old Shatterhand«, dieser Figur, die überall populär ist, wo es deutsche Knaben gibt, mit außerordentlichem Beifall. Karl May sieht trotz seiner siebzig Jahre rüstig aus. Eine schlanke, ungebeugte Gestalt, das bleiche Gesicht mit dem buschigen grauen Schnurrbart ausdrucksvoll und interessant, das noch ziemlich dichte Haupthaar grau meliert. Auch sein Organ hat eine überraschende Kraft, es beherrschte den weiten Saal und ließ während des Vortrages, der mehr als zwei Stunden dauerte, keine Ermüdung spüren. Der Redner, der das Publikum als seine lieben Leser und Leserinnen ansprach, erklärte in der Einleitung seines Vortrages, daß er sein Thema: »Empor zum Edelmenschen!« nicht als Philosoph, auch nicht als Künstler, sondern bloß vom rein menschlichen Standpunkte behandeln wollte. Der Vortrag war denn auch wesentlich eine Konfession, er brachte intime Geständnisse des Schriftstellers. »Ich bin eine arme geplagte Menschenseele, die aus der tiefsten Tiefe sich emporrang« - das war der Kernsatz seiner Geständnisse, den der Vortragende durch ein tief empfundenes Gedicht an seine Großmutter, die seine Kindheit mit hingebungsvoller Liebe beschirmt hatte, illustrierte. Dieses Gedicht ist der schmerzliche Aufschrei eines Büßers, der zerknirscht bekennt, daß er gefehlt habe, und die teure Tote anfleht, daß sie ihm Verzeihung gewähre. Karl May führt im Anschluß daran aus, daß die innerliche Läuterung des Einzelmenschen ebenso wie die der Menschheit dadurch erfolgt, daß die Selbstsucht getilgt wird, daß der Altruismus den gewaltsamen Egoismus verscheucht. Hat man diesen Prozeß der Selbstbefreiung durchgeführt, dann besitzt man jenen geistigen Aeroplan, auf dem man aus den dumpfen Niederungen, wo die Gewaltmenschen hausen, in das lichte Reich des Edelmenschen fliegt. Das ist auch der tiefe Sinn jeder Religion, die der erlösungsbedürftigen Menschheit die Erlösung ankündigt. Das Paradies wird uns demnach dann erst zuteil werden, wenn die ganze Menschheit in brüderlicher Harmonie einem einzigen großen Edelmenschen gleichen wird. Der Redner zeigte durch Zitate aus seinen Werken, daß ihm als Schriftsteller diese ethische Entwicklungsidee stets vorgeschwebt habe. Er habe allerdings auch als Schriftsteller gefehlt, aber daran sei vorwiegend der erste Verleger seiner Bücher schuld, der, um die große Masse anzulocken, den Text seiner Manuskripte umgestaltete und vergröberte, eine Tatsache, die nunmehr gerichtlich erwiesen worden sei. Im übrigen wären alle seine bisherigen Werke bloß Vorstudien gewesen. Jetzt erst werde er daran gehen, sein eigentliches tiefstes Lebenswerk zu schaffen.

Das Publikum folgte den Ausführungen des Redners mit lebhaftem Interesse und dankte ihm zum Schluß durch reichen Beifall.

»Wiener Abendpost«, 23. 3.1912

Der dichtgefüllte Sophien-Saal, ein durchaus »volkstümliches« Auditorium, viel Jugend, noch mehr Frauen und Mädchen, Verteilung von Propagandaschriften, frenetisches Beifallsklatschen, all das zusammen gab dem gestrigen vom »Akademischen Verband für Literatur und Musik« veranstalteten Vortragsabend die Signatur. Alleiniger Akteur war Karl &nbspM a y, der sechzigbändige Jugenderzähler. Ein unansehnliches,


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mageres Männchen, dessen graue Haare im starken Gegensatze zu der theatralischen Pose stehen, die er einnimmt. Daß er einleitend den Österreichern und im besonderen den Wienerinnen und Wienern in Wort und Gebärde lange und tiefe Komplimente machte, mag wohl die Folge seiner Überraschung über den Empfang gewesen sein, der ihm zuteil wurde. Denn es wird kaum einen heimischen Dichter und Schriftsteller der Gegenwart geben, der sich einer solch enthusiastischen Begrüßung rühmen könnte. Für den ernsten, wirkliche Literatur erwartenden Teil der Zuhörerschaft, der allerdings in starker Minorität war, bildete der Karl May von gestern eine große Enttäuschung. May ist es bekanntlich gelungen, die Jugend mit seinen phantastischen Erzählungen zu gewinnen. Er strebt aber höher, er will gar nicht die Jugend begeistern, er lechzt nach der Begeisterung der Erwachsenen, der ganzen Menschheit, und der Kontrast zwischen seinem hohen Ziel und den schwachen Kräften erweckt Mitleid. »Auf in das Reich der Edelmenschen« lautete das Thema, dessen Ausführung ein Sammelsurium von Mystizismus, religiösen Gedanken, allgemeiner Weltanschauung und Brocken selbstfabrizierter Poesie bildete. May macht auch seine Reverenz vor Goethe und Schiller. Sie waren aber nur langsam aufsteigende Ballons, er, May, ist ein Aeroplan, der fliegt, rasch fliegt, bis zur Sonne fliegt und die Menschen zu Edelmenschen machen wird. Zwei Stunden sprach May in dieser Weise fort, führte seine Zuhörer in seine »Geisterschmiede«, ließ sie zweimal all ihre Qualen erdulden, führte sie von dort weiter an den »See der Tränen« und sogar in das Paradies, aber nicht in das biblische, sondern in ein seiner eigenen Phantasie entsprungenes. Spannungsvoll wartete das Auditorium auf die Mitteilung des Mayschen Rezeptes, wie man »Edelmensch« wird. Sie blieb aus. Dagegen machte May zur allgemeinen Verwunderung die überraschende Mitteilung, daß alles, was er bisher geschrieben, nur eine »Einleitung« sei zu einem weiteren Bande seiner Werke, den er erst noch schreiben wolle und aus dem die Menschheit erfahren solle, wie er sich die »Edelmenschen« vorstelle. Am meisten wundern dürfte sich Frau Berta von Suttner, wenn sie erfährt, daß Karl May in ihrem jüngsten Werke »Der Menschheit Hochgedanken« die Entdeckung gemacht hat, daß er und sie ganz die gleichen Gedanken haben. Der Abend hinterließ nur ein Gefühl der Verwunderung darüber, daß ein Akademischer Verband für Literatur und Musik einen solchen Vortrag veranstalten konnte. b.

»Illustriertes Wiener Extrablatt«, 23. 3. 1912

Es ist Fasten, die Zeit der Buße und der Abkehr von Fleisch und Sünde. Der Sofiensaal ist verpönt, es müßte denn sein, daß er allen eitlen Tand aus seinen Räumen verbannte und eine ernste Maske aufsetzte. Er hat es gestern versucht, doch ist es ihm trotz heißesten Mühens nicht gelungen, den Karneval ganz vergessen zu machen. Er war vor allem dicht gefüllt, genau so, wie bei der Faschingdienstagredoute. Doch war diesmal alles dunkel gekleidet und saß züchtiglich auf schön geordneten Sesseln. Und schwarzgekleidete Herren gingen von Platz zu Platz und verteilten auf weißem Papier gedruckte Schriften. Es waren das aber keine frommen Traktätchen, sondern Aufforderungen zum Beitritt seitens des Akademischen Vereines für Literatur und Musik, der den Schriftsteller Karl M a y zu einem Vortrag eingeladen hatte. In dem Aufruf, der den Besuchern gereicht wurde, ist von der »künstlerischen Berechtigung und Notwendigkeit« der vom Verein verfolgten Pläne die Rede. Ob es nun künstlerisch berechtigt und notwendig war, Karl May nach Wien kommen zu lassen, werden


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die Herren vom Akademischen Verband selbst beurteilen können. Eines steht aber fest: Sie haben auf das ganz und gar unliterarische Sensationsbedürfnis der großen Masse spekuliert und so den Konflikt zwischen ihrer »künstlerischen und kaufmännischen Gewissenhaftigkeit«, von der sie in dem Aufrufe sprechen, sehr zu Gunsten der letzteren entschieden. Der Sofiensaal war, wie gesagt, bumvoll, doch die Sensation blieb aus. Auf dem Podium erschien ein alter, müder Herr mit den strengen Gesichtszügen eines von bösen Jungen heimgesuchten Lehrers, und erzählte Dinge, die man von ihm nicht hören wollte, und verschwieg wieder andere, die man von ihm erwartete. Das Thema lautete: »Empor ins Reich der Edelmenschen«, und die meisten der jugendlichen Hörer und Hörerinnen mochten wohl geglaubt haben, daß dieser Weg durch Wüste und Prairie, durch Abenteuer und Gefahren gehen werde. Karl May legte aber ein ziemlich mystisches und - mysteriöses Glaubensbekenntnis ab und belegte es durch Zitate aus seinen Werken, und zwar aus jenen, die man nicht kennt, aus seinen Gedichten und philosophischen Abhandlungen. Zwischendurch hielt er Plaidoyers - für sich, für die Heiden, für die Juden und für die Christen. Und am Ende kam ein Preislied auf Wien, das ihm eine so glänzende Aufnahme bereitet hat. Emil Verhaeren, der große Dichter, besuchte gleichfalls vor einiger Zeit unsere Stadt. Und die Veranstalter taten wohl daran, einen kleinen Saal zu wählen, um wenigstens diesen mit einer treuen gläubigen Verhaeren-Gemeinde füllen zu können. Die Gemeinde Karl Mays übersteigt den Fassungsraum des Sofiensaales, sie übersteigt aber auch die Fassungskraft aller jener, die schließlich und endlich doch nicht daran vergessen können, daß in Wien Grillparzer gelebt hat und Beethoven gestorben ist.

»Arbeiter-Zeitung«, Wien, 24. 3.1912

Der Akademische Verband hat Karl May, dessen Reiseromane der Jugend an Herz und Hirn gehen, zu einer Vorlesung eingeladen. Der Sophiensaal war gestern von erwartungsvollen Hörern, meist jugendlichen Alters, dicht gefüllt. May, ein Siebziger, gleicht in Haltung und Aussehen einem pensionierten Oberst in Zivil. (Gabillon pflegte solche und ähnliche Masken darzustellen). Nun, Herr Karl May schauspielerte nicht gerade, aber es würde nicht leicht sein, bei ihm das Echte vom Gemachten zu trennen. May hat sich ja als Schriftsteller in eine Rolle hineingelebt, die selbst von ihm und seinem Sein kaum zu trennen ist. Sein Vortrag, der geschlagene zwei Stunden dauerte, galt der Erziehung und Selbsterziehung zum »Edelmenschen«, was das sei, davon wußte der Vortragende nur eine sehr nebelhafte, doch jedenfalls hochmoralische und sittlich gute Vorstellung zu geben, übrigens war dies auch Nebensache, wenn auch nicht für ihn. Wirkliches Interesse erweckte er, wenn er von seinen persönlichen Schicksalen sprach, nicht von Reiseabenteuern, sondern von der wirklich harten Not des Lebens. Da fand er manchen echten ergreifenden Ton, sogar in einzelnen Gedichten, die er in seiner naiven Art eines Autodidakten vorlas. Aber wie gesagt, Einzelnes ist wirklich hübsch, wie die rührenden Zeilen, die er seiner Mutter widmet. Leider verlor sich May dann immer wieder in philosophisch-ethische Betrachtungen, die nichts zeigen, als ein gutes Herz, was ja gewiß auch etwas ist. Die Jugend, die anscheinend glücklich war, Old Shatterhand leibhaftig vor sich zu sehen, wenn auch anders, als sie ihn erträumt hatte, harrte tapfer bis zum Schlusse aus und überschüttete dann den Redner mit Beifall und mit Bitten um Autogramme.


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»Deutsches Volksblatt«, Wien, 23. 3.1912

Gestern abends fand im Sophiensaale ein von über 3000 Personen guter und bester Gesellschaft besuchter Karl May-Vortragsabend statt. Der Saal war bis auf das letzte Plätzchen gefüllt; am Kopfende war eine erhöhte Estrade angebracht, auf der ein mit rotem Tuch ausgeschlagener Lesetisch ruhte, zu seinen beiden Seiten Palmen. Lautlos still war es in der Zuhörerschaft, als der kleine graue Greis in strammer Haltung am Platze erschien. Von Beifall empfangen, gab der fast Siebzigjährige in runden Zügen ein Bild seines schrifttümlichen Schaffens in etwas zu sächsischer Mundart geneigter Sprache. Es war mehr ein lebhaft gemaltes Bild von seinem Streben zum Edelmenschentum und Reinseelischen. Vorerst legitimierte er sich als Literat und Poet. Vorlesungen aus seinen eigenen Werken bewiesen besser als die dürren Worte der nüchternen Prosa, was er unter Dichtung und Schrifttum verstehe. Seine Reiseerzählungen seien ihm nicht gut bekommen, aber er werde doch recht bekommen, da alles, was er schrieb, nur Gleichnisse seien. In verschleiertem Tone bekannte er sich als begeisterter Anhänger des - Märchens, des Edelmärchens, das die Wahrheit, die man sonst »hinauszuschmeißen« pflege, in anziehendere Kleidung bringe. Er verglich die Menschenseele mit einem Aeroplan, der bis Außersehweite sause, der Wolken und Sterne hinter sich lasse. Und solche Edelseelen seien unsere Dichterfürsten Goethe und Schiller gewesen. Ein Märchen von der Geisterschmiede führte real-drastisch vor, was sonst die Menschen bespötteln und belächeln. Die großen Menschheitsfragen wolle er vom Edelmenschentum gelöst wissen, das frei von allen menschlichen Schwächen Gottes Ebenbild darstelle. Die Menschheitsfrage führe bis zum Paradiese zurück, da Adam das Edelgeläuterte abstreifte und alle die Fehler unseres »Allzumenschlichen« annahm. Was Adam damals verlor, das ewige Leben, es sollte durch die Fort- und Emporpflanzung wiedergewonnen werden, bis der letzte Mensch in die lichten Himmelshöhen hinaufwandle.

Dann gab er einen Umriß, ein Rahmenbild seiner Persönlichkeit, die, emporgestiegen aus tiefster Not, Kummer und Sorge, aber, viel befeindet, noch in der Geisterschmiede, die ihm die letzten Schlacken nehmen müsse, verweile. Er hoffe, noch einmal in seinem lieben Wien ein Bild seines Lebens zu geben. Liebevoll zeichnete er Eltern und Voreltern, die in Verarmung als Weber gelebt hatten. Dann erklärte er noch einige der Gestalten seiner Werke, die er wiederholt mit reifem Ernste vorlas. Tiefempfundene Gedichte über Hohes und Höchstes würzten den Vortrag. Er kam auch auf einige der gegen ihn geschleuderten Vorwürfe zu sprechen, besonders nachdrücklich wies er die Verleumdung der »Schundromane« zurück, wobei er auf die bei seinen Prozessen zutage getretenen Verfälschungen seiner Werke durch die Verleger hinwies. Offen sagte er, daß er aus Not und Zeitmangel nicht so gute Werke geschrieben habe, wie er jetzt könnte. Gott möge ihm nur jetzt Zeit geben, er fühle sich stark genug, Großes und Edles zu schaffen. Denn was er geschrieben, seien bis jetzt alles nur Vorstudien und Skizzen, die außerdem noch umgefälscht seien. Jene Geisterschmiede hätten alle unsere Erlöser durchwandert. Leider machte May dem Judentum, das sehr stark vertreten war, ein Kompliment, indem er darauf hinwies, daß dem Judentum die größte Sehnsucht nach Erlösung innewohnte. Dann stellte er seinen Standpunkt gegenüber dem Christentum fest, um die Hochgedanken der Menschheit zu preisen, die eine in Wien lebende Frau in ihrem Buche so ausgezeichnet vertreten hätte. Zum Schlusse pries er Oesterreich, in dem er seine Ziele der Edelseele verwirklicht sähe, und wünschte den österreichischen Künstlern und Dichtern, in denen


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der Menschheitsgedanke gelebt und gelitten, jenen höchsten Erfolg, der ihrem Streben gebühre. Mit den Worten: »Das walte Gott, Amen!« schloß der Literat die Rede.

Beifallsgeklatsche umtoste, Anhänger umringten ihn und nur mit schwerer Mühe konnte May zum Ausgange gelangen. Inmitten des huldigenden Gedränges rief er emphatisch aus: »Bleiben Sie mir treu!« A. O. v. T.

»Wiener Montags-Journal«, 25. 3. 1912

Ueber Einladung des Akademischen Verbandes für Literatur und Kunst erschien vergangenen Freitag der vielgeschmähte und verfolgte, nach jahrelangem Kampfe aber endlich rehabilitierte Schriftsteller Karl M a y im Sophiensaale am Vorlesepult. Sein Thema lautete: »Empor zum Edelmenschen!« und brachte manches Interessante aus dem Innenleben des heute Siebzigjährigen, der alles bisher Geschaffene lediglich als Vorstudien und Skizzen zu seinem erst später zu schaffenden Lebenswerk bezeichnete. Er schreibe am liebsten in Form von Gleichnissen und Märchen. Eine Reihe tiefempfundener Gedichte war in den Vortrag eingestreut, unter welchen ganz besonders das der Großmutter des Autors gewidmete ansprach und durch lebhaften Beifall quittiert wurde. Der Tenor des Ganzen klang dahin aus, daß der Edelmensch nur nach vollkommener Läuterung von allen irdischen Schlacken und nach Ueberwindung auch des letzten Restchens von Selbstsucht entstehen, das Paradies uns erst dann wieder zu Teil werden kann, wenn die gesamte Menschheit gewissermaßen nur einen einzigen Edelmenschen bilden wird. Karl May ist erst vor kurzem von schwerer Krankheit genesen und wurde ungefähr in der Mitte seines Vortrages von Schwäche befallen, welche jedoch erfreulicherweise ebenso rasch, als sie gekommen, wieder verschwand. Mit einem herzlichen Lobe Oesterreichs schloß Karl May nach zweieinviertelstündiger Dauer seine interessanten, stellenweise tief ergreifenden Ausführungen und wurde nun von dem den Riesensaal bis auf das letzte Plätzchen füllenden Auditorium stürmisch akklamiert.

»Die Zeit«, Wien, 23. 3.1912

Karl M a y, das Phänomen aller Jugendschriftsteller, der unter jung und alt Bewunderer zählt, war der Einladung des Akademischen Vereins für Literatur und Musik gefolgt und hielt gestern abends einen Vortrag betitelt »Hinauf zum Edelmenschen«. An der Hand dieses Themas, das er durch ein Märchen auf dem Stern Cithara illustrierte, schilderte er einige Phasen seines Lebens und verteidigte sich gegen die Angriffe, deren Opfer er die letzten zehn Jahre war. Auf diesem Stern gibt es das Tiefland der Bösewichter und das Hochland der Edelmenschen. Der Uebergang führt an der Geisterschmiede vorbei, wo die Seelen unter starken Qualen zu Edelgeistern umgeschmiedet werden. Unter der Geisterschmiede ist die harte Schule des Lebens und seine eigenen bitteren Kämpfe zu verstehen. Dies Edelmärchen wendet der Poet auf sein eigenes Erdenwallen und die gerichtlichen Prozesse, die er führen mußte, an. Er schildert das Elend seines Vaterhauses, der Hütte eines Webers im Erzgebirge, der von zwei Talern die Woche neun Personen erhalten soll. Der Vater ist eine Doppelnatur, bald von großer Güte, bald jähzornig ohne Selbstbeherrschung. Die Mutter ist eine stille, ideale Frau, die für andere sorgt, ihr eigenes Leid aber ver-


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schwiegen trägt. Der blinde Knabe sitzt auf dem Schoß der Großmutter, die ihm aus einem alten Märchenbuch arabische Märchen erzählt. Er sieht keine körperlichen Dinge und Menschen, aber aus der entrollten Fabelwelt formt er sich eine Vorstellung von den Seelen, die zu ihm sprechen. Später wird das Augenübel des Knaben geheilt, und nun sitzt er mit seinen Kameraden um die Abendstunde vor dem Kirchtor und gibt ihnen nun seinerseits mit flammender Phantasie die Märchen zum besten, so daß man ihn im Dorfe den kleinen arabischen Märchenerzähler nennt. Wiederholt kommt dann der Vortragende auf die Anwürfe zurück, die er in der Oeffentlichkeit von seinen Feinden erdulden muß. Ohne zu bestreiten, daß er ein Sünder sei wie eben alle Menschen, weist er doch die Beschuldigung, Schundromane geschrieben zu haben, energisch zurück. Sein Verleger habe selbst zugegeben, daß seine Bücher von fremder Hand umgearbeitet wurden, allerdings nur im Umfang von fünf Prozent. Das mache aber bei 30.000 enggeschriebenen Seiten schon 1500 gefälschte Seiten aus. Der Verleger sei auch in den unteren Instanzen zu einer Entschädigung im Betrage von 60.000 Mark verurteilt worden. Karl May ist ein Siebzigjähriger, der für sein Alter und trotz einer eben bestandenen Krankheit außerordentlich rüstig ist und sehr gut spricht. Der große Sophiensaal war ganz angefüllt, zumeist von Lesern und Bewunderern, die ihn mit großem Applaus empfingen und auch am Schluß mit Beifall überschütteten.

Eine ungewöhnlich breite Resonanz fand die Nachricht vom Tode Karl Mays. In den Nachrufen gedachte die Presse auch immer wieder des Vortrags. Das »Neue Wiener Tagblatt« vom 2. 4. 1912 hielt Rückschau auf den 22. März und berichtete von einer Umfrage, die der »Akademische Verband« offenbar vor dem Besuch Karl Mays gehalten hat:

Wir haben in unserm gestrigen Abendblatt gemeldet, daß Karl M a y vorigen Samstag in Radebeul bei Dresden nach kurzer Krankheit verschieden ist. Die Nachricht hat hier in weiten Kreisen eine um so tiefere Bewegung hervorgerufen, weil der berühmte Jugendschriftsteller erst vor zwei Wochen im Sophiensaale erschienen war und vor einem tausendköpfigen Publikum, das ihn stürmisch akklamierte, einen Vortrag hielt, der durch die intimen Geständnisse des Redners, die aus bitteren Seelenqualen entsprangen, eine ergreifende Wirkung übte. Die jungen Herren vom Akademischen Verbande waren es bekanntlich, die warmherzig den greisen siebzigjährigen Schriftsteller hieher an den Vortragstisch beriefen, und so mit dem schönen Gefühl und tapferen Sinn der Jugend das Ihrige dazu beitrugen, daß dem Vielgeschmähten doch noch eine letzte große Freude in seinem Dasein bereitet wurde. Von den Vielen, die damals den Sophiensaal füllten, ahnte wohl niemand, was dieser sein Wiener Besuch ihm war, und daß er in Wahrheit ein gefährliches Opfer gebracht hatte, nur um hier zu erscheinen. Er hatte kurz vorher eine Lungenentzündung überstanden, und zu Hause hatte man ihn angefleht, sich den Aufregungen und Anstrengungen des Vortrages nicht auszusetzen. Aber er ließ sich nicht abhalten, sondern legte allen, die ihm zusprachen, mit Entschiedenheit die Gründe dar, die ihn dazu trieben, der ihn so erfreuenden Einladung nicht auszuweichen. Man hatte ihn in Acht und Bann getan, als Menschen, und zuletzt auch als Schriftsteller, und dies erklärt, warum er, trotzdem er sich körperlich gebrochen fühlte, mit fieberhafter Hast die ihm gebotene Gelegen-


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heit ergriff, in Wien vor einem großen Publikum zu sprechen. »Vor hundert Gerichte,« so erklärte er, »hat man mich in meinen alten Tagen geschleppt, und wenn man mir in Wien jetzt zeigt, daß man doch Vertrauen zu mir hat und mich nicht für unehrlich hält, wie kann ich da fernbleiben? Ich muß beweisen, daß ich nichts zu scheuen und nichts gutzumachen habe. Ich habe gutgemacht.« Und wie er nun hier auf dem Podium im Sophiensaale erschien, totenbleich und fassungslos, und auf einmal den stürmischen Beifall vernahm, der ihm galt, ging ein freudiges Lächeln über sein Gesicht; und er konnte nachher auch gar nicht aufhören, von dem Glücksgefühl zu sprechen, mit dem ihn dieser Augenblick erfüllte, da er sah, daß man ihn, der sich in so schweren Leiden aus einem Abgrund emporgerungen, seine Jugend nicht entgelten ließ, sondern den in Arbeit alt gewordenen phantasievollen Erzähler in ihm ehrte.

»Als ich ein kleiner Knabe war,« so sagte er damals im Vortrag, »war ich blind; erst später habe ich das Augenlicht wieder gewonnen. Damals als Blinder wurde ich von meiner alten Großmutter betreut, sie besaß ein altes arabisches Märchenbuch, und aus diesem mußte sie mir vorlesen. Wenn ich dann des Abends an dem großen Kirchentor saß, versammelte sich um mich die halbe Kindergemeinde, und ich begann ihnen die Geschichten aus dem alten Märchenbuche der Großmutter wieder zu erzählen. Darum nannten mich die Leute den kleinen Märchenerzähler - und mir war es recht; und heute sagt es mir, wie eigentlich die phantastische Welt, die ich sah, und die Freude am Erzählen in mir entstand.« Dann sprach er über das Wesen des Märchens. »Gott schickte einst« - so sagte er nach den vom »Forum« veröffentlichten Aufzeichnungen - »die Wahrheit auf die Erde, allein die Leute trauten ihr nicht recht und nahmen sie nicht auf. So zog sie weiter, und nirgends fand sie eine bleibende Stätte, bis Gott sagte: Geh' nochmals auf die Erde, zu einem Märchendichter; er macht dir ein hübsches Kleid - und seitdem wird sie überall freudig aufgenommen und zurückgehalten ... « Das alles wirkte auf die Zuhörerschaft so, daß immer neuer Beifall laut wurde. Und dann kamen die erschütterndsten Partien, in denen er intime Geständnisse bot. Da vernahm man die ergreifenden Konfessionen eines Menschen, der gefehlt, der in bitteren Seelenqualen sich geläutert, und durch rastlose Arbeit und Selbstzucht sich kraftvoll emporgerungen ...

Karl May hatte in schriftstellerischen Kreisen viele Gegner; daß aber auch hervorragende Schriftsteller seine Fähigkeiten anerkannten, das beweist eine Reihe von Briefen, die dem Akademischen Verband anläßlich des Vortrages von Karl May zugingen.

So schrieb Hermann Bahr: »Wer so viel Haß, Neid, Verleumdung, Wut, Liebe, Bewunderung und Streit erregt wie Karl May, verdient es schon um dieser Kraft willen, gehört zu werden.« - Berta Suttner äußerte sich in folgender Weise: »Ein Autor, der eine ganze Jugendgeneration durch seine spannenden, phantasiereichen Erzählungen zu fesseln verstand, nimmt jedenfalls einen achtunggebietenden Rang ein.« - Heinrich Mann schrieb unter anderm: »Ich höre, daß Karl May der Oeffentlichkeit so lange als guter Jugendschriftsteller galt, bis irgendwelche Missetaten aus seiner Jugend bekannt wurden. Angenommen aber, er hat sie begangen, so beweist mir das nichts gegen ihn - vielleicht sogar manches für ihn. Jetzt vermute ich in ihm erst recht einen Dichter!« - Maximilian Harden schrieb: »Was May geschrieben, ist von Hunderttausenden gelesen, von Vielen sogar oft gelobt worden« - und fügte hinzu, daß der Akademische Verband durch Veranstaltung des Vortrages geradezu einen erfreulichen Mut bewiesen habe .....


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Die ergreifendsten und persönlichsten Worte aber fand Bertha von Suttner in der Wiener »Zeit« vom 5. April 1912. Darum sei zum Abschluß dieser oft auszugsweise zitierte Nachruf im Original wiedergegeben.

Berta von Suttner über Karl May (53k-GIF)


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