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ADOLF GERBER [recte: GELBER, die Internet-Redaktion] / WILHELM NHIL / PAUL WILHELM

Karl May in Wien * Letzte Interviews (1912)


Karl May, der Freitag abend im Sophiensaal in einem vom Akademischen Verband für Literatur und Kunst veranstalteten Vortragsabend über das Thema »Empor zum Edelmenschen« sprechen wird, ist heute früh hier eingetroffen und im Hotel Krantz abgestiegen. Ein Mitarbeiter unseres Blattes hatte Gelegenheit, mit dem Schriftsteller zu sprechen, der sich über seinen Vortrag, über seine literarische Wirksamkeit und seine Ziele in folgender Weise äußerte:

»Ich habe, wie ich weiß, in Wien zahlreiche Leser, und habe daher der Einladung, hier einen öffentlichen Vortrag zu halten, sehr gern Folge geleistet. Ich stellte nur eine Bedingung: daß mir für diesen Vortrag kein Honorar gezahlt werde. Was meine literarische Wirksamkeit betrifft, so möchte ich vor allem betonen, daß ich kein Jugendschriftsteller bin, trotzdem man mir diese Etikette angehängt hat. Meine Werke, die in zweieinhalb Millionen Exemplaren verbreitet sind, werden von Erwachsenen in allen Gesellschaftskreisen gelesen. Fast alle meine Werke sind zuerst in der Wochenschrift »Im Hausschatz« erschienen, die sich an ein reifes Publikum wendet. »Im Hausschatz« ist gewissermaßen die katholische Gartenlaube. Schon diese äußerliche Tatsache bildet eine Widerlegung der gegen mich von meinen Gegnern erhobenen Beschuldigung, daß meine Arbeiten korrumpierend auf die Jugend wirken. Ich schreibe für das Volk; die Jugend gehört natürlich auch zum Volke - aber, daß die Jugend das Hauptkontingent meiner Leser sei, das leugne ich entschieden.

Ein andrer Vorwurf meiner Gegner - fuhr May in Beantwortung einer Frage unsres Mitarbeiters fort - besteht darin, daß ich die exotischen Länder, die ich schildere, nicht gesehen habe. Auch dieser Vorwurf ist vollständig unbegründet: Ich war in Asien, in Afrika, in


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Amerika. Ich habe eingehende Milieustudien gemacht. Ich habe gar oft Konflikte, um sie mit größerer Freiheit behandeln zu können, in diese fremden Milieus verlegt. Was ich unter Symbolismus in meinen Werken verstehe, das leuchtet am besten aus meinem Roman »Im Reiche des silbernen Löwen« hervor. Der Araberstamm »Haddedin«, den ich vorführe, das sind jene meiner Leser, denen das rein Stoffliche, das Abenteuerhafte in meinen Erzählungen behagt. Ich zeige aber dann, wie sich allmählich das Edelmenschentum, je höher man steigt, entwickelt.

Und nun möchte ich Ihnen ein Geständnis machen. Was ich bis jetzt geschaffen habe, betrachte ich als Vorstudien, als Etüden. Ich habe sozusagen mein Publikum geprüft. Jetzt erst will ich an mein eigentliches Lebenswerk schreiten. Ich bin siebzig Jahre alt, ich fühle noch schöpferische Kraft in mir.

Als ich vor einiger Zeit in Amerika war, habe ich in New-York den Tempel jener religiösen Sekte besucht, die die »Christian science« pflegt. Als ich dort die Blicke zur Kuppel hob, leuchtete mir das Wort: Love! (Liebe) entgegen. Dieses Wort resümiert meine philosophische und künstlerische Weltanschauung, und in ihr haben mich auch meine Gegner nicht zu beirren vermocht.

Ich habe rastlos gearbeitet, ich habe mich aus einem Abgrund, in den ich hinabgesunken war, wieder emporgearbeitet. Das behagt meinen Gegnern nicht. Daher ihr Ruf: Zurück in den Abgrund! Es wird ihnen aber nicht gelingen, mich wieder hinabzustoßen!

Schließlich noch ein Geständnis: Ich und meine Frau, wir haben keine großen Bedürfnisse, wir haben auch keine Kinder. Was ich durch meine Arbeit errungen und noch erringen werde, das wird als unsre Hinterlassenschaft dazu beitragen, Tränen zu trocknen und armen geistigen Arbeitern Lebensmut und Lebensstoff einzuflößen«.

Wir glauben, daß es angesichts der vielen Diskussionen, die sich an Karl Mays Persönlichkeit knüpfen, von Interesse sein wird, jetzt, da er in Wien sprechen wird, diese seine Aeußerungen zu lesen.

(Adolf Gerber, »Neues Wiener Tagblatt«, 20. 3.1912)


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Ich habe ihn aufgesucht und fand einen jung gebliebenen weisshaarigen Herrn, der sich durch einen wohltuenden Mangel an Literatenpose auszeichnet und viel eher etwas von dem anheimelnden Typus eines guten Allerweltsonkels an sich hat. Er freute sich ungemein über die günstige Aufnahme und brachte auch seine Anerkennung der Wiener Gastfreundschaft hübsch zum Ausdruck: »Zum Herzen der Wiener Jugend hat man den Schlüssel; vielleicht wo anders auch, aber dort fehlt das Schlüsselloch.« Ein bisschen nervös wird er ja gewesen sein, sofern er etwas von den hiesigen Anfeindungen erfahren hatte. Denn es muss einen wunderlich berühren, wenn man auf seine alten Tage erfährt, dass man auf einmal kein Dichter mehr ist. Bis vor kurzem noch war Karl May ein phantasievoller, moralischer, belehrender, religiöser, allseits approbierter Schriftsteller, ein Schriftsteller von so allgemeiner Anerkennung, dass man es wirklich nicht mehr für notwendig hielt, ihn zu erörtern. Bald nachher hiess es, er sei ein lügenhafter, die Sittlichkeit gefährdender, wertloser, geschwätziger Schreiber, gegen den man mit den schärfsten Waffen zu Felde ziehen müsse. Was ist geschehen? Einige Schnüffler haben entdeckt. Einige Moralposeure haben sich lächerlich benommen, weil sie sich selbst in den Rücken gefallen sind. Wenn jemand von Anfang an zu Karl May als Schriftsteller keine Zuneigung fassen konnte, so war es sein Recht, seiner Antipathie zu folgen. Wenn aber ein paar phantasielose armselige Heuchler, die selbst nichts Positives leisten können, zu wesentlich geänderten Anschauungen gelangen, so ist hiefür Schamlosigkeit der richtigere Ausdruck als sittliches Bedenken. Ein Mann mit dieser Phantasie wäre nicht als Dichter anzusprechen? In seinem Vortrag heisst es ungefähr folgendermassen: Als ich ein kleiner Knabe war, war ich blind, und erst später habe ich das Augenlicht wieder gewonnen. Damals nun, als Blinder, wurde ich von meiner alten Großmutter betreut. Sie besass ein altes arabisches Märchenbuch, und aus diesem musste sie mir immer und immer wieder vorlesen. Da ich keinen Menschen sehen konnte, bildete ich mir in meiner Phantasie die Menschen selbst. Wenn ich nun damals als kleiner Blinder des Abends an dem grossen Kirchentor sass, versammelte sich um mich die halbe Kindergemeinde, und ich begann ihnen die Geschichten, die ich mir aus dem alten Märchenbuche der Grossmutter, aus dem sie mir vorlas, gemerkt hatte, zu erzählen. Darum nannten mich die Leute den


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kleinen Märchenerzähler - und mir war es damals recht; und heute sagt es mir, wie eigentlich die phantastische Welt, die ich sah, und die Freude am Erzählen in mir entstand. Wie lebendig dieses innere Schauen in den Kindestagen war, geht auch daraus hervor: So lange ich blind war, erschienen mir die verschiedenen Gestalten auch im Traume, und wenn ich dann, sobald sie zu schreckhaft waren, verängstigt erwachte, rief ich: Grossmutter, wachst du noch? Ich träume nicht gern allein!

... Und von dem Wesen des Märchens erzählte May: Gott schickte einst die Wahrheit auf die Erde, damit sie sich unter den Menschen einlebe. Sie pochte an eine Hütte und bat um Einlass; allein die Leute trauten ihr nicht recht und nahmen sie nicht auf. So zog sie weiter, und nirgends fand sie eine bleibende Stätte, so dass sie betrübt wieder zu Gott kam. Der aber sagte: Geh' nochmals auf die Erde, zu einem Märchendichter; er wird dir ein hübsches Kleid machen. Dann beginne wieder deinen Rundgang. Und seitdem wird sie überall freudig aufgenommen und zurückgehalten, dass sie bis heute noch nicht mit ihrem Rundgang zu Ende ist. - Auch am Tage nach seinem Vortrag bestätigte er mit freundlichem Stolz, ein Märchendichter zu sein: »Ich war in Amerika und Afrika und in den Ländern, die ich beschrieben habe, aber ich brauche gar nicht dort gewesen zu sein.« All' diese Anführungen machen die gegnerischen kleinlichen Behauptungen zunichte. Weil indessen die Leute immer nüchterner werden, gebrauchen sie den alten Fuchskniff, die Trauben sauer und die Phantasie pathologisch zu nennen. Sie gingen also auf den Akademischen Verband für Literatur und Musik los (dass dieser den tapferen Einfall hatte, May einzuladen, sei ihm besonders hoch angerechnet), und als er sich nicht einschüchtern liess, änderten sie ihre Taktik und wurden abwartend. Denn es gehört auch Persönlichkeit dazu, der allgemeinen Meinung offen zu widersprechen. Und siehe da, der verlästerte Autor fand in Wien die sympathischeste Aufnahme. Das Publikum, das eine so gesunde Anschauung hatte (denn es war kein Premierenpublikum) nannten sie Plebs, aber sie dachten sich es nur. Denn die literarischen Leichenfledderer sind ja zu feige, als dass sie mit der Masse anbinden würden . . .

(Wilhelm Nhil »Das Forum«, Wien, 1. 4. 1912)


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Es sind nur wenige Tage, seit Karl May im dichtgefüllten Sophiensaal vor einem begeisterten Auditorium seiner Leser und Leserinnen stand und in einem fast zweistündigen Vortrage seine Weltanschauung darlegte, unter allgemeiner Ergriffenheit von den Entbehrungen seiner Jugend, von seinen Kämpfen, von seinem neuen Wollen sprach. Als er in tiefer Erregung von seinen persönlichen Schicksalen berichtete, machte er einmal eine kurze Pause und bat um Nachsicht, da eine kleine Schwäche ihn anwandle. Rasch nahm er ein bereitgehaltenes Pulver und hatte sich schnell wieder erholt. Wohl niemand ahnte, daß damals schon der Tod hinter dem kräftig aussehenden Greise stand und ihm für einen Augenblick wie mahnend die Hand leise auf die Schulter legte. Der von schwerem Krankenlager kaum Erstandene hatte sich zuviel zugemutet. Der Arzt hatte ihm die Reise nach Wien streng untersagt, aber er vermochte nicht zu widerstehen.

Er hatte sich im Hotel eine Erkältung zugezogen und eben - wenige Tage nachdem er Wien verlassen, erhalte ich von seiner Frau die Mitteilung: »Mein guter Mann ist heute abend heimgegangen.« Diese Nachricht berührte mich um so erschütternder, als es kaum zehn Tage sind, daß ich mit ihm einen Nachmittag verbrachte, der mich in Karl May einen merkwürdigen Menschen kennen lernen ließ, einen, der viel gekämpft und gelitten hat und der auch als Greis noch eine überaus sympathische Naivität, fast Kindlichkeit besaß. Seit Dezennien stand Karl May im Mittelpunkt heftigster Angriffe. Sie haben dazu beigetragen, seine robuste Gesundheit zu untergraben. Und gewiß ist ihm oft und vielfach Unrecht widerfahren. Seine Schriften haben neben vieler Gegnerschaft auch Hunderttausende begeisterter Leser gefunden, für mich selbst verbindet sich mit der ersten Lektüre der Werke Karl Mays eine wehmütige Erinnerung. Es war im Sommer 1900, drunten im sonnigen Lovrano, wo unser lieber, unvergeßlicher Karlweis Stärkung seiner angegriffenen Gesundheit suchte. Seine Freunde ahnten damals freilich noch nicht, wie schlimm es um ihn stünde. Denn er hatte sich prächtig erholt und war munter und guter Laune. Und als wir beide einmal an dem herrlichen Strandweg dahinbummelten, fragte er mich, ob ich nicht etwas Lektüre für ihn hätte. Ich meinte, ich hätte einige moderne Romane und Novellen, die mir zur Besprechung übersendet worden wären, worauf er mit komischem Entsetzen ausrief: »Moderne


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Romane? Um Gottes willen, so was schreiben wir doch selber, das soll man auch noch lesen? Nein, etwas Spannendes . . . Karl May, so etwas lese ich, wenn ich ein Vergnügen haben will!« Als ich hierauf ungläubig lächelnd meinte: »Karl May? Ich habe nie eine Zeile von ihm gelesen!« da wollte er es gar nicht glauben und konnte mir nicht genug zureden, dieses Versäumnis nachzuholen. Und so war es ein feiner, stiller Poet, der mich zuerst bewog, die Werke dieses in den letzten Jahren so viel angefeindeten Schriftstellers zur Hand zu nehmen. Und ich gestehe gerne, daß ich damals sämtliche Werke Karl Mays - gegen dreißig Bände - in einem Zug gelesen, und daß ich davon einen wirklichen Genuß gehabt habe. Und ich habe weder etwas Frivoles noch etwas Religionsstörendes darin gefunden, wohl aber eine eminente Phantasie, eine lebendige Kunst der Schilderung und eine Erfindungsgabe im Stofflichen, wie sie manchem von unseren literarisch hochbewerteten Prosaschriftstellern zu wünschen wäre. Was Karl May von seinen Gegnern und Feinden sonst vorgeworfen wurde - ob mit Recht oder Unrecht, gehörte ins Privatleben und konnte nur von persönlicher Gehässigkeit in den Streit der öffentlichen Meinungen geworfen werden. Es hat mich nie gehindert, Karl May für einen in seiner Art reichbegabten und überaus phantasievollen Schriftsteller zu halten, und ich glaube auch nicht, daß seine Bücher die Phantasie der Kinder, wenn man sie ihnen nicht in allzu jugendlichem Alter zur Hand gibt, schädigen könnten. Wollte man nach einzelnen Ausschreitungen der kindlichen Phantasie, die durch wirkliche Schundliteratur weit mehr vergiftet wird, alle ähnliche Lektüre versagen, so müßte man auch den »Lederstrumpf« des James Fenimore Cooper auf den Index setzen, der für mich zu den größten Dichterwerken aller Zeiten gehört.

Und so hat es mich denn lebhaft interessiert, als Karl May zu seinem Vortrage im Akademischen Verband für Literatur und Musik nach Wien kam, ihn persönlich kennen zu lernen und seiner sehr herzlichen Einladung, ihn im Hotel Krantz zu besuchen, Folge zu leisten.

Seine Gattin, eine schlanke Dame von lebhafter Anmut, öffnete mir, und gleich nachher trat der Dichter aus dem Nebenzimmer herein.

Eine hohe stämmige Gestalt, der große, an den Schläfen besonders breit ausladende Kopf von grauem Haar umrahmt, der Schnurrbart und die kleine Fliege ebenfalls ergraut - ein Siebziger nach dem Literatur-


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kalender, ein Mann von robuster Kraft nach dem ersten Eindruck. Später freilich mahnte manches in seinem Gehaben, daß die Kämpfe und Aufregungen der seit mehr als einem Dezennium gegen ihn betriebenen Hetze an seiner Konstitution nicht spurlos vorübergegangen waren. Er klagte über seine schwer angegriffenen Nerven, und trotz des robusten Aussehens sah ich in den Zügen des geistvollen und interessanten Kopfes die Spuren seelischer Erschütterungen gegraben. Er begann gleich von Wien zu sprechen, von seiner Liebe für die Stadt. »Ich bin vor einigen Jahren hier gewesen,« erzählte er mir, »und damals hatte ich eine reizende und charakteristische Episode erlebt. Ich war in einer Versammlung geladen und kam im Laufe des Abends in die Lage, eine Rede halten zu müssen. In dieser Rede sagte ich ungefähr: »Die Oesterreicher unterscheiden sich von den Deutschen vor allem dadurch, daß man sofort den Kontakt mit ihnen hat, daß man gleich den Schlüssel zu dem Herzen findet!« Da ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund im unverfälschten Urwienerisch: »Ja, und wenn s' schon den Schlüssel haben, so finden s' im Herzen ka Loch dazua!« Ich und alle Anwesenden mußten herzlichst lachen. In dieser derben, immer ein wenig pessimistischen und dabei bescheidenen urwüchsigen Antwort lag auch das ganze Wiener Wesen, seine drastische Gemütlichkeit!«

Ich lenkte das Gespräch auf die gegen ihn seit Jahren betriebene Hetze, denn es interessierte mich, nach den Ursachen dieses so planmäßig gegen ihn geführten Kampfes zu forschen.

»Ich bin - erzählte Karl May - der Sohn armer Webersleute. In dem Orte, in dem mein Vater lebte, war ein kleiner Verleger, den mein Vater gut kannte und der immer mit alten Kalendern zu uns kam, von denen ihm mein Vater öfters abkaufte. Es ging dem Manne aber nicht gut, sein Geschäft florierte nicht. Als ich nun zu schreiben begann und man anfing, auf mich aufmerksam zu werden, sagte der Mann eines Tages zu meinem Vater: »Sehen Sie, Ihr Sohn könnte mir aufhelfen, wenn er mir ein paar Bücher schreiben wollte.« Auf Zureden meines Vaters ging ich darauf ein und schloß folgenden Vertrag mit ihm. Ich schrieb ihm eine Reihe von Büchern unter der kontraktlichen Bedingung, daß dieselben bis zur Auflage von zwanzigtausend Exemplaren seinem Verlage gehören sollten, von da ab wären die Bücher wieder mein Eigentum. Als meine Bücher dann ungeheuer viel gelesen und gekauft wurden,


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erhielt ich auf meine wiederholte Anfrage, ob denn die bestimmte Anzahl von Exemplaren noch nicht erreicht wäre, stets die verneinende Antwort: Noch lange nicht! Später erfuhr ich, daß der Mann Millionen hatte drucken lassen und davon reich geworden war. Da entschloß ich mich - er selbst war inzwischen gestorben -, seinen Rechtsnachfolger zu klagen. Von da an begann der Haß und die systematisch betriebene Hetze gegen mich. Die Leute wollten mich, um die beträchtlichen Summen nicht herauszahlen zu müssen - in einem der erst kürzlich von mir gewonnenen Prozesse wurden mir allein 60.000 Mark zugesprochen -, völlig vernichten, ja, mich bis zum Selbstmord treiben, um mich los zu werden. Gegen viele Anschuldigungen und Verleumdungen bin ich gegenwärtig, solange meine Prozesse schweben, noch machtlos, dank dem famosen § 193 des deutschen Gesetzbuches, der dem Angeklagten »in Wahrung berechtigter Interessen« das Recht gibt, den Ankläger so schlecht als nur möglich hinzustellen, alles mögliche gegen ihn ins Treffen zu führen, nur um seine Anklage als unglaubwürdig hinzustellen. Einige Prozesse habe ich bereits gewonnen. So habe ich zum Beispiel nachgewiesen, daß mir in die Schuhe geschobene Schundbücher nicht von mir herrühren, sondern von einem spekulativen Verlage derart umgeschrieben und verändert wurden, daß sie dem niedrigsten Geschmack des Publikums Rechnung trugen. Aber ich hoffe, in diesen Kämpfen Sieger zu bleiben! Was ich aber mitgemacht habe, ist nicht zu beschreiben. Denken Sie sich einen Mann, der seit mehr als einem Dezennium tagtäglich Schmäh- und Drohbriefe bekommt, oft in den niedrigsten Ausdrücken, mit den gemeinsten Verdächtigungen. Meine Nerven hätten dem nicht standgehalten, wenn nicht viele herzliche Kundgebungen aus den Kreisen der Leser, des deutschen Publikums mir wieder Freude, Trost und Zuversicht gebracht hätten.«

Auf meine Frage, inwieweit seine Reiseromane Phantasie und inwieweit sie wirkliche Erlebnisse wären, antwortete er: »Ich habe die Länder, die ich schildere, besucht, nicht um dort Abenteuer zu erleben, sondern um sie zu studieren, als Gegenden, in denen ich etwas geschehen lasse. Und nun nehme ich meine hiesigen Sujets, Personen, Verhältnisse, Gestalten, um sie im Kleide des Romans auf fremdem Boden spielen zu lassen. Vieles, das ich hier sagen möchte, und nicht sagen kann, trage


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ich nach Amerika, dem Orient, um es in fremde Beleuchtung zu stellen und ihm jene Gestalt zu geben, die ich für angemessen halte.

So haben wir in Deutschland den Konflikt zwischen dem Protestantismus und Katholizismus. Wollte ich hievon erzählen, so würde ich mir sämtliche Finger verbrennen. Nun versetze ich die Verhältnisse in den Orient, wo es auch zwei religiöse Parteien gibt, die Schiiten und die Sunniten. Hier zeige ich die Kämpfe auf, um so für den Frieden und die Versöhnung der Menschheit zu wirken. Das ist meine Arbeit. So beleidige ich keinen Menschen, spreche aus, was mir zu sagen Bedürfnis ist, und wer meine Bücher liest und mich kennt, weiß doch, was ich damit sagen will.

Ich werde zum Beispiel«, setzte May fort, indem er aufstand und im Zimmer lebhaft auf und nieder ging, »seit Jahr und Tag angegriffen, beschimpft, meine Werke werden entstellt, und ich vermag mich nicht zu wehren. So schreibe ich denn über diese Verhältnisse gewissermaßen im Phantasiegewande. In meinem vierbändigen Buche »Im Reiche des silbernen Löwen« sind alle Personen, die in meinem Prozeß vorkommen, geschildert. Da existiert zum Beispiel ein Kritikus, der mich seit Jahren auf das blutigste und schmählichste beschimpft. In meinem Buche kommt nun ein häßliches Pferd vor, das heißt »Kiss i dar« - Schundmähre - siehe Schundroman! Damit meine ich die Romane, die ich geschrieben habe, sittlich und literarisch rein, und die mir vom Verlage zu Schundromanen umgestaltet worden sind. Diese Pferd, der »Kiss i dar«, ist gleichfalls edel gewesen und durch schlechte Behandlung zur Schindmähre herabgewürdigt worden. Auf dieses Pferd zwing ich nun den Henker - meinen Kritikus - und laß ihn durch den Sohn des Hadschi Halef Omar um den See herumpeitschen!

Wenn ich also gefragt werde: »Haben Sie das alles erlebt?« kann ich »Ja« sagen, ohne zu lügen. Und wenn man mich fragt, ob ich dort gewesen bin, kann ich's gleichfalls bejahen. Ich bin in diese Länder gegangen, um mir gleichsam den Boden zu suchen, in den ich meine inneren Erlebnisse verpflanzen konnte.

Meine Werke beruhen auf psychologischer Grundlage, wie ich die Psychologie überhaupt für die tiefste aller Wissenschaften halte. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, in meinen Büchern zu zeigen, was Körper, Geist und Seele sind, und so schreibe ich Reisebeschreibungen,


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die auf psychologischer Grundlage beruhen. Nur ein Beispiel, und Sie werden mich leicht verstehen. »In der Wüste!« Ich will der Menschheitsfrage nachgehen. Wir befinden uns jedoch über uns selbst in Unwissenheit - das nenne ich die Wüste. Nun tritt der Forscher in dieselbe ein, ich nenne ihn in Amerika »Old Shatterhand«, in Afrika »Kara Ben Nemsi«. Und was ist das erste, was ihm in der Wüste begegnet? Da kommt auf einem großen Pferd ein kleines Kerlchen geritten und nennt sich »Hadschi« - das ist der Ehrentitel aller jener Gläubigen, die bereits eine der heiligen Stätten besucht haben. Mein guter Hadschi ist aber, wie ich später erfahre, gar niemals dort gewesen, er ist also gar kein Hadschi, sondern lügt mir nur etwas vor. Der ist das Symbol für alle, die nur eine geistige Gestalt angenommen haben, für die menschliche Seele, die sich für den Geist ausgibt. Um nun diese Anima-Seele kennen zu lernen, wird der Körper als Diener engagiert, muß durch die Wüste mit, muß alle Gefahren und Entbehrungen mitmachen und gelangt schließlich nach Mekka, um so die Lüge in Wahrheit zu wandeln. Und ich zeige ihm die Seele in Hanneh - dem Weibe, von dem er immer behauptet hat, daß es keine Seele besäße. Mit dieser Seele und unter ihrem Einfluß hat er sich zum Edelmenschen zu entwickeln. Er steigt mit Kara Ben Nemsi, der ebenso wie Old Shatterhand durchaus nicht ich selbst sein soll, sondern ein weit höheres edleres Wesen - empor bis zur Marah Durimeh (die dauernde, das ist die große Menschheitsseele.) Die Höhe des Menschentums nenne ich in Afrika Dschebel (Berg) Marah Durimeh, in Amerika Mount Winnetou. Das sind Symbole. Da hinauf will ich meine Leser führen, indem ich ihnen auf der einen Seite den Gewaltmenschen, auf der anderen den Edelmenschen zeige und es ihnen anheimstelle, sich für den einen oder anderen zu entscheiden.«

Während der Dichter mir diesen seinen Ideengang entrollte, erschien es mir interessant, das Spiel seiner Mienen zu beobachten, das gleichsam die rege und unausgesetzte Arbeit seiner Phantasie widerspiegelte.

»Ich wünsche,« fügte Karl May an diese seine Ausführungen an, »daß die Menschheit sich lieben lerne! Vor allem erstrebe ich eine Aussöhnung des Morgenlandes mit dem Abendlande sowie die Erkenntnis alles dessen, was wir von Amerika zu erwarten haben. Darum bemühe ich mich in meinen Büchern, Sympathien für die Orientalen und für die amerikanische Rasse zu erwecken. Und das ist mir, wie ich glaube,


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gelungen. Jeder Leser meiner Bücher weiß, was wir dem Orient schuldig sind, und ist dankbar dafür!«

Ich fragte Karl May nach seinen literarischen Zukunftsplänen und war nicht wenig überrascht, zu hören, daß er sich der dramatischen Produktion zuwenden wollte. Er erklärte, daß sein ganzes bisheriges Streben nur eine Vorarbeit, eine Vorbereitung für den Beruf des Bühnenschriftstellers gewesen. Dann bemerkte er - »ich nehme das Wort Drama so hoch, daß ich es bisher nicht gewagt habe, ein Drama zu schreiben. Ich war der Mann nicht dazu, ich mußte erst lernen, jene innerliche Reife zu erlangen, die nicht Monate, die nur Jahrzehnte geben können. Und unserem heutigen Drama tut es besonders not, daß es bloß von reifen Männern geschrieben wird. Und darum halte ich mich erst jetzt, wo ich 70 Jahre zähle, für geeignet, damit zu beginnen. Denn ich bin kein fertiger Mensch, sondern noch immer ein Werdender, trotzdem ich schon so alt bin ...«

Seine Zukunftspläne sollten sich nimmer erfüllen.

(Paul Wilhelm, »Neues Wiener Journal«, 2. 4. 1912)


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