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ERICH HEINEMANN

Dr. Karl May in Gartow




Im östlichsten Zipfel von Niedersachsen, umgeben von Wäldern und Wiesen, liegt der kleine Marktflecken Gartow. Nur ein paar Kilometer entfernt zieht die Elbe vorüber - einst Grenze zwischen dem König von Preußen und dem König von Hannover.

Gartow ist 1898 das Ziel einer Studienreise Karl Mays gewesen; sie wurde unternommen, weil May wieder über Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau, den »Alten Dessauer«, schreiben wollte; Gartow sollte erneut der Schauplatz der Geschehnisse werden. Schon in den Jahren 1878 bis 1881 waren drei Erzählungen, die in und um Gartow spielen, erschienen: »Die drei Feldmarschalls« (1) »Fürst und Leiermann« (2) und »Ein Fürst-Marschall als Bäcker« (3).

1892 äußerte May gegenüber seinem Verleger Fehsenfeld (4) die Absicht, eine dreiaktige Posse zu schreiben, deren Hauptheld der Alte Dessauer ist. Außer dem Hinweis auf eine humoristische Szene aber wissen wir nichts von diesem echt deutschen, zwerchfellerschütternden Stück; es wurde nie geschrieben.

An einem Tag in der zweiten April-Hälfte des Jahres 1898 - ein genaues Datum läßt sich leider nicht mehr ermitteln - traf Karl May mit der von Lüchow kommenden Postkutsche in Gartow ein, das damals wohl um 700 Einwohner hatte; er ließ seine Koffer in das Hotel Krug, Hauptstraße 15, bringen. Der elegant gekleidete Herr, der durch einen Kneifer recht lebhaft um sich blickte, sächsisch sprach und reichlich mit Trinkgeldern um sich warf, erregte unter den hannoverschen Hinterwäldlern nicht geringes Aufsehen (5). Sein Erscheinen bildete im Nu das Tagesgespräch, und am Abend rückten die Gäste am Honoratiorenstammtisch »Die Börse« zusammen, um ihre Meinung über diesen Doktor May aus Radebeul bei Dresden auszutauschen. Es waren die angesehen-


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sten Bürger, Handwerksmeister, Forstleute, Holzfabrikanten, auch einige Akademiker, die sich abwechselnd im »Deutschen Haus« oder im »Hotel Krug« trafen. Es dauerte nicht lange, so wurde Karl May in die Tischrunde gebeten, und mit seiner gewinnenden Art hatte er bald die Mitglieder der »Börse« auf seiner Seite. Sie lauschten gespannt seinen Erzählungen, die ein ungewöhnliches Talent verrieten. Da schilderte er ihnen einmal eine aufregende Pantherjagd, die er erlebt haben wollte. Als sich dabei doch leiser Zweifel in der Runde meldete, ließ sich der Erzähler am nächsten Tag von Dr. Röhrs (6), einem Mitglied des Stammtisches, am Körper untersuchen, der tatsächlich erhebliche Narben aufwies, wie sie von den Zähnen und Pranken eines großen Raubtieres herrühren könnten (7). Damit war Karl May rehabilitiert.

Forstmeister Junack (8) lernte den Gast am Abend des 1. Mai 1898 kennen. Er hatte an diesem Tag einen Rehbock erlegt, der ausgerechnet mitten vor dem Kugelfang des Schießstandes friedlich äste. Er erzählte sein Erlebnis, und als er die waidmännische Wendung gebrauchte, die Büchse habe »gesprochen«, da rief der Fremde lebhaft aus: »Das ist recht, die Büchse spricht!« Und fügte dann hinzu: »Verzeihung, ich habe zwar in meinem Leben nie einen Rehbock geschossen, aber desto mehr Grizzlybären und Löwen.«

Abend für Abend versammelten sich um Karl May die Zuhörer, deren Kreis immer größer wurde. Manches klang zu phantastisch, um geglaubt zu werden - sei es nun die Löwenjagd, die er bis ins Detail schilderte, sei es die Geschichte von seiner Wunderbüchse - , aber man hörte ihn gern erzählen.

Junack erinnert sich folgender Geschichten, die Karl May zum besten gab: (9)

1. Die Jagd auf den Löwen. Der Löwe geht abends zu Wasser. Wenn man einen Löwen schießen will, so geht das verhältnismäßig einfach, indem man sich an seiner Wasserstelle aufbaut und ihn dort erwartet. Mit der Dämmerung verläßt der Löwe sein Lager und gibt dabei zunächst ein leises Brummen von sich. Dann stößt er einen Schrei aus, etwa so laut, wie ein Mensch eben schreien kann, und dann folgt nach einer Pause ein Gebrüll so laut, daß die Berge davon erdröhnen und widerhallen. Nun heißt es die Büchse fest gefaßt; es ist inzwischen dunkel geworden, umd der sich nähernde Löwe ist nur an dem Leuchten seiner Augen zu erkennen, sobald er den Jäger bemerkt hat und seine Augen auf ihn richtet. Diese Augen glühen starr, das Licht in ihnen beginnt zu kreisen und kreist immer schneller, und die Pupillen werden dabei immer kleiner, bis die Augen zwei feurigeKugeln geworden sind. Dann ist es der


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letzte Moment, die Kugel anzubringen, weil dann der Löwe zum Sprung ansetzt. Dann hält er aber vollkommen still, so daß sich eine sichere Kugel anbringen läßt. Und diese Kugel muß mitten zwischen den Augen sitzen, sonst kommt es zum Kampf auf Leben und Tod. Der Sprung sitzt schon ausgelöst in den Pranken des Löwen und - getroffen oder nicht - führt er ihn noch aus. Nach dem Schuß muß man deshalb sofort beiseite springen, denn der lebende oder auch tote Löwe landet genau dort, wo der Jäger stand. Dieser hat inzwischen repetiert und versucht dem anspringenden Löwen die zweite Kugel zwischen die zweite und dritte Rippe zu setzen. Für den Fall, daß auch diese fehlging, wirft er die Büchse fort und zieht sein scharfes langes Messer, um, wenn nötig, zum Faustkampf auf Leben und Tod bereit zu sein. Das war auch wohl seine tollste Jagdgeschichte.

2. Die Geschichte seiner Wunderbüchse. Karl May erzählte, er habe sich eine eigene Büchse konstrniert, die aus über 100 einzelnen Teilen bestand. Damit niemand hinter sein Konstruktionsgeheimnis käme, habe er die einzelnen Teile in ebensoviel verschiedenen Fabrikaten anfertigen lassen und sich aus den vielen Teilen die Büchse selbst zusammengesetzt. Diese Büchse schösse so haarscharf genau, daß er die einzelnen Blätter eines Baumes abschießen und Namenszüge in eine Scheibe hineinschieBen könne. Sie habe nur den Nachteil, daß sie ungeheuer schwer sei, so daß außer ihm selbst nur wenige damit umgehen könnten. Wenn ihn jemand besuchte und es dann einen plötzlichen Krach gäbe, so wisse seine Frau schon, daß er wieder einmal - wie erst kürzlich dem König von Sachsen - seine Büchse vorgeführt und gereicht hätte und der Besucher die Büchse habe fallen lassen, weil sie ihm zu schwer war.

3. Das dritte Kuriosum, das ich in Erinnerung habe, ist eigentlich keine Jagdgeschichte. May erzählte von seinen Reisen in Arabien und seinem arabischen Diener, der ihn dabei begleitete. Dieser Diener sei verheiratet gewesen und habe stets in Angst vor seiner Frau gelebt. May habe ihn damit aufgezogen, daß er unter dem Pantoffel seiner Frau zu stehen scheine, worauf der Diener sich in die Brust warf und erwiderte: »In meinem Hause bin ich der Herr.« Nach kurzem überlegen hätte er aber hinzugesetzt: er herrsche in seinem Hause aber mit Liebe und seine Frau mit Gewalt.

Karl May schloß in Gartow eine Reihe lebenslanger Freundschaften. Mit dem Hotelier Wilhelm Anton Krug (1859 - 1938) blieb er im Briefwechsel. Sein Leser-Album enthält noch heute ein Photo, auf das Karl May schrieb: Kinder aus Hotel Krug, Gartow. Ein herzliches Verhältnis verband ihn mit dem Doktorhaus in Gartow. Hier kehrte er oft und gern ein. Offenbar fand er auch Gefallen an jenen Maibowlen, die der Hausherr nach Rezepten seiner Göttinger Studentenzeit mit größter Sorgfalt selbst zubereitete (10). Röhrs' Gattin, einer literarisch interessierten klugen Frau, schenkte er sein neuestes Buch »Weihnacht«, das er als sein Lieblingswerk bezeichnete, und versah es mit einer persönlichen Widmung. Beim Scheiden von Gartow schrieb er ihr folgenden Spruch in das Gästebuch:


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Ich bin in Gottes Hand, wo ich auch geh und steh ;
Seit meinem ersten Tag bin ich geborgen.
Er kennt mein Herz mit seinem Leid und Weh,
Mit seinen großen, seinen kleinen Sorgen.
Es wachen über mich bei Tag und Nacht
Die lichten Engel, die er mir gesandt;
Drum giebt es nichts, was mich je bange macht;
Ich weiß es ja, ich steh in Gottes Hand.

Gartow, Mai 1898                         Dr. Karl May

Es ist die erste Strophe des Gedichtes, das 1900 in der Sammlung »Himmelsgedanken« unter der Überschrift Zuversicht - in überarbeiteter Form - erschien.

Im Doktorhaus von Gartow lernte Karl May auch den Vater der jungen Frau kennen, den Departement-Tierarzt Dr. med. vet. Ernst Otto Haarstick aus Hildesheim. Die beiden Gleichaltrigen fanden sogleich Gefallen aneinander, - beide waren sie ja große Pferdeliebhaber. Haarstick folgte der beim Abschied ausgesprochenen Einladung und besuchte Karl May in Radebeul. Was er seinen Enkeln später erzählte von einem »prächtigen Marstall« mit »rassigen Volltlütern«, die ihr Futter aus »wohlgefüllten Marmorkrippen« erhielten, klingt wie eine orientalische Fama; - der alte Herr war dem Charme seines Gastgebers erlegen und selbst unter die Märchenerzähler gegangen.

Noch einen anderen ließ Karl May in Gartow zurück, einen Freund und treuen Begleiter (11), der ihm bis an sein Lebensende verbunden blieb: das war der Lehrer Friedrich Hinnrichs. Geboren am 7. 7. 1873 in Schnackenburg an der Elbe als Sohn eines Lehrers, besuchte er von 1883 bis etwa 1889 das Gymnasium Andreanum in Hildesheim, anschließend das Lehrerseminar in Verden, und trat, kaum zwanzig Jahre alt, 1893 seine erste Lehrerstelle in Gartow an. Er unterrichtete an der dortigen Kantoratsschule als zweite Lehrkraft. In Gartow machte er als Fünfundzwanzigjähriger die Bekanntschaft des ehemaligen »Kollegen« Karl May. Im Gasthaus Krug, in dem May abgestiegen war, nahm er als Junggeselle täglich seine Mahlzeiten ein. Noch im gleichen Jahr 1898 ging Hinnrichs von Gartow fort; ab 1900 war er Lehrer an der Volksschule in Burgdorf; 1935 trat er in den Ruhestand. Er starb am 26. 8. 1955 und fand auf dem Alten Friedhof von Burgdorf seine Ruhestätte. Ehemalige Kollegen und Schüler sprechen noch heute mit großer Hoch-


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achtung von dem stillen, zurückgezogen lebenden Mann, der sein Amt mit aufopferndem Fleiß versah.

Mit Hinnrichs unternahm Karl May in einem gemieteten Kutschwagen Fahrten in die Umgebung von Gartow: er wollte Menschenschlag, Landschaft und historisches Terrain gründlich kennenlernen. Zuhause hatte er die Lebensgeschichte des Alten Dessauers durchgearbeitet und sich aus Geschichtswerken Aufzeichnungen (12) gemacht.

Auf einer Fahrt nach Schnackenburg kamen sie durch das Dorf Capern (heute Kapern). In einem einfachen Dorfwirtshaus stiegen sie ab. Nicht lange darauf trat ein ärmlich gekleidetes, barfüßiges Mädchen ein. Es ist von seiner schwerkranken Mutter geschickt, ein paar bescheidene Einkäufe in dem der Gastwirtschaft angeschlossenen Kramladen zu tätigen. Die »wunderbaren«, wohl sehr traurig blickenden Kinderaugen taten es Karl May sofort an - ihm, der Hunger, Entbehrung und Kummer so gut aus der eigenen Kindheit kannte. Nun erwies er sich dem staunenden Mädchen als unverhoffter Wohltäter, beglückt darüber, daß er Freude bereiten konnte. Schwer bepackt kehrte das beschenkte Kind heim; und am Abend - als May und Hinnrichs auf der Rückreise wieder durch den Ort kamen - glitten noch mehrere Goldstücke in die Hand des herbeibestellten, beinahe fassungslosen Vaters (13).

Bekannt ist, daß Karl May stets ein mitfühlendes Herz für seine Nächsten hatte; wahre Herzensgüte war ein Grundzug seines Wesens. Es kam nicht selten vor, daß er seine Gutmütigkeit übertrieb. Doch - war es nur Menschenfreundlichkeit? Brach nicht so dann und wann auch ein wenig Geltungssucht mit durch?

In Gartow belohnte er die geringsten Dienstleistungen mit verschwenderischen Trinkgeldern, die zur Sache in keinem Verhältnis standen. So soll er einem Stallknecht im »Deutschen Haus«, der ihn auf Befragen nach einem gewissen Örtchen lediglich an den nächsten Dunghaufen beim Schweinestall verwies, in übertriebener Dankbarkeit gleich ein Goldstück - Wert 20 Mark - in die Hand gedrückt haben (14).

So mutete das Verhalten des Herrn aus Sachsen in dem hinterwäldlerischen Flecken Gartow, im entlegensten Teil des Hannoverschen, merkwürdig, befremdend, ja verdächtig an. Mit ihm schien etwas nicht zu stimmen. War er vielleicht ein Hochstapler? Die allabendlichen Auftritte im Hotel Krug und im »Deutschen Haus«, wo der Tausendsassa


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seine angeblichen Erlebnisse zum besten gab, taten ein übriges: Behördlicherseits begann man sich für den Fremden zu interessieren.

Noch im Februar führte Karl May in Wien ein Gespräch mit dem Kritiker Richard von Kralik (1852 - 1934) über die Gefahr, durch sein abenteuerliches Verhalten auf seinen Reisen durch Deutschland die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu lenken. »Ich muß mich eben hier auch mehr zusammenehmen«, bedauerte May, »um nicht in Zusammenstoß mit der Polizei, mit der Gesellschaft, mit den Irrenanstalten zu kommen.« (15) Kaum drei Monate später kam es in Gartow zu einem solchen Zusammenstoß: Schuld waren die überdimensionalen Trinkgelder, sein abenteuerliches Auftreten und seine hier offenbar falsch verstandene Menschenfreundlichkeit.

Am zweiten Tag nach seinem Ausflug nach Capern erschienen zwei Beamte im Hotel Krug und setzten den erschrockenen, auf solche Behandlung wenig gefaßten Wohltäter fest. Er durfte sein Hotelzimmer so lange nicht verlassen, bis im Lauf des Tages eine aus Radebeul telegrafisch angeforderte Auskunft seine Identität bestätigte. Der Wortlaut des Telegramms wird von Hinnrichs wie folgt wiedergegeben: »Karl May hier wohnhaft, übt sehr gern Wohltätigkeit.« (16)

Einen anderen Grund für die Arretierung gab Karl May seinem Verleger Fehsenfeld gegenüber an, dem er kurz von seiner Gartow-Reise berichtete: Da ich einmal nach Dessau mußte (der Herzog und die Herzogin sind begeisterte Leser), so benutzte ich das, um gleich weiterzufahren und wegen meines nächst erscheinenden Theaterstückes in Gartow, Lüchow, Lenzen Studien zu machen. Dabei zeichnete ich Wege, den Lauf der Elbe, und wurde, wie schon erwähnt, als franz. Spion arretirt ... Darüber allgemeine Entrüstung in den Blättern (17).

Die Abreise von Gartow dürfte Sonnabend, den 7. 5. 1898, erfolgt sein. Karl May ließ sich mit einem Kutschwagen über Capern, Bömenzien, Ziemendorf und Arendsee nach Salzwedel bringen, um dort den Schnellzug nach Dresden zu benutzen. Durch die überaus schlechten Wegverhältnisse verzögerte sich jedoch seine Ankunft in Salzwedel, wo er im Hotel »Zum schwarzen Bären« abstieg. Der Oberkellner Louis erinnerte sich noch sechs Jahre später an den »noblen« Gast, der ihm ein »fürstliches« Trinkgeld von 20 Mark (unter dem tat Karl May es offenbar nie) in die Hand gedrückt hatte (18).


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Am nächsten Tag, dem 8. 5. 1898, setzte May seine Reise mit der Bahn fort (19). - Über die strapazenreiche Wagenfahrt von Gartow nach Salzwedel ist der Text eines Briefes an Krug erhalten geblieben (20):

Lieber Herr Krug![ohne Datum]
Wir sind zu dem Schnellzug nach Dresden hier zu spät angekommen - Dr. Karl May hat also auch Bekanntschaft gemacht mit den das Herz bewegenden Verkehrsverhältnissen, die jetzt ja auch nicht allerseits besser geworden sind, denn in den Schlaglöchern zwischen Gartow und Capern gleich nach der Straße nach Holtorf würde K. May heute als unerfahren auf der Strecke wahrscheinlich steckenbleiben, weil er ja nicht wissen könnte, daß nur die eiligste Flacht auf den Sommerweg oder in Schneckentempo vor Berg- und Talkarussell retten kann - und so bleibe ich diese Nacht in Salzwedel. Ich sage Ihnen nochmals Herzensdank für Ihre liebe und mir so wohlthuende Gastlichkeit und rufe Ihnen und allen denen, die ich in Gartow liebgewonnen habe, die zwei Worte zu: »Auf Wiedersehen!«

Ihr dankbarer Dr. Karl May

Gartow hat Karl May und Karl May hat Gartow nie wiedergesehen. Die kleine Gartower Episode ist später ausgiebig »verarbeitet« worden. Sie taucht in den phantastischen Biographien von Dworczak (21) und Peter Kann (22) auf und wird auch von E. Wehde (23) erwähnt. Ihr Gewährsmann ist eindeutig Hinnrichs. Ausführlich würdigte auch R. Haberland, der Chronist des Gebietes zwischen Elbe und Seege, das Erscheinen Mays in dieser Gegend (24). Willi Fehse verwendete den Stoff zu einer kleinen, in mehreren Zeitungen erschienenen Erzählung (25). Sie ist auch in seinem Buch »Die Hausmedizin«, Geschichten aus aller Welt, enthalten (26). Hinnrichs äußerte sich in seinem Schreiben vom 5. 12. 1940 an den Karl-May-Verlag, Radebeul, leicht vergrämt über diese literarische Variante seines im Karl-May-Jahrbuch 1924 wiedergegebenen Berichts.

Carl Ball (27) schildert, was er 1908 in Gartow über Karl Mays Besuch erfuhr, doch weicht sein Bericht schon erheblich von Hinnrichs' Darstellungen ab, die jedenfalls authentischer sind. Daß die Gartower zehn Jahre danach ihren exklusiven Gast noch nicht vergessen hatten, darf getrost angenommen werden; ich konnte bei meinem Besuch in Gartow 1970, also nach mehr als 70 Jahren, die gleiche Feststellung machen. Trotz des unangenehmen Zwischenfalls blieb Karl May den Gartowern wohlgewogen. Er scheint alles mit Humor getragen zu haben: Eine Karte an Krug aus Kairo (1899) unterschrieb er scherzend: Ihr ergebener Arrestant Dr. Karl May.

Im Nachlaß von Fr. Hinnrichs fand sich noch folgender Brief Mays:


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Faksimile des May-Briefes vom 25.05.1898 an Hinnrichs (24 Kb-Gif)


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Radebeul-Dresden, d. 25. 5. 98

Lieber Herr Hinnrichs!

Bitte, geben Sie die inliegenden Photographieen dem Herrn Posteleven, obgleich ich mich über seinen Zeitungsartikel mit der Ausplauderung der 1000 Mark und des Klaviers riesig geärgert habe. Ihnen lege ich Blumen aus dem gelobten Lande bei, welche mir mein lieber, hochwürdiger Freund, der Patriarch von Jerusalem, gesandt hat. Vertheilen Sie dieselben nach Ihrem Belieben.

Es grüßt Sie
Ihr Dr. Karl May.

Leider konnte ich bei meinem Besuch in Gartow nicht mehr ermitteln, was es mit den von Karl May erwähnten 1000 Mark auf sich hatte. Offenbar muß darüber besagter »Herr Posteleve« in der Zeitung geschrieben haben. Aber in welcher? Als Lokalzeitung dürfte wohl nur die »Wendland-Zeitung« in Betracht kommen. Ich sah den Jahrgang 1898 durch, ohne jedoch auf eine Notiz zu stoßen. Von einem Klavier, auch von einem Harmonium, berichtet allerdings Junack (28) schon. Karl May wollte dieses dem Gemischten Chor in Gartow schenken. Zu der Schenkung ist es aber offenbar nicht gekommen; Herr Adolf Krüger (geb. 1886), Eigentümer des Hotels »Deutsches Haus« und Mitglied des damaligen Chorvereins, hat ein solches Klavier nie gesehen.

Die Verbindung zwischen der Villa »Shatterhand« und Hinnrichs hat noch lange bestanden. Nach dem Abschied von Gartow blieb es allerdings fast elf Jahre still. Erst am 18. 3. 1909 schrieb Hinnrichs an Karl May, von dem er »seit dem 28. Mai 1898 kein Lebenszeichen« mehr erhalten hatte, und erinnerte an die »gemeinsamen Fahrten, unsere ernsthaften Gespräche«. Auch fragte er an, ob der Dichter sein damaliges Vorhaben, die Reise schriftstellerisch zu verwerten, aufgegeben habe. Eine Postkarte aus Radebeul antwortete ihm, geschrieben von Klara May: »Mein guter Mann erinnert sich Ihrer noch sehr freundlich ...« Auch in einem Brief vom 27. 2. 1910 kam Hinnrichs nicht ohne Rührung auf gemeinsame Erinnerungen zurück: »... unauslöschbar in meiner Seele eingegraben, seit dem Tage, da Sie, von Herzensgüte erfüllt, sich des armen Kindes ... annahmen.«

Nächst Klopstock, der 1752 in Gartow weilte, ist Karl May wohl der prominenteste Besucher des Ortes gewesen. Gartow pflegt die Erinnerung an ihn. Die Karl-May-Gesellschaft hat dem Heimatmuseum Gartow-Vietze Material zu Ausstellungszwecken zur Verfügung gestellt.


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1 Weltspiegel, Dresden, Jg. III, 1878, Nr. 37-42

2 Volksbibliothek des »Lahrer Hinkenden Boten« Nr. 7 - 9, Lahr 1879

3 Deutsche Gewerbeschau, Jg. IV, Dresden 1881/82, Nr. 1 - 18

4 Brief vom 16. 10. 1892 (KMJB 1918, 259)

5 Dr. med. Hans-Dietrich Röhrs, Karl May in Gartow, unveröffentlichtes MS. - Desgl. Adolf Krüger und Heinrich Baark, die sich noch an Mays Besuch erinnem können.

6 Dr. Ernst Röhrs, Arzt in Gartow 1896 - 1911

7 Röhrs a. a. O.

8 Karl Junack (1870-1943) veröffentlichte im »Heimatboten«, Gartow, 5/1935 einen Bericht, dem die folgenden Angaben entnommen sind.

9 Junack a.a.O.

10 Röhrs a. a. O.

11 Widmung Mays auf der Rückseite eines Photos

12 Ges. Werke Bd. 42, Nachwort, Bamberg, 135. Tsd., 539

13 Nach Hinnrichs: KMJB 1924, 334ff. und Ges. Werke Bd.42 Nachwort, Bamberg, 135. Tsd., 540 ff. Zur genauen Datierung dieser Fahrt fand sich eine Visitenkarte, auf der Karl May notierte: Den 4ten Mai 1898. Schnackenburg. Gasthof Kerkau.

14 Mündlich durch Herrn Adolf Krüger, Gartow

15 Kralik, KMJB 1919, 255

16 Hinnrichs a. a. O.

17 May an Fehsenfeld vom 19. 5. 1898

18 Carl Ball, KMJB 1928, 163

19 Unterwegs telegrafierte May an Hinnrichs, einmal aus Stendal um 14 Uhr 50 Gruß - Kuß - Schluß, dann aus Schönebeck a. d. Elbe um 16 Uhr 25 Herzlichen Gruß. Es sei einschränkend vermerkt, daß die auf den Telegrammen angegebenen Daten nicht mehr ganz einwandfrei zu entziffern sind. An den Gastwirt Krug in Gartow schrieb Karl May am 17. 5. 1898 (Datum des Poststempels) auf einer Karte, daß er, kaum zu Hause angekommen, wieder nach Wien mußte und von dort soeben zurückgekehrt sei. (Heimatbote, Gartow, 6/1935, 32). Demnach hätte zwischen seiner Rückkehr von Gartow und seiner Rückkehr von Wien wenig mehr als eine Woche gelegen, und diese Zeit wird er sicherlich für seine Reise nach Wien benötigt haben. Das Datum vom 8. 5. 1898 dürfte damit als gesichert gelten.

20 Heimatbote, Gartow, 6/1935, 32 - 33

21 Dworczak, Karl May. Das Leben Old Shatterhands, Salzburg 1950, 151

22 Peter Kann, Abenteuerliche Lebensgeschichte des Schriftstellers Karl May, Fortsetzungsreihe in der »Hör zu«, Hamburg 1956/57.

23 Heimatbote, Gartow, 4/1935, 21

24 R. Haberland, Geschichte des Grenzgebietes Gartow-Schnackenburg, Lüchow 1961, Teil III, S. 121

25 u. a. Schlesische Zeitung, Breslau, 26. 10. 1941

26 Frankfurt a. M. 1970

27 Ball a.a.O.

28 Junack a. a. O.

Für freundliche Unterstützung bei der Beschaffung von Quellen danke ich den Herren Dr. O. Bessenrodt, Burgdorf; Gemeindedirektor Wilhelm Junack, Gartow; Günter Kaiser, Nortrup; Reg.- und Schulrat i. R. Alfred Pudelko, Gartow; Dr. Hans-Dietrich Röhrs, Maschen, und dem Karl-May-Verlag, Bamberg.


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