//144//

HANSOTTO HATZIG

Et in terra pax - Und Friede auf Erden

Karl Mays Textvarianten



Karl May hat seinen vier Kapiteln »Et in terra pax« nicht einfach ein fünftes angehängt und das Ganze dann »Und Friede auf Erden« genannt. Die bisherigen Abschnitte des vorliegenden Buches, schreibt er (F 490) sind, wenn auch in etwas anderer Fassung, bereits einmal im Druck erschienen ... So lassen sich die Fäden vom 5. Kapitel bis an den Anfang zurückverfolgen. Für die Neufassung hat May jedes Kapitel sozusagen »aufgefächert«. Das erste Kapitel ist nahezu unverändert geblieben im zweiten wird der Fächer nur wenig auseinandergeschlagen (ca. 7 Druckseiten), und aus den letzten vier Spalten des vierten Kapitels (P 281 - 84) wurden die 170 Seiten des neuen 5. Kapitels gestaltet.

   Die Shen gibt es unter diesem Namen in »Pax« noch nicht; sie wird in »Friede« auf S. 313 zum erstenmal erwähnt und auf S. 324 näher beschrieben. Bis zu dieser Stelle - nach der Ankunft Wallers in Kota Radscha - war jedoch in »Pax« die entsprechende Brüderschaft des »Pu« schon mehrfach genannt (P 72 117f. 125 129f., 208, 212). Kurz vor der ersten Erwähnung der Shen wurde in »Friede« das erste Auftreten des Malaienpriesters eingefügt (F 311 f.), der in »Pax« zuvor wohl zweimal erwähnt wird, aber nicht auftritt (P 195 f.). Er begleitet nun die Träger von Wallers Sänfte, wovon in »Pax« keine Rede ist. Hierdurch erst erhält die Erzählung ihre große, ehrfurchtgebietende Gestalt die seit »Am Jenseits« in keinem von Mays Romanen fehlt: Münedschi, Ustad Marah Durimeh Tatellah Satah. Dilke schließlich spielt in »Pax« nur eine Episodenrolle. Er wird in beiden Fassungen als einer der Zivilisatoren vorgestellt (P 141, F 194) erscheint aber bei seinem einzigen wesentlichen Auftritt in »Pax« als ein edler, ein tapferer Mann, der es fertig gebracht hat, sich selbst zu besiegen (P 142). Verändert wurde auch Wallers Heilungsprozeß; er läuft in der Urfassung schneller ab, wodurch


//145//

sich manche Textvarianten ergeben. Gestrichen hat May in der Neufassung schließlich ein persönliches Bekenntnis zu Emma.

   Im folgenden werden nur wesentliche Textstellen vorgeführt die in »Pax«, nicht aber in »Friede« enthalten sind; außerdem werden einige Beispiele für charakteristische Textänderungen gegeben. Minutiöse Änderungen wurden nicht berücksichtigt, denn es war nicht beabsichtigt, die Tabelle einer Vergleichslesung wiederzugeben. Von solchen kleinen Änderungen seien hier folgende Beispiele genannt: Aus »Kavalleristen« (P 93) wurden »Europäer« (F 125), aus »Engländern« (P 108, 110, 114) wurden ebenfalls »Europäer« (F 149, 152, 157) oder (P 109 ff., 115, 122 f., 135 ff.) auch »Gentlemen« (F 150 ff., 158, 166f., 185 ff.). Prof. Garden kommt nicht mehr aus »Philadelphia« (P 107, 151) sondern aus »Amerika« (F 147, 211); in F 295 und 391 ist »Philadelphia« allerdings stehen geblieben. Anreden per »Sie« (P 112 f.) wurden in »Ihr« umgeändert (F 154, 156).

   Das Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus« wurde von May für »Friede« leicht überarbeitet. Die »Pax«-Fassung hatte folgenden Wortlaut:

Tragt euer Evangelium hinaus,
Um aller Welt des Himmels Gruß zu bieten,
Doch achtet jedes andre Gotteshaus;
Ein wahrer Christ stört nicht den Völkerfrieden!

Gebt, was ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit,
Das andre alles sei daheim geblieben.
Grad weil sie einst für euch den Tod erlitt,
Lebt sie durch euch, um weiter fortzulieben.

Tragt euer Evangelium hinaus,
indem ihrs lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei euer Gotteshaus,
In welchem ihr erklingt als Gottesworte.

Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder schlagen.
Dann wird ein Paradies die Erde sein,
Denn ihr habt ihr den Himmel zugetragen.

*


//146//

1. Kapitel: Am Thore des Orients

   (Allgemeines - Erste Begegnung mit der Bruderschaft des Pu)

   Über Waller und Mary (P 10) fehlt in F 14 nach dem 2. Absatz die Angabe: ... und ich konnte aus verschiedenen Äußerungen schließen, daß sie vermögend waren und daß der Vater nicht nötig gehabt hatte, sich des Gehaltes wegen für seinen geistlichen Beruf zu entscheiden. Auf Wallers Frage, aus welcher Stadt die Chinesen kämen, antwortet der Kellner (P 20): »Das wissen wir nicht« - »So fragt man sie. Man will doch wissen, mit wem man hier verkehrt ...« In F 27 lautet die Antwort: »Aus Canton.« In P 22 nahm Ostasien den Wunsch der Vereinigten Staaten, so dreist er war, von seiner heiteren Seite auf; in F 29 kam es dem Wunsch der Vereinigten Staaten jovial entgegen. Die vier Schlußabschnitte des Kapitels wurden für »Friede« (100 f.) neu geschrieben; in P 71 f., worin der erste Hinweis auf die Brüderschaft des Pu zu finden ist, lauten sie:

   Als ich den festen Entschluß kundgab, übermorgen abzureisen, machte Fu den Vorschlag, den letzten Abend wieder draußen bei den Pyramiden zu verbringen, und alle stimmten sofort ein. Wir bekamen mein Lieblingszimmer wieder und saßen am Abend an derselben Stelle, doch leider nicht beim Mondesscheine. Aber die Sterne funkelten über den Pyramiden, und in uns wohnte dieselbe Liebe, in welcher wir uns am vorigen Male hier zusammengefunden hatten.

   Als wir uns dann gute Nacht sagten, richtete Fu es so ein, daß er zuletzt noch allein bei mir im Zimmer war. Da sagte er:

   »Sie gehen, und wir bleiben noch; aber es ist mir möglich, mit Ihnen zu gehen, obgleich ich bleibe - - durch einen kleinen Gegenstand. Ich meine nicht ein Souvenir im aufdringlichen Sinne, denn Sie sind ebenso wenig wie ich der Mann, sogenannte »Andenken« mit sich herumzutragen. Aber Sie haben ja gesagt, daß Sie nach dem Tigris, dann nach Indien und vielleicht noch weiter, bis nach China gehen. Ich bitte Sie, eine Empfehlung von mir mitzunehmen! Fragen Sie nicht, wohin, und fragen Sie auch nicht, an wen! Geben Sie sie niemals aus der Hand, und sprechen Sie nicht von ihr! Ich kenne Sie und weiß, daß Sie fühlen werden, wann, wo, wem und warum sie vorzuzeigen ist. Ob wir uns jemals wiedersehen, weiß ich nicht; aber hören werden Sie ganz gewiß von mir, wenn Sie bei dem Klage meines Namens auch nicht wissen, daß der Genannte Ihr dankbarer Gefährte von den Pyramiden ist, und gerade dann, wenn ich Ihnen dienen kann, werde ich bei Ihnen sein, Sie brauchen mich nur zu rufen. Richten Sie diesen Ruf an das, was Sie in diesem Augenblick von mir empfangen!«

   Er gab mir ein aus feinem Leder gefertigtes Couvert kleinsten Formates in die Hand und ging dann so schnell fort, daß ich ihm gar nicht danken konnte. Als ich es öffnete, sah ich, daß es ein Stück pergamentartiges Papier enthielt, welches ein gleichseitiges Dreieck bildete. Es war auf der einen Seite weiß, auf der anderen mit


//147//

Figuren und Zeichen versehen. Drei schlankgezogene Drachen bildeten die Einfassung der Ränder, und in jeder Ecke stand ein chinesisches Schlüsselwort. Das erste war »k'i«, das veraltete Zeichen für Luft und Odem; es bedeutet auch den Urgrund aller religiösen Dinge. Die andere Ecke enthielt ein »schi«, das Zeichen für Geist, für Genius der Erde. Und im dritten Winkel sah ich ein »ku«, was Hart in Weich eingeschlossen bedeutet und auch das Zeichen für die Brüderschaft ist.

   Ich dachte jetzt nicht daran, mich nach dem Sinne dieser Zeichen zu fragen. Die Hauptsache waren die Worte, mit denen die Gabe mir überreicht worden war. Und diese hatten noch viel rätselhafter geklungen, als mir die Schrift erschien. Daß der Sinn dieser Charaktere bei einigem Nachdenken mir nicht unergründlich bleiben werde, das wußte ich; aber ob ich einst behaupten dürfe, daß mir die Bedeutung dessen, was der Chinese gesagt hatte, klar geworden sei, das konnte nur die Zukunft lehren ...

*

   2. Kapitel: Im Herzen des Islams

   (Allgemeines - Die Brüderschaft des Pu - Dilke)

   Zwei kleine interessante Einfügungen erweiterten den Text von P 73 in F 102 zu folgender Fassung (Einfügungen in Klammern): (Im Sudan, in Arabien und) so lange wir durch Gegenden gekommen waren, in denen arabisch gesprochen wird, hatte ich von dieser meiner Begabung freilich nichts bemerkt... Aber als (dann nach ausgedehnten monatelangen Wanderungen jenseits von Bagdad) an der indischen Grenze das englische Sprachgebiet begann...

   Das rücksichtslose Benehmen der Reiterkavalkade war ursprünglich kürzer gefaßt (P 93, F 125-27):

   Wir näherten uns einer Straßenkreuzung. Von jenseits kamen uns Rickschahs, Zebuwagen und dicht gedrängte Fußgänger entgegen; von links und rechts her flutete ein ähnlicher Verkehr, und hinter uns hörten wir plötzlich Hufschlag und schreiende Stimmen. Ich sah mich um. Es kam eine Schar Kavalleristen geritten, im kurzen Galopp und straßenbreit. Ich kannte die Art dieser Herren, die sich um nichts, am allerwenigsten um die gesunden Glieder tief unter ihnen stehender Völkerschaften kümmern. Da war weiter nichts zu thun, als sich zu fügen und zu salvieren. Ich ließ schnell halten, stieg ab und machte mich seitwärts an das nächste Haus; Omar folgte meinem Beispiele. Da waren die Gentlemen auch schon da. In demselben Augenblicke bog eine Rickschah um die Ecke, auf uns zu, in unverminderter Schnelligkeit. Der Passagier schien Eile zu haben, und der vorgespannte Tamile hatte das Militair nicht sehen können. Den Reitern machte es sichtlich Spaß, die Passanten in Verlegenheit zu setzen. Sie lachten zu den Angstrufen, welche überall erschollen, und als sie vorüber waren, konnte man sehen, was sie durch ihren Uebermut erreicht hatten. Die Niedergerissenen standen auf, so gut sie konnten; die Getretenen oder Gequetschten rieben


//148//

schimpfend die schmerzenden Glieder. Die erwähnte Rickschah war im Zusammenprall umgeworfen worden; die Folge war ein zerbrochenes Rad, und dem Tamilen hatte die Deichsel das Gesicht verletzt. Der Passagier lag unter dem Fahrzeuge, arbeitete sich aber schnell hervor und wendete sich in englischer Sprache an mich als den ihm nächsten Europäer ...

   In dem gefundenen Damennotizbuch mit den Initialen M. W. steckte ursprünglich nur ein zusammengefaltetes Papier, nicht aber die Fotografie mit dem Bildnis von Marys Mutter (P 95, F 130). - Der große Abschnitt über religiöse Überhebung und nationalen Hochmut (F 134 f.) ist in P 98 f. nicht enthalten. Prof. Garden berichtet, daß Waller erst nach dem Tode seiner Frau, unterstützt von einer Art Sekte zu seinem Missionswerk nach China aufgebrochen sei (F 142). In der Erstfassung sieht das etwas anders aus (P 104): »Er wollte das auf eigene Faust und aus eigenen Mitteln tun. Diese letzteren waren für solche Ausgaben doch nicht ganz hinreichend, und dies gab ihr (Mrs. Waller) den materiellen Grund zum Widerstreben. Da starb sein reich gewordener Bruder, kinderlos, und er beerbte ihn. Nun waren die Mittel überreich vorhanden, und es hätte für ihn kein Halten mehr gegeben, wenn die Gute nicht schwer krank gewesen wäre. Sie starb, ohne daß ich es wußte, denn ich war zur Zeit ihres Todes schon in Persien. Seine Tochter schrieb es mir.«

   Sejjid Omar berichtet, was er gehört hat: »Es muß ein Mann hier wohnen, welcher Ohm Krüger heißt, und ein Leyds, ein Jameson, ein Chamberlain« (P 109). In F 150 heißt es: »Es muß ein Mann hier wohnen, welcher Kun-Yen heißt. Auch ein gewisser Tuan und ein anderer, dessen Name Yung-lu ist.« Ein Satz über das Treiben der Pioneers der Civilisation (P 110) fehlt später in F 151: Es kam die Rede auf eine gewisse Depesche und auf einen gewissen Emperor, man bezeichnete die Depesche als so und so und den Emperor als das und das; die Worte sind nicht wiederzugeben!

   May schreibt Postkarten nach Deutschland (P 114, F 157), wozu er folgende, später weggelassene Erklärung gibt: Um nicht die Städte, Hausnummern und Namen merken zu müssen, hatte ich mir eine Liste angelegt, welche im Notizbuche steckte. Dieses enthielt alle wichtigen Papiere, die man der Sicherheit wegen am liebsten bei sich trägt. Ich zog mit der Liste alles heraus, was sich in dem betreffenden Fach befand und legte es neben sie hin, ohne zu beachten, was gerade obenauf


//149//

zu liegen kam. Mit diesen Sätzen wird die zweite Erwähnung der Brüderschaft des Pu vorbereitet.

   Bei der ersten Begegnung zwischen May und Fu heißt es: ... und so könnten wir als charakterfeste Männer noch heute miteinander dort in Point de Galle sitzen, ohne den Mund aufgetan zu haben ... Die letzten sechs Worte verraten noch, daß sich die Sache ursprünglich (P 116-19) ganz anders abgespielt hat, als es in der Neufassung zu lesen ist (F 160), wo sich die beiden Partner, ohne miteinander gesprochen zu haben, trennen:

   ... wenn nicht sein Blick auf meine Liste und die neben ihr liegenden anderen Sachen gefallen wäre. Da sprang er, von plötzlicher Ueberraschung aus denn Schweigen getrieben, empor, deutete auf diese Gegenstände und rief aus:

   »T'ien-na! Was sehe ich? Was ist das? Wo haben Sie das gefunden?«

   T'ien-na ist eine chinesische Interjektion und heißt soviel wie »mein Himmel!« Das Uebrige sprach er in seinem Pitchenenglisch. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde aus einem verwunderten beinahe ein drohender. Da er nicht mehr saß, so zwang mich die Etikette, auch aufzustehen. Ich that das und antwortete in ruhigem Tone:

   »Das ist, wie Sie sehen, ein kleines Etui.«

   Ich bemerkte nämlich erst jetzt, daß das Ledercouvert, welches mir Fu geschenkt hatte, obenauf lag.

   »Ja doch, ja, ein Etui!« fuhr er schnell sprechend und dringlich, fast gebieterisch fort.
»Aber wie kommt das in die Hand eines Europäers? Ich will wissen, was sich in dieser Hülle befindet! Ich muß und muß es wissen!«

   Ein Nichtkenner des Orients hätte nun sehr wahrscheinlich einen großen Fehler begangen; mir aber paßte zunächst dieser befehlshaberische Ton nicht, und sodann ahnte ich, heute etwas über die Bedeutung des geheimnisvollen chinesischen Dreiecks erfahren zu können. Sollte das aber geschehen, so durfte mich dieser Fang weder für ununterrichtet noch für einen Mann halten, der sich imponieren ließ. Ich nahm also die Tasse, trank den Thee vollständig aus, setzte sie, den Boden nach oben, auf die Unterschale zurück, trat an das Fenster und schaute in einer Weise auf den Hafen hinaus, als ob außer mir niemand im Zimmer sei. Damit hatte ich ihn in einer Weise zum Fortgehen aufgefordert, welche für einen Chinesen gar nicht deutlicher sein konnte.

   Er ging aber nicht. Ich hörte am leisen Rauschen seines Gewandes, daß er sich in einer Tasche zu schaffen machte; dann sagte er in entschlossenem Tone:

   »Sie scheinen, wie mir diese leere Tasse sagt, unsere Sitten zu kennen, aber gewiß nur oberflächlich. Sie schicken mich fort, aber ich bleibe doch, denn es handelt sich unter Umständen um Ihr Leben, wenn Sie dieses Etui dem nicht wiedergeben, der es verloren hat. Ich bin überzeugt, daß Sie nicht wissen, was Sie besitzen, und will Ihnen beweisen, daß ich ein Recht zu meinem Verhalten habe, ja noch mehr, ich bin sogar verpflichtet dazu. Die Aehnlichkeit der Gegenstände mag meine Legitimation sein. Hier, sehen Sie!«

   Ich drehte mich wieder nach ihm um. Er hielt mir ein ledernes Couvert von genau derselben Größe und Farbe hin. Ich nahm es aus seiner Hand, öffnete es und sah,


//150//

daß es ein weißes, pergamentartiges Papier enthielt, welches genau so geschnitten und mit Drachen versehen wie das meinige war. Auch die Zeichen für »schi« und »ku« waren da, aber das »k'i« fehlte in der dritten, leeren Ecke. Durch sein Verhalten und dieses zweite Exemplar der Zeichnung wurde mir wahrscheinlicher, was ich bisher nur vermutet hatte. Es giebt in China geheime Gesellschaften, welche auf die dortigen Zustände einen Einfluß ausüben, dem sich kein Mandarin, und stehe er noch so hoch, und selbst der Kaiser nicht entziehen kann. Diese Gesellschaften sind über das ganze Reich verbreitet, und bei der Größe dieses Gebietes ist es unmöglich, daß die einzelnen Mitglieder einander kennen können. Was ist da wohl selbstverständlicher, als anzunehmen, daß es wenigstens für die hervorragenden Führer gewisse Zeichen giebt, an denen sie sich erkennen, mit denen sie nachweisen, wer und was sie sind? War das Geschenk von Fu vielleicht ein solches Zeichen, mit dem er mich vor etwaigen Gefahren hatte schützen wollen? Ich hatte es vermutet, und jetzt glaubte ich es fast. Fang hatte zwei, ich drei Charaktere auf dem Papier; das meinige war also vollständiger als das seinige. War hieraus etwa auf einen höheren Wert, auf einen Rangunterschied zu schließen? Ich nahm mir vor, vorsichtig zu sein und den Geheimnisvollen zu spielen. Darum gab ich ihm sein Zeichen höchst gleichgültig zurück, nahm das meinige aus dem Couvert, zeigte es ihm und steckte es dann wieder hinein, das alles, ohne ein Wort dazu zu sagen.

   Er sah mich starr und schweigend an, und dann kam es langsam und stoßweise über sein Lippen:

   »Ein Pu mit vollen Ecken! Ich habe bisher erst nur eins gesehen! Dieses ist das zweite, und viele giebt es nicht; das wissen wir! Und gar ein »k'i« als drittes Zeichen! Kannst Du es lesen?«

   Ein solches Papier wurde also Pu genannt. Putheu heißen die Klassenhäupter, die Schlüsselworte, die Hauptzeichen der chinesischen Schrift und Sprache. Pu hatte hier wohl die allgemeine Bedeutung als Zeichen, als Ausweisgegenstand. Ich wollte ihm natürlich nicht sagen, von wem ich mein Pu hatte, durfte ihn aber auch nicht bei der Meinung lassen, daß es von mir gefunden worden sei. Darum antwortete ich ihm schnell und zurückweisend in chinesischer Sprache:

   »Wer darf den Besitzer eines solchen Pu fragen, ob er lesen kann! Verdiene dir ein »k'i«; dann wollen wir weiter mit einander sprechen, eher aber nicht!«

   Da preßte er seine beiden Hände ineinander, hob sie dreimal bis zur Stirn empor, verbeugte sich dreimal so tief, daß er mit der Stirn fast den Fußboden berührte, und sagte in demütigem Tone:

   »Du sprichst die Sprache der »Blume der Mitte«; ich habe kein Recht, weiter zu zweifeln; verzeihe mir, o Mandarin des großen Pu! Mögen alle Ta-tau-hui so von der Erde verschwinden, wie ich jetzt aus deinem Zimmer verschwinden werde, damit meine Geringfügigkeit dich nicht mehr belästige! Aber verderbe mich nicht, sondern beschütze mich! Ich habe es gut gemeint! Meine Pflicht ist, dir zu melden, daß ich mit dem nächsten österreichischen Dampfer nach Osten fahre. Ich habe gelernt, was ich lernen sollte, und kehre nun heim, um dem höchsten Pu zu berichte, was ich zu berichten habe. Morgen gehe ich nach Colombo. Mein Leben und mein Eigentum ist dein Leben und dein Eigentum. Fordere von mir; ich gehorche gern!«

   Er zog sich unter steten Verneigungen, immer rückwärts gehend, nach der Thür zurück und »dienerte« dann hinaus.

   War das nicht überraschend, nicht sonderbar?

   Ich war ein »Mandarin des großen Pu!« Aber was war das eigentlich für eine Art


//151//

von Menschenkind? Welche Pflichten lagen mir ob, und mit welchen Rechten war ich ausgestattet? Wie gern hätte ich diesen kleinen Fang noch länger hier behalten, um mehr zu erfahren; aber mein »hoher« Ton hatte ihn fortgetrieben, und durch den nachträglichen Wunsch, daß er noch bleiben möge, hätte ich mich selbst desavouiert.

   Er gehörte unbedingt einer geheimen Verbindung an, deren Mitglied auch ich war, sobald es mir beliebte, mein Pu vorzuzeigen. Wer hätte so etwas für möglich halten können! Und diese geheime Gesellschaft hatte gegen die fremdenfeindlichen »Boxer« zu wirken, denn unter den Ta-tau-hui (wörtlich: Große Messer), welche Fang von der Erde verwünschte, waren diese Boxer gemeint! Das war wenigstens ein Grund, mir wegen meiner von mir ganz unbeabsichtigten Mitgliedschaft keine moralischen Vorwürfe zu machen. Ich war von Fang zuletzt, als er chinesisch sprach, du genannt worden. Auch der Chinese hat das ehrende »nim« oder »schim«, welches »Sie« bedeutet, und da es von Fang nicht angewendet worden war, so schien es den Mitgliedern seiner heimlichen Brüderschaft vorgeschrieben zu sein, sich untereinander du zu nennen.

   Eine auf Grund dieser Pu-Angelegenheit geänderte Passage des späteren Gesprächs (F 169 f.) zwischen Fang und May lautete in P 125: »Ich bin jetzt nicht der Besitzer eines Pu, sondern ein Chinese wie jeder andere Chinese. Darf ich mit Ihnen sprechen?« fragte er. »Und ich bin jetzt nicht ein Mandarin des großen Pu, sondern ein Deutscher, der Ihre Nation liebt, wie er alle Menschen liebt, und sich also gern mit Ihnen unterhält. Kommen Sie! Wir gehen aus dem Licht!« antwortete ich. Er folgte mir nach einer Bank, welche am Rande des Decks stand, und setzte sich dort ohne sein chinesisches Zeremoniell an meine rechte Seite. Da saßen wir im milden Scheine der Sterne. Im gleichen Gespräch entfiel in F 177 der folgende Satz aus P 129: Und wir, die wir zur Brüderschaft des Pu gehören, breiten als die ersten munteren Friedensvögel unsere Schwingen aus, der Sonne entgegenzufliegen und, von ihrem Glanze getragen, zur Heimat zurückzukehren, um ihr das Licht zu bringen, welches wohl der Himmel, aber nicht der Mensch uns gibt. Gegen Schluß des Gespräches heißt es dann noch (P 130, in F 178 gestrichen): »Ich bin fertig, bin am Ende! Ich habe vorhin gesagt, daß ich jetzt nicht der Besitzer eines Pu, sondern ein Chinese wie jeder andere Chinese sein wolle; als solcher habe ich gesprochen. Das Pu gebietet uns eine andre Sprache, in welcher wir uns heimlich üben, um, ohne bei den Strengerdenkenden anzustoßen, mit dem Europäer in der freundlichen Weise verkehren zu können, die es uns vielleicht ermöglicht, seine gegen uns gerichteten Vorurteile zu überwinden und ihn zu der Überzeugung zu bringen, daß eine friedliche Wechselwirkung zwischen unseren beider-


//152//

seitigen Kulturformen in seinem eigenen Interesse liege.« Gestrichen wurde in F 179 auch (P 130): »Einem Mandarin des großen Pu gegenüber hätte ich es nicht wagen dürfen, dieses Wort unaufgefordert zu ergreifen; da Sie aber nicht dies, sondern nur ein Deutscher sein wollten, so durfte ich es für erlaubt halten.« Der Schluß des Gesprächs (F 180) hatte in P 131 f. folgende Fassung:

   Nun legte er die Hände zusammen, hob sie bis zur Stirn empor, verbeugte sich und ging. Das war eine sonderbare Unterredung gewesen, oder vielmehr keine Unterredung, weil ich doch nicht eine Silbe gesprochen hatte! Welch eine so ganz bedenkenlose Aufrichtigkeit! Wie hätte sich wohl ein anderer Europäer verhalten wenn er an meiner Stelle gewesen wäre?! Ebenso still wie ich? Fast möchte ich es glauben. Gegenbehauptungen hätten ihm nichts genützt, denn dieser kleine Fang war so scharfsinnig und so wohlunterrichtet, daß man bei seinen Ausführungen sich beinahe als eine Verkörperung der Schwächen fühlte, von denen er gesprochen hatte. Und für mich lag noch ein anderer Grund zum Schweigen vor; es kam mir vor allen Dingen darauf an, ihm möglichst viel über die geheime Verbindung abzulauschen, und wer lauschen will, der soll nicht sprechen. Meine Ausbeute war in materieller Beziehung so viel wie Null; aber ich hatte erfahren, daß der Zweck der Gesellschaft ein friedensfreundlicher sei. Trotzdem schien die Disciplin mit großer Strenge gehandhabt zu werden; das ersah ich aus der Unterwürfigkeit Fangs, und das ging auch aus seiner Bemerkung, als er in Point de Galle mein Pu hatte liegen sehen, hervor, daß es sich unter Umständen um mein Leben handle. So ganz unverfänglich war die Sache für mich nicht!

   Eine völlige Veränderung erfuhr der Schluß des Kapitels. An dieser Stelle fand die erste Auffächerung statt (P 141-44, F 193-200): zugleich wurde die Angelegenheit Dilke zum Abschluß gebracht, auf den May dann nur noch einmal, am Anfang des folgenden Kapitels, zu sprechen kommt (P 198 f.). Der Schluß des Kapitels lautet wie folgt (der eingeklammerte Absatz wurde in F 199 beibehalten):

   Kurze Zeit nach mir trat eine Gruppe bekannter Personen in, den Saal - - die sechs Engländer, welche mit uns von Colombo gekommen waren und nun wie es schien, auch hier wohnten. Sie ließen sich, um mehr Platz zu haben, zwei Tische zusammenstellen und hatten es sich bequem gemacht, als einer von ihnen mich sitzen sah. Ich saß mit dem Gesicht nach ihnen gerichtet und bemerkte, daß sie hierauf von mir sprachen. Sie schienen sich zu beraten, dann stand der, welchen Omar gerettet hatte, auf und kam zu mir her. Seine Schritte waren sichtlich zögernd und in seinen Zügen lag der Ausdruck einer Verlegenheit, welche er nicht ganz überwinden konnte. Bei mir angekommen, verbeugte er sich sehr formell und sagte:

   »Gestatten Sie, mein Herr! Ich heiße Dilke und bin Edelmann.«

   Ich stand auf, verbeugte mich in derselben Weise und nannte meinen Namen. Er hatte deutsch gesprochen, wenn auch nicht fließend, aber doch nicht schlecht.

   »Meine Kameraden sind auch Engländer und Edelleute,« fuhr er fort. »Sie haben nicht gesagt, was Sie sind - - - - ?«


//153//

   »Ich bin hier fremd«, antwortete ich, »weiß aber trotzdem ganz genau, welche Verpflichtungen Ihre gesellschaftliche Stellung mit sich bringt.«

   Seine Schläfen röteten sich ein wenig; er beherrschte sich aber und sprach ruhig weiter:

   »Ich habe im Anschlusse an diese Ihre Bemerkung eine Bitte auszusprechen. Wo befindet sich jetzt, in diesem Augenblicke, Ihr arabischer Diener, welcher, glaube ich, Sejjid Omar heißt?«

   »Das ist allerdings sein Name. Er ist drüben in der Dependence, wo ich wohne.«

   »Gestatten Sie mir, hinüberzugehen, um ihn einzuladen? Wir wünschen, daß er mit uns speise.«

   Das hatte ich nicht erwartet! Er schien diesen Gedanken auf meinem Gesicht zu lesen, denn er fügte lächelnd hinzu:

   »Wir haben, ganz abgesehen davon, daß ich ihm mein Leben verdanke, eine Angelegenheit in das Gleichgewicht zu bringen, welche uns nach meinem Sturze in das Wasser höchst peinlich geworden ist. Auch Sie sind mit von ihr berührt, mein Herr. Meine Kameraden haben mich zu ihnen gesandt, um Sie zu ersuchen, jenen Abend in Point de Galle zu vergessen!«

   Er sah mich erwartungsvoll an. Da gab ich ihm die Hand und sprach:

   »Mr. Dilke, Sie sind wirklich ein edler, ein tapferer Mann, der es fertig gebracht hat, sich selbst zu besiegen. Das ist schwer, sehr schwer! Ich achte Sie. Sagen Sie Ihren Kameraden, daß alles ausgestrichen ist.«

   »Wirklich?« fragte er im Ton der Erleichterung.

   »Ganz gewiß!«

   »Wir danken Ihnen herzlich! Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß wir in Besorgnis vor General Needler waren, welcher mit seinen Damen hier im Hotel wohnt. Er ist ein sehr guter Herr, denkt aber über gewisse Dinge strenger, als wir jungen Leute denken. Der Zufall könnte uns da sehr leicht in eine fatale Lage bringen. Ich freue mich darum sehr darüber, daß Sie vergessen wollen. Also ich darf Ihren Diener zu uns holen?«

   »Ja. Aber sagen Sie ihm, daß ich Ihre Einladung genehmige, sonst geht er nicht mit. Er gehört dem ältesten muhammedanischen Adel an und hält es nicht etwa für eine Herablassung von Ihnen, wenn Sie ihn zu sich laden!«

   »Ich danke!«

   Er ging zunächst zu seinen Gefährten, um ihnen mitzuteilen, was ich gesagt hatte; dann verließ er den Saal. Er war kaum hinaus, so kam ein Herr mit zwei Damen, jedenfalls Vater, Mutter und Tochter. Er war schon alt, trug sich aber militärisch grad und stramm. Die Dienerschaft flog. Es war ihm ein Tisch reserviert worden, welcher ganz in der Nähe dessen stand, an welchem die Herren saßen. Als er sich ihnen näherte, standen sie auf. Er grüßte gütig zu ihnen hinab. Wahrscheinlich war das der General, von welchem Dilke gesprochen hatte.

   Als dieser meinen Omar brachte, kam letzterer auf mich zu und fragte:

   »Erlaubst du es wirklich, Sihdi, daß ich mit diesen Engländern speise?«

   »Ja. Sie haben um Verzeihung gebeten.«

   »Mich auch. Ich werde also genau so thun, als ob das Hotel in Point de Galle gar keine Treppe gehabt habe, welche man hinuntergeworfen werden kann.«

   Nun ging er hin und wurde ersucht, seinen Platz neben Dilke zu nehmen.

   Sein Erscheinen war erst fast kaum beachtet worden; aber als er nun bei den Englishmen saß und genau so wie sie bedient wurde, wendete sich ihm die allgemeine


//154//

Aufmerksamkeit zu. Man fragte die Kellner; man erfuhr, daß er nichts, als ein Diener sei; das erregte außerordentliche Verwunderung. Auch der General erkundigte sich bei der Dienerschaft. Er warf einen forschenden Blick auf mich und sah dann zu Omar hinüber, hieraus schloß ich auf die Antwort, die man ihm gegeben hatte. Dann winkte er Dilke zu sich. Dieser erstattete ihm in achtungsvoller Haltung einen längeren Bericht, welcher besonders die beiden Damen zu interessieren schien. Sie schauten jetzt mit andern Augen zu Omar hin und beobachteten ihn, als Dilke mit zustimmenden Worten entlassen war, mit unausgesetztem, freundlichen Interesse.

   [Nun muß ich sagen, daß der Sejjid zwar am liebsten auf arabische Weise, also mit den zehn Fingern, aß; aber seit er bei mir war, hatte er gelernt, auch mit dem Besteck in der Weise umzugehen, als ob er das von Jugend auf gar nicht anders gewohnt sei. Die tiefe, ernste Feierlichkeit, welche dann jede seiner Handbewegungen charakterisierte, war für jeden andern einfach unerreichbar. So auch hier! Er saß in einer Haltung zwischen den Englishmen, als ob nicht sie ihn, sondern er sie zu Gaste geladen habe, und benahm sich zwar sehr freundlich, aber dabei so gesetzt und würdevoll, daß es ihnen gewiß nicht einfallen konnte, ihn als den Beschenkten zu betrachten. Dem unverdorbenen Orientalen ist jene ungekünstelte Unnahbarkeit eigen, welche auch sein Land, nicht aber der Occident besitzt.]

   Obwohl ich wußte, daß mein Omar nicht den geringsten Fehler begehen werde aß ich doch sehr langsam, um den Saal nicht eher als er zu verlassen. Aber es gelang mir nicht, diesem Vorsatze treu zu bleiben, und daran waren die Generalin und ihre Tochter schuld. Ein Araber, welcher einen englischen Lord aus der See gerettet hat ist eine Persönlichkeit, für welche man sich selbst als sonst sehr zurückhaltende Lady interessieren darf. Und wenn dieser Araber eine solche Gestalt, ein solches Gesicht und ein so wohlanständiges, unaufdringliches Benehmen wie mein Sejjid hat, so kann man es sich sogar gestatten, ihn ohne alle gesellschaftlichen Befürchtungen zu sich kommen zu lassen. Mutter und Tochter waren beide wohl gutherzige Damen, dazu vielleicht ein wenig wißbegierig, kurz, ich sah, daß sie den General so lange mit einer sich auf Omar beziehenden Bitte bearbeiteten, bis er nach längerem Sträuben seine Zustimmung gab. Als die sechs Herren sich nach Tische erhoben und ihrem Gaste die Hände reichten, winkte er diesen zu sich und sagte ihm einige Worte. Ich hörte Omars Erwiderung:

   »Ja, ich will den Kaffee gern mit Ihnen trinken, muß aber vorher »unsern Herrn« dort um Erlaubnis fragen.«

   Da winkte ich ihm diese Erlaubnis zu und entfernte mich in der Ueberzeugung, daß er von heute an die »Inglis« anders beurteilen werde, als er es bisher gethan hatte.

*

   3. Kapitel: Am Thore Chinas

   (Dilke-Reminiszenz - Wette im Zeichen des Pu - Wallers Krankheit)

   Folgerichtig fehlt in diesem Kapitel die Passage über Dilkes Dankbarkeit gegenüber Omar (P 198-200) in F 279/80, da May nun andere Pläne mit Dilke verfolgte:


//155//

   Ich ging, um noch einige Worte mit Tsi zu sprechen und mich dann auch einmal uns meinen Sejjid Omar zu bekümmern, für den so eine kleine Aufmerksamkeit stets großen Wert besaß. Er unterhielt sich mit Bill, dem Steuermann, und rauchte dabei eine Cigarre, welche dieser ihm geschenkt hatte. Nie stand er anders vor mir als kerzengerade und stramm, wie ein Soldat vor seinem Offizier; das war ein vollständig freiwilliger Ausdruck seiner Achtung, der ihn selbst mit Stolz zu erfüllen schien. Näherte ich mich ihm, wenn er eine Cigarre rauchte, so warf er sie unbedingt weg, auch wenn er sie soeben erst angebrannt hatte. Das wollte er auch jetzt thun; ich verbot es ihm. Er hatte schon mit der Hand ausgeholt. Als er sie wieder sinken ließ, sah ich beim Scheine des elektrischen Lichtes an ihr etwas funkeln, was nicht der glimmende Brand der Cigarre sein konnte. Ich ergriff diese Hand, um nachzuschauen. Er trug, wie jeder Orientale, gern Ringe an den Fingern; sie hatten zwei für ihn sehr wichtige Eigenschaften: sie waren sehr groß, aber auch sehr billig. Jetzt sah ich einen neuen, der aber keines von diesen beiden Attributen besaß. Er hob die Hand näher an meine Augen und sagte:

   »Diese Steine sind echte Almaß (Diamanten), Sihdi. Man muß sie am Tage in das Licht legen, nicht etwa in den Kasten; dann geben sie es abends wieder.«

   Ich dachte mir natürlich gleich, von wem er ihn hatte, fragte aber dennoch:

   »Wo hast du ihn gekauft?«

   »Gekauft? Ich? O, Sihdi, was du von mir denkst! Ein Ring, für den ich einen halben Franken gebe, geht ebenso weit um meinen Finger herum wie einer, welcher tausend Franken kostet. Ich bin kein Thor. Diesen hier hat mir der Engländer geschenkt, den ich aus dem Wasser geholt habe. Und außerdem mußte ich ihm die Adresse meines Vaters sagen; warum, das weiß ich nicht.«

   »Du wirst es erfahren, wenn du wieder nach Kairo kommst. Er will dir dankbar sein.«

   »Er mag es sein, aber ja nicht meinetwegen! Ich brauche nichts; aber was die Dankbarkeit thut, das wird bei Allah eingeschrieben und einst dem Menschen tausendfältig zurückgegeben. Darum soll man nie einen Dank zurückweisen, und darum habe ich diesen Ring auch angenommen. Ich wollte ihn aufheben, habe ihn aber angesteckt, weil wir uns auf einem so vornehmen Schiffe befinden. Das muß man zu ehren wissen!«

   So komisch das auch klingen mag, ihm war es wirklich Ernst damit. Er hatte sich für unsere schöne »Yin« geschmückt. Sein geistiger Horizont war während unserer Reise weiter geworden, doch ohne daß irgend eine seiner guten, liebenswürdigen Eigenschaften darunter gelitten hatte. Uebrigens freute ich mich besonders um seinetwillen über Dilkes Dankbarkeit. Es war das ein nicht zu unterschätzender Gewinn für seine Nächstenliebe und Menschenfreundlichkeit.

   Die Wettangelegenheit zwischen dem Uncle und Tsi hatte - im Hinblick auf die bereits eingeführte Bruderschaft des Pu - ursprünglich einen anderen Ablauf (P 207-209, F 291 f.). Der Governor muß gestehen, daß er nicht setzen kann:

   Tsi, an den diese Worte gerichtet waren, zog sein Portefeuille aus der Tasche, entnahm ihm tausend Pfund in Noten und legte sie gerade in dem Augenblicke auf den Tisch, als der Ladenbesitzer die Limonaden brachte. Dabei sprach er:

   »Mit viel mehr Bargeld kann ich auch nicht dienen; aber Mylord, Sie haben ja selbst die Bedingung gestellt, daß es gleichgültig sei, woher man es bekommt?«


//156//

   »Das ist richtig, nützt mir aber nichts,« antwortete der Governor.

   »O doch; es wird Ihnen nützen.«

   Und sich an den Besitzer wendend, fragte er diesen: »Kennen Sie mich?«

   »Nein,« antwortete der Gefragte. »Ich habe noch nicht die Ehre gehabt, Sie zu sehen.«

   »Haben Sie tausend Pfund im Hause?«

   »Nein.«

   »Es wäre aber doch wohl zu beschaffen?«

   »Hm - - - ! Ja - - - ! Wenn - - - wenn!«

   Er wurde verlegen. Ein vollständig fremder Mensch verlangte eine bedeutende Summe von ihm, der sie nicht einmal hatte!

   Da lächelte mir Tsi in bezeichnender Weise zu, nahm aus dem Portefeuille ein kleines, ledernes Couvert, öffnete es, hielt es dem Manne hin und sagte:

   »Ich bitte um tausend Pfund englisch gegen Unterschrift! Wie lange dauert es, das zu besorgen?«

   Da verbeugte sich der Gefragte tief, sehr tief und antwortete ebenso schnell wie sichtlich erfreut:

   »Nur zehn Minuten. Es steht ja grad ein Wagen da. Ich eile!«

   Er sprang die Stufen hinab, durch das Vorgärtchen und auf den Wagen zu, welcher sich im raschen Trabe mit ihm entfernte. Es giebt in Uleh-leh und Kota Radscha eine Art sehr leichter Droschken, welche mit kleinen, aber sehr schnellen, edlen Batak-Ponies bespannt sind.

   Was Tsi vorgezeigt hatte, war sein »Pu« gewesen. Er steckte es in einer Weise ein, als ob der Vorgang ein für ihn ganz gewöhnlicher sei. Aber Raffley und der Governor konnten ihr Erstaunen doch nicht ganz verbergen, wenn sie ihm auch keine Worte gaben. Der letztere fragte in sehr herabgestimmten Tone:

   »Was thun wir nun aber mit der Wette?«

   »Sie gilt,« antwortete Tsi.

   »Ich kann aber doch nicht setzen!«

   »Ich bitte, warten Sie!«

   Es trat eine Verlegenheitspause ein, welche ich mit Tsi auszufüllen suchte. Es gelang uns aber doch nicht ganz. Da kam der Wirt zurück und zählte die geforderte Summe in guten Papieren auf den Tisch. Tsi legte sie dem Governor hin, indem er bat:

   »Das ist für Sie, Mylord, damit Sie setzen können. Bitte, nehmen sie es von mir an, bis wir wieder an Bord kommen!«

   Hierauf entfernte er sich mit dem Ladenbesitzer, um ihm Quittung zu schreiben. Der Uncle schob mir die zwei Tausend zu und sagte:

   »Nehmen Sie das Geld, Charley! Sie sind ja der Kassierer. Ich weiß nicht, was ich sagen soll! Wer und was ist denn eigentlich dieser Doktor Tsi? Braucht dem ersten, besten unbekannten Mann auf Sumatra nur ein ledernes Etwas vorzuzeigen, um tausend Pfund zu bekommen, rund zwanzigtausend Mark oder fünfundzwanzigtauseud Franken!«

   »Pshaw!« fiel Raffley ein. »Diese Frage beschäftigt mich weniger. Wißt Ihr denn, dear uncle, daß ich meine Wette an Charley verloren habe?«

   Da sah ihn der Gefragte zunächst ganz erstaunt an, denn an diese Wirkung seiner eigenen Wette hatte er jetzt noch gar nicht gedacht. Dann kam ihm das Bewußtsein dessen, was John seinetwegen verloren hatte. Er sprang erschrocken auf und rief aus:


//157//

   »Armer, armer Teufel! Wie ist das nur gekommen? Nun dürft Ihr ja nie wieder eine Wette eingehen!«

   »Ja, nie, niemals wieder!« nickte Raffley ernst.

   »Welch ein Unglück! Das ist ja gar nicht auszuhalten! Ihr dürft nicht wieder wetten, aber dieser Charley darf weiterhin seine Bücher schreiben, so lang er will!«

   Am Ende dieser Episode heißt es (P 209): Jetzt kehrte Tsi mit dem Wirte zurück. Er sagte, daß er sich erlaubt habe, die Limonaden zu bezahlen. Wir konnten also gehen. Das wurde in F 294 durch eine Reflexion ersetzt, die mit den Worten beginnt: Ich weiß gar wohl, daß es Leute gibt, welche es dem Autor untersagen, in seinen eigenen Werken über diese Werke zu schreiben ...

   Nach dem Auftritt des Malaienboten (P 211, F 297) setzt die Vorstufe der Auffächerung dieses Kapitels ein, die bis zur Ankunft Wallers reicht (P 215, F 312 - zugleich mit dem Erscheinen des Malaienpriesters), womit dann die eigentliche Auffächerung beginnt.

   Nach dem Kratong zurückgekehrt, brechen May und Raffley alsbald wieder auf, um die geliehenen 1000 Pfund nach Uleh-leh zurückzubringen (P 217, fehlt in F). Danach lassen sie sich zur Jacht rudern, um von dort noch einige Gegenstände mit nach Kota Radscha zu nehmen, unter anderem auch das Buch »Am Jenseits«. Raffley meint dazu: »Euer Buch ›Am Jenseits‹ ist mir der liebste Band von Euch. Ungeheuer ernst und wichtig! Wird aber leider erst dann verstanden werden, wenn die Spezies ›Dutzendmensch‹ ausgestorben ist« (P 218, in F 405 rückblickend erwähnt). Zu diesem Buch sagt Mary später noch (P 238, fehlt in F 398 f.): »Ich lasse Ihnen diese Reiseerzählung hier, die ein - - - ach, Sie kennen ja den Namen des Verfassers schon; ich erinnere mich! Bitte lesen Sie, und sagen Sie mir dann, was Sie über diese Enthüllungen denken! Denn Enthüllungen sind es auf jeden Fall; mögen sie hergekommen sein, woher sie wollen!« Schließlich wird May von Tsi zum kranken Waller geführt (P 219). Dieser Besuch findet in der Neufassung jedoch erst im 4. Kapitel statt (F 398 ff.). In »Pax« schließt dieser Krankenbesuch mit der folgenden Passage ab (P 222-24, fehlt an der entsprechenden Stelle in F 401):

   Es ist unmöglich, zu beschreiben, wie tief wir ergriffen worden waren. Wir saßen noch minutenlang ganz still und unbeweglich, bis Tsi leise zu Mary sagte: »Bitte, Mylady, geben Sie mir einmal das Blatt, auf welchem das Gedicht steht! Ich kenne die neuen vier Zeilen noch nicht.«

   Sie erfüllte seinen Wunsch. Er trat mit dem Zettel an die unverhüllte Seite der


//158//

Lampe, um zu lesen; dann winkte er uns, ihm hinaus auf den Balkon zu folgen. Dort setzten wir uns für diese Augenblicke nieder. Er gab Mary das Blatt zurück und sprach, natürlich so, daß es im Zimmer nicht gehört werden konnte:

   »Es wird tausend, tausend Aerzte geben, welche so etwas noch nie erlebt haben. Und wenn sie es erlebten, so würden sie gewiß in großer Verlegenheit darüber sein; an welcher Stelle in ihrem Register psychischer Vorgänge diese Scene einzureihen sei. Ja, sie würden nicht einmal wissen, ob man es hier mit einem krankhaften Zustande zu thun hat oder nicht.«

   »Ist er es?« fragte Mary schnell und besorgt.

   »Nein!« antwortete der Chinese sehr bestimmt. »Ihre europäischen Aerzte würden Ihnen gewiß fast alle mit verschiedenen Fremdwörtern aufwarten, welche meist mit der Vorsilbe »Psych« beginnen und etwas nicht Wünschenswertes bedeuten. Ich aber habe eine ganz andere Ansicht, welche in dem begründet ist, was Sie so fälschlicherweise unsern »Ahnenkultus« nennen. Es handelt sich hier nicht um einen krankhaften, sondern um einen sehr gesunden, sogar außerordentlich gesunden Zustand, um welchen Ihr Vater eigentlich zu beneiden ist. Ich bin ganz glücklich darüber, zumal das, was wir ihn sagen hörten, in einer so befriedigenden Weise ausgeklungen ist. Ich bin überzeugt, daß dieser Vorgang sich wiederholen und einen starken, glücklichen geistigen Einfluß auf die körperliche Genesung des Patienten ausüben wird. Ihre heimischen Aerzte würden diese Wiederholung mit allen Mitteln zu vermeiden suchen; ich aber heiße sie willkommen und bitte Sie sogar, Mylady, mich in dieser meine; gewiß ganz und gar ›uneuropäischen‹ Behandlung des Kranken zu unterstützen.«

   »Wie gern will ich das! Sagen Sie nur, was ich thun soll!«

   »Es ist etwas in mir, was mir geradezu befiehlt, der bisherigen Wirkung dieser geheimnisvollen Verse eine Fortsetzung zu geben. Ihr Vater kennt die zweiten vier Zeilen noch nicht?«

   »Nein.«

   »So muß er sie auf alle Fälle und so schnell wie möglich kennen lernen, ganz ungeachtet seiner großen Schwäche. Lesen Sie ihm die neuen Zeilen vor, bis er sie auswendig kann!«

   »Doch nur, wenn er bei voller Besinnung ist?«

   »Nein, nicht nur dann! Auch wenn er in dem sogenannten traumhaften Zustande, welcher aber etwas ganz anderes ist, die ihm bekannten ersten vier Zeilen repetiert, lesen Sie ihm als Anschluß hieran die zweiten vor, langsam, deutlich, mit gutem Ausdrucke und einer kleinen Pause nach jeder Zeile. Ich weiß schon im voraus, welche Wirkung das auf ihn machen wird.«

   »Eine gute?«

   »Eine sehr, sehr gute; ich gebe Ihnen mein Wort! Ich spreche nicht etwa als Psychiater, sondern als ein ganz, ganz anderer, von dem Sie keine Ahnung haben. Ich behandle den Körper Ihres Vaters mit dem geradezu wunderbar wirkenden Ko-su und seine Seele mit diesem Gedichte, von dem Sie zwar behaupten, daß es Ihnen nur der Wind zugeweht habe, welchem ich aber ein solches Vertrauen schenke, daß ich um meines Patienten willen viel, sehr viel darum geben würde, nicht nur die erste Strophe, sondern auch die folgende zu besitzen. Denn daß es nicht nur aus dieser einen besteht, das ist aus Gründen der Poetik als sicher anzunehmen. Der Dichter hat eine Anschauung ausgesprochen, welche der bisherigen Ihres Vaters vollständig entgegengesetzt ist, aber in den Tiefen desjenigen Christentums, welches Jesus lehrte und lebte, ihre Wurzeln schlägt. Der Kranke steht vor einer Sinnesänderung, die ihn


//159//

vom Irrtum zur Wahrheit führen will. Diese acht Zeilen sind die Hälfte der Leiter, auf welcher er zur letzteren emporsteigen soll, und es thut mir so leid, daß wir die andere, obere Hälfte nicht zur Verfügung haben.«

   Da schlug Mary die Hände zusammen und sprach in kindlichem Wunsche:

   »Wenn doch wieder so ein gütiger Hauch wie der in Kairo oder so ein Brief aus Colombo käme, um das Fehlende zu bringen!«

   »Das wird wohl ausgeschlossen sein! Ich bin auch ohnedies überzeugt, daß wir alles erreichen werden, was zu erreichen ist. Vertrauen Sie dem Himmel! Man wirft uns Chinesen vor, daß wir keinen Himmel haben. Nun, unser »Thian« (Himmel) ist größer, viel größer als der Ihrige; das können Sie mir glauben. Gott hat ihn nicht bloß für uns allein, sondern für die ganze Menschheit und für alle, die ihn haben wollen, jenseits dieses Lebens aufgebaut! - - -«

*

   4. Kapitel: Im Herzen von China

   (Wallers Krankheit - Emma-Huldigung - Schluß)

   Nachdem Karl May im 3. Kapitel die erste Textumstellung vorgenommen hat (Verlegung des Besuches bei Waller in das 4. Kapitel), dauert es zu Beginn des 4. Kapitels noch eine Weile, bis die Textparallelität der beiden Fassungen wieder erreicht ist. Die Gruppierung der Texte sieht wie folgt aus:

PFPF
224-225362-363238-241401-405
228-230439-442242-243374-375
231-233434-435243-244376-378
232-236378-381244-248418-423
233-236391-398248-249435-437
236-238367-372250-264443-464
264-280465-489

   Die für F nicht angegebenen Seitenzahlen enthalten Mays spätere Zusätze, vor allem Wandlungen des Uncle (F 363-66), ein Gespräch über den Malaienpriester (F 381-90), eine weitere Vision Wallers (F398-400), Tsis Ausführungen über den Letzten seines Stammes (F406-17) und die Sage von der Taucherinsel Ti (F424-33). Am Beginn des Kapitels besucht May den Governor, der dabei ist, Ko-su zu sortieren (P 225, F 362). Danach folgt eine längere Unterredung mit


//160//

Tsi, die eine in der Neufassung fehlende Passage enthält. Tsi sagt (P 226-28):

   »Sie sind ein unbefangener Mann und werden also gewiß nicht über mich lächeln. Sprechen wir nicht über diese höchstgradige Dysenterie, mit der wir es in Beziehung auf den Körper zu thun haben. Sie ist allerdings die äußere Veranlassung zu der innern Katastrophe, welche da oben in den Bergen mit dem Brande des Tempels zum Ausbruche gekommen und jetzt noch in voller Wirkung ist. Nur bei einer so großen körperlichen Schwäche war es möglich, daß die irren Geistesregungen zur That werden konnten, ohne Widerstand zu finden. Kräftige Menschen und kräftige Völker geben sich weniger leicht als schwache dem geistigen Irrtum unterthan. Man gebe dem Individuum und man gebe dem Volke, was beiden zur materiellen Gesundheit nötig ist, so wird ihre Gedankenwelt wohl schwerlich einen Nährboden für schädliche Ideen bilden. Waller war, sagen wir, übergläubiger Christ. So lange er gesund war, machte ihn dieses Zuviel zwar zu einem Menschen, den man mit Vorsicht zu behandeln hatte, wurde aber von den Erwägungen seines Verstandes und günstigen Einflüssen von außen her davon abgehalten, direkt schädlich zu wirken. Mit dem Tode seiner von ihm so rührend herzlich geliebten Frau wurde es anders. Sie war, wie wir gestern hörten, sein Engel gewesen, der nun nicht mehr mahnend und schützend bei ihm stand. Es entwickelte sich infolge dieses schweren Verlustes in ihm eine innere Schwäche, welche ein anderer wohl als Gemütskrankheit bezeichnen würde, für mich aber ist es die Hilflosigkeit eines zur Waise gewordenen Mannes. Ohne Frau kann der Mann im Kampfe mit dem Leben wohl schwerlich Sieger sein, wenigstens innerlich. Sehen Sie doch die Völker, welche ihren Frauen nicht erlauben, an diesem Kampfe teilzunehmen, mahnend, ratend, sorgend, begeisternd, pflegend und tröstend, wie einst die Frauen der Germanen gegen den Feind bei ihren Männern standen! Sie werden zugeben, daß allen diesen Nationen die geistige Energie abhanden gekommen ist! Mit solchen Schwächlingen macht, wie bei uns, jeder Bonze und, wie in anderen Gegenden, jeder Fakir oder Derwisch, was er will! Bei solchen widerstandsunfähigen Völkern und Individuen gewinnt ›der Hölle größtes Lieblingskind‹, von welchem Waller gestern sprach, in einer Weise die Oberhand, daß wir uns über das dadurch herbeigeführte Hinschwinden nationaler Kraft ebenso wenig zu wundern brauchen, wie ich, als Wallers Arzt es für unbegreiflich halte, daß er dem vorhin erwähnten Uebermaß erlegen ist. Sie hören, daß ich es liebe, meine Beobachtungen am einzelnen nur in der Weise zu machen, daß ich dabei den Blick auch forschend auf die Gesamtheit richte. Nur was wir im Großen hier erkannt haben, werden wir auch im Kleinen dort erkennen! Waller war nach dem Tode seiner Frau nicht nur ein verwaister Mann, sondern ein ›Waisenmann‹ in dem Sinne, in welchem wir von einem Waisenkinde sprechen, also führerlos. Ich gebe zwar den guten Einfluß seiner Tochter zu, doch wird ein Mann sich von seinem Kinde nie in der Weise wie von seinem Weibe leiten lassen.«

   »Ich gestehe aufrichtig,« bemerkte ich da, »daß ich ihm eine so innige Liebe zu seiner verstorbenen Frau kaum zugetraut hätte.«

   Da blieb er vor mir stehen, sah mir lächelnd in das Gesicht, schüttelte den Kopf und antwortete:

   »Kaum? Nicht? Sie alter Psychologe und Menschenkenner? Unglaublich! Er hing und hängt sogar mit ganz ungewöhnlicher Innigkeit an ihr; sie beherrschte ihn durch diese Liebe, denn er ist ein schwacher Mensch und fühlte ihr gegenüber, daß er es war.«


//161//

   »Schwach?« fragte ich, um ihn anzuregen.

   »Ja, schwach! Gerade Uebermenschen sind die schwächsten Menschen, und Waller führte sich in religiöser Beziehung als Uebermensch. Er dünkte sich, der allein seligmachende Missionar zu sein, und ahnte nicht, daß diese große Stärke nichts als nur seine größte Schwäche war. Wenn es wirklich einen Uebermenschen giebt, so ist er es nur, wenn und weil er nichts davon weiß. Und wenn Sie mir eine Religion bringen können, welche den Ausdruck ›allein seligmachend‹ gar nicht kennt, so bin ich überzeugt, daß gerade sie und nur sie die allein seligmachende ist! Wallers Glaube konnte um so weniger der wahre, der richtige sein, je entschiedener und unausgesetzter er ihn als den einzig echten hinstellte. Es wirkte ein guter und ein böser Geist in ihm; der gute war seine Frau; sie verkörperte die religiöse Demut und Bescheidenheit, und darum wollte sie nicht mit nach China gehen; der böse aber war der religiöse Hochmut, welcher ihm einflüsterte, daß er zum Seligmacher berufen sei. Als der Engel ihn verlassen hatte, gewann der andere die Oberhand. Zu ihm gesellte sich die Krankheit, welche unglücklicherweise besonders in ihrem spätern Stadium mit heftigem Fieber verbunden ist, und in einem solchen Fieberanfalle geschah es, daß seine unglückliche Idee von der Vernichtung heidnischer Tempel und Säulen zur Ausführung gebracht wurde. Dieses Fieber entschuldigt ihn in hohem Grade, doch nicht nur ihn allein. Bei jedem religiösen Wüten gegen Andersdenkende ist ein krankhafter, gereizter Zustand vorhanden, welcher entweder sich in kurzen, stoßweisen Angriffen Luft macht oder in einen stieren, gedankenlosen Haß übergeht, der sich durch nichts erweichen und erbitten läßt. Die Religionsgeschichte lehrt uns beide Arten kennen. Die erste Art tritt episodisch auf und ist heilbar; die zweite aber frißt sich so tief in die Konstitution des Volkes und des Einzelnen ein, daß es gegen sie kein anderes Mittel giebt, als den Umgang mit solchen Kranken zu meiden. Sie sterben rettungslos an ihrem eigenen Hasse hin, und da er glücklicherweise nicht vererblich ist, so bleibt die Hoffnung, daß die nächste Generation vielleicht eine andere sein werde. Ich sage Ihnen jedenfalls Bekanntes; verzeihen Sie! Man wird so selten begriffen, daß man gern einmal eine Gelegenheit benützt, bei der man weiß, daß man Verständnis findet!«

   »Sprechen Sie, lieber Freund!« antwortete ich, »Sie geben mir Gesichtspunkte, welche mir willkommen sind.«

   Das entsprechende Gespräch mit Tsi wurde in der Neufassung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Es wird in »Pax« (228-30) so fortgesetzt, wie wir es in »Friede« (439-42) finden. Der letzte Satz wurde verändert und lautet in »Pax« wie folgt (es handelt sich um die acht Zeilen des Gedichtes): »... der Sinn derselben? wird ihm zum geistigen Eigentume, zum Wesen werden, und wenn er genesen ist, wird er ein ganz, ganz anderer sein, als er vorher war, obgleich mir leider und wahrscheinlich nur die Hälfte dieser Friedensworte zur Verfügung steht. Glauben Sie, daß meine Hoffnung sich erfüllen wird?« Während in der Neufassung das Gespräch an dieser Stelle (F 443) abgeschlossen ist wurde es in der Urfassung unmittelbar (P 231) fortgesetzt; die Neu-


//162//

fassung enthält diesen Text etwas früher (F 434-35), allerdings in leicht erweiterter Form. Daran anschließend erfolgt die Rückgabe von Wallers Neuem Testament (P 232 f., F 378-81). In der Neufassung wurde dabei folgender Abschnitt ausgespart (P 233, fehlt in F 381):

   Welch ein Mann, dieser Tsi! Ich wußte, daß er den Missionar auch ohne Bezahlung freibekommen hätte; dann aber wäre den armen Malaien da oben kein Ersatz für den gehabten Schaden geleistet worden; er hatte also eine Anweisung geschrieben, diesen Umstand aber hochanständigerweise ganz verschwiegen. Daß dies auf ganz ungewöhnliche Geldmittel schließen ließ, war mir Nebensache; desto mehr aber freute ich mich über die edle Gesinnung, welche aus diesem seinen Verhalten sprach. Und dieser Mann war - - - ein Chinese!

   Fortgesetzt werden die Ereignisse mit einem allgemeinen Gespräch über das Testament mit dem inliegenden Gedicht (P 233, F 391). Innerhalb des Gesprächs fehlen in der Neufassung folgende Sätze (P 234, F 393); Raffley spricht:

   »Aber dieses Gedicht hat kein Dilettant oder Amateur gemacht; darüber sind wir doch wohl alle einig - besonders unser Charley wird ganz dieser Meinung sein! -; wir dürfen annehmen, daß das Dichten mit zum Berufe dieses unbekannten Verfassers gehört, und so versteht es sich ganz von selbst, daß er auch zum Drucker geht, aber nicht, um sich selbst zu verewigen, sondern um seinen Gedanken längere Dauer und größere Verbreitung zu geben. Wenn ich doch wetten dürfte, würde ich sofort tausend Pfund oder auch mehr darauf setzen, daß es unbedingt im Druck erscheint. Ob ich wohl gewinnen würde, lieber Charley?«

   Ich zuckte die Achsel, mehr konnte ich einstweilen weder für ihn noch für mich und meine Reime thun.

   May übernimmt an Stelle von Mary die Krankenwache bei Waller (P 238, F 398). Während er sich (P 238) unmittelbar darauf auf die Veranda hinaussetzt, sind in »Friede« hier die Ereignisse seines ersten Besuches bei Waller eingeschoben (P 219-22, F 398-401). Die Betrachtung, der sich May auf der Veranda hingibt, hat in der Neufassung so wesentliche Änderungen erfahren, daß wir die Urfassung hier in vollem Wortlaut folgen lassen (die in der Neufassung verbliebenen Stellen stehen in Klammern: P 238-39, F 401-402). Hier haben wir es mit einer Änderung zu tun, die May aus ganz persönlichen Gründen vorgenommen hat, ähnlich wie schon im ersten Band des Silberlöwen, wo er den Namen Emmeh in Dschanneh umwandelte. Nachdem er sich in der Zwischenzeit von Emma getrennt hatte, vermochte er nun auch nicht, diese wohl schönste Liebeserklärung an seine erste Frau, die wir aus seiner Feder kennen, in dem Buch zu belassen:


//163//

   [Es war schön sternenhell. Nächtlich sich erschließende Blumen sandten mir ihre Düfte zu.] Die Bewohner des Kratongs hatten vom Gouverneur den Befehl erhalten, sich der möglichsten Ruhe zu befleißigen. Es war überall still. Ich habe die Sterne so gern, so lieb! Als ich am Beginn der jetzigen Reise in Genua, wohin sie mich begleitet hatte, von meiner Frau Abschied nahm, war ich mit der Guten übereingekommen, uns täglich abends durch den Himmelswagen (auch »Großer Bär«) Grüße zuzusenden. Dieses Versprechen haben wir treu gehalten, sie immerfort und ich, so lange ich konnte, denn im südlichen Teile des Roten Meeres verlor ich ihn aus den Augen. Aber es hat keinen einzigen Abend gegeben, an dem ich nicht auch beim Glanz der südlichen Sterne der lieben, reinen Seele gedachte, die mit der meinigen für immerdar so eng verbunden ist. Heut Abend auch! [Ich saß hier nur fünf Grade vom Aequator entfernt; wie weit von der Heimat, und doch wie ihr so nahe! Die Heimat des Körpers ist das Grab; der übrige, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt. Irdische Orte können ihm, wenn er dort Liebe findet, vorübergehend zum Heime werden, welches er selbst aus der weitesten Ferne aufsuchen darf, so oft er will; sogar der sogenannte »Tod« kann ihm da keine Grenze setzen.] Der Beweis lag hier als Kranker neben mir im Zimmer. Ich wußte mich trotz aller räumlichen Trennung auch hier in Kota Radscha mit meiner Frau vereint. Ich hatte ja alles, was ich dem Einflusse ihres Wesens auf das meinige verdankte, mitgenommen und brauchte nur bloß an sie zu denken, um in diesem Gedanken einen mahnenden, warnenden, ermutigenden Stern für alle meine Schritte zu besitzen. Und der, welcher sich da drin in der Krankenstube befand, war scheinbar auch von seinem Weibe geschieden, ja, sie stand ihm, dem Denkgebrauch gemäß, sogar viel ferner, als mir meine Frau, denn man nannte sie ja tot; man hatte sie begraben. Und doch hatte er gestern mit ihr gesprochen und konnte heute und jetzt und immer wieder mit ihr sprechen, wirklich mit ihr, denn in ihm lebte und wirkte ja noch alles, alles, was sie ihm gewesen war. Das Gedächtnis hält das Leben fest, so daß es nicht entfliehen kann, so lange dies Gedächtnis währt. Es giebt nicht nur ein Leben nach dem Tode, sondern auch ein Leben trotz des Todes!

   Als Tsi wieder zu dem Kranken kommt (P 241), stellt er, gegenüber seinen längeren Ausführungen in F 410-14, in der Urfassung lediglich fest: »Das war heut Nacht nicht Apathie, sondern kräftigende Ruhe des Leibes und der Seele ...« Er möchte den Patienten sobald wie möglich auf See haben, wovon er sich weitere Kräftigung verspricht: »Bis zur völligen Genesung aber werden Monate vergehen.« In der Neufassung knüpft sich an diese Rückkehr Tsis ein längeres Gespräch über Psyche und Geist. Wallers Heilung erfährt - nicht zuletzt wegen des frühzeitigen Abbruchs des Romans - in »Pax« einen schnelleren Verlauf als in »Friede«. Daraus ergibt sich die spätere Streichung der folgenden Texte. Bevor Waller an Bord gebracht wird, hat May noch eine Unterredung mit Mary (P 243-44, fehlt in F 420-21):

   Mary, welche ich sogleich besuchte, sah wohl, ja sogar heiter aus. Ihre Wangen hatten wieder Rundung und Farbe bekommen, und ihre Augen zeigten den früheren.


//164//

lieben Glanz, den die Sorge um das Leben des Vaters hatte verschwinden lassen. Sie teilte mir voller Freude mit, daß nichts im Wege stehe, ihn nach der »Yin« zu bringen; nur müsse Doktor Tsi vorher von Raffley die Erlaubnis erhalten, an Bord zu gehen, um für die sachgemäße Einrichtung der betreffenden Koje zu sorgen.

   »Vater ißt jetzt gern,« sagte sie, »zwar nur wenig auf einmal, aber oft. Außerdem schläft er Tag und Nacht fast immerfort.«

   »Spricht er auch noch in der geheimnisvollen Weise wie an den beiden ersten Tagen?«

   »Ja. Ich wollte ihm so gern die zweite Strophe des Gedichtes in derselben Weise geben wie die zweiten vier Zeilen der ersten; aber der Arzt hat mich gebeten, es noch nicht zu thun. Er meint, daß der Geist ganz ebenso wie der Körper jetzt noch zu schonen sei.«

   »Für diesen Arzt können Sie Gott gar nicht genug danken, liebe Freundin!«

   »Ich weiß es, und ich thue es auch, so oft und so innig, wie ich kann!« antwortete sie. »Er übt auch auf Vater einen mir ganz unerklärlichen Einfluß aus; er braucht nur zu wollen, so schläft der Kranke ein, oder er wacht auf, oder er bekommt Appetit zum Essen; es ist höchst sonderbar! Er braucht ihm nur die Hand auf die Stirn zu legen, so wirkt sie beruhigend, erfreuend, wie ein Segen! Glauben Sie das?«

   »Ja. Es ist vielen Menschen eine geheimnisvolle Kraft gegeben. Sie wirkt durch die Berührung, durch den Blick, die Stimme, ja sogar durch Briefe, also durch geschriebene Zeilen in die Ferne. Sie wirkt zwar auch, ohne daß der Besitzer dieser Kraft es weiß, aber ist er sich ihrer bewußt, so vermag er sie durch seinen Willen ganz wunderbar zu steigern. Diese Kraft wirkt bei guten Menschen gut, bei bösen aber schädlich. Man hat sie nicht beachtet oder gar an ihr gezweifelt; aber heutigen Tages giebt es keinen gebildeten, vorurteilsfreien Menschen mehr, der sie verneint, zumal jedermann selbst im alltäglichen Leben sich von ihrem Dasein und ihrer Wirkung überzeugen kann. Man giebt ihr die verschiedensten Namen, von denen aber bisher kein einziger das Richtige getroffen hat. Wo ist dieser Doktor Tsi? Ich muß ihn doch begrüßen!«

   »Er ist draußen unter den Bäumen mit dem Sejjid beschäftigt, Ko-su-Pflanzen zu trocknen. Dies muß im Schatten geschehen, weil sie im direkten Sonnenstrahle ihre Heilkraft verlieren würden. Es war nötig, einen Vorrat anzusammeln, der nicht nur für die Seereise, sondern für die ganze Kur ausreicht. Wir wissen ja nicht, ob die Pflanze da, wo wir landen werden, zu finden ist.«

   Über Wallers Befinden an Bord war in P 249 f. zu lesen (fehlt in F 437-38):

   Ich muß bemerken, daß Waller im wachen Zustande sich vollständig geistig normal zeigte. Von einer epileptischen Anlage war nicht die geringste Spur vorhanden. Ganz im Gegenteile war sogar das, was Professor Garden damals in Colombo in theologischer Beziehung »erbliche Belastung« genannt hatte, im Verschwinden begriffen. Er war jedenfalls geistig gesünder und freier als früher, und so hatte wohl gewiß jeder Unbefangene anzunehmen, daß die Visionen, welche ihm während des Schlafes kamen, ihm geistige Kraft und Freiheit brachten, indem sie diese Belastung von ihm nahmen, Ich saß, wenn er nicht schlief, oft stundenlang bei ihm und sprach mit ihm in jener leichten, schonenden Weise, wie man mit Kranken spricht. Da hörte ich nie auch nur ein einziges Wort aus seinem Munde, welches mich zu der Annahme berechtigt hätte, daß seine Denkkraft angegriffen sei.


//165//

   So oft es geschah, daß ich mich mit ihm unterhielt, auf seine Visionen bezog er sich auch nicht ein einziges Mal, und ebenso wenig erwähnte er das Gedicht. Darum überraschte es mich, daß er am Tage vor unserer Ankunft in Hongkong ganz plötzlich davon zu sprechen begann. Wir waren allein, und er teilte mir mit, daß Mary ihm erzählt habe, auf welche eigentümliche Weise ihr die zweite Hälfte der ersten Strophe zugekommen sei. Und nun sagte er, daß er allein mir gestehen wolle, welchen nachhaltigen Eindruck diese vier Zeilen auf ihn gemacht hätten. Nun gab ein Wort das andere. Ich hütete mich natürlich, ihn merken zu lassen, daß es meine Absicht sei, ihm das, was er noch nicht begriffen hatte, zu erklären. Sein Eifer wuchs, und mit ihm die Spannung, welche er meinen Antworten entgegenbrachte. Sein bleiches, eingesunkenes Gesicht rötete sich, und seine tiefliegenden Augen begannen begeistert zu glänzen. Und da, endlich, endlich kam ihm das Verständnis! Er sah mich mit einem langen, großen Blicke an; dann sanken seine Lieder herab; er holte tief, tief Atem, faltete die Hände und sagte:

   »Das, das also war Christi Liebe! Und das, das ist sie noch! Das wird sie sein in alle, alle Ewigkeit! O, was war ich für ein Thor!«

   Nun lag und war er still. Sein Atem ging ruhig und leise. Ein frohes Lächeln spielte um seine Lippen. Ich wartete noch eine Weile, dann entfernte ich mich, von Herzen froh darüber, Tsi mitteilen zu können, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen sei. Am Abende erfuhr ich von ihm, daß er Mary erlaubt habe, ihrem Vater die zweite Strophe zu geben.

   Als Tsis Inkognito gelüftet wird, reagiert der Governor darauf anders als in der Neufassung (P 263 f., fehlt in F 464) sehr wortreich:

   Er drehte sich um und eilte fort. Nach kaum einer Minute war er wieder da, schob Raffley einige Goldstücke in die Hand und sagte dann, sich mit einer Verbeugung an Tsi wendend. »Die Ehre gebietet mir, aufrichtig zu sein, Sir. Ich war Euch nicht hold und wettete um zwanzig Pfund, daß ich Euch nicht liebgewinnen würde. Das war sehr voreilig von mir, denn Ihr seid ein Mann, dem ich alle Achtung zolle. Hier zahle ich die verlorene Summe und bitte um die Erlaubnis, Euch nicht bloß achten, sondern auch liebhaben zu dürfen. So! Das ist vom Herzen herunter! Habe Euch nämlich längst schon heimlich lieb, wollte es nur nicht eingestehen. Kommt, gebt mir Euren Arm! Wollen miteinander promenieren gehen!«

   Und jetzt soll auch May sein Inkognito lüften (P 272 f., fehlt in F 477):

   »Nun muß ich eine Frage an Sie richten: Wie lange wollen Sie sich noch hinter Ihrem Vornamen verstecken? Ich möchte das gern wissen. Es giebt zwischen Yin und mir kein Geheimnis, keine Lüge, nicht die geringste Unwahrheit. Keine Rücksicht kann uns bestimmen, einander etwas zu verbergen. Yin hat das so gewünscht, und ich stimmte ihr von ganzem Herzen bei. Es wäre mir also höchst peinlich, ihr nicht Ihren wahren Namen sagen zu dürfen, oder sie veranlassen zu müssen, ihn zu verschweigen. Was sagen Sie dazu?«

   »Ich sage, daß die Gründe, welche mich bestimmten, meinen Namen zu verschweigen, für diese Gegend hier wegfallen. Heben wir also dieses Geheimnis auf!«

   »Und - - und - - - hm, ich bringe die Sache doch wieder, obgleich Sie mich mit ihr zurückgewiesen haben. Sagen Sie mir aufrichtig: Sind Sie der Verfasser des Gedichtes oder nicht?«


//166//

   »Ich bin es.«

   »Habe es doch gewußt! Hätte um alles in der Welt gewettet! Ja so, das darf ich ja nicht mehr und bin Ihnen dankbar dafür. Je mehr ich über diese Leidenschaft nachdenke, desto mehr sehe ich ein, daß ich ihr viele, große und ganz unnötige Opfer gebracht habe. Wollen Sie Ihr Incognito selbst lüften, oder soll ich es thun?«

   »Ich ziehe das letztere vor. Aber bitte, thun Sie das in der Weise, daß jede Befangenheit mir gegenüber ausgeschlossen ist. Ich will kein einziges Wort darüber zu hören oder zu sagen haben, auch über das Gedicht nicht. Wie es sich mit diesem letzteren verhält, das sollen Sie jetzt hören, um es den Beteiligten erzählen zu können.«

   Ich teilte ihm die betreffenden Umstände mit und wußte dann diese Angelegenheit bei Raffley in den besten Händen.

   Wie ich vorausgesehen hatte, schlief ich heut sehr spät ein und infolgedessen am anderen Morgen um so länger. Ich kam zum Frühstücke zu spät und sah Tsi und Mary sofort an, daß Raffley mit ihnen gesprochen hatte. Sie waren aber beide tapfer genug, genau so zu thun, als ob sie mich nie anders als bei meinem richtigen Namen genannt hätten. Dagegen machte der alte Governor auf mich den Eindruck der Beklommenheit ...

   Aus der Lüftung des Inkognitos ergibt sich später folgendes Gespräch (P 275 f., fehlt in F 481):

   Auch Waller verlangte heraus auf das freie Deck. Ich machte in der Nähe der Barriere einen Sitz für ihn zurecht; dann wurde er, auf Omar gestützt, von Mary und Tsi herbeigeleitet. Ich hatte heut noch nicht mit ihm gesprochen und gab ihm also meinen Morgengruß. Er antwortete nicht mit Worten, doch sobald er sich gesetzt hatte, ergriff er meine Hand, zog mich nahe an den Stuhl heran und sprach:

   »Ihr wollt, daß wir schweigen; eins aber muß ich Euch doch sagen dürfen! Ich habe Euch verkannt, weil ich nicht wußte, daß Eure Reiseerzählungen vor allen Dingen symbolisch zu nehmen sind. Ich ahnte nicht, was es unter der bewegten Oberfläche dieser Werke für eine stille, heilige Ruhe giebt, und was für liebe, reine Gestalten in ihr wohnen. Ich bitte Euch, mir zu verzeihen! Werdet Ihr auch über die jetzige Reise etwas drucken lassen?«

   »Höchst wahrscheinlich,« antwortete ich.

   »So ahnt mir, daß Ihr hier noch tiefer als sonst steigen werdet. Die Gedanken, welche Ihr für Eure Leser von dort in die Höhe bringt, sind wohl keinem andern so gut wie mir bekannt. Wenn ich sie später lese, würde es mich freuen, wenn Ihr ihnen den Titel: »Et in terra pax« gegeben hättet! Es ist der einzig richtige für den tieferen Zweck, den diese Reise für uns alle hatte. Das Ziel ist in Sicht gekommen. Habe ich einen Gruß von ihm verdient?«

   Da ertönte von der Insel ein lauter Böllerschuß zu uns herüber; ein zweiter folgte und diesem ein dritter. Tom antwortete ebenso oft aus seinem Rohre.

   Es gab selbstverständlich bei uns kein Auge, welches nicht nach der Küste gerichtet war. Sie hatte sich in schönes Grün gekleidet. Das Innere wurde uns von Büschen verhüllt, aus denen die Wipfel hoher Bäume ragten. Es gab da einen kleinen, freien Platz, auf welchem wir einige Chinesen neben dem Böller stehen sahen, aus welchem sie uns salutiert hatten. Sie riefen und winkten uns lebhaft zu. Später öffnete sich zuweilen das Gebüsch, um uns die dahinter liegenden, vollgrasigen Wiesen und wohlbebauten Felder zu zeigen. Weiter vorn, uns zur Rechten, stieg das Land zu


//167//

einer bewaldeten Höhe empor, auf welcher das chinesisch konstruierte Dach eines sehr ansehnlichen Gebäudes aus dunklen Blätterkronen ragte. Waller deutete mit der Hand nach diesem Hause und sagte:

   »Das wird die Wohnung des chinesischen Aristokraten sein, den ich in Kairo bekehren wollte. Dort hielt ich mich für einen großen Mandarinen der westlichen Civilisation und ihn für einen geistig armen Sohn der östlichen Inferiorität. Wie habe ich mich in mir und wie in ihm geirrt! Während ich auf dem Wege hierher immer kleiner geworden bin, ist er vor mir immer höher emporgewachsen. Der Osten wird immer größer und bedeutender, je mehr man sich ihm nähert! Und selbst wenn dieser Fu nichts weiter als der Vater seines Sohnes wäre, dem ich weit mehr als nur mein leibliches Leben zu verdanken habe, so hätte ich in diesem Einzelfalle von ihm nicht weniger empfangen, als was im geschichtlich Großen und Ganzen das Abend- von dem Morgenlande empfing!«

   Bei diesen Worten Wallers glühte ein freudiges Rot über Marys Gesicht. Ihr Auge suchte unwillkürlich nach Tsi. Er war aber nicht zu sehen, sondern nach seiner Koje gegangen, um, wie wir später sahen, den europäischen Anzug mit seinem chinesischen zu vertauschen.

*

   Wir nähern uns dem Schluß der »Pax«-Fassung. May war aus den bekannten Gründen genötigt, die Erzählung vorzeitig abzubrechen, und nahm sie erst zwei Jahre später wieder auf, um seine Gedanken in dem großen Schlußkapitel vom »Shen-Ta-Shi« zu Ende zu führen. Die Zäsur findet sich in P 281, wo es heißt: Mehr hörte ich nicht, denn ich schlich mich hinaus, schloß möglichst unhörbar die Tür und ging dann fort ... (F 489 und 496), In »Pax« folgten hier noch einige Spalten Text, die deutlich zeigen, wie äußerlich und »offen« dieser Abschluß blieb:

   »Gut! Da es einmal nicht so geschehen soll, wie ich es wollte! Gott lasse es gelingen! Der Frauen Gefühl ist so unerforschlich richtig, und meine Yin muß immer, immer siegen! Kommt, Charley! Habe Euch sehr Interessantes mitzuteilen.«

   Er führte mich die Treppe hinab und nach der Rückseite des Landhauses, an welches sich hier ein sehr großes, schönes und verständnisvoll gepflegter Blumengarten schloß. Da hing er seinen Arm in den meinigen, ging eine Weile schweigend neben mir her und sagte dann, gänzlich unvermittelt:

   »Sie sind verlobt!«

   Nun sah er mir in das Gesicht, als ob er erwartete, daß ich erstaunend neugierig tragen werde, wer?

   »Mary und Tsi?« antwortete ich.

   Jetzt erstaunte er an meiner Stelle.

   »Was - - wie - - - warum - - - ! Ja, natürlich diese beiden! Aber wer hat Euch das denn schon gesagt?«

»Niemand. Ich vermute es. Ich habe ja schon längst gewußt, daß - - - daß China und die Vereinigten Staaten einander innig lieben.«


//168//

   Da blieb er stehen, zog seinen Arm wieder an sich und rief aus:

   »China und die Ver - - - Ver - - - ? Ah, jetzt verstehe ich! Schriftstellernder Schalk! Weltreisender Volksseelenforscher! Alles personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber! Jede Eurer Gestalten, die edelste wie die gewöhnlichste, ist ja die Individualisierung und also die Lösung irgend eines menschen- oder völkerpsychologischen Problems! Charley, Charley, wer Euch nur oberflächlich liest, der ahnt gar nicht, wie sehr man es vermeiden sollte, Euch auf Euren Wanderungen zu begegnen. Habt Ihr etwa die Absicht, auch über die jetzige Reise ein Buch zu schreiben?«

   »Ja. Ich habe das Waller schon gesagt.«

   »Und Ihr werdet das, was Ihr ihm gesagt habt, halten?«

   »Gewiß.«

   »So versprecht auch mir etwas, was Ihr aber ebenso gewiß auch halten werdet! Gebt mir Eure Hand darauf! Ihr wißt, daß ich nichts von Euch verlange, was nicht seine guten, wohl erwogenen Gründe hat.«

   »Hier ist sie. Ich vertraue Euch und werde mein Versprechen halten.«

   »Gut! Schreibt über diese Reise, was und wie Ihr wollt; aber in vielleicht einer Stunde werden wir alle droben im Ahnensaale zusammenkommen, und genau vor dem Glockenschlage dieser Stunde habt Ihr unter diese Erzählung den letzten, schließenden Strich zu machen. Das bitte ich Euch; das heißt, ein Raffley bittet Euch! Das ist abgethan, und nun wird Euch Euer alter, guter John etwas weniger Strenges sagen. Kommt!«

   Er führte mich nach einem offenen, von japanischem Hopfen umrankten Gartenhäuschen.

   Als wir im Innern desselben Platz genommen hatten, ließ er zunächst ein halblautes, vergnügtes Lachen hören und sagte dann:

   »Also Ihr habt es auch gemerkt? Ich ebenso! Nun nimmt meine herrliche Yin diese liebe, gute Mary heut gleich als Schwester bei sich auf, nennt sich sofort mit ihr du und tritt ihr bestes Zimmer an den Kranken ab, um ihn so recht aus Herzensgrunde mit pflegen und gesund machen zu können. Nach einiger Zeit hört sie von ihrem Raume aus die laute, eigenartig sprechende Stimme Wallers. Sie glaubt, daß er vielleicht etwas bedürfe, und geht zu ihm. Da steht mein alter, unvergleichlicher Fu neben dem Kranken: Mary und Tsi knieen, glücklich weinend, mit vereinigten Händen vor diesen beiden und - - - nun, da hat Yin eben die Thür schnell wieder zugemacht und sich entfernt, irgend wohin, um nicht indiskret zu sein, und dann, wie ich von Euch weiß, zum Onkel Governor. Das sagte mir Fu, welcher zu mir kam, um mir mit Vaterstolz und Vaterglück die Verlobung mitzuteilen. Dann wollte ich Yin suchen und traf dabei auf Euch. So! Ich habe es Euch gesagt, und nun ist es Eure Pflicht, noch vor der Versammlung den Verlobten und ihren Vätern zu gratulieren. Wie werden sich Yins Mutter und deren Bruder freuen, wenn sie erfahren, daß ihr Liebling eine so liebenswerte, gute und dabei hochgebildete Schwester mitbringt! Ihr werdet, mein Charley, diese beiden braven Menschenkinder drüben auf dem Festlande kennen lernen, denn sie sind nicht mit hier. Aber - - - was - - - schaut wen sieht man dort?«

   Da, wohin er mit der Hand deutete, lenkte soeben der Governor in einen Seitenpfad des Gartens ein, an seiner Seite Yin, welche an seinem Arme hing und ihm liebevoll in das Gesicht blickte.

   »Was habe ich gesagt?« jubelte Raffley. »Bin überzeugt, daß er auch mit meiner herrlichen Yin bald genau so Arm in Arm promenieren gehen wird!« So lauten meine


//169//

damaligen Worte, welche schon jetzt, da wir kaum angekommen sind, in Erfüllung gehen. Dieses Häuschen hier ist ihr Lieblingsplatz; sie bringt ihn sicher her. Kommt, wollen gehen! Ich gönne diesem mehr als vortrefflichen »dear uncle« von ganzem Herzen gern die Seligkeit, sich an der Seite dieser mir - hört! - mir gehörenden, fleckenlosen Seele nun vollends frei von dem zu machen, was ihn, ohne daß er mir es eingestehen wollte, bis hierher belastet hat!«

   Wir entfernten uns. Ich suchte, Raffleys Rat befolgend, zunächst Wallers auf. Fu und Tsi waren dort; dadurch wurde mir der Weg zu ihnen erspart. Es wurde mir gar nicht Zeit gelassen, meine wohlgesetzte Gratulation anzubringen; man eilte, natürlich außer Waller, auf mich zu wie auf ein zugehöriges Familienglied, welches auf einen Teil der bei solchen Veranlassungen nicht zurückhaltenden Zärtlichkeiten wohlberechtigten Anspruch hat. Ich durfte in acht strahlende Augen sehen und bin überzeugt, daß auch die meinigen nicht ohne Licht und Glanz gewesen sind. Wohl dem, dessen Herz die Befähigung besitzt, mitfühlen zu können; er ist trotz allem eigenen Mangel an sogenanntem Glücke doch tausendmal glücklicher als jeder andere, der sich zwar für glücklich hält, aber es doch nicht ist, weil er jede Teilnahme geizig von sich weist.

   Wir gedachten der Zeit, an welcher grad wir Fünf, so eng vereint wie jetzt, am Fuße der Pyramiden beieinander gesessen hatten. Wir waren äußerlich noch die Alten, aber wie vieles, wie vieles war in uns neu geboren, und nicht nur neu, sondern auch besser und schöner, reiner, klarer und - - - wahrer! Da konnte ich nicht anders, ich mußte Mary fragen:

   »Wissen Sie noch, daß Sie damals auf dem Dschebel Mohattam die Frage aufwarfen, was der Abendländer dem Bewohner des Ostens mitzubringen habe? Sie beantworteten sich selbst: ›Ich bringe ihnen meine Liebe, meine ganze, ganze volle Liebe!‹ Ihre tiefe, warme Altstimme hatte Ihnen den Weg zu meinem Herzen schon gebahnt; mit diesen Worten aber sind Sie mir in dasselbe eingedrungen, und - - - ich halte Sie dort fest und gebe Sie nicht wieder her!«

   Tsi warf mir einen verständnisinnigen Blick zu. Seine Seele war wohl auch zunächst durch dieses wohltönende Mittel von der ihrigen angezogen worden. Die ewige Weisheit gab den Seelen für ihre irdische Entwicklungsstufe ja nur darum den Körper, weil hier ohne ihn die eine Psyche unmöglich auf die andere wirken könnte.

   Mary errötete, sagte aber nichts. Da griff Fu nach ihrem kleinen Händchen, nahm es zwischen seine beiden Hände und sagte:

   »Diese Stimme ist auch mir in das Herz gedrungen, und dieser Liebe habe auch ich nicht widerstreben können. Das Haus, in dem wir uns befinden, ist Euch nur durch sie geöffnet worden, und wer zu uns kommt, um bei uns bleiben zu wollen, der hat zunächst bei dem Herzen von China anzuklopfen. Ihr alle seid, weil ihr uns liebt, von diesem Herzen aufgenommen worden und also da angelangt, wo ihr für euer ferneres Wirken Kraft und Unterstützung findet.«

   Und sich an mich besonders wendend, fuhr er fort:

   »Ich hörte von Mary und ihrem Vater, daß Sie Ihrem Buche den Titel ›Et in terra pax‹ geben wollen, weil er es wünscht. Ich bitte, über das Kapitel, welches von diesem meinem Hause handelt, ›Im Herzen von China‹ schreiben zu wollen! Geographisch gemeint, sind Sie demselben zwar noch sehr, sehr fern; aber jenes große, weite, unermeßlich reiche, Euch bisher unbekannte und darum Euch verschlossene Herz, welches unsern nationalen Pulsschlag regelt, das ist Euch hier auf meinem Oconna geöffnet worden. Dieser Puls hat nun auch Euch ergriffen, und darum meine ich, daß diese Ueberschrift die Wahrheit sagt.«


//170//

   Da wurden die Thürvorhänge auseinander geschoben. Wir hatten nicht bemerkt, daß Raffley und Yin angeklopft und dann hinter ihnen gestanden hatten. Jetzt traten, sie herbei, und John sagte, halb scherzend und halb ernst:

   »Es wird und muß die Ueberschrift des letzten Kapitels sein, denn wir kommen Euch nach dem Ahnensaale abzuholen, und damit ist das Buch jetzt nun zu

   E n d e!«


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz