Lediglich Franz Kandolf machte in seinem Aufsatz »Der werdende Winnetou«(5) darauf aufmerksam, daß »wir unter Inn-nu-woh den späteren Winnetou zu verstehen haben«, wie Karl May »in der ersten Auflage seiner Selbstbiographie erwähnt«. Werner Poppe dagegen behauptet, daß »die in Mays Erklärung liegende Behauptung, Inn-nu-woh und Winnetou seien im grunde identisch, nicht zutreffen« könne. Er meint, man müsse »zu dem Schluß kom-
men, daß Inn-nu-woh in Mays Vorstellung damals noch nichts mit Winnetou zu tun hatte«.(6)
Das Bindeglied für die Gleichsetzung Inn-nu-woh = Winnetou kannten weder Kandolf noch Poppe noch die Herausgeber und Bearbeiter des Biographie-Bandes »Ich«. Es konnte erst kürzlich aufgefunden werden durch die Entdeckung eines in der Karl-May-Forschung bisher völlig unbekannten Abdrucks der frühen Erzählung Winnetou. Eine Reiseerinnerung von Karl May. Diese Erzählung erschien in der Zeitschrift
»Omnibus«. Illustrirtes Wochenblatt.Der »Winnetou«-Abdruck erschien in Heft 40 und 41, also im Oktober 1878, da die Zeitschrift im Januar-Dezember-Turnus herauskam. Der Nachdruck im vorliegenden Jahrbuch erfolgt buchstabengetreu.(8)
Siebenzehnter Jahrgang 1878
Verlag von M. Rosenberg
Hamburg, Großer Burstah Nr. 16.
Ein Textvergleich zeigt, daß es sich bei dieser soweit bekannt frühesten Erzählung, die unter dem Titel »Winnetou« erschien, um eine Neufassung der Erzählung »Inn-nu-woh« handelt. Der Sioux-Häuptling Inn-nu-woh wurde in den Apachen-Häuptling Winnetou umgewandelt. Offensichtlich hat Karl May als Textvorlage für den »Omnibus«-Abdruck jedoch nicht einfach den »Familienblatt«-Abdruck mit entsprechenden Namensänderungen versehen, sondern die Erzählung völlig neu geschrieben, teilweise unter wörtlicher Verwendung des »Inn-nu-woh«-Textes, teilweise jedoch auch umformuliert, erweitert oder neu gefaßt. Er mußte die Mühe einer neuen Niederschrift vermutlich deshalb auf sich nehmen, damit die Zeitschriften-Redaktion den Text nicht als Nachdruck erkennen sollte, was die Absatz-Chancen oder zumindest die Höhe des Honorars vermindert hätte. Dieser Zwang gab ihm Gelegenheit zu Änderungen, und eine genaue Vergleichslesung zwischen den beiden Fassungen(9) gestattet interessante Einblicke in Karl Mays Arbeitsweise.
So mißfiel ihm offenbar später die schwere Verletzung des Tierbändigers Forster. Während Forster in »Inn-nu-woh« mit halb aus der Schulter gerissenem Arme blutend am Boden lag, wurde er in der
»Winnetou«-Fassung nur durch den Stoß . . . weit fortgeschleudert . In den Text eingefügt hat May einen Exkurs über die Apachen. Geändert hat er auch den Reise-Grund des Indianers. Inn-nu-woh hatte vielleicht seinen Vorrath von Häuten in der Stadt verkauft und ging in die Prairie zurück, um seinen Stamm zu neuen Jagden und Abenteuern zu führen . Winnetou dagegen war erschienen, um die »Hütten der Bleichgesichter« zu sehen und mit dem »Vater der weißen Männer«, dem Präsidenten zu sprechen .(10) Kandolfs Vermutung(11), daß Karl May seinen Winnetou »ursprünglich als bejahrten Krieger« in Vorstellung hatte, erhält ihre Bestätigung: Er schien im Anfange der fünfziger Jahre zu stehen. . . Und während in der 1880 im »Deutschen Hausschatz« erschienenen Erzählung »Deadly dust« der Ich-Erzähler von Winnetou für immer Abschied zu nehmen meint(12), kündigt die »Winnetou«-Erzählung von 1878 eine Vielzahl weiterer Abenteuer an: Ich ahnte damals nicht, daß ich ihn bald wiedersehen würde, und doch habe ich an seiner Seite die Prairie in ihrer ganzen Länge und Breite durchstrichen, bin ihm mein Leben mehr als zehnmal schuldig, habe von zahlreichen Abenteuern zu berichten. . .
Einen kompositorischen Mangel allerdings hat Karl May nicht beachtet und in der Neufassung nicht behoben: Als Beweis für den Edelmut des Indianers sollte ja die Tatsache dienen, daß Winnetou unter Einsatz seines Lebens die Tochter des Mannes rettet, der ihn zuvor tödlich beleidigt hat. Aus dem Text geht das ursprünglich jedoch gar nicht hervor. Erst ganz zum Schluß erfährt man (bzw. es wird dort als bekannt vorausgesetzt), daß das gerettete Mädchen die Colonel-Tochter ist, die zuvor als junge, verschleierte Dame , als Begleiterin des Colonel und als seine Dame erwähnt worden war. Bei der Verwendung des gleichen Themas im Schatz im Silbersee (1890) ist Karl May dieses Versäumnis nicht unterlaufen.
»Inn-nu-woh« wie auch die frühe »Winnetou«-Erzählung weisen die Schwächen des literarischen Anfängers auf. Sie verdienen jedoch Beachtung als Stationen in Mays schriftstellerischer Entwicklung und in der Entwicklung seiner literarischen Gestalten. Und der neu entdeckte, hier wieder vorgelegte »Winnetou«-Text bestätigt zudem, was Hainer Plaul über die Detail-Genauigkeit in Karl Mays Selbstbiographie schreibt: »Im Kern, in der Substanz sind diese Details, zumindest sofern sie sich auf äußere Ereignisse beziehen, in der Regel unbedingt glaubwürdig. . . Der so ungeheuer phantasiereiche
Schriftsteller hat mit dieser Selbstschilderung im Prinzip ein sehr ehrliches und vom festen Willen zur Wahrhaftigkeit durchdrungenes Bekenntnis abgelegt.« Nach Plaul ist es »geradezu verblüffend, an
wie viele und welche Details aus seiner Kindheit und Jugend sich der Greis noch zu erinnern wußte«.(13) Eine Feststellung, die allen »Bearbeitern« zu denken geben sollte.
2 Deutsches Familienblatt. Erster Jahrgang Dresden (1875/76). Verkleinerter Reprint als Privatdruck der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975. Die »Innu-woh«-Erzählung ist geringfügig überarbeitet - auch enthalten in Bd. 71 der Gesammelten Werke »Old Firehand«, Bamberg 1967
3 Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34 »Ich«, hrsg. von Dr. E. A. Schmid, Radebeul 1917-1942. 1. -10. Aufl., 452; 11.-20. Aufl., 402
4 In den Bamberger Ausgaben des Bandes »Ich« ist der Inn-nu-woh-Hinweis wieder enthalten. Die 21.-26. Aufl. enthält jedoch zusätzlich auch die Old-Firehand-Fußnote, wodurch der Zusammenhang noch verwirrender wird (192); von der 27. Aufl. (1968) an sind Textfassung und Fußnote korrekt (201).
5 Karl-May-Jahrbuch 1921 (Radebeul). 33-360
6 Werner Poppe: »Winnetou«. Ein Name und seine Quellen, in: Jb-KMG 1972/73, 250
7 Möglicherweise sind auch in anderen Jahrgängen von »Omnibus« Karl-May-Erzählungen enthalten. Laut Hinweis auf der letzten Seite des 17. Jahrgangs erschien die Zeitschrift ab 1. Januar 1879 unter dem Titel »Illustrirte Familienzeitung«. Da Karl May sich in seinem Schriftstellerkalender von 1881 eine Eintragung zu »Omnibus« gemacht hat, ist bei diesem dritten Jahrgang (ab 1879 begann neue Jahrgangs-Numerierung) erhöhte Aufmerksamkeit geboten, falls er einmal im Antiquariat auftauchen sollte.
8 Die alte Orthographie und auch die manchmal eigenwillige Schreibweise englischer Wörter blieben unverändert. Lediglich einige offensichtliche Druckfehler (z. B. ausgelassene oder verdrehte Buchstaben) wurden korrigiert.
9 Die »Winnetou«-Fassung in diesem Jahrbuch und die »Inn-nu-woh«-Fassung im KMG-Reprint (s. Anm. 2)
10 Die Inn-nu-woh-Zitate finden sich im Deutschen Familienblatt S.10 und S. 9.
11 Karl-May-Jahrbuch 1921, 339f.
12 Deutscher Hausschatz, Jg. VI (1879/80), Heft 49 (667). Reprint der Karl-May-Gesellschaft und der Buchhandlung Pustet. Regensburg, 211
13 Hainer Plaul (wie Anm. 1), 530 und 532
Der Original-Jahrgang »Omnibus« 1878, der von einem Hamburger Antiquariat angeboten worden war, konnte für das Archiv der Karl-May-Gesellschaft erworben werden.
1 Karl May: Mein Leben und Streben I. Freiburg (1910). Reprint dieser einzigen von Karl May autorisierten Fassung, mit ausführlichen Anmerkungen von Hainer Plaul: Hildesheim New York 1975, 185
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