//11//

HARALD FRICKE

Karl May und die literarische Romantik

Erhebt sich als nächstes die Frage: handelt
es sich hier um 1 episodisches, im Werk
isoliert stehendes Fänomen? Oder trifft
man dergleichen öfters an? Oder handelt es
sich etwa gar um die Central-Heizung des
Ganzen? Arno Schmidt: SITARA



Die akademische Literaturwissenschaft steht in Sachen May bislang sehr in der Schuld der Karl-May-Gesellschaft: fast alle Forschungsansätze und -ergebnisse, auf die man sich etwa in germanistischen Seminaren über Karl May stützen konnte, sind bisher aus den Reihen der KMG in die Universitäten gelangt. Ich denke, es wird Zeit, daß sich die akademische Philologie wenigstens ein bißchen revanchiert.

Gelegenheit zu einem Schritt in dieser Richtung bot sich mir nun kürzlich in Gestalt der Aufforderung, für einen Sammelband über "Gattungen der Trivialliteratur" einen Beitrag zur Gattung "Abenteuerroman" am Beispiel Karl Mays zu schreiben. Das habe ich dann zwar auch getan - aber ausdrücklich mit dem Ziel, meine Z w e i f e l an einer so eindeutigen Zuordnung Mays zum Abenteuerroman zu äußern.(1) Und diese Zweifel möchte ich auch in meinen folgenden Ausführungen vorbringen.

Daß Karl May Abenteuerromane geschrieben hat, scheint freilich ganz selbstverständlich zu sein; und es wird auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen in den drei Büchern von Volker Klotz, Helmut Schmiedt und Friedhelm Munzel, die in jüngster Zeit zum Thema erschienen sind. Der kritische Punkt ist hier natürlich terminologischer Art: was genau ist eigentlich unter einem »Abenteuerroman« zu verstehen? Munzel begnügt sich in seiner Begriffserläuterung mit verschwommenen Gemeinplätzen wie "unerwartetes Ereignis, gewagte Unternehmung"; "Ungewöhnliches, Faszinierendes, Ungewisses, ja Gefährliches", »menschliche Erlebenshöhepunkte und Seinsqualitäten, d. h. [?] spannungsreiches Geschehen und heldische Attribute« sowie »dynamische Handlung (...) durch


//12//

dialektische Vorgänge«.(2) Das mag ja alles auf Abenteuerromane zutreffen, aber es trifft eben auch auf eine Menge andersartiger Literatur zu. Schmiedts Studie, deren Vorzüge und deren grundlegende Bedeutung für die May-Forschung mir gerade in ihrer unerschütterlichen Solidität, in ihrem allerorten bewiesenen Augenmaß zu liegen scheinen, zieht sich in dieser Frage zwar korrekt, aber allzu einfach aus der Affäre: Schmiedt legt nur fest, w e l c h e von Mays Werken er als Abenteuerromane bezeichnen will, aber nicht in welchem S i n n e er dies tut.(3) Hier wird also, logisch gesprochen, der Begriff »Abenteuerroman« nur extensional und nicht intensional definiert.

Zum intensionalen Gehalt des Begriffs gibt hingegen Klotz in seinem explizit "Abenteuer-Romane" titulierten Buch vielfältige und wichtige Hinweise: Charisma des Helden, Unabsehbarkeit lebensgefährlicher Ereignisse, Polarität von Heimat und Fremde, Typisierung von Widersachern und Anhängern, sinnfällige Handgreiflichkeit allen Geschehens.(4) Etwas fachinterne Nörgelei kann ich freilich auch einem so großartigen Buch nicht ganz ersparen: als Abgrenzungskriterium sind mir die Ausführungen von Klotz noch nicht genau genug. Mit Hilfe einer wirklich trennscharfen Definition müßte man zeigen können, wieso z. B. die Odyssee ein Abenteuerroman ist (versteht sich: in epischen Hexametern) und die Ilias nicht - oder inwiefern nicht "Tom Sawyer", sondern nur "Huckleberry Finn" das Schema des Abenteuerromans spielerisch aufnimmt (während Mark Twain mit "Tom Sawyer" andere Gattungen wie Entwicklungsroman und "gothic novel" parodiert). Für den Zweck dieser Abgrenzung bedarf es aber neben den von Klotz vornehmlich angeführten t h e m a t i s c h e n Merkmalen (was für Ereignisse werden erzählt?) auch bestimmter s t r u k t u r e l l e r Merkmale (wie werden diese Ereignisse dem Leser vermittelt?).

Für das wichtigste solcher Merkmale der ästhetischen Organisation beim Abenteuerroman halte ich nun die K e t t e n s t r u k t u r des dargestellten Geschehens. Hauptcharakteristikum der Gattung ist jene das ganze Werk durchziehende A n e i n a n d e r r e i h u n g gefahrvoller Ereignisse, die ich in Anlehnung an den mittelalterlichen Ausdruck als »Aventiure-Kette« bezeichnen will. Von der Odyssee über die meisten Artus-Epen und die Amadis-Romane bis zu Burroughs Tarzan-Bänden bleibt das Grundschema immer gleich: ein


//13//

einzelner, gelegentlich von (ihm freilich kaum gleichrangigen) Gefährten begleiteter Held gerät in immer neue bedrohliche Situationen, von denen die Gattungsregel verlangt, daß sie wenigstens teilweise lebensgefährlich sein müssen und dabei doch jedenfalls von der Hauptperson glücklich überstanden werden.

Daß die einzelnen Glieder einer Aventiure-Kette tatsächlich nur lose g e r e i h t und nicht tektonisch v e r f u g t sind, läßt sich mit bestimmten Verschiebetests und Ersatzproben ziemlich einfach ermitteln: man kann nämlich ohne Schaden für die Gesamtstruktur jedes einzelne Abenteuer auch weglassen (z. B. überlesen), man kann es probeweise durch ein anderes ersetzen, und man kann vor allem die R e i h e n f o l g e der Aventiuren innerhalb einer Kette nahezu beliebig vertauschen. Um die Probe aufs Exempel zu machen, braucht man sich nur kurz einmal zu überlegen, ob man ohne Nachschlagen in der Lage ist, z. B. die Reihenfolge der einzelnen Irrfahrten des Odysseus oder der zwölf heroischen Arbeiten des Herakles anzugeben.

Im Gegensatz zur eher novellistischen, auf e i n e n eng begrenzten Ereigniszusammenhang fixierten Struktur von Western-Heften ist also der Abenteuerroman durch eine mehrgliedrige Aventiure-Kette im genannten Sinne charakterisiert. Um dabei möglichst zahlreiche und verschiedenartige der stets von außen andringenden Abenteuer zu ermöglichen, findet das ganze in der Regel auf einer (freiwilligen oder erzwungenen) R e i s e statt: zu Fuß vom Peloponnes nach Athen (wie Theseus), auf gepanzertem Pferd durchs gefahrenträchtige Artusland (wie die Ritter der Tafelrunde), mit dem Flugzeug über Berge und Wüsten (wie die Helden Saint-Exupérys) oder mit den verschiedensten Fahrzeugen in 80 Tagen um die Erde (wie Phileas Fogg). Dominierend als abenteuerförderndes Fortbewegungsmittel ist aber von den Argonauten und Sindbad dem Seefahrer bis zu Herman Melville und Joseph Conrad das S c h i f f; das hängt mit der naheliegenden und historisch dauerhaften Affinität von exotischem Roman und Abenteuerroman zusammen, die sich in Herzog Ernsts orientalischen Erlebnissen vor Kreuzzugshintergrund ebenso verwirklicht wie in den Indianerromanen von Cooper, Ferry, Sealsfield, Gerstäcker und Möllhausen und wie noch in der Science Fiction der Gegenwart, die angesichts einer geographisch restlos erfaßten und für Abenteuer alter Schule kaum


//14//

noch ergiebigen Erde ihre Abenteuer in "extraterrestrischer" Exotik stattfinden läßt.

Jedes einzelne Glied einer Aventiure-Kette hat dabei dieselbe typische Struktur: plötzliches Auftauchen einer Gefahr (Spannungsaufbau) - aktives Bekämpfen der Gefahr (Spannungshöhepunkt) - Überwinden der Gefahr (Entspannung). Die Quellen der tödlichen Gefahren lassen sich fast durchweg auf drei Grundmotive reduzieren: Naturgewalten, wilde Tiere und böse Feinde. Diese F e i n d e erscheinen zur Erhöhung des Wagnisses zumeist als äußerlich überlegen: durch Überzahl (dies ist die Standardsituation in der germanischen Heldenepik), durch Körpergröße und rohe Kraft (der Kyklop Polyphem ist nur der erste in einer langen Reihe gattungsspezifischer Riesen, und auch einäugige Bösewichte folgen ihm noch in erklecklicher Zahl), weiter durch körperliche Ausstattung (die mädchenräubernden Kranichmänner im "Herzog Ernst" etwa setzen außer ihren Waffen auch noch ihre tödlich zustoßenden Schnäbel ein), durch magische Kräfte (z. B. des Zauberers Arcalaus im "Amadis") oder einfach durch überlegene Bewaffnung (etwa Parzival mit Spieß und Narrenkleid vor dem hochgerüsteten Ither - vielleicht die klarste all dieser Konstellationen von David und Goliath).

Mythische Übermacht ist auch beim Kampf mit wilden T i e r e n häufig im Spiel, von der neunköpfigen Hydra und den eisengefiederten Harpyen der Antike bis zu den mutierten Rieseninsekten, Monstern und Marsbewohnern in der Horror-Abteilung des Science Fiction-Romans; und selbst in der Kategorie "realistischer" Abenteuergeschichten begegnet uns neben Coopers Bären, Kiplings Tigern und Jack Londons Wölfen ein geheimnisvoller weißer Wal, dessen anthropomorphe Individualisierung sich schon in dem sehr menschlichen Namen "Moby Dick" andeutet.

Dagegen ist in der literarhistorischen Entwicklung bedrohlicher N a t u r g e w a l t e n die Entmythologisierung der Abenteuerwelt deutlich abzulesen: hat Odysseus noch mit den widrigen Stürmen des Windgottes Aiolos persönlich und mit dem von Poseidon selbst vor Zorn aufgewühlten Meer zu kämpfen, und haben auch die Argonauten mit den zusammenschellenden Symplegaden und Herzog Ernst (wie schon Sindbad) mit dem Magnetberg ü b e r n a t ü r l i c h e Hindernisse zu überwinden, so reduziert sich das in der Neuzeit auf


//15//

eine Unzahl ganz natürlicher Schiffbrüche (mit unvermeidlich folgender Robinsonade) sowie auf Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wüstensand und Packeis (im 20. Jahrhundert besonders bei Hammond Innes). Im Science Fiction-Roman schließlich werden diese Ereignisse dann vollends von den nach Art einer Naturkatastrophe eintretenden technischen Defekten abgelöst.

Aus dieser etwas anders akzentuierten Begriffsbestimmung des »Abenteuerromans« ergibt sich für mich nun eine gegenüber dem Buch von Klotz geradezu gegenläufige Zielsetzung: während Klotz zu zeigen versucht, daß bei aller aufschlußreichen Modifikation doch sogar Mays Kolportageromane wie "Der Verlorene Sohn" noch Abenteuerromane sind, möchte ich Argumente dafür vorbringen, daß nicht einmal Mays e i g e n t l i c h e "Abenteuerromane" im Sinne Schmiedts, also die "Reiseerzählungen", noch zum klassischen Abenteuerroman gerechnet werden können, sondern eher bestimmten Traditionen der r o m a n t i s c h e n Literatur zuzuordnen sind. Als Beispiel wähle ich bewußt einen der scheinbar allbekanntesten Texte, nämlich den "Old Surehand".

Es fällt nun zunächst nicht schwer, die charakterisierten Grundelemente des Abenteuerromans in der Fabel des "Surehand" wiederzufinden. Der H e l d ist ebenso da wie die vielgliedrige A v e n t i u r e - K e t t e: Old Shatterhand reist mit wechselnden Gefährten durch Wüsten und Berge Nordamerikas, kämpft gegen verschiedene Indianerstämme und weiße Schurken, besiegt zahlenmäßig weit überlegene Feinde durch List und bewaffnete Gegner allein durch seinen betäubenden Fausthieb. Dabei muß er nicht nur seine Gefährten zu wiederholten Malen aus der Gefangenschaft befreien, sondern wird auch selbst mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen, gefangengenommen und mit dem Tode bedroht; akuter noch wird die Lebensgefahr durch drei Gewehr-Attentate auf den Helden, von denen er zweimal um Haaresbreite verschont bleibt und das dritte Mal nur am Bein verwundet wird. Auch an T i e r a b e n t e u e r n fehlt es nicht: Old Shatterhand zähmt wilde Indianerpferde und erlegt mit seiner Jagdgesellschaft vier Grizzlybären, darunter nur mit dem Messer einen uralten und riesigen Koloß, den König der grauen Bären, der sich als unglaublich zählebig erweist und dessen beinahe mythisches Wesen durch Namen wie Vater Ephraim und sohlengängerischer Adonis noch hervorgehoben wird (alle Zitate


//16//

XIX, 418 f.; P 3, 324(5)). Dagegen sind die lebensbedrohenden N a t u r g e w a l t e n im Gegensatz zu anderen Werken Mays im "Surehand" relativ schwach vertreten; sie beschränken sich auf einen zu durchschwimmenden See und eine mörderische Wüste (den unvermeidlichen "Llano estacado"), auf einen Wirbelsturm in einer Binnenerzählung und auf tödlich herabstürzende Felsen am Schluß (in den beiden letzten Fällen allerdings handelt es sich, in jüdisch-christlicher Füllung des antiken Musters, nicht um blinde Naturkatastrophen, sondern um Werkzeuge Gottes, der dabei unverkennbar seine Hand im Spiele hat).

Die bösen F e i n d e hingegen sind hier besonders schlimme Exemplare; vor allem der "General" Dan Etters (dem zwar kein Auge fehlt, dafür aber zwei Zähne) scheint so ziemlich alle Paragraphen des Strafgesetzbuches übertreten zu haben, und sein Komplize Thibaut ist zwar kein r i c h t i g e r Zauberer mehr, wird aber doch für einen großen Zauberer gehalten (XIX, 103; P 3, 83 sowie XIV, 595; P 1, 397), weil er als Taschenspieler, Juggler und Escamoteur angeblich nicht nur unvergleichlich, sondern geradezu unerreichbar ist, dadurch bei den Weißen den Ehrentitel the king of the conjurers erhält und später zum seiner magischen Kräfte wegen gefürchteten Medizinmann der Comanchen wird (alle Belege XIX, 102-105; P 3, 83-85). Dafür finden die Bösen dann aber auch ausnahmslos ihre gerechte Strafe: der "General" und der zu Old Shatterhands Todfeinden übergelaufene Old Wabble durch eine Art unmittelbaren Gottesgerichts, Thibaut und der brutale Rowdy Toby Spencer durch förmliches Gottesurteil in einer Art von "Tjost", nämlich im rituellen Zweikampf mit Schmiedehämmern bzw. Gewehren.

Es kann also kein Zweifel bestehen, daß May die Gattungstradition des Abenteuerromans bis in Einzelheiten hinein aufgegriffen hat. Fraglich bleibt hingegen, ob dabei wirklich ein Abenteuerroman im klassischen Sinne herausgekommen ist. Erste Unterschiede zeigen sich schon, wenn man näher untersucht, wie und wodurch die einzelnen Abenteuer miteinander v e r b u n d e n sind. Was im Abenteuerroman die Glieder zur Aventiure-Kette zusammenschließt, ist in der Regel das Z i e l der Reise bzw. der Kampfserie: Odysseus will (wie später Robinson) in seine alte Heimat zurück, Äneas sucht eine neue Heimat; Jason muß das Goldene Vlies aus Kolchis holen, um sein königliches Erbe antreten zu können; der


//17//

Artusritter will seine ritterliche Ehre (oder die der Tafelrunde) wiederherstellen und Phileas Fogg seine riskante Wette gewinnen; Michael Strogoff muß durch seine Nachricht nach Irkutsk das Zarenreich vor dem Untergang retten und die Zukunftshelden um Batman, Superman und Barbarella meist gleich die ganze Erde.

Fast immer ist dabei L i e b e im Spiel, die als treibendes Moment die Fabel in Gang hält und für ihren Zusammenhalt sorgt: die trotz mancher erotischen Anfechtung treue eheliche Liebe des Odysseus zu Penelope; die erst glücklich geschlossene, bald aber kriselnde und schließlich durch Aventiuren wieder gefestigte Ehe von Erec und Enite wie von Iwein und Laudine; die unproblematische, doch abenteuerzeugende Liebe zwischen Amadis und Oriane oder zwischen Chingachgook und Wah-ta-Wah; die unglückliche Liebe der Dido zu Äneas und die zunächst glückliche Liebe Medeas zu Jason mit ihrem um so schrecklicheren Ende.

Bei Karl May liegen die Dinge anders. Zunächst einmal gibt es hier k e i n e Liebesgeschichte (die Frage nach möglichen Gründen hierfür in der Person des Autors muß ich in diesem Zusammenhang beiseite lassen). Es gibt aber auch kein übergreifendes Z i e l, das von vornherein feststünde und so die abenteuerliche Reiseroute bestimmte. An die Stelle von Liebe und Endziel tritt im "Old Surehand" (und fast immer bei Karl May) ein einheitstiftendes Moment anderer Art: ein dunkles R ä t s e l und seine allmähliche Lösung.

Denn jedes neue Abenteuer macht den Helden mit geheimnisumwitterten Personen oder Ereignissen bekannt, die auf irgendeine düstere Vergangenheit hindeuten und, so wird bald erkennbar, alle irgendwie miteinander in Zusammenhang zu stehen scheinen. Zunächst lernt Old Shatterhand als Gefangenen der Comanchen den verschlossenen Westmann Old Surehand kennen, der auf der Suche nach irgendetwas Unbekanntem einsam durch den Wilden Westen streift. Bei der Befreiung seines alten Negerfreundes "Massa Bob" begegnet dem Helden die wahnsinnige Indianerin Tibo-wete-elen mit ihren mysteriösen Fragen nach ihrem Wawa Derrick und einem myrtle-wreath. Ihr Sohn, der edle Comanchenhäuptling Apanatschka, begegnet Shatterhand dann im Llano estacado und sieht seinem Zweikampfgegner Old Surehand merkwürdig ähnlich. Sein Vater Tibo-taka, Medizinmann der Comanchen und ein verdächtig auskunftscheuer, dunkler Ehrenmann, gehört zu den Indianern, die


//18//

den Oasensiedler Bloody-Fox überfallen wollen und dabei von dessen Freunden Winnetou und Old Shatterhand gefangen genommen werden. Deren unersetzliche Gewehre werden bald darauf von einem angeblichen "General" gestohlen, der ein zwielichtiges Interesse an Old Surehand hat und den von diesem lange gesuchten Dan Etters zu kennen scheint. Bei den fünfzig Hieben, die er als Strafe für den Gewehrdiebstahl erhält, gleitet dem "General" ein Ring mit mysteriöser Inschrift vom Finger. Der Bankier Wallace, bei dem der "General" einen gestohlenen Scheck einlöst, scheint in Old Surehands Geheimnis eingeweiht oder sogar verstrickt zu sein, gibt es aber nicht preis. Der Osagenhäuptling Schahko Matto, als Verbündeter des abtrünnigen Old Wabble gefangengenommen, hat eine alte Rechnung mit Tibo-taka und einem weißen Offizier, der teils dem unbekannten Dan Etters und teils dem vermeintlichen "General" ähnelt. Der Farmer Harbour, in dessen Haus Old Shatterhand beinahe erschossen wird, berichtet vom Verschwinden des christlichen Indianerpriesters Padre Diterico und seiner beiden Schwestern; in den Bergen hat er später das Felsengrab des Padre gefunden, auf dem die aus dem Ring des "Generals" bekannten Initialen "E. B." wiederkehren und auf dem Harbour durch einen unsichtbaren Helfer vom Hungertode errettet wurde. In eben diesen Bergen begegnet den Abenteurern schließlich der geisterhafte, zwischen Mann und Frau, Alt und Jung, Rot und Weiß, zwischen Leben und Tod stehende Indianer Kolma Puschi, das letzte und größte unter allen diesen Rätseln.

Obwohl Old Shatterhand durch seine Kombinationsgabe allmählich immer mehr Licht ins Dunkel bringt, werden die mindestens dreizehn einzelnen Geheimnisse erst auf der 1857. von 1859 Seiten, mit den falschen Zähnen des beim letzten Abenteuer tödlich abgestürzten "Generals", endgültig und zusammenhängend aufgeklärt: der "General" selbst ist Dan Etters, der zusammen mit Thibaut (= Tibo-taka) Schahko Mattos Stamm beraubt, den Padre Diterico ( = Wawa Derrick) ermordet und dessen Schwestern (Kolma Puschi und Tibo-wete-elen) unschuldig in Zuchthaus oder Wahnsinn gestürzt hat. Kolma Puschi (= Tehua = Emily Bender), der der Ring mit den Initialen "E. B." gehört, die das Grab ihres Bruders angelegt und unsichtbar ihrem alten Freund Harbour das Leben gerettet hat, ist die Mutter der beiden unerkannt befreunde-


//19//

ten Mestizenbrüder: Apanatschkas, der bei seiner Tante Tokbela (= Tibo-wete-elen = Ellen Thibaut) als Indianer aufwuchs, und Old Surehands, der von seinem Pflegevater Wallace, dem einstigen Gefängniswärter und Fluchthelfer seiner Mutter, als Weißer erzogen und zur Suche nach den Mördern seiner Angehörigen angehalten wurde.

So wird die vorwärtsgerichtete Abenteuerhandlung des Romans von der rückwärtsgewandten A u f k l ä r u n g s h a n d l u n g überlagert - und dadurch zugleich grundlegend verändert. Denn in der klassischen Aventiure-Kette steht jedes einzelne Abenteuer völlig für sich und hat seine »Motivation von hinten«(6), ist also isoliert auf das Ziel der Gesamthandlung und nicht auch auf die a n d e r e n Abenteuer bezogen. Bei Karl May dagegen hat jedes Abenteuer zugleich seinen genau fixierten (und deshalb nicht austauschbaren) zeitlichen und funktionalen Wert für die fortschreitende Aufklärung des Rätselkomplexes: jedes Abenteuer bringt neue Geheimnisse hervor und damit neue Schlüssel zur Lösung - und jedes dieser Indizien wiederum beeinflußt über kurz oder lang den weiteren Verlauf der Aventiure-Kette.

Die lineare Handlungsstruktur des reinen Abenteuerromans wird also in eine stufenartig aufsteigende umgeformt - und mehr noch: das der Aufklärungshandlung zugrundeliegende Prinzip von Rätsel und Lösung erfaßt bei Karl May sogar die Abenteuerhandlung selbst und wandelt sie durchgreifend um. Denn das eigentliche Ziel aller Abenteuerliteratur, die ausführliche und mitreißende Schilderung gefährlicher Situationen und spannender Kampfhandlungen (im Sinne filmischer "action"), kommt im "Surehand" kaum noch vor. Muß Old Shatterhand wider Willen doch einmal Gewalt anwenden, so tut er dies in der Regel äußerst human mit Hilfe seines schmerzlos betäubenden Jagdhiebes. Meist aber kommt es gar nicht dazu: die Methode des rationalen Kombinierens beherrscht nämlich nicht nur die Ebene der Geheimnisaufdeckung durch nachträgliche R e k o n s t r u k t i o n des vor langer Zeit Geschehenen, sondern auch die Ebene des Abenteuers durch V o r a u s s i c h t der kommenden Ereignisse: die Feinde werden nicht durch überlegene Kampfkraft niedergerungen, sondern immer wieder belauscht, in eine Falle gelockt, umzingelt, argumentativ zur Kapitulation gebracht und gefangengenommen - kurz: sie werden


//20//

mit g e i s t i g e n Mitteln besiegt, nämlich durch richtige Hypothesen über die erwartbaren Handlungen des Gegners aufgrund sorgfältig gesammelter und durchdachter Indizien. Deshalb dienen die zahllosen Fälle von Spurenlesen, von Anschleichen und Belauschen auch nicht einer vermeintlichen Handlungsspannung, sondern der vom Autor wohldosierten Informationsvermittlung für den am intellektuellen Spiel beteiligten Leser.

Daß das genannte Prinzip von Rätsel und Lösung Karl Mays Erzählweise vom Gesamtverlauf bis in die narrativen Mikrostrukturen hinein bestimmt, läßt sich schon an den ersten fünf Textseiten des "Surehand" demonstrieren. Old Shatterhand will sich mit Winnetou treffen, aber am verabredeten Ort weder Winnetou noch eine Spur von ihm zu sehen (XIV, 2; P 1, 8). Dieser Umstand, bei dem pedantischen Apachen zunächst ein Rätsel, löst Überlegungen aus, die in der Vermutung enden: gewiß war Winnetou schon da und hat ein Zeichen hinterlassen - und richtig! (XIV, 3; P 1, 8). Winnetous Nachricht steckt im Baum und ruft Shatterhand zu Bloody-Fox. Auf dem Ritt dorthin entdeckt er Pferdespuren - und zu seiner Verwunderung, daß die Pferde beschlagen gewesen waren, die Reiter hatten also nicht der roten Rasse angehört. Wer waren sie, und was wollten sie hier? (XIV, 5; P 1, 9 f.). Die Auflösung dieses Rätsels läßt nur zwei Zeilen auf sich warten: Ich betrachtete die Stelle genau und erkannte zur linken Seite seiner Fuß spuren mehrere kurze, messerrückenschmale Einritzungen. Wovon? Hatte dieser Reiter einen Säbel getragen? Dann hatte ich Soldaten, Kavalleristen, vor mir. War etwa Militär gegen die Comantschen ausgerückt, um sie für die erwähnten Raubzüge zu züchtigen? Auf die Beantwortung dieser Frage höchst gespannt - nun, wirklich gespannt ist wohl nur noch Old Shatterhand; der L e s e r hingegen weiß ja schon von den fünf vorigen Buchseiten her, daß er sich auf die genialische Kombinationsgabe des Erzähler-Helden verlassen kann.

Dieses Modell des syntaktischen Schemas von Frage und Antwort und des semantischen Schemas von Rätsel und Lösung bestimmt dann beinahe Seite für Seite den gesamten Roman - und zwar nicht nur in den (meist als erinnerter innerer Monolog vorgetragenen) Erzählermitteilungen, sondern ebenso in den quantitativ weit überwiegenden (und meist als Frage-und-Antwort-Spiel ablaufenden) Dialogen. So wird aus dem ä u ß e r l i c h handelnden


//21//

Abenteuer der i n n e r e Vorgang der Erkenntnis von Verborgenem. Selbst wilde Tiere und Naturgewalten, die physisch elementarsten Gefahrenquellen des Abenteuerromans, werden bei Karl May eher zu Denksportaufgaben: indianische Mustangs überlistet Old Shatterhand durch Verkleidung und Kräuterduft, Bären lockt er unter raffiniert abgezirkelten Maßnahmen in den tödlichen Hinterhalt, und die Schrecken der Wüste nutzt er durch genaue Ortskenntnis im Kampf gegen menschliche Feinde sogar noch zu seinen Gunsten aus. Die Botschaft dieser Erzählweise kann bei einem Kind des frühpositivistischen Zeitalters nicht überraschen: die Welt ist erkennbar, und Wissen ist Macht.

Die These liegt nahe, May habe hier statt eines Abenteuerromans einen D e t e k t i v r o m a n geschrieben. Und in der Tat ist es frappierend zu sehen, wie sehr auf den "Surehand" paßt, was Zdenko Škreb als das Grundschema des Detektivromans ermittelt hat: »Ein rätselhaftes Ereignis, das teils tiefe Besorgnis, teils würgende Angst, zumeist aber lähmendes Grauen auslöst, wird durch die den Durchschnitt weit überragende Denktätigkeit eines häufig als Sonderling geschilderten Menschen, der zumeist Detektiv ist, völlig aufgeklärt, worauf die Betroffenen von Besorgnis, Angst, Grauen erlöst und befreit werden.«(7) Über den unverkennbaren Analogien darf man freilich die Unterschiede nicht übersehen: die Aufdeckungsleistung des Kriminalromans ist rein technisch, nicht moralisch; der Detektiv sucht den Verbrecher, nicht die Schuld. Die des "Surehand" sind dagegen von anderer Art: die Täter nämlich sind zumindest den Betroffenen längst bekannt - aber erst Old Shatterhand entdeckt verborgene Identitäten, enthüllt geheime Schuld wie Unschuld und ermöglicht so die Restitution der familiären wie der rechtlichen Ordnung.

Karl May wird hier also nicht zum Mitbegründer des etwa gleichzeitig entstehenden Detektivromans, sondern zum Erben älterer Traditionen: zum einen des a n a l y t i s c h e n  D r a m a s vom "König Ödipus" über den für May so bedeutsamen "Nathan den Weisen"(8) bis zum "Käthchen von Heilbronn", zum andern des "gothic novel" der englischen und des Geheimnisromans der deutschen Romantik - Goethes (von den Romantikern in Haßliebe der eigenen Richtung zugerechneter) "Wilhelm Meister", Brentanos "Godwi", Jean Pauls "Titan", Novalis' "Ofterdingen", viele Erzähl-


//22//

werke Eichendorffs und E. T. A. Hoffmanns samt ihren ungezählten Nachfolgern im trivialen Schauerroman. Denn etwas unscharf sind der "König Ödipus" durch Ernst Bloch(9) und "Das Fräulein von Scuderi" durch Richard Alewyn(10) zu direkten Vorläufern des modernen Detektivromans erklärt worden: besser sollte man mit Dietrich Weber(11) von einem allgemeinen Typus der »analytischen Erzählung« sprechen, für den der Detektivroman e i n Spezialfall ist, ein anderer Spezialfall aber der Schauerroman mit der ähnlich auch bei Karl May ermittelten Art der Geheimnisenthüllung. Zu beachten ist dabei, daß es sich bei dieser analytischen Struktur um ein Merkmal der erzählerischen Darbietung und nicht der erzählten Handlung handelt; auch Ferrys "Waldläufer" z. B. enthält ähnliche Geheimnisse, aber hier wird nicht analytisch, sondern im wesentlichen chronologisch erzählt und die Identität der Personen bereits im ersten Viertel des Romans aufgedeckt.

So wäre der "Old Surehand" also das Resultat einer Gattungsmischung von Abenteuerroman und analytischer Erzählung? Nicht nur dies: es handelt sich um ein Konglomerat aus einer ganzen R e i h e tradierter literarischer Gattungen. Neben Abenteuerroman und analytischer Erzählung (oder meinetwegen Detektivroman) wären hier wenigstens noch zu nennen: Bekehrungsgeschichte, "Geographische Predigt" (s. u.), allegorische Erzählung und Humoreske. Die auffälligste dieser synkretistisch verbundenen Gattungsebenen ist sicherlich die der Bekehrungsgeschichte. Religiöse Streitgespräche durchziehen den gesamten Roman und bereiten so die am Ende stehenden Bekehrungen des zynischen Gotteslästerers Old Wabble und des Gottsuchers Old Surehand vor. Über den religiösen Inhalt dieses Handlungselements hat der Literaturwissenschaftler nicht zu urteilen; ihm obliegt allein die Feststellung, daß May hier nicht nur das für sein Leben und Schaffen so zentrale Motiv des "Verlorenen Sohns" ausdrücklich(12) wie in der Gesamtstruktur aufnimmt, sondern daß die an Old Wabble vollzogene Läuterung gerade eines besonders hartnäckigen Sünders und Christenfeindes - mit einem pietistischen Buchtitel zu reden: die "Wunderbare Umwandlung eines Greises durch plötzliche Bekehrung"(13) - genau dem Gattungsschema folgt, das nach dem Vorbild der sprichwörtlichen Wandlung des Saulus zu Paulus und der Legenden um Kaiser Konstantin oder Gregorius zahllose pietistische


//23//

Traktate und Beispielerzählungen bestimmte und mit dem Karl May nachweislich aus seiner Jugendzeit bestens vertraut war.(14)

Nicht nur, aber doch auch von dieser zeitgenössischen Traktätchen-Literatur beeinflußt ist ein anderes Element der Mayschen Gattungsmischung, das ich mit seinem eigenen Ausdruck als Geographische Predigt bezeichnen will. Unter diesem Titel hatte der junge Redakteur May 1875/76 eine Reihe erbaulicher, aus Faktenwissen, Literatur und Christentum zusammengesetzter Aufsätze veröffentlicht: Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Thal, Wald und Feld, Mensch und Thier, Strom und Straße, Stadt und Land, Haus und Hof.(15) Die Tradition solcher frei assoziierenden Betrachtungen von Kosmos, Landschaft, Pflanzen- und Tierwelt als Spiegelungen menschlicher Lebensverhältnisse ist natürlich viel älter und hat von den Bucolica und Georgica Vergils über die großen lehrhaften Naturgedichte des englischen 18. Jahrhunderts bis zu den ausladenden Landschaftsmetaphern Celans ihren Platz vor allem in der l y r i s c h e n Dichtung gehabt. May fügt nun auch in den "Surehand" wiederholt derartige "Geographische Predigten" ein, für die sich häufig Titel ganz nach seinem eigenen Muster anbieten: "Wüste und Straße" (XIV, 149; P 1, 103 f.), "Wüste und Weltall" (XIV, 396-398; P 1, 265-267), "Meer und Prärie" (XV, 115-118; P 2, 81-83), "Weiße und Wilde" (XIX, 1-4; P 3, 7-9), "Himmel und Erde" (XIX, 44 f.; P 3, 39 f.), "Berg und Tal" (XIX, 339-341; P 3, 263 f.), "Engel und Mensch" (XIX, 150-157; P 3, 119-124), "Mensch und Tier" (XIX, 427 f.; P 3, 330 f.).

Nach dem Modell seiner eigenen Frühschriften dieses Typs führt May dabei einen der Homilie zugrundeliegenden biblischen Text entweder wörtlich an (in der "Berg und Tal"-Predigt übernimmt er in XIX, 341; P 3, 264 sogar haargenau das Motto seines frühen Aufsatzes mit diesem Titel: Psalm 121, 1(16)), oder die entsprechende Bibelstelle läßt sich leicht erschließen: wenn etwa in der "Mensch und Tier"-Predigt die Büffelleichenfelder und die halb vermoderten Schädel verstorbener Westmänner als Mahnmale irdischer Vergänglichkeit zusammengestellt werden (XIX, 427 f.; P 3, 330 f.), dann ist dies unverkennbar angelehnt an Prediger Salomo 3, 19: »Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch.« May hat diesen erzählerischen Rückgriff auf die frühen "Geographischen Predigten" später sogar programmatisch


//24//

erklärt: Schon der Titel besagt, was ich damals wollte und auch heute noch will. Geographie und Predigten! Kenntnis der Erde und ihrer Bewohner und Aufschau nach einer lichteren Welt! Dieser Anfang meiner literarischen Laufbahn bildete die Grundlage für meinen späteren Werdegang; die "Geographischen Predigten" enthalten die Leitgedanken zu meinen sämtlichen Werken, die ich in der Folge treulich beibehalten habe.(17)

In dieser Äußerung Mays ist zugleich schon die Möglichkeit angedeutet, Werke wie den "Old Surehand" auch im ganzen gleichsam als eine große "Geographische Predigt", nämlich als eine epische Allegorie aufzufassen. Gegen Ende seines Lebens hat May diese Selbstinterpretation mit Nachdruck vertreten: Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag, nämlich: Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und an einem amerikanischen.(18)

Natürlich ist dies eine mit Vorsicht zu betrachtende nachträgliche Selbststilisierung, die May aus dem Blickwinkel seiner eindeutig allegorischen Spätwerke vornimmt. Aber während etwa Volker Klotz Mays ethisches Programm bis ins Alterswerk hinein »mehr als dramaturgische Funktion, denn als "Botschaft"« interpretiert(19), muß man bei genauer Betrachtung des "Old Surehand" doch immerhin soviel konzedieren, daß die wesentlichen Handlungsstrukturen und Personenbeziehungen eine allegorische Deutung in Mays Sinne überraschend gut aushalten: wie viele andere und besonders die letzten Romane zeichnet auch der in der W ü s t e beginnende und auf B e r g g i p f e l n endende "Surehand" den Weg vom Tiefland ins Hochland, aus rätselvoller Verwirrung zur Klarheit, vom atheistischen Dunkel ins Licht des Christentums.

Aufgrund der bisherigen Darlegungen müßte jemand, der Karl May nicht aufgrund eigener Lektüre kennt, unvermeidlich annehmen, es handle sich da um eine durchweg todernste Angelegenheit. Jeder May-Leser aber weiß, daß davon keine Rede sein kann: gerade Mays Reiseerzählungen sind über weite Strecken durch komische Elemente, durch Gattungsmerkmale der H u m o r e s k e bestimmt. Das Spektrum des Komischen reicht dabei von sächsi-


//25//

scher Typenklamotte à la Hobble-Frank und Tante Droll über solche zwar derben, aber in ihrer Skurrilität entwaffnend gelungenen Karikaturen eines Sir David Lindsay oder eines Doktor Morgenstern (mit seinem unbezahlbar trockenen, proletarischen Sancho-Pansa-Ersatz Fritze Kiesewetter) bis hin zur gelegentlich nachgerade subtilen rhetorischen Komik der Religionsgespräche zwischen Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Im allgemeinen gilt dabei übrigens die alte literarische Ständeklausel: während auf der heroischen Ebene fast nur Häuptlinge, Scheiks und Stammesfürsten vorkommen (und selbst die Schurken noch als "General" oder als "king of the conjurers" firmieren), gehört das komische Personal in der Regel den niederen Rängen an (etwa als Diener oder als hierarchisch untergeordneter Reisegefährte). Die große Ausnahme ist hier der Hauptheld selbst: Old Shatterhand bewegt sich souverän auf beiden Ebenen. Im "Surehand" etwa ist er Blutsbruder Winnetous und Seelengefährte Old Surehands ebenso wie kräftig mitwitzelnder Freund der humoristischen Figuren Dick Hammerdoll, Pitt Holbers und Massa Bob - wie er ja auch selbst seine gefährlichsten Abenteuer immer wieder durch komische Verstellungen nach Art des Schelmenromans besteht. In Old Shatterhand haben also nicht nur die heroischen, sondern auch die picaresken Abenteuerhelden einen Nachfolger gefunden.

In all den genannten literarischen Gattungen hat sich Karl May auch einzeln erprobt, vor allem in seinen frühen Texten.(20) Wie gelingt es ihm nun, im "Surehand" so viele und vor allem so verschiedenartige Genres wie Abenteuerroman und Geographische Predigt, Bekehrungsgeschichte und analytische Erzählung sowie Humoreske und Allegorie zu integrieren? Die erste Antwort muß lauten: durch Einbeziehung einer weiteren Gattung, nämlich der Autobiographie. Er gibt dies alles ganz unverfroren als reine Tatsachen aus dem Leben des Radebeuler Schriftstellers Carl Friedrich May aus; und die Autorität dieses erzählerisch raffiniert gestützten Wahrheitsanspruchs vermag selbst heterogenste Elemente zusammenzuhalten. Wenn irgendwo, dann liegt hier auch die eigentliche literarische Innovation Mays: aus so vielen traditionsreichen Einzelquellen sein heldischer Ich-Erzähler auch geschöpft sein mag - in dieser umfassenden Vereinigung von Autobiographischem und Phantastischem, Heroischem, Burleskem, von Rationalität und


//26//

pietistischem Sentiment hat er eigentlich weder Vorgänger noch Nachfolger.

Hinzu kommt dabei ein zweites Integrationsmoment, das man zugleich wohl als das fundamentale Strukturprinzip des "Old Surehand" (und von Mays Werk überhaupt) ansehen kann: die Wiederholung und Spiegelung von Handlungselementen. Wenn trotz der radikalen Heterogenität der Bestandteile dennoch kein Element isoliert oder dysfunktional wirkt, so deswegen, weil jedes Element in vielfacher Abwandlung wiederholt und auf den verschiedenen Ebenen gespiegelt wird. Am deutlichsten wird das natürlich bei den immer wiederkehrenden Grundmotiven Mays: dem Anschleichen, Belauschen, Gefangennehmen und Befreien, der Erfüllung von Vorahnungen und dem Aufdecken von Fälschungen. Das Motiv der Fälschung etwa beherrscht nicht nur die Geheimnis-Ebene des Romans (Falschmünzerei, falsche Zähne, falscher Zauber, gefälschte Schuldbeweise, falsche Namen; schließlich Kolma Puschi als falscher Mann), sondern das Motiv kehrt auch auf der Abenteuer-Ebene wieder (als taktische Verstellung Shatterhands und als Hinterlist der Comanchen), und es wird auf der Ebene der Humoreske komisch imitiert (Old Shatterhand gibt sich aus purer Schalkhaftigkeit als Gräbersucher oder als taubstummer Schauspieler aus; Pitt und Dick parodieren mit ihrem vorgetäuschten Schatz, an dessen Stelle sie ein Spottgedicht vergraben, die lebensrettende Gold-List Winnetous). Wie die Fälschungen dürften auch die manisch wiederholten Gefangennahmen und Befreiungen bei einem einst wegen Betrugsdelikten arrestierten Autor unter anderem(21) biographisch motiviert sein: wenn ich nichts übersehen habe, wird in den drei Bänden "Surehand" 32mal jemand gefangengenommen und 14mal durch List oder Gewalt wieder befreit (in den übrigen Fällen aus Milde freigelassen). Beinahe schon jenseits des Zählbaren bewegen sich das Anschleichen und das Belauschen, dessen Wiederholungsstruktur einmal sogar noch durch eine punktuelle Verdoppelung akzentuiert wird: zwei Parteien belauschen sich abwechselnd gegenseitig (XV, 180; P 2, 122 f.).

Bei der mysteriösen Ähnlichkeit der Ereignisse auf Fenners und dann auf Harbours Farm wird der Wiederholungscharakter sogar ausdrücklich hervorgehoben: in beiden Fällen wird Old Shatterhand durchs Fenster beschossen und verfehlt, worauf dann noch


//27//

ein Indianerüberfall folgt - genau wie dies angesichts der äußeren Ähnlichkeit der Farmen vom Helden befürchtet worden war (dessen warnendes Daimonion dem des Sokrates auffallend ähnlich ist). Dies hängt mit einem weiteren Grundzug des Romans zusammen, mit dem Eintreffen von Flüchen, Ahnungen und Prophezeiungen einer festen Struktureigenschaft dieser fiktiven Welt, die sich in derselben Häufigkeit wie bei May höchstens noch im romantischen Schauerroman und in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts wiederfindet. Am markantesten zeigt sie sich im Geschick Old Wabbles, dessen Tod ihm nicht nur von seinem späteren Mörder, dem "General", zugeschworen (XIV, 643; P 1, 428), sondern auch von Shatterhand gleich dreimal in allen Einzelheiten prophezeit wird (XIV, 404; P 1, 270; XV, 646 f.; P 2, 431; XIX, 193; P 3, 152); und daß Winnetou zu Recht in Old Wabble schon früh einen Sterbenden ahnt (XIX, 43; P 3, 38), erweist sich bald in einer eindrucksvollen Reihe vorbotenhafter Leidensstationen: Old Wabble verliert im Feuer - gleichsam im Fegefeuer - sein langes weißes Haar (XIX, 207; P 3, 163), er bricht sich stürzend den Arm zwischen den gestohlenen Gewehren Old Shatterhands und bleibt zuerst scheintot liegen (XIX, 259 f.; P 3, 201 f.), sieht durch das Wundfieber bald darauf wie ein Gerippe samt Totenkopf aus (XIX, 475; P 3, 366), bevor er dann wirklich einen qualvollen, aber: seelenrettenden Tod stirbt (XIX, 488-500; P 3, 375-385).

Doch auch kleinere Motive werden häufig wiederholt - etwa das der auffallenden Ähnlichkeit (noch über später aufgeklärte Familienbande hinaus): Tibo-wete-elen ähnelt Old Surehand (XIV, 258; P 1, 175), der wiederum Apanatschka (XIV, 573; P 1, 382); dieser sieht Winnetou ähnlich (XIV, 539; P 1, 359), der später von Old Shatterhand beinahe mit Kolma Puschi verwechselt wird (XIX, 180; P 3, 143), welche(r) wiederum ihn für seinen Vater Intschu tschuna hält (XIX, 183; P 3, 144); und sie alle haben mit ihrer schwarzen Mähne ihr Gegenbild in Old Wabble mit seinen ebenso langen, aber weißen Haaren, die einmal ausdrücklich mit Winnetou und Old Surehand verglichen werden (XIV, 205; P 1, 140).

Und durch dieses Prinzip der Wiederholung sind nun auch die zahlreichen B i n n e n e r z ä h l u n g e n in den Roman integriert, die ich hier bisher noch ausgeklammert hatte. In den nach 1913 erschienenen zweibändigen Ausgaben des "Old Surehand" kommen frei-


//28//

lich die 6 längsten dieser 14 Binnenerzählungen gar nicht mehr vor - nämlich all die Geschichten, die im originalen zweiten Band in Mutter Thicks Gasthaus erzählt werden. (Erst durch die verlegerische Großtat der Pawlak-Ausgabe ist dieser Teil des "Surehand" wieder allgemein zugänglich geworden.) Da Karl May hier (wie auch sonst) einige seiner frühen Erzählungen in nur oberflächlich überarbeiteter Fassung noch einmal verwertet, könnte sich in diesem Fall die Verstümmelungsentscheidung des Karl-May-Verlages sogar einmal auf das Urteil Arno Schmidts und prominenter Autoren der Karl-May-Gesellschaft berufen.(22) Mit dem Hinweis auf die ökonomisch motivierte Wiederverwertung hat man sich offenbar der Prüfung enthoben gefühlt, welche der vielen in Frage kommenden Erzählungen May denn für den Kontext des "Surehand" ausgewählt und in welcher W e i s e er sie in die Handlung eingefügt hat.

Mays scheinbar ganz simples Vorgehen ist hier nämlich von großer Raffinesse: er legt seine alten Erzählungen verschiedenen Gästen bei Mutter Thick in den Mund und läßt sie dann inhaltlich, literarisch und vor allem ihrem Wahrheitsgehalt nach k r i t i s i e r e n - teils wechselseitig durch die Sprecher und Zuhörer, teils durch den inkognito lauschenden Old Shatterhand und teils durch Kommentare des Ich-Erzählers. Durch diese explizite Kritik schiebt May aber die Verantwortung für die Blutrünstigkeit der Geschehnisse, für manche literarische Schlampigkeit und für besonders grobe Unwahrscheinlichkeiten von sich weg - und läßt so zugleich die von ihm selbst erzählte Haupthandlung durch Kontrastwirkung im hellstmöglichen Licht erscheinen. Denn wer in der Lage ist, a n d e r e Wildwestgeschichten als bloße Aufschneiderei zu entlarven, gelegentlich auch gönnerhaft als der Wahrheit ähnlich zu bestätigen (z. B. XV, 184; P 2, 125) oder aber aufgrund besseren Wissens im Detail zu korrigieren, der bringt damit unmißverständlich einen nichtfiktionalen W a h r h e i t s a n s p r u c h ins Spiel und etabliert zugleich sich selbst als höchste Instanz der Tatsachenfeststellung. So wird selbst aus den Binnenerzählungen ein wichtiger Zug in Mays Strategie der Beglaubigung des Erzählten als autobiographischer Wahrheit.

Darüber hinaus hat May die Binnenerzählungen aber auch so ausgewählt, daß sie durch eine Vielzahl von Wiederholungen, von


//29//

Spiegelungen und Äquivalenzen mit der Haupthandlung verknüpft sind. Dieses Verfahren stammt nun nicht etwa, wie der "Große Karl May Bildband" argwöhnt, aus Sealsfields "Kajütenbuch"(23), sondern die Spiegelung einer Erzählung in ihren eigenen Binnenerzählungen ist ein epischer Kunstgriff besonders der deutschen Romantiker gewesen (etwa bei Tieck, Novalis, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann).

Wegen der Vielzahl der Fabeln im zweiten "Surehand"-Band kann ich hier nur kurz die wichtigsten Übereinstimmungen mit den Personen, Motiven und Strukturen der Haupthandlung andeuten. Zunächst kommen in den Binnenerzählungen immer wieder auch die Helden der eigentlichen Romanhandlung vor: Shatterhand und Winnetou spielen überall eine Rolle, Old Surehand sowie Pitt und Dick jedenfalls gelegentlich; der Detektiv Treskow, mitbeteiligter Erzähler der Geschichte vom Schwarzen Kapitän und der Miss Admiral, ist auf dienstlicher Suche nach den Hauptschurken Etters und Thibaut, die in den Binnenerzählungen zwar nicht selbst vorkommen, aber dort eindeutige Stellvertreter besitzen. Denn dem mörderischen Taschenspieler und falschen Medizinmann Thibaut entspricht genau der Serienmörder Kanada-Bill, ein betrügerischer Arzt und Kartenkünstler; der von seiner dunklen Vergangenheit bedrohte Rollins hat genau wie Etters (alias Raller!) einst seinen Schwager aus Goldgier ermordet und findet schließlich wie jener am Ort der Tat seine tödliche Bestrafung durch Naturgewalten (gelenkt einmal von Gott, XIX, 565; P 3, 432, einmal vom gerechten Manitou, XV, 244; P 2, 166) - von einem Baum zerquetscht wie Old Wabble, mit dem er auch die letzte Beichte und den gnädigen Tod teilt.

Hierher gehören auch zwei weitere eingeschobene B e k e h r u n g s g e s c h i c h t e n: die in der Schutzengel-Predigt als Beispielerzählung angeführte Sinneswandlung eines agnostischen deutschen Gelehrten durch wunderbare Errettung beim Bergabsturz (XIX, 152-155; P 3, 120-122) und die sehr ad hoc eingefügte Episode mit dem Comanchen-Jüngling Schiba-bigk, den Shatterhand erfolgreich zu christlichem Denken erzieht. Der als Mann auftretenden und Männer niederschlagenden Miss Admiral entspricht in der Haupthandlung die androgyne Kolma Puschi, die den um ihre Gunst werbenden Häuptling Tusahga Saritsch wie


//30//

Brunhild im Nibelungenlied beim Zweikampf besiegt (XIX, 530 f.; P 3, 407) - und auf der komischen Ebene korrespondiert dem die Erörterung einer möglichen Geschlechtsumwandlung Pitts und seiner Heirat mit Dick. Ein ähnliches Satyrspiel erfährt auch das in Haupthandlung und Binnenerzählung mehrfach wiederholte Motiv familiärer Anagnorisis, wenn Pitt endlich seine langgesuchten Ziehbrüder Joel und Hosea Holbers wiederfindet - leider als moralisch verkommene Tramps, so daß er auch bei ihnen seinen lästigen Reichtum wieder nicht loswerden kann.

Vor allem aber wiederholen sich in den Binnenerzählungen die G r u n d s t r u k t u r e n des ganzen Romans: alle Rätsel werden schließlich gelöst, Fälschungen werden entlarvt und verborgene Identitäten erwiesen, alte Schuld wird aufgedeckt und gesühnt; beim Zusammentreffen von Rot und Weiß erweisen sich nicht die feindlichen Indianer, sondern stets Weiße als die eigentlichen Schurken, - wie in der Haupthandlung, so als explizites "fabula docet" aller Gasthauserzählungen: XV, 116 (P 2, 81), XV, 248 (P 2, 168), XV, 250 (P 2, 170), XV, 425 (P 2, 285); ähnlich dann XIX, 3 (P 3, 8), XIX, 20 (P 3, 21), XIX, 109 (P 3, 88), XIX, 289 (P 3, 224) - und für die Helden der verschiedenen Erzählungen gehen selbst die gefährlichsten Abenteuer schließlich gut aus. Durch diese vorwegnehmende Spiegelung der Gesamtkonstruktion werden die Binnenerzählungen zu strukturellen Vorausdeutungen: sie halten die vorwärtsdrängende Haupthandlung als spannungsstauende Elemente auf und geben zugleich doch dem Leser kleine Winke, wie es mit ihr weitergehen wird. Besonders deutlich wird dieses Moment an den drei Binnenerzählungen auf den ersten 45 Seiten des Romans, die entgegen Schmiedts Ansicht keineswegs »nur in sich spannend« sind(24), sondern die der kaum noch angelaufenen Haupthandlung als mikrokosmische Antizipation vorangestellt werden: das alte R ä t s e l des geheimnisvollen "Mistake Cañon" wird gelöst; das Schuldgefühl des von seiner dunklen V e r g a n g e n h e i t gequälten Josua Hawley, der dort einst irrtümlich einen Freund erschossen hatte, besänftigt Shatterhand als erfolgreicher Seelsorger durch seine Erzählung vom ähnlich schuldlosen Unglück eines alten Schieferdeckers, der seinen vom Schwindel gepackten Sohn vom Turm stürzen mußte, um der Familie wenigstens einen Ernährer zu retten; und diese beiden Aufdeckungsgeschichten erhalten sogleich


//31//

ihre h u m o r e s k e Kontrafaktur in Sam Parkers komischem Eingeständnis einer lange geheimgehaltenen F ä l s c h u n g, seines (in Wahrheit nicht erjagten, sondern geschenkten) ersten Elks.

Es besteht also wenig Anlaß, die Binnenerzählungen aus dem Text des "Old Surehand" zu streichen; sie sind keine überflüssigen Einschiebsel oder "bloße" Wiederholungen, sondern tragendes Element der Gesamtkonstruktion. Denn erst durch vielfältige Spiegelung zwischen Rahmen- und Binnenhandlungen werden aus zufälligen Einzelereignissen a l l g e m e i n e Wesenszüge einer fiktiven Wirklichkeit, die so erst ihren exemplarischen Charakter erhält und auf mehreren Gattungsebenen gleichzeitig zu verstehen ist.

Hier nun liegt für mich auch der entscheidende Grund, Karl May mit der literarischen R o m a n t i k in Verbindung zu bringen. An mehreren Stellen schon hatte ich ja angedeutet, wie May bestimmte Motive und Strukturen aus der romantischen Literatur übernimmt; vielleicht ist daraus bereits deutlich geworden, wie die Tradition des klassischen, auf äußere Aktion gegründeten Abenteuerromans bei Karl May nicht bloß ü b e r l a g e r t, sondern geradezu v e r d r ä n g t wird von der romantischen Tradition der Spiegelung von Innerem und Äußerem, der dunklen persönlichen Geheimnisse, der zentralen Frage nach der problematisch gewordenen Identität. »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg« - dieser fundamentale und vielzitierte Satz des Novalis(25) gilt nicht zum wenigsten für Karl May. Leicht ließen sich weitere Lieblingsmotive der Romantiker anführen, die May aufgegriffen hat: die vielen zärtlich-sentimentalen Jünglingsfreundschaften etwa, das Motiv des Verlorenen Sohns, des hellsichtigen Wahnsinns oder das von Jean Paul über E. T. A. Hoffmann bis Heine nahezu unvermeidliche Motiv des Doppelgängers.

Aber das sind Einzelheiten; viel wichtiger ist das gemeinsame Bauprinzip der Romane Mays und romantischer Dichtung, nämlich der strukturelle Grundzug der M i s c h u n g vielfältiger Gattungselemente und ihrer epischen Integration durch gegenseitige Spiegelung der verschiedenen Ebenen. Die Romantik nämlich bedeutete literarhistorisch das Ende der klaren dichterischen Formen, der unvermischten Gattungen. Leider muß ich in diesem begrenzten Rahmen darauf verzichten, an Beispielen vorzuführen, wie etwa in der romantischen Erzählkunst Episches und Lyrisches,


//32//

Abhandlung und Aphorismus, Manierismus und Volkspoesie, ästhetische Theorie und Religion, Identitätsgrübelei und Ironie, Witz und Mysterium in artistischer Weise miteinander verquickt werden. Ich möchte es aber wenigstens ersatzweise plausibel machen mit Hilfe jenes Textes, der zu Recht als gedrängtes Manifest der poetologischen Theorie wie auch der literarischen Praxis der Romantiker berühmt geworden ist: Friedrich Schlegels Athenäums-Fragment 116 über die romantische Poesie. Ich bitte darum, bei dem im folgenden nahezu ungekürzt wiedergegebenen Text gleich darauf zu achten, wie sehr sich das hier Gesagte auf Karl Mays Reiseerzählungen beziehen läßt:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. (...) Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles, und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert (...). Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.(26)

Es ist wohl offensichtlich, in welchem Maße sich diese Äußerungen Schlegels geradezu als Zusammenfassung meiner Strukturanalyse von Mays Reiseerzählungen anbieten. Hier i s t der Roman, der die "getrennten Gattungen der Poesie wieder vereinigt" und sie (nämlich in den Geographischen Predigten) "mit Philosophie und Rhetorik in Berührung setzt"; der voll von "gediegnem Bildungsstoff" einen "Spiegel der ganzen Welt und ein Bild des Zeitalters" mit "den Schwingungen des Humors beseelt"; der dabei "alle Teile ähnlich organisiert wie das Ganze", ständig "zwischen dem Dargestellten


//33//

und dem Darstellenden schwebt" und dieses Prinzip "wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfacht". Und von welchem anderen Autor könnte man wohl mit solchem Recht sagen, daß er, obwohl "Individuen jeder Art charakterisierend", dabei doch in aller Weltbuntheit letztlich immer "nur sich selbst dargestellt hat"? Kurz: auch Mays Werk steht nicht weniger als irgendeine andere Dichtung unter dem "ersten Gesetz, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide".

Bemerkenswert an diesem Befund ist nun vor allem dies: in der germanistischen Forschung besteht ein breiter Konsens darüber, daß den Romantikern selbst der großrahmige Roman, der ihre theoretischen Forderungen erfüllte, in der Praxis nie gelungen ist. Sie konnten ihn nur b e s c h r e i b e n, aber nicht s c h r e i b e n; geschrieben hat ihn erst Karl May. Das spricht wohl dafür, daß es auch für Literaturwissenschaftler am Fall May noch einiges Grundsätzliche zu lernen gibt - und sei es nur dies: daß die idealisierten, scheinbar unerfüllbaren Postulate einer Dichtungstheorie zuweilen beinahe buchstäblich erfüllt werden können ausgerechnet in einem Genre, das häufig als »Trivialliteratur« bezeichnet wird.

Wenn es nicht die Wahrheit wäre, würde man dies wohl für einen Treppenwitz der Literaturgeschichte halten.



1 Abgedruckt unter dem Titel: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen, in: Gattungen der Trivialliteratur, hrsg. v. Uwe Baur und Zdenko Škreb (im Erscheinen). Die Ausführungen zur gattungstheoretischen Zuordnung Mays im folgenden Text meines Vortrags auf der Jahrestagung der Karl-May-Gesellschaft vom 26. 10. 1979 in Hannover übernehme ich in gekürzter und leicht modifizierter Fassung aus diesem Aufsatz.

2 Friedhelm Munzel: Karl Mays Erfolgsroman "Das Waldröschen". Eine didaktische Untersuchung als Beitrag zur Trivialliteratur der Wilhelminischen Zeit und der Gegenwart. Mit einer Einführung von Prof. Dr. Heinz Stolte. Hildesheim 1979, 247.

3 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines deutschen Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, 5 f.

4 Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue-Dumas-Ferry-Retcliffe-May-Verne. München 1979, 14-18.

5 Alle Zitate aus dem "Old Surehand" nach der Originalausgabe Freiburg 1894-96: Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XIV, XV, XIX (künftig abgekürzt mit diesen Ziffern). Zusätzlich angegeben ist jeweils die Paginierung der Pawlak-Ausgabe (P), Herrsching o. J. (1976), da dies seit 1913 der erste unbearbeitete Neudruck der dreibändigen Originalfassung ist.

6 Zu diesem Terminus vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman, neu hrsg. u. eingel. v. Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M., bes. 66-81.


//34//

7 Zdenko Škreb: Die neue Gattung. Zur Geschichte und Poetik des Detektivromans, in: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans, hrsg. v. Viktor Zmegac. Frankfurt 1971, 35-95, hier 81.

8 Vgl. dazu Heinz Stolte: Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May, in: Jb-KMG 1977, 17-57. Auffallend ähnlich bei May vor allem die Art der Anagnorisis und ihre Vorbereitung durch Namensentschlüsselungen, im Fall Lessing detailliert untersucht von Hendrik Birus: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings "Nathan der Weise". Göttingen 1978. Eine ähnlich gründliche Studie zur Namengebung Mays (besonders im Spätwerk) wäre sehr zu wünschen, freilich auch kaum weniger schwierig, weil hier neben den orientalischen Wörterbüchern (wie bei Lessing) auch noch die indianischen durchforscht werden müßten.

9 Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans, in: Der wohltemperierte Mord (s. Anm. 7), 111-131.

10 Richard Alewyn: Die Anfänge des Detektivromans, in: Der wohltemperierte Mord (s. Anm. 7), 185-202.

11 Dietrich Weber: Theorie der analytischen Erzählung. München 1975.

12 »Ein verlorener Sohn kehrt jetzt zurück ins Vaterhaus«, sagt Shatterhand in Anwesenheit der buchstäblich "verlorenen Söhne" Apanatschka und Old Surehand über Old Wabbles reuiges Sterben (XIX, 498; P 3, 383). Vgl. dazu allgemein Volker Klotz: Woher, woran und wodurch rührt "Der verlorene Sohn"? Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman, in: Jb-KMG 1978, 87-110 (ähnlich jetzt auch in: Abenteuerromane, 152-181; s. Anm. 4).

13 Titel eines der Traktate aus der Beispielsammlung bei Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt a. M. 1970, 319.

14 Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek ..., der mir zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und andern guten Menschen fügte. Mein Leben und Streben, hrsg. v. Hainer Plaul. Hildesheim 1975, 70. Bei dem genannten Autor handelt es sich um den bayrischen Theologen und Volksschriftsteller Wilhelm Redenbacher (1800-1876).

15 Karl May: Geographische Predigten, in: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter. Dresden 1875/76, H. G. Münchmeyer. (Faksimile-Nachdruck des kompletten Zeitschriften-Jahrgangs: Hildesheim-New York 1979). Leicht bearbeiteter Neudruck der May-Texte in: Gesammelte Werke, Bd. 72 "Schacht und Hütte". Bamberg 1968.

16 »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hülfe kommt.« Schacht und Hütte, Heft 19, 149.

17 "Ich". Karl Mays Leben und Werk. Gesammelte Werke, Bd. 34, 27. Aufl. Bamberg 1968, 201 (der zitierte Abschnitt ist laut Angabe des Karl-May-Verlags vom Herausgeber aus einem anderen Text Mays in die Bamberger Fassung der Autobiographie eingefügt worden).

18 Mein Leben und Streben (s. Anm. 14), 141 bzw. 143.

19 Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. Über Karl May, in: Akzente 1962, 356-383, hier 382. Freilich macht sich hier bemerkbar, daß selbst diese glänzende und auch für meine eigenen Analysen sehr fruchtbare Studie zu Mays Erzähltechnik stark beeinträchtigt wird durch die Berücksichtigung allein der vom Karl-May-Verlag bearbeiteten Textfassungen (zweibändiger "Old Surehand", "Das Buschgespenst" als Potpourri aus dem sechsbändigen "Verlorenen Sohn" usw.). In den Originaltexten verlagern sich die Gewichte bei weitem nicht so eindeutig zum Abenteuerlichen hin.

20 So ist der "Old Firehand" von 1875 (nachgedruckt in Band 40 der Pawlak-Ausgabe) ein reiner Abenteuerroman, hier auch noch (im Gegensatz zur Umarbeitung des Textes für "Winnetou II") mit der gattungsspezifisch obligaten Liebesgeschichte als Klammer der Aventiurekette. Als analytische Erzählungen


//35//

wären etwa "Saiwa tjalem" ("Der Talisman" in "Auf fremden Pfaden", Pawlak Bd. 30) und, als detektivische Variante, "Aqua benedetta" zu nennen (in Bd. 71 der Bamberger Ausgabe). "Maria oder Fatima" und "Der Flucher" (= Old Cursingdry, als nach lebenslangem Fluchen betend sterbender Alter eine deutliche Parallelfigur zu Old Wabble) sind typische Bekehrungsgeschichten, wiewohl schon vor exotischer Kulisse (beide zuerst in Marienkalendern, dann in "Auf fremden Pfaden"). Für den reinen Typus der allegorischen Erzählung wäre unter vielen Spätwerken etwa auf "Merhameh" (Pawlak Bd. 41) zu verweisen; Humoresken hat May explizit unter dieser Gattungsbezeichnung eine ganze Reihe geschrieben, zu deren frühesten wohl "Die Fastnachtsnarren" gehören (abgedruckt im Bamberger Band "Schacht und Hütte"). Auf die zuerst gesondert erschienenen Geographischen Predigten habe ich bereits hingewiesen.

21 Daß das Motiv der Gefangenenbefreiung weit mehr ist als nur der individuelle Wunschtraum eines Zuchthäuslers, führt Gert Ueding literarhistorisch aus in: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays, in: Jb-KMG 1978, 60-86 (vgl. schon ders.: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt 1973, 132 ff.). Dies hat May auch selbst genau gesehen: Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu fühlbar vorhanden sind? (Mein Leben und Sterben, 134; s. Anm. 14).

22 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Neuausgabe Frankfurt 1969, 123: »Bd. II stellt ... eine einwandfreie, ziemlich freche "Notlösung" dar ... die "Notlösung" besteht darin, daß die [Binnenerzählungen] sämtlich nichts mit SUREHAND oder auch nur miteinander zu tun haben, sondern einfach aus früheren Büchern herausgebrochen sind«. So voreilig und ungenau dieses Verdikt auch ist, es wird doch nachgeplappert, und von überraschender Seite zumal: »Die offensichtliche Notlösung, für den zweiten Band ältere Erzählungen ... mit einer Rahmenerzählung zu verbinden, mißlingt«, heißt es in dem von der Karl-May-Gesellschaft initiierten (und im ganzen vorzüglich gemachten) "Großen Karl May Bildband" (Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern, hrsg. v. Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul. Hildesheim 1978, 139). Es ist aufschlußreich, daß Klußmeier (279 als Verfasser der Stelle ausgewiesen), der doch Schmidts May-Buch in einer Publikation der Karl-May-Gesellschaft als wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen attackiert hat, nichtsdestoweniger aus diesem Buch als einer ungeprüften Autorität abschreibt (vgl. Heinz Stolte/Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973). Auch Helmut Schmiedt erklärt die radikalen Eingriffe des Verlages in den "Surehand"-Text für »nicht so bedeutend« und gibt sich mit der wissenschaftlich unbrauchbaren zweibändigen Radebeuler Ausgabe zufrieden (S. 4; s. Anm. 3). Walther Ilmer gar gehen die Bamberger Textverstümmelungen im "Surehand" noch immer nicht weit genug, obwohl er sonst »die Meriten der May-Bearbeitungen stets anerkannt habe« (Sichere Hand auf wackligen Füßen: OLD SUREHAND, in: M-KMG 29, 1976, 4-19, hier 4 sowie 12). Hier liegt wohl das Verdienst des Verlags allein im Verdienen.

23 Klußmeier/Plaul (s. Anm. 22), 139.

24 Schmiedt (s. Anm. 3), 196.

25 Novalis: Schriften Band II: Das philosophische Werk I, hrsg. v. Richard Samuel, Hans Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965, 418.

26 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band II, 1. Abteilung, hrsg. v. Hans Eichner. München 1967, 182 f.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz