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WOLF-DIETER BACH

Mit Mohammed an May vorbei. ·
Zur Kritik I. Hofmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien



Die gestrenge Frage, ob der Herr Puntila samt seinem Knecht typisch finnische Menschen seien, wäre so sinnvoll wie der Versuch, die Stellung des Glücksschweins im zoologischen System zu bestimmen. Und Brecht war Realist!

Auch Karl May sollte nicht an der ethnologischen und kultursoziologischen Stimmigkeit seiner Romane gemessen werden, wie dies die Autoren Hofmann und Vorbichler in ihrer Arbeit tun. Defoes Freitag, Coopers Chingachgook, Melvilles Queequeg sind allesamt keine getreuen Abschilderungen völkerkundlicher Realität. Der Orient, den Voltaire in "Zadig" beschrieb, hat nie existiert er ist genau so wenig authentisch nach wissenschaftlichem Maßstab wie jenes Morgenland, das Orientalen selbst uns schildern: Firdusi etwa, oder die Erzähler von Tausend-und-einer-Nacht. Und selbst ein als Tatsachenbericht sich ausweisendes Orientbuch eines historisch geschulten modernen Europäers wie "Die sieben Säulen der Weisheit" von T. E. Lawrence besteht eine genaue Realitätsprüfung nicht. Orient verführt zur Phantasie.

Kurzum: es ist eine Kinderei, May den Vorwurf zu machen, sein Bild vom Islam sei falsch und verzerrt. Gar keine Frage, daß es dies ist! Aber derlei selbst ohne Vorwurf festzustellen hieße nicht mehr, als der Literatur zu bescheinigen, daß sie sich nur selten peinlich genau an die Vorlagen dieser Welt hält - eine Binsenweisheit, kein Blatt Papier wert.

Man hat beim Anlesen dieser fleißigen Arbeit mitunter den Eindruck, als sei man noch mitten drin im Streit der Jahrhundertwende um den Realitätsgehalt der Mayschen Romane. Damals die Vorwürfe, er sei gar nicht wirklich in der Wüste gewesen, er habe unmöglich alle Tage so viele Gefahren bravourös zu bestehen


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vermocht, wie dies Kara ben Nemsi in wohlgefälliger Allmacht vorführt; jetzt nun der kritische Einwand, May habe nicht den realen Islam beschrieben.

Nun durfte man bisher hoffen, ein derart blauäugiger Realismusanspruch gegenüber den Mayschen Fabeln sei durch die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft nicht mehr recht möglich: Die Frühreisensuche war endgültig abgeklungen, es sprach sich herum, daß May ein Genie der Phantasie war, der selber gegen Lebensende sein Werk symbolisch verstanden wissen wollte. Aber in Wien scheint es Enklaven zu geben, die sich nicht erreichen lassen wollen durch die von der Karl-May-Gesellschaft getragene Forschung und Diskussion. So wachsen dort nun die Regenwürmer am Halse der Hydra nach, deren offenen Schlund man seit Cardauns und Mamroth endgültig vernarbt glauben mochte. Diese, immerhin Kinder einer Epoche, die Naturtreue zur höchsten Stufe der Kunst erklärte, haben alle die mildernden Umstände ihrer Zeitbefangenheit für sich - nicht so Autoren von heute, die vom Stuhl ihrer Wissenschaft aus Gehör wünschen. Zumindest eine Regel literarhistorischen Forschens hätten Hofmann und Vorbichler nämlich beherzigen sollen: daß man verstehen muß, in welchem Kommunikationszusammenhang und in welcher Realitätsschicht ein Text festgemacht ist, sonst redet man an diesem Text vorbei.

Niemand wird die "Divina Commedia" Dantes als reales Modell vom Kosmos auffassen oder die "Odyssee" als Handbuch für Kreuzfahrten im Mittelmeer. Und andererseits lassen sich Autoren nennen, die Realitäten der von ihnen geschilderten Weltausschnitte genauer und eindringlicher beschreibend vor Augen führen, als dies wissenschaftliche Arbeit in der Regel vermag: Zola ließe sich nennen, Turgenjew, Fontane. Aber ihre Art, Wirklichkeit zutreffend und exemplarisch zu schildern, blieb in der gesamten Weltliteratur bis heute mehr Ausnahme als Regel. Sie ist historisch wesentlich auf das 19. Jahrhundert beschränkt und war selbst da nur eine Möglichkeit unter anderen.

Daß es einen solchen Naturalismus der detailgerechten Schilderung gibt, darf nicht dazu verführen, einen weniger abbildhaften, aber darum nicht weniger treffenden Zugang in eine andere Schicht unserer so vielschlächtig-reich gefächerten Wirklichkeit geringzuachten. Realität spiegelt sich nicht nur an der Oberfläche und


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Außenhaut der Vorgänge und Erscheinungen, sondern auch im Menschen selbst, in seinen subjektiven Drängen und Empfindungen, in seinen Hoffnungen und Ängsten.

Mays Islambild hat denn auch nicht nur mit Fakten der äußeren Welt, sondern ebenso mit seiner Psyche zu tun, wobei sich beide Bereiche kompliziert verschränken. Und fraglos ist es mehr Fata Morgana als Sachbeschreibung im Sinne abendländischer Islamwissenschaft eines Nöldeke oder Goldziher. Doch gerade das Vage, Phantasmagorische, Märchenhafte, das Sich-Berauschen an den eigenen Wünschen und Vorstellungen ohne nüchterne Einschätzung der Realität - ist das nicht Orient so gut wie May? Im pathetischen Schwarz-Weiß der Emotionen, in der Selbstaufstachlung des Gefühls, in der schwungvollen Emphase von Rede und Gestik, die May selbst wie seine Figuren so gerne vorführen, ist dieser Autor mit dem lebendigen Fleisch seiner Person der islamischen Mentalität letztlich näher als die methodisch wägende Orientalistik. Hyperbolische Rhetorik als Haltung ist ihm mit so vielen Orientalen gemeinsam. Und nicht zuletzt durch diese Wahlverwandtschaft, die in Hadschi Halef eine prächtig arabisch-sächsische Doppelfigur schuf, hat Karl May Identifikationsbereitschaft und Sympathie gegenüber dem Orient geweckt.

Der bedeutende Orientalist Franz Babinger, dessen Studie über Mays Reiseerzählungen vom Balkan noch immer unveröffentlicht im Archiv des Bamberger Karl-May-Verlages liegt (ein halbes Jahrhundert ist darüber vergangen!), hat gern einbekannt, durch May zur Orientalistik und Islamkunde verlockt worden zu sein. Er ist der einzige nicht, dem das so erging. Doch wird wohl niemand zur lebenslangen Beschäftigung mit einem Stoffgebiet sich bestimmen lassen, wenn dieses sich ihm in Negativbildern zeigt, was die Autoren Hofmann und Vorbichler in vordergründiger Kritik von Mays Orientschilderungen behaupten.

Gewiß hat May viele Vorurteile und oberflächliche Gemeinplätze seiner Zeit in seine Orientphantasien einfließen lassen. Sie waren genau so weit von der Wirklichkeit entfernt wie das idealisierte Griechenbild Byrons und tausender von Hellenenfreunden in ganz Europa, das auch seinen Teil zur Abwertung des türkisch-osmanischen Orients beitrug. Mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte aber auch das romantisch überhöhte Morgenland, wie es etwa in der


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französischen Malerei (Ingres, Delacroix, Chassériau, Decamps, Géricault) oder Literatur (Caylus, de Nerval, Gautier, Lamartine, Ducamp, Baudelaire, Loti) seine üppigsten Blüten trieb, auf ganz Europa ausstrahlend.

In Deutschland hatten Wieland, Goethe, Rückert, die Schlegels und Hammer-Purgstall an der Ausbreitung des Orients als literarischer Provinz Anteil, nicht zuletzt auch Freiligrath und Raabe. Auch hier war man im Ganzen mehr der Fiktion als den Fakten geneigt.

Die Fragwürdigkeit der von Hofmann und Vorbichler versuchten Kritik liegt also vor allem darin, daß sie ganz vom historischen Umfeld absehen, dem Mays Orientbild entwuchs. Doch Wertung von Literatur, die sich im ahistorisch-luftleeren Raum vollzieht, dabei mit der Tendenz zur Verabsolutierung eines herausgegriffenen Einzelaspekts, der losgelöst von Zeit und Umständen erörtert wird, kann zu keinen Ergebnissen führen.

Der Orient gehörte in seiner Doppeldeutigkeit - einerseits Markt für's Geschäft und Freiraum kolonialer Ausbreitung; andererseits Fluchtwelt der Phantasie - zur gebrochenen Realität des Bürgertums im 19. Jahrhundert. In den Salons und Cafés war er gegenwärtig mit üppiger Drapierung unter schwülem Halblicht: Rauchtischchen, Teppiche, Tapisserien. Das Sofa, dieses Bürgermöbel par excellence, trägt seine orientalische Herkunft noch im Namen. Auf ihm saß im kaftanartigen Schlafrock und mit einer dem Fez nachempfundenen Troddelmütze der Patriarch der Familie und rauchte aus tschibukähnlicher Pfeife Tabak aus Mazedonien oder Latakieh, während die Frauen in Babuschen und Shawls - beides orientalische Wörter - ihm den Mokka servierten. Die Freizeitkultur des Bürgers jener Epoche war ganz von orientalischem Parfüm durchtränkt, und so bazarorientalisch wie Mays Arbeitszimmer haben in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts tausende gutbürgerlicher Wohnungen von London bis Petersburg ausgesehen. Interessant wäre daher die Erwägung, inwieweit Mays orientalische Bilderfluchten mit seinem Behagen wie auch mit seinem Unbehagen an der gutbürgerlichen Welt zusammenhängen, in der er sich solche Interieurs erst mühsam verdienen mußte. Ja, ganz zugespitzt ließe sich fragen, ob nicht in Mays Schilderungen eines unduldsamen und korrupten, von Beamten und überheblichen Militärs regierten


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Morgenlandes verhüllte Kritik an heimatlichen Zuständen steckt. Das osmanische Reich, in dessen Provinzen Mays Schauplätze ja vorwiegend liegen, zeigt in seiner Endphase eine seltsame Mischung von autokratischer Bürokratie, imperialem Anspruch bei unzulänglichen Mitteln, oberflächlicher Reform und Demokratisierung sowie Militarismus samt fortschrittsfeindlicher Bigotterie alles Merkmale, wie sie mutatis mutandis auch die deutschen Staaten und das von ihnen gebildete Reich aufwiesen. In der politischen Vorliebe führender Kreise des deutschen Kaiserreichs für die osmanische Monarchie steckte auch Sympathie für das Ähnliche.

So sind Mays Vorurteile, sieht man sie vor dem Hintergrund der Geschichte, bis zu einem gewissen Grad wohl auch Verurteilungen einer zweiten Realitätsschicht dahinter. Doch seine Vorurteile haben, versteht sich, nicht nur auf solch vermittelte und indirekte Weise mit der Realität zu tun. Denn fraglos waren die europäischen Negativbilder vom islamischen Orient nicht einfach erfunden, wenn auch häufig einseitig und ungerecht. Weithin hing es von der psychischen Disposition und den individuellen, auch lokal differierenden Erfahrungen eines Orientreisenden ab, welches Bild vom Islam er nach Hause trug. Ganz gegensätzliche Schilderungen sind da überliefert. Gegen Wilhelm Schimpers ungemein einfühlsame und araberfreundliche Darstellung der Verhältnisse in Algier kurz nach der Annexion durch Frankreich steht ein Bericht wie der von Mays Altersgenossen Charles M. Doughty, dessen Reisebeschreibung seiner Wege durch Zentralarabien ihn als Leidtragenden islamischer Fanatiker glaubwürdig darstellt. Es gab den oberflächlich Orientkundigen, der sich für koloniale Erschließung interessierte: Max Maria von Weber etwa, der Sohn des Komponisten, der 1854 über "Algerien und die Auswanderung dahin" schrieb (und Arno Schmidt das Vorbild für seinen Sitara-Titel lieh). Es gab den gebildeten, intelligent beobachtenden Globetrotter wie den Fürsten Pückler, dem der Orient auch zur erotischen Erfahrung wurde, wie später dem Tierfreund Alfred Brehm. Es gab die orientverfallenen, exzentrischen Assimilanten wie Lady Hester Stanhope oder Eduard Schnitzer aus Oppeln, der als Emin Pascha im Dienste des Khodiven das Gouvernement der Äquatorialprovinz (heute Uganda) führte, mehr humaner Entwicklungshelfer als Kolonisator schon damals, bis ihm arabische Sklavenjäger nachts im Zelt die


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Kehle durchschnitten - Emin hatte ihnen das Geschäft verdorben. Oder eine knorrig-bizarre Figur wie der Freiherr von Hallberg-Broich, der »Eremit von Gauting«, der um die Mitte des letzten Jahrhunderts, schon achtzig Jahre alt, zur letzten seiner Fußwanderungen durch den Orient aufbrach. Läßt man die Vielzahl höchst unterschiedlicher Charaktere Revue passieren, die in Mays Jahrhundert über Islam und Orient schrieben, so wird klar, daß auch von der subjektiven Seite der Berichter her kein einheitliches, objektiv abgeklärtes Orientbild gegeben war. Der Romantiker und religiös gestimmte Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert - aus Mays engster Heimat Hohenstein gebürtig - mußte anders über den Orient denken (den er bereist hatte) als der Sozialist August Bebel, der 1884 "Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode" veröffentlichte, frühe Ansätze von Aufklärung im Islam hervorhebend. Nur gemessen an dieser Vielfalt von Augenzeugen und Weitervermittlern läßt sich Mays Bild vom Islam denn auch in seiner Widersprüchlichkeit fassen und verstehen.

Die Autoren machen es sich schlicht zu einfach. Wenn sie das negative und unter historischen Maßstäben durchaus verworrene Bild des Mahdi bei May gegen diesen in Schutz nehmen, so mit einer wissenschaftlich unerlaubt selektiven Beiziehung von Quellen und Berichten. Erst das aus dem abwägenden Vergleich der Zeugnisse Ohrwalders, Slatins, Neufelds, Wingates, Powers, Winston Churchills und Steevens' zu gewinnende Bild ließe sich dem Mays entgegenhalten. Und dabei würde wohl deutlich, daß zumindest Sklaverei beim Mahdi nicht weniger Übung war als bei Zobeir Pascha.

Hier wie insgesamt wird man sich vor Idealisierungen wie vor der Verteufelung hüten müssen. Fanatismus, Bestechlichkeit, Schlamperei, Spionagefurcht, abergläubische Einfalt, despotische Laune - all das hat es im Orient gegeben, gibt es dort noch heute: so gut wie bei uns. Notwendig wäre die Einsicht, daß sich Menschen über die Grenzen des Glaubens und der Kultur hinweg doch sehr ähnlich sind, auch in ihren Fehlern und Bosheiten. Karl May zeigt sich mitunter als unduldsamer und überheblicher Christ und reproduziert damit den Durchschnitts-Christen seiner Zeit, so wie die Peiniger Doughtys in Arabien eine Haltung zur Schau tragen, die damals im Orient recht verbreitet war. Es mag heute, hier wie dort, sich


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manches gemildert haben - an grundsätzlichen Wandel zu glauben wäre naiv. Die Religionen können nicht schlechter und besser sein als die Menschen, die sie schaffen und leben. Diese Einsicht der Aufklärung darf nicht einseitiger Apologie zum Opfer fallen, die in Polemik gegen einen Einzelnen gut zu machen versucht, was dessen Kultur und Gesellschaft insgesamt an der islamischen Welt an Unrecht verübt haben mögen.

Vorstehende Stellungnahme bezieht sich auf das Buch: I. Hofmann/A. Vorbichler: Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog (Beiträge zur Afrikanistik 4/1979), 250 S. Veröffentlichungen der Institute für Afrikanistik und Ägyptologie der Universität Wien. Die Schrift wird auch in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft noch näher behandelt werden.


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