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MONIKA EVERS

Karl Mays Kolportageroman "Der verlorene Sohn" ·
Tagtraum und Versuch der literarischen Bewältigung persönlicher Existenzprobleme des Autors



Wie bereits häufig am Werk Karl Mays nachgewiesen, benutzte der Autor die Literatur, um durch die Projektion seiner persönlichen Probleme auf die Ebene einer fiktionalen Welt zu "Ersatzlösungen" in der Phantasie zu gelangen, die vorübergehend eine psychisch entlastende Wirkung gehabt haben dürften.

Welchen gesellschaftlichen Stellenwert der literarische Befreiungsversuch, der im Rahmen der Kolportage stattfindet, besitzt, erläutert Ernst Bloch: »Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.«(1) Kolportageliteratur - und speziell die Karl Mays - ist nach Bloch schriftlich fixierter Tagtraum, der auf eine utopische Wirklichkeit abzielt: Tagtraum von einem besseren Leben und aktive, antizipierende Flucht nach vorn, die nicht in der Resignation, sondern in der Hoffnung ihren Impuls hat.

Der "Verlorene Sohn" birgt soziale wie individuelle Sehnsüchte des Autors in außerordentlicher Fülle. Durch die Verarbeitung mehr oder weniger verschlüsselten autobiographischen Materials erhebt May die persönliche Problematik zum Thema des Romans und führt diese dem in der Realität vermißten Erfüllungsort zu: »Die Tagphantasie startet wie der Nachttraum mit Wünschen, aber führt sie radikal zu Ende, will an den Erfüllungsort.«(2)

Der "Verlorene Sohn" verdient verstärkt das Interesse der May-Forschung, da der Autor hier sehr ausgiebig aus der eigenen Lebensgeschichte schöpft: Die Schilderung der Heimarbeiter-Not gestaltet sich aus Mays Kindheitserfahrungen heraus, die Häftlingsschicksale des Romans vollziehen des Autors eigene Erfahrungen als Strafverfolgter und Häftling nach, die Widrigkeiten ausge-


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setzte, schließlich aber von Erfolg gekrönte Laufbahn des Dichters Bertram spiegelt Mays Erfahrungen als Autor und antizipiert das Traumziel vom großen Dichter.

Die nachfolgenden Überlegungen zum "Verlorenen Sohn" suchen den Roman als literarische Verarbeitung sozialer und psychischer Realität auf der Ebene unreflektierter Tagtraumtätigkeit zu begreifen.

1.  D e r  H e l d

Nach langem Aufenthalt in der Fremde kehrt Gustav Brandt inkognito als Fürst von Befour in die Heimat zurück. Brandt war aus der Heimat geflohen, da ihm Verbrechen angelastet wurden, die er nicht begangen hatte. Nun will er den Schurken Franz von Helfenstein, in dem er den wahren Schuldigen vermutet, seiner Taten überführen und sich selbst rehabilitieren. Helfenstein, der inzwischen den Baronstitel des von ihm ermordeten Onkels geerbt hat, befehligt unter dem Decknamen "Hauptmann" eine Verbrecherbande, die die ärmere Bevölkerung terrorisiert und zu Werkzeugen der eigenen Interessen zu machen versucht. Im Verlauf seiner Jagd auf Helfenstein deckt Brandt, dem die Bevölkerung den Titel "Fürst des Elends" verleiht, auch alle anderen Untaten des Barons auf und befreit das Land von der Unterdrückung durch die Verbrecherbande.

Gustav Brandt ist der Haupt-Held des Romans. Analog zur Hierarchie der Verbrecherbande nimmt er auf der Gegenseite die Rolle des Anführers ein. Ihm unterstehen eine Anzahl von Helfern (Hauser, Holm, Zander, Randau etc.), die phasenweise die Rolle von "Helden zweiten Ranges" spielen, aber nur bis zur Beendigung einer Episode, in die sie auf höchstpersönliche Weise verstrickt waren. Brandt aber setzt sich auch dort ein, wo er nicht unmittelbar selbst betroffen zu sein scheint, und übernimmt damit die für die Kolportage unerläßliche Funktion des Retters. »Rettungs-Stil«(3) ist ein konstitutives Merkmal der Kolportage: »[...] nach Gefangenen wurde gegraben wie nach Schätzen in der Höhle.«(4)

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Errettet durch Brandt werden die im Elend vegetierenden Weber und Tagelöhner und deren "verkaufte", zur Prostitution gezwungene Töchter; errettet werden unschuldig Inhaftierte aus dem Gefängnis, und Gedemütigte werden gerächt, indem ihre Peiniger selbst gedemütigt werden.

Hinter den Schlag auf Schlag erfolgenden Rettungsaktionen des Helden scheint sein ursprüngliches Anliegen, nämlich die eigene "Rettung", in Vergessenheit zu geraten. Das Motiv der individuellen Rehabilitation Brandts löst sich auf in einem globalen Rettungswerk und bleibt bestenfalls noch als Handlungsleitfaden erhalten. So führt May die persönliche Rettungsbedürftigkeit Brandts zurück auf die allgemeine Rettungsbedürftigkeit derjenigen Gesellschaft, der der Held entstammt. Umfassende Rehabilitation im Sinne von gesellschaftlicher Bestätigung seiner Unschuld, aber auch seines Rechtes auf unverfälschte Persönlichkeit, will der Held sich erobern, indem er konsequent den allgemeinen Mißstand entlarvt, der ein Verkennen und Verurteilen seiner Person überhaupt erst ermöglichte. So kehrt Brandt die Ausgangslage um. Er, der schuldig Gesprochene, spricht durch sein Rettungswerk Korruption, Verbrechen und eine blinde Justiz schuldig.

Immer wieder knüpft May neue Handlungsstränge an, die die scheinbar aussichtslose Verstrickung Wehrloser in Elend und Gefangenschaft beschreiben. Um den vielen tückisch ersonnenen Plänen der Schurkenpartei, die der Urheber des Elends ist, begegnen zu können, bedient May sich sehr häufig des Zufalls: Die Romanwelt ist eng, die Residenzstadt, in der viel Handlung sich abspielt, erscheint begrenzt wie ein Bühnenraum. Die Darsteller treten auf und müssen sich auf so engem Feld zwangsläufig treffen. Die Wahrscheinlichkeit einer künstlich geschaffenen Welt, nicht die der realen, regelt die Interaktionsmöglichkeiten der handelnden Personen, und so entstehen all die Zufälle, die geschehen müssen, damit Brandt noch im richtigen Augenblick, am richtigen Ort retten kann.

Betrachtet man die Bedingungen der Entwicklung Mays, die Realitätsferne und soziale Unangepaßtheit in hohem Maße zur Folge hatten, so erscheint es nur konsequent, daß May sich im Metier der Kolportage betätigte. Zweifelhaft ist, ob May realistischere Wege der Rettung oder Lösung überhaupt hätte ersinnen


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und in Literatur umsetzen können. Den Widerspruch zwischen Realität und Wunschwirklichkeit hat May wohl dennoch verspürt, und so versucht er im "Verlorenen Sohn", den Riß wenigstens notdürftig zu kitten, indem er die unwahrscheinlichen Zufälle des Romans als Fügung, die dem Leben immanent sei, ausgibt:

Der gewaltigste der Dichter und Schriftsteller ist das Leben; [...] seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich [...].(5)

Hier gibt May vor, die "Logik des Lebens" abzubilden. Tatsächlich aber folgt er nur der Logik der von ihm erträumten Wunschwirklichkeit und versucht diese mit dem Hinweis auf einen höheren Plan, der hinter dem Leben steht, zu objektivieren.

Daß die Zufälle im "Verlorenen Sohn" nicht nur ein technisches Hilfsmittel des Autors sind, sondern die Negation des Zufalls Mays persönlicher Lebensanschauung entspricht, belegen Zeugnisse aus der Selbstbiographie Mays. "Fügung" wurde zum zentralen Begriff, als der Autor im Alter versuchte, die Schicksalsschläge seines Lebens in ein planvolles, plausibles "Schicksals-System" einzubauen: Ich betone hier ein für allemal, daß es für mich keinen Zufall gibt. [...] Für mich gibt es nur Fügung.(6) So will May seine Haftzeiten schließlich nur noch begreifen als Vorteil, der seinem eigentlichen Ziel, nämlich dem Aufstieg zum Edelmenschen, diente, denn: Die äußere Persönlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre Geltung aufzugeben; die innere tritt hervor.(7) May, der in hohem Grade verletzt und verunsichert auf negative Erfahrungen seines Lebens reagierte, suchte zeitlebens nach um so starreren Modellen der Weltanschauung, die ihm die Widersprüchlichkeiten und negativen Seiten des Lebens erklären sollten:

Ich habe da erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur Edelmenschlichkeit.(8)

Auch in der Brandt-Figur spiegelt sich das Unvermögen des Autors, der Realität angemessen differenzieren zu können. Es gelang May nicht, in der Wirklichkeit Vorbilder realer Rettung oder


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Erlösung ausmachen zu können. Gemäß der frühen Vereinsamung, die eine fast ausschließliche Fixierung auf das eigene Ich zeitigte, war Mays Erlebnisfähigkeit im zwischenmenschlichen Bereich, im Bereich der Außenwelt überhaupt, so nachhaltig gestört, daß ihm die Erkenntnis konstruktiver Ansätze in der Realität schon deshalb versagt blieb, weil er sich vor ihr zurückgezogen hatte. Der Rückzug in die individuelle, innerliche Welt wird in seiner kompensatorischen Funktion deutlich, setzt man soziale Integration als fundamentale menschliche Notwendigkeit voraus:

Der Mensch [...] ist das Leben, das sich seiner selbst bewußt ist. [...] Dieses Bewußtsein seines gesonderten Daseins, [...] das Bewußtsein seiner Einsamkeit und Getrenntheit, seiner Hilflosigkeit gegenüber den Kräften der Natur und der Gesellschaft - das alles läßt seine besondere und abgetrennte Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis werden. Er würde wahnsinnig werden, könnte er sich nicht selbst aus seinem Gefängnis befreien und es sprengen, könnte er sich nicht in dieser oder jener Form mit Menschen, mit der Umwelt vereinen.(9)

Die Literatur wurde für May zum notwendigen Hilfsmittel, mit dem er dem Gefühl der "Getrenntheit" und inneren Isolation wenigstens zeitweise entgegentreten konnte. Umwelt schuf er sich in der Imagination und brachte sich selbst über Identifikationsfiguren, die dem eigenen Idealbild entsprachen, in die fiktive Ersatzwelt ein.

Mays subjektive Erfahrungen von Unfreiheit, Demütigung und materiellem Elend bilden die Ausgangsbasis des "Verlorenen Sohns". Hier äußern sich, wenn auch übersteigert ins Extreme, die realen Erfahrungen des Autors. Korrektur, im Sinne von wunschgerechter Erlösung aus dem Elend, findet statt durch das Rettungswerk Brandts. Es existiert also im "Verlorenen Sohn" nicht wunschgemäße Idylle von Anfang an, sondern das sorgenfreie Wohlleben muß durch den Helden erst erkämpft werden. Dieser Umstand, das heißt die aktive Auseinandersetzung zwischen dem Helden und den Urhebern des Elends, kennzeichnet den "Verlorenen Sohn" gleichzeitig als die aktive (obgleich fiktive) Auseinandersetzung des Autors mit den negativen Erfahrungen seines bisherigen Lebenslaufs. So bleibt im "Sohn" die reale Spannung zwischen verbesserungsbedürftiger Situation und angestrebtem Ziel erhalten. Ebenso wird auch die Einschätzung Mays deutlich, daß Verbesserungen nicht vom Himmel fallen, sondern erkämpft werden müssen, eine Haltung, die, nach Bloch, die "gute" Kolportage überhaupt kennzeich-


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net: »[...] ihr Held wartet nicht ab, wie in der Magazingeschichte, bis ihm das Glück in den Schoß fällt, er bückt sich auch nicht, damit er es auffängt wie einen zugeworfenen Beutel. «(10)

Der Retter ist ein Traumbild Mays von herausragender Bedeutung und verfestigte sich bereits in der frühen Kindheit, als die subjektiven Empfindungen von Einsamkeit und sozialer Minderwertigkeit auch Aussichtslosigkeit suggerierten. Der Traum von einem Retter aber gab Trost und Hoffnung in der Imagination.

In Mays Jugendzeit ging der Retter, nach dem Vorbild der konsumierten Räuberromane aus der Leihbücherei, allerdings noch in der Gestalt des "edlen Räubers" daher. Daß May an dieser literarischen Figur, zumindest rein äußerlich gesehen, nicht festhielt, hängt wohl zu einem großen Teil mit seinen persönlichen Erfahrungen als "Räuber" zusammen. Als Betrüger und Dieb verurteilt, dürfte May die eigenen kriminellen Verfehlungen und damit verbundene Schuldgefühle mit der Räuber-Gestalt identifiziert haben, so daß psychische Abwehrreaktionen eine positive Verwendung dieser Figur verhinderten. Ebenso wird May den Widerspruch zwischen der romantischen Verklärung des Gesetzlosen der Fiktion und der realen Härte der Strafverfolgung empfunden haben.

May weicht der Problematik der Räuber-Gestalt aus, indem er den Retter Brandt zu einer Art von Gottgesandtem, zu einem irdischen Messias ummodelliert: »Es giebt einen Menschen, welchen Gott extra beauftragt zu haben scheint, das Elend zu beschützen und das Verbrechen an das Licht zu bringen.«(11) Durch die Messias-Parallele kann May einerseits die spontanen Rettungsaktionen Brandts begründen als Hilfswerk im Sinne christlicher Nächstenliebe, andererseits aber verschafft er dem Helden, der immerhin die bestehende "Ordnung" der heimatlichen Gesellschaft in Frage stellt, Legitimation auf höchster Ebene.

Bevollmächtigt von seiten der staatlichen Macht ist Brandt durch ein entsprechendes Dokument, das ihm der Justizminister (ein alter Jugendfreund) ausstellte.

Auch die äußere Erscheinung Brandts setzt sich betont vom Räuber-Habitus ab. Brandt beeindruckt durch erlesen-teure Gewänder. Er sieht gut aus und weiß sich auch in den gründerzeitlichen Salons vortrefflich zu benehmen. So ist Brandt, im Gegensatz


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zum Räuber, ein gezähmter Retter. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß May trotz aller äußerlichen Umwandlung und Abwandlung der Gestalt dem Vorbild des "edlen Räubers" als Retter immer noch weitgehend nachgab.

Die Figur des rettenden Helden - wie auch immer sie im besonderen gestaltet sein mag - ist natürlich kein originales Phantasieerzeugnis Mays. Ebensowenig ist Mays Charakterstruktur oder sein Drang, reale Versagungen in der Imagination zu kompensieren, ein psychologisches oder menschliches Kuriosum. Das Bedürfnis, Rettung wenigstens im Rahmen einer Traumwelt erleben zu können, ist - und dies belegt die Verbreitung und Beliebtheit der entsprechenden Literatur hinlänglich - von allgemeiner Bedeutung.

Bevor sich im Räuberroman der bürgerliche Protest gegen feudale Bevormundung artikulierte, kannte schon das alte Volksmärchen den sich selbst und andere rettenden Helden. Wenngleich das Märchen (ebenso wie der "Verlorene Sohn") sich nicht vordergründig gegen bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse wandte, so widersprach es doch durch die Aktivität seiner Helden aller Resignation und Schicksalsergebenheit: »Derart sind diese Märchen der Aufstand des kleinen Menschen gegen die mythischen Mächte, sie sind die Vernunft Däumlings gegen den Riesen. Erstes schweifendes Wesen schlägt hier Raum für ein anderes Leben als das, wohin man hineingeboren oder, gebannt, hineingeraten war. «(12)

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Die Flucht Brandts, die May auch in Beziehung setzt zu Demütigungen, die der Verhaftete erleiden muß13, ist gleichzeitig die Spiegelung eines Ereignisses aus der Vorgeschichte des Autorst4: Am 26. Juli 1869 entfloh der Untersuchungsgefangene Karl May während des polizeilichen Transports zu einem Tatort. Daß May die Begleitumstände dieses Ereignisses in den Roman einblendet, belegt der folgende Dialog zwischen Brandt und einem Wachtmeister, in dem Brandt Fragen an den Beamten richtet, die auf Mays damalige Flucht anspielen:

»Nur das kann ich Ihnen sagen, daß wir eine kleine Reise unternehmen werden.«

»Nach meiner Heimath? Nach dem Orte des Verbrechens?«

»Auch hierüber muß ich schweigen.«

»Ah, ich ahne dennoch, daß es sich um eine Recognition handelt« [...].(15)


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May hinterließ keine direkten Ausführungen darüber, daß ihn das öffentliche Zur-Schau-Tragen seiner Inhaftierung, welches der Ortstermin mit sich brachte, außerordentlich demütigte. Die "verkleidete" Darstellung des Vorgangs im Roman aber streicht gerade diesen Umstand heraus:

»Herr Wachtmeister, Sie wissen, daß ich hier in der Residenz angestellt war, daß Viele, sehr Viele mich kennen. Welch eine Demüthigung für mich, wenn man auf dem Bahnhof mit Fingern auf mich zeigt.«(16)

Eine weitere Textstelle sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt. Ein Dorfschmied, der Brandt zur Flucht aus dem Gefängnis verhelfen will, horcht einen Gefängnisangestellten aus, um die näheren Begleitumstände des Gefangenentransports zu erkunden:

»So einen Gefangenen vertrauen sie nur dem Wachtmeister selbst an.«

»Diesem allein?«

»Natürlich! Mehrere sind dazu nicht nöthig, denn der Brandt ist doch kein Räuberhauptmann.«(17)

Die Argumentation des Ausgehorchten, Brandt benötige nur einen einzigen Bewacher, da er ja kein Räuber sei, ist im Zusammenhang des Textes nicht schlüssig, denn immerhin ist der Gefangene wegen mehrfachen Mordes verurteilt. An dieser Stelle aber hat May assoziativ einen weiteren Umstand seiner eigenen Flucht eingeblendet: Er selbst galt in seiner sächsischen Heimat gerüchteweise als "Räuberhauptmann".(18) Nach Angabe Klaus Hoffmanns hatte man dem "Räuberhauptmann" May nur e i n e n Bewacher mitgegeben.(19)

Brandt gelingt die Flucht aus der Haft, und er kann weit entfernt von der Heimat untertauchen. Mays Flucht durch Sachsen dagegen endete sehr bald. Die erneute Verhaftung (im Januar 1870) brachte dem Flüchtigen vier Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Polizeiaufsicht ein.(20)

Obwohl May in der Autobiographie angibt, er habe aufgebauschte und ungerechtfertigte Gerüchte, die über seine Person im Umlauf waren, nicht verkraften können und sei deshalb entflohen(21), so erscheint es doch sehr viel näherliegend, daß May die mit der Haft verbundenen Demütigungen und das Eingesperrtsein an sich nicht mehr ertragen wollte und während des Gefangenentransports eine günstige Gelegenheit zur Flucht sah.


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Neben der in der Haftzeit beginnenden schriftstellerischen Tätigkeit(22) hatte diese Flucht für den Inhaftierten sicherlich einen außerordentlichen Stellenwert als ein Akt der Selbstbehauptung. In der Autobiographie, die ja weitgehend eine öffentliche Rechtfertigung seiner Vergangenheit darstellt, erwähnt May seine Flucht nur mit einem einzigen Satz. Ganz im Gegensatz hierzu thematisiert der Autor in seinen Romanen und Erzählungen aber immer wieder die Flucht, und zwar unter dem Gesichtspunkt einer selbstverständlichen Reaktion auf Gefangenschaft: »[...] und so besteht denn hinterher eine Hauptbeschäftigung seines literarischen besseren Ich, Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, darin, sich beharrlich aus unverschuldeten und unverdienten Gefangenschaften zu befreien.«(23)

Mays widersprüchliche Haltung dem Tatbestand der Flucht gegenüber erhellt einmal mehr den Widerspruch zwischen Tagtraum und Wirklichkeit. In den autobiografischen Aufzeichnungen vermied es der Autor, auch nur annäherungsweise positive Empfindungen, die er nach der gelungenen Flucht verspürt haben mag, mitzuteilen, da dies seiner Absicht zuwidergelaufen wäre, sich als geläutert und resozialisiert darzustellen. In der Fiktion aber kann May auch weiterhin solchen Impulsen nachgeben, die ihn einst, in der Realität, in Konflikt mit dem Gesetz brachten.

Im "Verlorenen Sohn" stellt die Flucht Brandts einen positiven Tatbestand dar. Die gewaltsame Befreiung ist die Voraussetzung für einen weiteren günstigen Schicksalsverlauf des Helden, denn nur in Freiheit konnte dieser erstarken und seine spätere Rehabilitation durchsetzen. Ebenso bauen sich die Errettung der armen Bevölkerung und somit die Erfüllung von Gerechtigkeit auf dem Tatbestand der Flucht auf.

In der Fiktion läßt May die Flucht, die ihm selbst nur Freiheit für ein halbes Jahr bescherte, ersatzweise gelingen und verschafft sich so in der Phantasie den Genuß einer geglückten Befreiung. Das Entweichen Brandts erscheint im Roman als ein listiges Heldenstückchen, ein »Hauptspaß«(24), und May mag sich rückblickend an der eigenen Flucht ähnlich ergötzt haben.

Die Flucht des Helden ist die erste wichtige Rettungshandlung des Romans (Rettung des Helden an sich selbst). Hiermit widersetzt sich Brandt aber auch den Machtbefugnissen der Justiz und


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des Staates. Dieser Umstand belegt, daß in jenem Zeitraum, als der "Verlorene Sohn" entstand, Rettung in den Tagträumen Mays durchaus noch verbunden war mit illegalen Handlungsweisen, und zwar ebenso wie in den frühen Träumen vom rettenden Räuber.

Jenseits des von May vor allem im Alter bekundeten Einverständnisses mit den Strafmaßnahmen des Staates(25) wird im "Sohn" deutlich, daß diese Haltung nicht vollständig verinnerlicht war, daß May in seinen Wunschträumen lange noch gegen die Autorität des Staates revoltierte.

Auch die besondere Form der Rehabilitation, die Brandt anstrebt, verdeutlicht Mays zwiespältige Einstellung zur Staatsgewalt.

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Wohl rehabilitiert sich Brandt in dem Sinne, daß er faktisch seine Unschuld nachweist. Aber nicht dieses Bestreben allein macht die Rehabilitation des Helden aus. Die breit angelegte kriminalistische Spürarbeit Brandts zielt auf Rehabilitation in einem besonderen Sinne ab und muß im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Haft auf den Autor betrachtet werden.

Mays Gefangenschaft, »die Katastrophe, deren Verarbeitung sein ganzes weiteres Leben gilt«(26), trug Folgen für das Selbstbewußtsein des Autors, die nach vollendeter Strafverbüßung nicht überwunden waren. Der Racheimpuls, der May einst zu immer neuen Delikten antrieb, tritt im "Verlorenen Sohn" verbrämt hervor und bestimmt die Art und Weise der Rehabilitation Brandts.

Hierbei ist Rache zu verstehen als der Versuch, Ehre und Ansehen (und somit das Selbstwertgefühl) wiederherzustellen, was nur in Auseinandersetzung mit jenen geschehen kann, die das Selbstbewußtsein antasteten. Bezeichnenderweise ist deshalb nicht der Erzschurke Helfenstein das eigentliche Ziel der Rache Brandts, obwohl die Indizienfälschung, die Helfenstein vornahm, zur Verhaftung Brandts führte. Vielmehr nimmt der Held mittelbar Rache an der Justiz, indem er dieser Unzulänglichkeit und Fehlbarkeit nachweist.

Brandt entlarvt im Verlauf der Handlung eine Unzahl geschickt getarnter Verbrechen, für die von der Justiz stets arme Leute, Proletarier, verantwortlich gemacht worden waren. Teils sind die Beschuldigten unschuldig, teils haben sie sich aus Not geringfügig


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gegen das Gesetz vergangen. May, selbst ein Proletarierabkömmling, beschreibt hier die Wehrlosigkeit der mittellosen Bevölkerung, die dem Zugriff der Polizei weitgehend schutzlos ausgeliefert ist. Gleichzeitig kontrastiert May kleinere Vergehen mit den Machenschaften der Helfenstein-Bande, deren ungesühnte Vergehen die gesamte heimatliche Bevölkerung schädigen. Die Gegenüberstellung des vermeintlichen Straftäters Brandt mit dem tatsächlichen Verbrecher Helfenstein intendiert aber auch die Aussage, daß ein Vorbestrafter - von Fall zu Fall - moralisch höherstehend sein kann als manch angesehenes Mitglied der Gesellschaft, denn Helfensteins Untaten, die dieser auch innerhalb seines legalen Spielraums als Haus- und Bergwerksbesitzer ungestraft verüben kann, sind tatsächlich große Verbrechen.

Indem erst durch Brandt gerechte Verhältnisse entstehen, wird gleichzeitig der Justiz die Fähigkeit abgesprochen, über Recht und Unrecht entscheiden zu können. Die Genugtuung, die Brandt anstrebt, besteht darin, einerseits seine überlegenen detektivischen Fähigkeiten zu beweisen, die er den verblüfften Beamten wirkungsvoll zu demonstrieren weiß, andererseits zeigt er der Justiz, die ihn verurteilte, daß er weit besser als sie in der Lage ist, die Kriminalität in seinem Heimatland zu beurteilen. Brandts Rache besteht darin, diejenigen, die ihn erniedrigten, nun auch zu erniedrigen.

Da für May Rehabilitation im Sinne eines Nachweises seiner Unschuld natürlich nicht möglich war, darf sich sein Ersatz-Ich Brandt mit dem einfachen Nachweis seiner Unschuld nicht begnügen. May hat in eigener Person die Machtbefugnisse der staatlichen Justiz gegenüber dem Individuum erfahren müssen. Ersatzweise im Tagtraum "rächt" der Autor sich an der Staatsgewalt, indem er ihr eine mehrfach überlegene Gewalt, nämlich den omnipotenten "Fürsten des Elends", entgegensetzt.

Die Identifikation Mays mit dem Schicksal seines Helden wird schon dadurch deutlich, daß Brandts Vorgeschichte der des Autors erstaunlich gleicht: Brandt galt als begabter junger Mann, dem man eine gute Karriere in Staatsdiensten vorhersagte. Dies traf ähnlich für den angehenden Lehrer May zu. Brandts Laufbahn wird aber - ebenso wie die Mays - durch Verhaftung und Verurteilung jäh beendet. In groben Umrissen blendet May so das eigene Geschick in den Roman ein, rückt im weiteren Verlauf des Roman


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prozesses aber immer weiter von der selbsterlebten Realität ab, um schließlich eine wunschgerechte "Lösung" erfinden zu können.

Die Auseinandersetzung des Autors mit jener Instanz, deren Urteilsspruch ihn vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit als "outlaw" kennzeichnete, durchzieht das gesamte Werk Mays. Immer wieder versucht May die eigene Erniedrigung zu kompensieren, indem er zum Beispiel den Helden Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi in detailreich ausgemalten Szenen (vor allem in den Reiseerzählungen, die im Orient spielen) über die korrupten Vertreter der Obrigkeit triumphieren läßt. Der "Verlorene Sohn" stellt insofern keine Ausnahmeerscheinung dar, obwohl May im "Sohn", der in der Heimat spielt, subtilere Mittel bei der Überwindung der Obrigkeit anwendet, während in den Orientromanen Hadschi Halef (der Diener Kara Ben Nemsis) dem Polizisten oder Richter schlicht eins mit der Peitsche versetzt.

Rehabilitation als in der Phantasie verwirklichte Erniedrigung derer, die einst May erniedrigten, ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Tagträume des Autors: »Rehabilitation ist der Sinn von dem allen: was verachtet ist, soll wieder Ehre haben [...].«(27)

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Brandt enttarnte durch seine Aktionen ein Verbrechernetz, beschämte einen unfähigen Justizapparat, veränderte hierdurch aber nicht langfristig die heimatlichen Verhältnisse. Die Justiz bleibt schwach und blind, und deshalb muß der Held - will er sich und seine Schützlinge nicht erneut Gefahren aussetzen - ein eigenes autonomes Reich gründen. Brandt errichtet Brandenstein: »Alle Die, welche meiner Hilfe bedurften, welchen ich als Fürst des Elendes eine Wohlthat erweisen konnte, habe ich hierher gerufen. Sie sollen hier wohnen als meine Unterthanen und an mir einen guten Herrn und Vater haben.«(28) Somit erscheint der gesamte Romanablauf auch unter dem Aspekt des Kampfes um eine bessere Zukunft. Brandenstein wurde nur möglich durch die aktive Auseinandersetzung und schließlich den Sieg über eine von Verbrechen und Ausbeutung unterhöhlte Gesellschaft.(29) Desgleichen fand der Held durch die Verteidigung seiner Vorstellungen von individueller Freiheit und von Gerechtigkeit zu einer Anhängerschaft, die diese Maximen


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gleich ihm befolgte und die dann die eigentliche Basis der "Gegengesellschaft" Brandenstein bilden kann. Brandenstein ist, ganz im Sinne Blochs, das individuelle antizipierende Traumziel Mays, das gegen Ende des Romans erreicht wird und eine aus dem gegenwärtigen Alltagsleben ganz herausgehobene Stellung einnimmt: »Der Traum der Kolportage ist: nie wieder Alltag; und am Ende steht: Glück, Liebe, Sieg.«(30)

Deutlich zeichnet May Brandenstein als eine Gemeinschaft, deren einzelne Mitglieder sich liebe- und respektvoll um ihren Fürsten und Retter scharen: [...] es zeigte sich, welcher Liebe und Ehrerbietung sich der einstige Polizist und Försterssohn erfreute.(31) Indem May Brandenstein zu einem Ort macht, der Liebe und Ehrerbietung zu garantieren scheint, gestaltet der Autor eine Gegenwelt, die seinem persönlichen Verlangen nach Zuwendung und Respekt entgegenkommt.

Daß May zeit seines Lebens unter dem Gefühl der Einsamkeit litt, geht in seiner Biographie aus zahlreichen Stellen hervor. Beispielhaft hierfür sei die folgende Bemerkung zitiert, in der May sich über seinen Aufenthalt im Lehrerseminar Waldenburg äußert: Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! [...] Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim.(32)

Hans Wollschläger unternahm den Versuch, die Romane und Erzählungen Mays unter Anwendung der psychoanalytischen Methode auf die charakterspezifischen Eigenschaften des Autors hin zu entschlüsseln.(33) Ein wesentliches Ergebnis dieser Untersuchung besteht in der Feststellung, daß May - bedingt durch frühkindliche Liebesversagungen von seiten der Mutter - schließlich als Erwachsener selbst unter der Unfähigkeit, lieben zu können, litt. May thematisierte dieses zentrale Problem seines Lebens vor allem in seinem Spätwerk: »[...] die bohrende Frage, die May im Alter sibyllinisch genug dann Menschheitsfrage nannte, lautet [...]: - "Hast Du die Liebe?"«(34)

Die Vereinsamung wurde durch die gesellschaftlichen Vorurteile, die dem ehemaligen Häftling entgegengebracht wurden, noch verstärkt. May schildert aus der eigenen Erfahrung heraus das Schicksal des ehemaligen Häftlings wie folgt:

Ein jeder hackt auf ihn ein, ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche


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Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und behandelt wird [...].(35)

Die Gefangenschaft verstärkte Mays zuvor wohl schon stark ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl, und deshalb wird Brandenstein im Roman zu dem Ort, der neben Liebe auch Ehrerbietung verspricht. Hans Wollschläger weist darauf hin, daß vor allem in der Zeit vor Mays großen schriftstellerischen Erfolgen der Tagtraum von persönlicher Macht, von Geltung und Bewunderung, die bewegende Kraft war, die Mays schriftstellerische Arbeit antrieb: »Macht zu üben, Überlegenheit und Herrschaft herzustellen in den Traumräumen des unterdrückten Lebens, war einst die Schicksalsfrage gewesen, die sein Schreiben in Bewegung brachte [...]«(36)

2.  D a s  E l e n d

Die Schilderungen sozialen Elends im "Verlorenen Sohn" basieren auf persönlichen Erfahrungen des Autors und enthalten stellenweise auch direkte Einblendungen einzelner Episoden aus dem Leben Mays. Das Elend hat im Roman nicht nur die Funktion einer quasi exotischen Kulisse, vor der der Held sich als Held beweisen kann, sondern May versucht sicherlich auch durch die Beschreibung der Not im Leser Betroffenheit zu erwecken. Desgleichen tritt die Parteinahme des Autors für die ärmere Bevölkerung deutlich hervor: »Aber ganz unverhofft tauchen an den Schnittflächen der weit ausgeworfenen Handlungslinien die Sentenzen über Mißstände auf, die bei oberflächlicher Lektüre im Aktionismus der Romanhelden unterzugehen drohen. «(37)

Zurückgeführt wird das Elend auf die Intrigen der Helfenstein-Bande. Mit derselben Ausschließlichkeit, mit der Brandt der alleinige Retter aus dem Elend ist, tritt Helfenstein als der Urheber allen Übels auf. So sind Brandt und Helfenstein auch als Personifikationen des "Guten" und "Bösen" anzusehen.

May geht im wesentlichen so vor, daß er reale und alltägliche Bedingungen des sozialen Lebens seiner Zeit zeichnet und in Beziehung setzt zu eben dem Prinzip des Bösen, das der "Hauptmann" verkörpert. Der Baron und seine Helfer bauen ihr verbrecherisches


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Netz auf dem Umstand auf, daß sie legale Machtbefugnisse innehaben. Der Baron besitzt Mietshäuser und ein Bergwerk, die Brüder Seidelmann, Kumpane des Barons, sind offiziell tätig als Armenpfleger bzw. als Verleger. Als solche bedienen sie sich übler Schliche, um die von ihnen Abhängigen vollends auszuhungern und ihrer materiellen Existenz zu berauben. Stehen die Betrogenen am Rande des Hungertods, sind sie eventuell bereit, für den "Hauptmann" zu arbeiten, von dessen Doppelexistenz sie allerdings nichts erfahren. Der Prozeß hin zur vollständigen Abhängigkeit läuft über zwei Stufen ab: zuerst werden die Opfer mit quasi legalen Mitteln ausgebeutet, haben sie sich aufgrund ihres Elends dann gegen das Gesetz vergangen, werden sie zu weiteren kriminellen Handlungen gezwungen.

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Karl May erlebte in den vierziger bis achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Jahrzehnte wirtschaftlicher Umwälzungen, die die alte Ständegesellschaft neu formierten. Die erste deutsche Industrialisierungsphase (ca. 1834 bis 1873) »ersetzte in einem Zeitraum von etwa vier Jahrzehnten die Handarbeit durch die Maschinenarbeit. Sie wandelte die alte Produktionsweise vollständig um und schuf die Grundlage für den endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Feudalismus.«(38)

Während kleine Teile des bisherigen Bürgertums, das heißt jener Bevölkerungsgruppe, die weder zur bäuerlichen oder plebejischen noch zur adligen Schicht zählte, im Gefolge der kapitalistischen Umstrukturierung sozial aufstiegen, entstand in der Industriearbeiterschaft eine untere soziale Gruppierung, die ihre Arbeitskraft den Eignern der Produktionsmittel verkaufte. Ein vergleichsweise immenser Bevölkerungsanstieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts(39) bewirkte unter anderem eine zunehmende Verelendung der ländlichen Bevölkerung, die zur Folge hatte, daß Kleinbauern und Handwerker ihre relative Selbständigkeit aufgaben und in die industriellen Ballungszentren abwanderten. Auch das Königreich Sachsen, Mays Heimat, besaß schon früh Zentren industrieller Entfaltung.

Die Schilderungen des Elends, die May im "Verlorenen Sohn" gibt, stehen in engem Zusammenhang mit der historischen Ent-


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wicklung, beziehen sich allerdings nicht auf das Schicksal der Industriearbeiter, sondern auf jene Gruppen der Arbeiterschaft, die noch durch Handarbeit produzierten. Um 1800 waren ländliche Ballungsräume entstanden, in denen sich verschiedene Zweige der Hausindustrie entwickelt hatten(41), wie zum Beispiel Spielzeugherstellung im Erzgebirge oder die Herstellung von Textilwaren in Schlesien und Sachsen.

Die maschinelle Herstellung dieser Waren in den Fabriken wirkte sich seit den 30er Jahren auf das Einkommen der Heimarbeiter verheerend aus: »Der Preis wurde nun bestimmt durch das Maschinenprodukt, und der Lohn des hausindustriellen Arbeiters fiel mit diesem Preise.«(42) Trotz der miserablen wirtschaftlichen Situation der Heimarbeiter wurde die hausindustrielle Tätigkeit auch weiterhin als wirksame Maßnahme gegen die Not der Kleinbauern propagiert.(43) Selbst in den Städten verdrängte die "billigere" Hausindustrie das Handwerk, und Friedrich Engels stellt fest: »Nirgends, selbst die irische Hausindustrie kaum ausgenommen, werden so infam niedrige Löhne gezahlt wie in der deutschen Hausindustrie.«(44)

Abhängig war der Hausindustriearbeiter von einem Kaufmann, der die Waren vertrieb. Diese eigentümliche »industrielle Zwischenform« trug die Bezeichnung "Verlagswesen":

»Der Kaufmann bringt mittels seiner finanziellen Überlegenheit den wirtschaftlich schwachen Lieferanten in ein immer fester werdendes Abhängigkeitsverhältnis. Er leistet ihm Vorschüsse an Geld, an Rohstoffen, ja an Arbeitswerkzeugen. Und er bestimmt zugleich mehr und mehr Richtung, Umfang und Umstände der handwerklichen Produktion.«(45)

Hausindustrielle Tätigkeit ernährte auch die Familie Mays.(46) Der Vater war Weber ebenso wie die meisten anderen Ernstthaler Einwohner. Der Ort, der 1694 die Stadtrechte erhielt, war seit jeher eine Weberstadt gewesen. Nebenbei nähte die Familie May, um die Einkünfte aufzubessern, Leichenhandschuhe zusammen, wobei auch die Kinder zu helfen hatten.(47) Die Mitarbeit der Kinder bei hausindustrieller Tätigkeit war nämlich allgemein üblich und notwendig: »Wird der Meister bei der Arbeit von Weib und Kind unterstützt, so kann er rascher und leichter produziren [...].«(48)

Etliche Einwohner Ernstthals wichen angesichts ihrer hoffnungs-


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losen Einkommensverhältnisse auf einträglichere Nebenbeschäftigungen aus: »"Nebenberufe" müssen aushelfen, Schmuggel und anderes [...].«(49)

Die Erfahrungen äußerster Existenznot, die der heranwachsende May machte, werden im "Verlorenen Sohn" sichtbar. Hier bildet May die Not der Heim- und Gelegenheitsarbeiter, vor allem aber das ihm wohlbekannte Elend der Heimweber, ab: »[...] das Elend erzgebirgischer Weberdörfer erscheint hier in seiner ganzen Ausweglosigkeit und Düsternis: Ausbeutung der Ärmsten, Kriminalisierung der Erwerbslosen, Prostituierung ihrer Töchter [...]«.(50) Allerdings bescheinigt zum Beispiel Arno Schmidt den Elendsschilderungen Mays »Pseudorealismus, as far as it goes«(51), und Hans Wollschläger resümiert: »[...] den "Verlorenen Sohn", seinen sozialen Roman, verdarben ihm die albernen Klischees der Kolportage [...].«(52)

Die in ähnlicher Form immer wiederkehrenden Beschreibungen der Not erscheinen in ihrer schwerpunktslosen Aneinanderreihung tatsächlich stereotyp und klischeehaft, stehen aber im Dienste der Funktion der Kolportage: Um Befreiung aus der Not immer wieder "erleben" zu können, müssen die beängstigenden Umstände des Elends auch häufig "beschworen" werden. Hier scheinen aber keine besonderen Differenzierungen inhaltlicher oder sprachlicher Art erforderlich zu sein. Auffällig ist die regelmäßige Einleitung einer Elendsszene durch Beschreibung der ärmlichen Wohnverhältnisse. Der folgende Textauszug kann hierfür als typisch angesehen werden:

Es herrschte eine dumpfe Feuchtigkeit, eine grimmige Kälte in dem Raume, welcher mehr einem Stalle, als einer menschlichen Wohnung glich. Ein kleiner Windofen stand in der Ecke, an der Wand lehnte ein Tisch und an dem einzigen, kleinen Fenster standen zwei alte Stühle, auf welche sich zu setzen, gefährlich zu sein schien.(53)

Ist so (oder ähnlich) der Tatbestand des Elends hergestellt, kann er - natürlich unter etlichen Verwicklungen der Handlung - dem rettenden Eingreifen Brandts zugeführt werden. Daß den Leser die Wiederholungen der Kolportage aber nicht abstoßen oder langweilen, erläutert Bloch: »Echte Kolportage läßt sich immer wieder lesen, weil man sie vergißt wie Träume und weil sie dieselbe Spannung hat.«(54)


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Die Elendsszenen des "Verlorenen Sohns" erweisen sich im Kern nicht als die rationale und distanzierte Aufarbeitung des Gewesenen durch den Autor, sondern als die Niederschrift des immer noch virulenten Angsttraums eines Betroffenen. Gert Ueding bezeichnet die Tagträume des "Verlorenen Sohns" als »Traumprotokolle eines Gefangenen«.(55) So kann »Gefangenschaft in der Armut« als zentrale Thematik der Handlungsstränge, die das Schicksal der Armen verfolgen, festgestellt werden. Zur Zeit der Entstehung des "Sohns" ist die materielle Situation des Autors längst noch nicht gefestigt. Der seit der Kindheit anhaltende Kampf gegen materielle Unsicherheiten äußert sich im Roman als Angsttraum von auswegloser Gefangenschaft in Armut.

May legt die Elendsszenen des Romans so an, daß sich die Verhältnisse der Armen aufgrund einer Häufung negativer Bedingungen unglücklich zuspitzen, und eine Situation der "Unentrinnbarkeit" entsteht. Ein besonderer Effekt der Elendsszenen besteht darin, daß Lichtblicke in der Situation der Armen oder ihre Versuche, sich selbst zu helfen, nicht nur scheitern, sondern eine weitere Verschärfung der Lage zur Folge haben. Beispielhaft hierfür sei der folgende typische Handlungsstrang wiedergegeben:

Der schlechtbezahlte Schreiber Beyer - er arbeitet für den "Verleger" Seidelmann - ist in eine besonders krasse Notlage geraten. Seine Frau ist schwerkrank, seine Tochter Auguste erwartet ein Kind. Dieses Kind ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Der Juniorchef des Hauses Seidelmann überwältigte Auguste, die vorübergehend dort als Haushaltshilfe angestellt war. Zufällig behält das Mädchen einen Ring des jungen Seidelmann zurück, in den sein Name eingraviert ist. Die Beyers hoffen, mit Hilfe dieses Beweisstückes Seidelmann zwingen zu können, Unterhalt für das Kind zu zahlen. Zur Rede gestellt bestreitet Seidelmann die Tat und weigert sich zu zahlen. Beyer droht ihm mit einer Klage vor Gericht, kündigt gleichzeitig sein Arbeitsverhältnis auf, verrät aber, bei welcher Firma er eventuell eine neue Anstellung finden kann. Der neue Arbeitgeber Beyers befindet sich jedoch in finanzieller Abhängigkeit von Seidelmann, und dieser macht seinen Einfluß geltend, um die Einstellung zu verhindern. Der Klage Beyers kommt Seidelmann ebenfalls zuvor, indem er seinerseits Anzeige erstattet, und zwar wegen Diebstahls des Ringes. So verkehrt sich der stärkste


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Trumpf Beyers in eine Falle. Er und seine Tochter werden verhaftet. Als Beyers Aussage weniger Gehör geschenkt wird als der Seidelmanns, wehrt Beyer sich in seiner Verzweiflung, was ihm zusätzlich eine Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt einbringt.(56)

Die Elendsszenen sind in ihrer Intensität, die vor allem durch die Häufung negativer Umstände auf engstem zeitlichen Raum zustandekommt, Ausdruck der unmittelbaren Betroffenheit Mays, die sich auf dem Wege des Schreibens ein "Ventil" sucht. Gerade in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß May reale Fakten und selbsterlebtes Elend im Roman verarbeitet, von besonderer Bedeutung. Lediglich die extreme Zusammenballung verschiedener Unglücksfälle kann als Überspitzung der Realität angesehen werden. Einzelne soziale Bedingungen aber, die May nennt, entsprechen der Realität des 19. Jahrhunderts und sollten, obwohl der Roman den Gesamteindruck genrebedingter Klischeehaftigkeit hervorrufen mag, nicht übersehen werden. Die sozialen Fakten, die in den Roman eingingen, sind nicht nur Bestandteile von Mays Tagtraum, sondern wesentlich auch dessen Auslöser.

*

Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwachs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört.(57)

Mays engere Heimat, wo in den 40er Jahren - »ausgelöst durch Mißernten und verschärft durch die allgemeine Industrie- und Handelskrise«(58) - die Bevölkerung einer besonderen Verelendung anheimfiel, bildet, auch wenn May sich nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Region bezieht, sicherlich den eigentlichen Schauplatz des Romans. So berichtet May in seiner Autobiographie über die heimatlichen Weber: Es galt für die armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein »Stück zu Markte«. Für jeden Fehler, der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte.(59)


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Es bedarf keiner ausführlichen Erläuterung, welche Verunsicherung diese Praxis des "Verlagswesens" für die materielle Situation der Weberschaft bedeutete. Diese Realität prägte die Erinnerung Mays so stark, daß er einen entsprechenden Vorgang im "Verlorenen Sohn" abbildet: Der Verleger Seidelmann zahlt dem jungen Weber Eduard Hauser keinen Lohn aus wegen angeblicher Webfehler.(60) Hier arbeitet May in aller Schärfe die Möglichkeit des willkürlichen Eingriffs heraus, die dem Verleger kraft seiner ökonomischen Machtstellung verliehen war. Auch wenn der Verleger in der betreffenden Episode nicht unmittelbar seinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil sucht (Seidelmann will Eduard Hauser dem Baron gefügig machen), so scheint doch die reale Erfahrung der Abhängigkeit vom Verleger die eigentliche Grundlage der Szene zu sein. Daß der Verleger versucht, die Abhängigkeit der Heimarbeiter noch zu vergrößern durch den Verkauf oder die Vermietung überteuerter Arbeitsgeräte, ist ebenso im "Sohn" dargestellt:

»Diese Webstühle habe ich aus einer Concursmasse erstanden; das Stück kostet mich zwei Gulden. Wer hier von mir Arbeit haben will, muß seinen Stuhl von mir nehmen, entweder per Kauf oder auf Miethe. Ich verkaufe das Stück zu zwanzig Gulden; die Miethe beträgt sechs Gulden pro Jahr. Wird der Stuhl alt und es bricht Etwas, ist der Miether contractlich gezwungen, mir zwanzig Gulden zu zahlen.«(61)

Völlig unzureichende Ernährung und in deren Folge Mangelkrankheiten waren in der Realität die Auswirkungen des schlechten Lohns, und wenn May im "Verlorenen Sohn" den Hunger thematisiert, so gestaltet er damit sicherlich ein Trauma seiner Kindheit. Was Arno Schmidt - unter Anspielung auf die Klischeehaftigkeit der Darstellungen Mays - als »kartoffelschalensuppiges Weberelend«(62) bezeichnet, ist immerhin Darstellung damaliger Realität. Kartoffeln bildeten die Haupternährungsquelle für breite Teile der Unterschicht. Dies erhellt auch die folgende Aussage über die Eßgewohnheiten thüringischer Spielwarenmacher: »Wie die Wohnung, so die Nahrung. Sie besteht meist aus Kartoffeln, die in allen Gestalten auf den Tisch kommen.«(63) Die Ernährung der eigenen Familie beschreibt May in seiner Autobiographie: Wir baten uns von unserm Nachbar, dem Gastwirt »Zur Stadt Glauchau«, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden.(64)


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So kreisen auch viele Szenen des "Verlorenen Sohns" um das Problem des Satt-Werdens. May beschreibt ausführlich die verzweifelten Versuche der Ausgebeuteten, sich von kaum Genießbarem zu ernähren:

» Was habt Ihr heute Mittag gegessen?«

»Kartoffeln?« [sic!]

»Und was dazu?«

»Salz. Die Mutter hat es über dem Feuer gebräunt.«

»Ah, kenne das! Es muß einen schärferen Geschmack bekommen, damit man die seifigen, ungesunden Kartoffeln hinunter bringt.«(65)

Auffällig sind auch die Hinweise des Romans auf mangelnde ärztliche Versorgung und das noch fehlende Versicherungswesen im Falle von Berufsunfällen.

Der Armen- und Knappschaftsarzt wird im "Sohn" als korrupt und wenig einsatzbereit geschildert.(66) Hier äußert sich jedenfalls die Skepsis Mays gegenüber der Sozialversorgung seiner Zeit. Ohne den Armenarzt als Kriminellen gezeichnet zu haben, ordnet May ihn aber ohne Umschweife der Partei des Barons zu und stellt ihn als einen Vertreter der Interessen Helfensteins dar.(67) Daß auch in der Realität die Patienten dem Armenarzt mißtrauten, deckt sich noch mit der Schilderung eines Arztes, der im Jahre 1890 feststellt: »[...] es kam immer öfter vor, daß sich ganz arme Familien an mich statt an den offiziellen Armenarzt wendeten [...].«(68)

Wie genau es May - von Fall zu Fall - mit der Wahrscheinlichkeit seiner Schilderungen nimmt, zeigt der Umstand, daß er im Falle eines ehemaligen Wachtmeisters, der bei der Ausübung seiner späteren Tätigkeit als Bahnarbeiter ein Bein verlor, besonders darauf hinweist, daß es zu jener Zeit noch kein Gesetz für Haftpflicht gab: Man gewährte ihm freie ärztliche Behandlung und dann wies man ihn fort.(69) Es geht May also offensichtlich darum, die Schilderung des Elends glaubwürdig erscheinen zu lassen, und er muß in diesem Fall fürchten, der Leser könne die seit den achtziger Jahren existierende Sozialversicherungsgesetzgebung einwenden und die außerordentliche Not des Behinderten als Erfindung abtun.

So mangelhaft wie die Ernährung waren die Wohnverhältnisse der Unterschicht im 19. Jahrhundert. Kam in einer Familie eine ansteckende Krankheit auf, dann trugen die schlecht belüftbaren und viel zu kleinen Wohnungen viel dazu bei, die Krankheit auch


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auf andere Familienmitglieder zu übertragen. So grassierten in den 40er Jahren die Blattern in Mays Familie. Alle Kinder waren erkrankt: Bei einer der Schwestern hatte sich der blatternkranke Kopf in einen unförmlichen Klumpen verwandelt. [...] Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen zu können.(70) Auch dieses Kindheitserlebnis hat May in den "Verlorenen Sohn" eingearbeitet. Frau und Kinder des Musterzeichners Wilhelmi sind an den Blattern erkrankt. Auch hier muß der Arzt den Mund freischneiden: [...] und der Arzt, welcher keines von ihnen mit der Hand berührte, machte ihnen mit dem Messer einen Schnitt durch die Kruste, so daß der Zutritt der Luft zum Munde ermöglicht wurde.(71) Die gleichgeartete Schilderung der Erkrankung in Roman und Biographie beleuchtet die Art und Weise, in der May einzelne Episoden seines Lebens auch ohne große Veränderung in den Roman einblendet. Die zusätzliche Not, die die Erkrankung mit sich brachte, wird durch die ausführliche Schilderung im Roman sogar greifbarer als durch die knappe Schilderung in der Autobiographie.

Auch die Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung von bestimmten, spärlich vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten hat May im Roman herausgearbeitet: »Sie wissen das nur zu gut, Herr Zahlmeister. Es giebt hier nur Weber und Kohlenbergleute. Zum Weben sind meine Augen zu schwach, und dieses Bergwerk ist das einzige in der weiten Umgegend. Ich muß bleiben!«(72)

Die Not derer aber, die ganz ohne Arbeit waren, wurde in der Realität durch einen psychischen Druck besonderer Art noch verstärkt. Das öffentliche Bewußtsein und die Gesetzgebung kannten den Begriff des Arbeitslosen noch nicht:

Gleichwohl kannte noch keine der Gesetzgebungen den Begriff des Arbeitslosen, der arbeitsfähig und arbeitswillig ist, aber aus ökonomischen Gründen keinerlei Unterhalt finden kann. Für die Legislatur bestand Armut immer noch in physischen oder moralischen Gebrechen, aufgrund derer ein Armer alternativ in Kranken- oder Arbeitshäuser gesteckt werden konnte, soweit er nicht am Wohnsitz versorgt wurde.(73)

Das allgemeine Unverständnis, das den Armen entgegengebracht wurde, verriet keinerlei Einsicht in die veränderten ökonomischen Bedingungen der Zeit. Daß dem Armen gerne entgegengehalten wurde, er sei selbst schuld an seinem Elend, bildet May im Roman


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ab in einem Dialog zwischen dem Armenarzt und dem Musterzeichner Wilhelmi. Der Armenarzt reagiert auf die haarsträubende Notlage Wilhelmis lediglich mit Hinweisen wie: »Aber warum arbeiten Sie nicht fleißiger?« Oder: »Es muß doch am Mangel an richtiger Eintheilung, an Wirthschaftlichkeit liegen.«(74)

Der Teufelskreis schloß sich endlich, war der Arme gezwungen, für seinen Unterhalt betteln zu gehen: Bettelei (auch Obdachlosigkeit) war gesetzlich verboten.(75) Auch diese Sachlage hat May in einer Szene des Romans verarbeitet: Ein kleines Mädchen, dessen Eltern aus Krankheitsgründen (auch diese haben soziale Ursachen) nicht arbeiten können, versucht auf dem Weihnachtsmarkt selbstgebastelte Hampelmänner zu verkaufen.(76) Eine mitleidige Dame schenkt ihr drei Taler, will von der zum Verkauf angebotenen Ware aber nichts nehmen. Ein Polizist nimmt das Mädchen alsbald fest und bringt es zu seinen Eltern: »Das Geld und die famosen Hampelmänner sind natürlich confiscirt worden. Die kleine Landstreicherin, die übrigens ganz frech geleugnet hat, daß sie betteln kann, bringe ich Euch hiermit, die Strafverfügung aber erhaltet Ihr morgen.«(77)

*

Wenn May den Armen des Romans auch Aussagen voller Schicksalsergebenheit in den Mund legt, wie zum Beispiel: »Man trägt das Unglück gern und möglichst lange Zeit im Stillen«(78), so ist der "Verlorene Sohn" dennoch nicht vergleichbar mit jener Malheur-Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich darin gefiel, die Zufriedenheit des Armen (»der ein gutes Gewissen hat«) mit seiner Situation zu fördern durch »die Ideologie vom glücklichen Armen und vom unglücklichen Reichen.«(79) Textstellen des "Verlorenen Sohns", die die Zufriedenheit der Armen mit ihrer Lage zu verherrlichen scheinen, dürften von May in unreflektierter Weise als Versatzstücke der Malheur-Literatur entnommen sein. Auch Ernst Bloch weist darauf hin, daß Elemente der »kleinbürgerlichen Wachliteratur« durchaus in die Kolportage eingegangen sein können, aber: »Gibt es kein ganz gutes, so erst recht kein ganz schlechtes Buch der Abenteuer; dieser Schatz reinigt sich sogleich an der Traumkraft, der er ohne viel Umwege entstammt, an gewissen "urrechtlichen" Wunschphantasien [...].«(80) So erscheinen selbst bei flüchtiger


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Lektüre des "Sohns" die Ansätze einer Zufriedenheitsideologie der Armen als nebensächliche Ausrutscher, da das gesamte Romangeschehen, das heißt alle Schilderungen bedrückender Existenz, von vorneherein auf Rettung durch den "Fürsten des Elends" hin angelegt sind. Dieser aber hilft den Armen nicht, indem er versucht, ihre Not durch religiöse oder moralische Phrasen zu vergolden (wie dies zum Beispiel der "fromme" Seidelmann praktiziert), sondern hilft in sehr konkreter Art und Weise: Er gibt Geld.

Da May nicht die eigentlichen Ursachen des Elends hinterfragt, sondern lediglich dessen äußere Erscheinungsformen abbildet, findet er auch keinen Ansatz für eine "realistischere" Lösung des Armenproblems. Er setzt dem alptraumhaft-ausweglosen Elend seinen Märchenfürsten entgegen, der wie im Märchen Schätze verteilt. Rettung wird den Armen also von außen gebracht, kommt nicht aus den eigenen Reihen. Die Konsequenzen, die May im Roman aus dem Vorhandensein des Elends zieht, bleiben somit jenseits der konkreten Erfordernisse, die den Proletariern jener Zeit hätten helfen können, und entsprechen nicht dem Bewußtseinsstand der damaligen Arbeiterbewegung: »Das soziale Bewußtsein, das sich in Mays Lieferungsromanen artikuliert, entspricht also nicht dem fortgeschrittensten Erkenntnisstand derjenigen, für die sie Partei ergreifen.«(81) Das Moment der Selbsthilfe ist zwar im "Verlorenen Sohn" dargestellt und bildet sogar die Grundlage des endgültigen Siegs der "guten" Partei, taucht aber nicht als für die Allgemeinheit der Armen praktikables Prinzip auf, sondern bleibt beschränkt auf die positiven Heldengestalten des Romans. In erster Linie verkörpert Gustav Brandt das Prinzip individueller Selbsthilfe.

Es scheint, als habe May in der sporadischen Wohltätigkeit der Reichen ernsthaft ein Lösungsmittel für das Armutsproblem gesehen. Denn durch die Figur des freigiebigen Helden stellt der Autor individuelle »Wohltätigkeit als bestes Rezept zur Linderung oder gar Aufhebung der Armut«(82) dar. Allerdings kann den Armen, die fast verhungert sind, auch nur durch Geld aktuell geholfen werden.

Langfristig besiegt wird das Weberelend, indem Brandt den "guten" Eduard Hauser als Verleger bestimmt: »Die armen Weber müssen doch einen Verleger haben.«(83) Charakterlich gute Individuen also geben Geld oder sollen ausschlaggebende Positionen des


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wirtschaftlichen Lebens bekleiden. Hiervon scheint May sich Befreiung aus dem Elend zu versprechen: Er sah nicht »im Verlagswesen selber die Ursachen des sozialen Übels«(84)

3.  S t r a f v e r f o l g u n g  u n d  H a f t z e i t e n

Abgesehen von Gustav Brandt geraten noch sehr viele der anderen Romanfiguren - kriminalisiert durch den Einfluß des Barons und der Seidelmanns - ins Gefängnis. Karl May, der selbst insgesamt vier Gefängnisstrafen verbüßen mußte, versucht auch unter diesem thematischen Gesichtspunkt sein eigenes Schicksal im Tagtraum zu verarbeiten.

Die Gefangenschaft hinter Gefängnismauern ist als Steigerung der zuvor erörterten Gefangenschaft in der Armut anzusehen. Sie tritt inhaltlich als Folge der Armut auf und spitzt die Handlung dramatisch zu.

Auch gegenüber den Häftlingen fungiert Brandt als Retter. Ist der "Fürst des Elends" als Retter der Armen hauptsächlich ein großzügiger Spender von Almosen, so tritt er in seiner Funktion als Retter der Inhaftierten differenzierter hervor, da das Einwirken des Helden auf die Situation der Häftlinge deutlich sehr persönliche Tagtraumtendenzen Mays enthüllt.

Brandt ist unfehlbarer als der staatliche Justizapparat, denn Polizei und Behörde glauben dem oberflächlichen Anschein von Schuld, der aber fast immer von der Schurkenpartei trügerisch inszeniert wurde. Volker Klotz brachte diesem Aspekt des Romans besondere Aufmerksamkeit entgegen: »Zieht man nämlich aus der wüsten, kaum absehbaren Fülle all der verbrecherischen Aktionen gleichsam die Wurzel, kommt man auf einen einzigen, aber fundamentalen Akt: Fälschung. [...] Es geht um Fälschung als eine Verletzung von Evidenz. Wodurch unbefangenes menschliches Zusammenleben tödlich bedroht wird.«(85)

Tatsächlich ist die gesamte Romanwelt durch Fälschungen entstellt, und so werden arme Leute immer wieder verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

Es kann eigentlich kein Zweifel bestehen, daß der ehemalige Häftling Karl May seine Existenz als Vorbestrafter ebenso als


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Fälschung, nämlich als Fälschung seiner Identität, empfand. Zwar war er im Sinne des Gesetzes durchaus schuldig, begriff aber wohl dennoch die von ihm verübten Delikte nicht als Teil seiner Persönlichkeit.(86)

Dem rettenden Helden fallt selbstverständlich die Aufgabe zu, Fälschungen aufzudecken und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das heißt, übertragen auf die persönliche Intention Mays, die dieser Romankonstruktion zugrunde liegt, Brandt soll den gesellschaftlich gültigen Schein von etwas zugunsten des wirklichen Seins - so wie dieses der Autor sieht - als Lüge, zumindest aber als oberflächlich, entlarven. Hier äußert sich wohl der Wunsch Mays, die eigene Person möge nicht nur unter dem Aspekt des Vorbestraften betrachtet werden, sondern auch hinsichtlich der verborgenen Qualitäten seines Charakters.

Bezeichnenderweise teilt der Autor seinem Helden bei der Entdeckung der Wahrheit eine Verfahrensweise zu, die May sich, auf die eigene Person angewendet, auch gewünscht hätte, nämlich die Anwendung der Psychologie als Mittel zur tiefgehenden Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit des Delinquenten. Hierzu äußerte May sich unter anderem in einem Brief an den Untersuchungsrichter Larrass:

Es ist weit über ein Menschenalter her, daß ich an einer schweren seelischen Depression erkrankte, deren Aeusserungen man vor den Strafrichter brachte, anstatt vor den Arzt und Psychologen. Ich habe es schwer zu büßen gehabt und sogar auch heute noch zu büßen, daß der Stand der gerichtlichen Psychologie damals noch nicht derselbe war, wie er es heutigen Tags ist. Heut würde man mich freisprechen.(87)

Bereits der "Verlorene Sohn" artikuliert Mays Wunsch nach differenzierter Einschätzung des Straftäters, also auch der eigenen Person. So geht der Held Gustav Brandt an die Untersuchung von Kriminalfällen mit "psychologischer" Einfühlungsgabe heran: »Ich möchte das gern beweisen können«, sagte der Beamte. »Aber woher den Beweis nehmen?« - »Die Psychologie liefert den Beweis, die Psychologie, Herr Assessor!«(88)

Allerdings wird deutlich, daß May den Begriff "Psychologie" im Roman zwar verwendet, aber in erster Linie nur benutzt, um seinem Wunsch nach einer Verfahrensweise für die Entdeckung der Wahrheit einen Namen zu geben. Tatsächlich besteht Brandts "Psy-


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chologie" darin, die Wahrheit mittels der Sinne unfehlbar erkennen zu können: Da richtete der Fürst einen schweren, forschenden Blick auf Petermann und fragte: »Waren Sie schuldig oder unschuldig?« Der Gefragte hatte noch nie den durchbohrenden, Alles erforschenden Blick eines solchen Auges gefühlt. Es war ihm, als ob er nichts, gar nichts verheimlichen könne; aber er raffte sich zusammen.(89)

Mit den Augen das Innere erforschen zu können, ist die Psychologie Brandts. Auf dieser Basis kann der Held die entstellten Verhältnisse der Romanwelt wiederherstellen. Für May selbst bedeutete der Traum von einer sinnlichen Wahrnehmung der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen und vom Durchschauen der wahren Verhältnisse gleichzeitig wohl auch den Traum von "Entfälschung" der eigenen Identität, die, entstellt durch das pauschale Vorurteil dem Vorbestraften gegenüber, rehabilitiert würde. Später mag May dann die reale Verwirklichung dieses Traums von den Methoden der Psychologie erhofft haben.

Darüber hinaus offenbart dieser Inhalt des Tagtraums aber auch ein Bedürfnis, das May mit den meisten seiner Zeitgenossen geteilt haben dürfte: In einem komplizierten Gesellschaftssystem sicher und einfach Sachverhalte durchschauen und beurteilen zu können, denn »Chaos herrscht, wo keiner mehr so recht auf seine Sinne sich verlassen kann, weil das arbeitsteilige, marktgeregelte Zusammenleben so undurchsichtig wie unanschaulich geworden ist«.(90)

*

Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich May - obwohl er seine Straftaten als äußerliches Faktum nicht bestritt - zu diesen aber nicht in einem tieferen Sinne "bekennen" konnte. Das heißt, May sah sich selbst nicht als eine Person an, die bewußt kriminelle Handlungen beging. Als Beleg hierfür lassen sich die mannigfachen Aussagen Mays anführen, die seinen psychisch völlig desolaten Zustand seit dem Zeitpunkt der ersten Verhaftung beschreiben.(91) Arno Schmidt prägte für die Kennzeichnung dieser seelischen Konstitution Mays den Ausdruck »Dämmerzustand«.(92)

Über die erste Verhaftung im Dezember 1861 schreibt Karl May in seiner Selbstbiographie: Ich hatte das Gefühl, als habe mich


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jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen.(93) Und weiter führt May aus: Ich stand zwar wieder auf; doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang.(94)

Aus diesem Zustand innerlicher Versteinerung(95) erwachte May zunächst nicht mehr, und aus ihm heraus beging er, nach eigener Aussage, schließlich auch seine schwerwiegenderen Vergehen: Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen, ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt.(96)

So scheint es, als habe May im Zustand einer gewissen Unzurechnungsfähigkeit gehandelt, was auch erklären würde, weshalb er sich in einem tieferen Sinne unschuldig fühlte und eine psychologische Beurteilung seiner Person wünschte.

Arno Schmidt spricht in diesem Zusammenhang allerdings von »Vorspiegelung von Dämmerzuständen«(97) und läßt damit die Frage anklingen, ob May die seelische Verwirrung nicht nur vorgeschoben habe, um sich zu rechtfertigen. Der Schlag auf den Kopf, die Betäubung, die Versteinerung sind Metaphern, fast Mystifikationen, die aber wohl kaum darauf hinweisen, daß May den »Dämmerzustand« erfand, sondern eher als Ausdruck der Hilflosigkeit des Autors zu bewerten sind, jenen Zustand, den er vermutlich selbst nicht begreifen konnte, differenziert zu beurteilen und zu schildern. Daß May durch die erste Verhaftung eine Art psychischen Zusammenbruch erlitten haben dürfte, erschließt sich, betrachtet man den Lebenslauf des Autors bis zum Zeitpunkt der ersten Verhaftung:

Von Anfang an hatte Mays Vater eigene gesellschaftliche Aufstiegswünsche auf den Sohn projiziert.(98) May wurde durch die elterliche Erziehung zum sozialen Aufstieg bestimmt, doch konnte diese Erziehung dem Jungen keine Kenntnisse vermitteln über Werte und Verhaltensnormen jener bürgerlichen Schicht, in die er aufsteigen sollte. May war im proletarischen Milieu aufgewachsen, und seine "Bildung" ging über einen Wust von Faktenwissen, das der Vater dem Sohn durch den Befehl zum Lesen und Abschreiben diverser Sachbücher aufgenötigt hatte(99), nicht hinaus. Über seine Seminarzeit schreibt May: Die Andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag


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wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen.(100)

Dennoch schienen die Aufstiegswünsche durch die erfolgreich abgeschlossene Lehrerausbildung schließlich einigermaßen verwirklicht zu sein. May erinnert sich an die Genugtuung, die er nach bestandener Abschlußprüfung empfand: Der Anfang zum Aufstieg war da.(101)

Ein Delikt, das kaum mehr als ein unüberlegter Streich war - wahrscheinlich wollte May mit den entliehenen Renommiergegenständen (Uhr, Pfeife, Zigarrenspitze) zu Hause prahlen -, wirft ihn aber weit hinter sein anvisiertes Ziel zurück. Die soziale Katastrophe, die May durch die erste Verhaftung widerfuhr, beschreibt er, allerdings in mystifizierenden Bildern, folgendermaßen: Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor.(102)

In diesem Bild offenbart sich die enttäuschte Sehnsucht nach sozialem Aufstieg, der schon so greifbar nah schien. Als Vorbestrafter sieht May sich nun mehr denn je angekettet an die niedrige soziale Stufe seiner Herkunft. Berücksichtigt man zudem noch, daß May bei seiner Verhaftung gerade 19 Jahre alt war, erscheinen die Beschreibungen der "Dämmerzustände" durchaus glaubwürdig. Mit Aufstiegsidealen überfrachtet, verkraftet der junge May den Rückschlag psychisch nicht; es scheint ihm auch nichts zu bleiben, woran er sich fernerhin orientieren könnte, denn mit der Verhaftung ist seine Berufsperspektive als Lehrer hinfällig geworden.

Als May den "Verlorenen Sohn" schreibt, sind knapp sechs Jahre seit Beendigung der letzten Haftverbüßung vergangen. Die Erinnerung an die Phase von Strafverfolgung und Haftzeiten, vor allem aber die seelischen Auswirkungen, die sich offensichtlich in starken depressiven Zuständen niederschlugen, dürften noch recht virulent gewesen sein. Es war sicherlich nicht nur ein Mittel, um die geforderten hundert Lieferungshefte für Münchmeyer anfüllen zu können, wenn May an unzähligen Romanfiguren den gleichen Tatbestand wiederholt: Sie werden verhaftet und finden sich hinter Gittern wieder.


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Alle Inhaftierten sind, wie bereits erwähnt wurde, arme Leute. Und es liegt ganz offensichtlich in der Absicht Mays, auch den Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität zu veranschaulichen: »[...] es gilt an ihnen die Genese ihrer Kriminalität zu erklären [...].«(103) Dies dürfte nicht zuletzt eine entlastende Funktion für den Autor gehabt haben, fand er doch auch in der eigenen unverschuldeten Armut wenigstens einen gewissen Entschuldigungsgrund für seine Delikte.

Fast zwanghaft, so scheint es, müssen die Romanfiguren nach der Verhaftung dann allesamt in jenen depressiven Dämmerzustand verfallen, dem auch ihr Autor anheimfiel: Sie werden reglos, starren nur noch vor sich hin und nehmen an ihrer Umwelt keinen Anteil mehr. Gustav Brandt macht hierin keine Ausnahme: Er hatte diesen Bericht in kurzen, abgerissenen Sätzen gegeben. Sein Gesicht glich dabei demjenigen eines Nachtwandlers, welcher nicht weiß, was er thut und spricht [...].(104)

Marie Bertram erstarrt bei ihrer Verhaftung psychisch wie körperlich. Sie muß fortgetragen werden: Beide trugen Marie fort. Sie war nicht ohnmächtig, aber sie war doch wie ohne Leben.(105)

Robert Bertram zeigt das gleiche Verhalten: Er hatte ohne Sträuben seine Zelle verlassen. Er hatte im Schlitten gesessen wie Einer, der abwesend ist, und starrte auch jetzt grad vor sich nieder.(106)

Auch das im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit verübte Delikt, welches May in "Mein Leben und Streben" beschreibt(107), findet seinen Widerhall im Roman: Der junge Hauser - gerade von Seidelmann um seinen Lohn geprellt - geht in den Wald, um wenigstens etwas Brennmaterial nach Hause bringen zu können. Damit hätte er sich allerdings des Holzdiebstahls schuldig gemacht: Er handelte fast willenlos, ganz noch unter dem Einflusse des Geschehenen.(108)

May litt, das belegen seine Selbstzeugnisse, bis zum Ende seines Lebens unter seelischen Anfechtungen, die ursächlich mit den Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen zusammenhingen, die die Haftzeiten hervorgebracht hatten. Der Versuch der Verarbeitung dieser psychischen Krisen in der Literatur ist daher für May außerordentlich wichtig gewesen. May geht aber im Roman wie in der Selbstbiographie über die Beschreibung der Symptome des "Dämmerzustands" nicht hinaus. Im Roman wird der "Dämmerzustand"


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als Zustand seelischer Qual, als Unglück der Betroffenen sichtbar. Die psychische Reaktion wird ausschließlich auf die Tatsache der Verhaftung zurückgeführt, und diese Sichtweise entspricht wohl auch der Einschätzung Mays bezüglich der Ursache der eigenen seelischen Verfassung.

Erst nach der Befreiung und Rehabilitation der Inhaftierten durch den Helden werden die Unglücklichen wieder froh, weicht die Depression von ihnen. Allerdings muß dieser Befreiungsakt wie auch die Befreiung aus dem Elend hinsichtlich des Schlußbilds des Romans relativiert werden. Die vollkommene Befreiung, das "Glück", wird erst in Brandenstein, jenem Ort, der aus der Realität ganz herausgehoben ist, beschieden.

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Für May, der ohnehin bereits in seiner frühen Jugend unter dem Gefühl der Einsamkeit litt, verstärkten Verhaftung und deren gesellschaftliche Auswirkungen das Gefühl der Isolation: Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können.(109) Diese schmerzhafte Erfahrung korrigiert May im Roman. Keiner der Inhaftierten muß sich verlassen fühlen, da zumindest Gustav Brandt ihm beisteht. Dem Helden selbst werden während der Zeit seiner Haft in auffallend großem Maße Anteil- und Parteinahme entgegengebracht. Hundert Augen standen unter Thränen(110), als Brandt verurteilt wurde, und seine Freunde sind froh darüber, als ihm schließlich die Flucht gelingt.(111)

Im Kontrast zu diesen Traumbildern, die offensichtlich den Wunsch nach Freundschaft und Parteinahme mit dem Inhaftierten ausdrücken, steht eine andere Szene des Romans, in die May wahrscheinlich einen besonders wesentlichen Aspekt seiner persönlichen Problematik einarbeitete, nämlich das Verhältnis zu seiner Mutter.

Bei eingehender Betrachtung der autobiographischen Bemerkungen über die Mutter fällt ein starker Mißklang auf. May beschreibt die Mutter zum einen offensichtlich idealisiert als Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig(112), vermittelt jedoch an anderer Stelle der Autobiographie indirekt ein differenzierteres


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Bild von der Mutter. Dort gibt May die folgende Unterhaltung wieder, in der die Mutter ihn zur Flucht nach Amerika bewegen will, da sie glaubt, er sei schuld an einer Brandstiftung:

»Mut-ter! Mut-ter!« stotterte ich. »Glaubst Du etwa, daß ---«

»Ja, ich glaube es, ich muß es glauben, und Vater auch«, unterbrach sie mich. »Alle Leute sagen es!«

Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:

»Um Gottes willen, laß Dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst, ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!«

Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu warten.(113)

Schon Hans Wollschläger verwies auf die Bedeutung dieses Dialogs, der in offensichtlichem Widerspruch steht zu dem makellosen Mutterbild, das May ansonsten zu vermitteln suchte: »Können wir die Reaktion der Frau, die ihrem Sohn weniger glaubt als dem, was alle Leute sagen, die ihn fort, fort, fort stößt um eines unbewiesenen Verdachtes willen, [...] können wir diese Reaktion mit dem Mutterbild vereinbaren, das May vor uns aufgerichtet hat?«(114) Wollschläger wertet die betreffende Szene als »Deckerinnerung [...], deren innere Wahrheit ganz anderswo zu suchen ist, zu ganz anderer Zeit und unter ganz anderen Umständen«.(115)

Bei der Entschlüsselung der "Deckerinnerung" zieht Wollschläger den folgenden Schluß: Der Dialog erwecke den Eindruck, als verabschiede hier eine Frau ihren heimlichen Geliebten: »Hier spricht nicht eine Mutter zu ihrem Kind, hier spricht eine Frau zu ihrem Geliebten [...].«(116) Weiter folgert Wollschläger, daß Mays Mutter »um die Zeit 1844/45 einen Geliebten gehabt hat, dem sie ihre Liebe schenkte, - und daß das Kind Karl in einem ganz bestimmten, ganz konkreten Augenblick "mit eigenen Ohren" erfuhr, daß die Liebe der einzig geliebten Person nicht ihm allein gehörte«.(117) Daß Wollschläger im Verlauf seiner Arbeit zu dem Ergebnis gelangt, May habe vor allem aufgrund dieser im frühen Kindesalter erlebten Liebesenttäuschung eine narzißtische Charakterhaltung entwickelt, sei der Vollständigkeit halber noch angefügt.

Wollschlägers Interpretation des Dialogs kann hier allerdings nicht in allen Punkten gefolgt werden. Im "Verlorenen Sohn" gibt es


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eine Szene, die eine sehr ähnliche Begebenheit schildert wie der betreffende Dialog der Autobiographie, und auch hier steht eine angebliche Straftat im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, daß dem von Wollschläger ganz vernachlässigten Aspekt des Vorwurfs einer Straftat doch größere Bedeutung eingeräumt werden muß. Auch in der Romanszene erhebt eine Frau, deren Verhältnis zum Beschuldigten eine schützende und verteidigende Haltung erwarten ließe, die Anschuldigung.

Alma von Helfenstein und Gustav Brandt, als Kinder freundschaftlich zusammen aufgewachsen, lieben einander, ohne sich dies allerdings schon eingestanden zu haben. Als der Verdacht des Mordes auf Gustav fällt, steht Alma diesem aber nicht zur Seite, sondern beschuldigt ihn schwerwiegend, und zwar in geradezu engagierter Art und Weise: »Ich darf nicht lügen! Es ist kein Verdacht, es ist die unbestreitbare Gewißheit, daß Du der Thäter bist. Lebe wohl, auf ewig!«(118)

Das Verhalten Almas scheint um so befremdlicher, als sie und Gustav eigentlich ein typisches "Happy-End-Paar" sind und es auch nicht unbedingt dem Muster eines Unterhaltungsromans entspricht, daß eine ansonsten ganz positiv angelegte Frauengestalt nicht "unverbrüchlich" an die Unschuld des Geliebten glaubt. So scheint auch das Durchbrechen konventioneller literarischer Muster darauf hinzuweisen, daß May hier ein persönliches Erlebnis zu verarbeiten suchte.

Die Reaktion Almas ähnelt in ihrer starren Nachdrücklichkeit auffallend der Reaktion der Mutter, so wie May diese wiedergab. Beide Frauen beharren darauf, daß der Delinquent schuldig sei. Tröstende Zuwendung bleibt aus, und schließlich wenden die Frauen sich ab und lassen den Betroffenen allein.

Die Reaktion des Beschuldigten auf dieses Verhalten beschreibt May in beiden Fällen auffallend übereinstimmend. In der Autobiographie berichtet May: Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach dem Kopfe.(119) Ähnlich reagiert Brandt: Gustav hatte sein Auge mit Siegeszuversicht auf sie gerichtet gehabt; jetzt fuhr er zusammen und griff sich mit beiden Händen an die Stirn, als ob ihn dort ein Schlag getroffen habe.(120)

Beschuldigt- und Verlassenwerden durch eine geliebte Person ist


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die übereinstimmende Thematik beider Darstellungen, und das Moment ihrer Wiederholung scheint hinreichend zu belegen, daß es May ganz vordergründig um die Gestaltung und Verarbeitung dieses Erlebnisses ging. Der betreffende Dialog dürfte im Zeitraffer wiedergeben, daß und wie die Mutter (eine Heilige wahrscheinlich nicht zuletzt, weil sie diesen Anspruch implizit selbst erhob) sich von ihrem sehr viel weniger makellosen Sohn distanzierte, diesen fallen ließ.

May war dennoch wohl nicht fähig, das ideale Mutterbild anzutasten, und legte das abweisende Verhalten der Mutter als Stärke im Tragen innerer Lasten aus. Ebenso ist Gustav Brandt in diesem einzigen Fall von Ungerechtigkeit nicht in der Lage zu rächen. Brandt idealisiert Almas Verhalten (so wie May das der Mutter): »Ich zürne ihr nicht, ja, ich würde sie weniger achten können als jetzt, wenn sie anders gesprochen hätte.«(121)

4.  D e r  D i c h t e r

Straftaten und Haft drängten May ins gesellschaftliche Abseits. Sie brachten ihm im persönlichen Bereich verstärkt Einsamkeit, Isolation und Minderwertigkeitsgefühle. Durch die Schriftstellerei schließlich gelang es May, sich nach und nach wieder emporzuarbeiten. Dementsprechend ist der "Verlorene Sohn" auch Bestandsaufnahme der Tagträume Mays vom Dichtertum.

Neben Gustav Brandt, dem Haupt-Helden des Romans, ist die Gestalt des Robert Bertram außerordentlich bedeutsam. In Bertram gestaltet May diejenige Figur, die den Lebensweg des Autors in seinen drei Hauptphasen nachvollzieht: Bertram verbringt die Jugendzeit in ärmlichsten Verhältnissen, gerät in Haft, steigt aber schließlich zum anerkannten Dichter auf.

Bertram, der "schwächer" ist als Brandt und nicht über dessen Machtmittel verfügt, offenbart gerade aus diesem Grunde Trauminhalte Mays, die der persönlichen Realität des Autors näher stehen. Verkörpert Brandt den Traum von Überlegenheit und Macht schlechthin, so gestaltet May in der Figur des Bertram den besonderen Traum vom berühmten Dichter.

Robert, der Sohn des ermordeten Otto von Helfenstein, wurde


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als kleines Kind entführt, wuchs im Waisenhaus und später in der Familie des Schneiders Bertram heran. Robert weiß, daß Bertram nicht sein leiblicher Vater ist, ahnt aber nichts von seiner adligen Abstammung.

Das Motiv des Kindesraubs und der Abstammungsverkennung ist in der unterhaltenden Literatur des 19. Jahrhunderts außerordentlich häufig vertreten. May folgt hier einer gängigen Stereotype. Auch die Entdeckung der wahren Abstammung Roberts entspricht dem gebräuchlichen Muster. Allerdings ergibt sich die Abstammungsaufklärung schon fast automatisch aus Brandts breit angelegter Spürarbeit, ohne einen eigentlichen Handlungsschwerpunkt auszumachen. Auffällig ist, daß die Entdeckung der Herkunft Roberts erst zu einem Zeitpunkt geschieht, als ihm dies für die Entwirrung seiner Lage gar nicht mehr von Nutzen sein kann. May benutzt die Entdeckung der adligen Herkunft nur noch als schmückendes Ornament für die Ausgestaltung des Happy-Ends.

Die verzögerte Abstammungsentdeckung erfüllt aber eine andere, sehr wesentliche Funktion: Roberts zunächst noch unstandesgemäß erscheinende Verbindung mit einer Adligen gibt May ausführlich Gelegenheit, die gesellschaftliche Bedeutung eines anerkannten Dichters darzustellen. So rechnet der Autor zum Beispiel gegeneinander auf, was beide Partner, nämlich der Dichter und die Adlige, an gesellschaftlichem Prestige in die Waagschale zu werfen haben:

Sie war die hochgeborne Tochter der Aristokratie, und er war der Sohn des armen, vor Schreck gestorbenen Schneiders. Die Kluft, welche zwischen Beiden lag, ließ gar keinen Gedanken an irgend welche tiefere Sympathie aufkommen. Aber doch, doch und doch war er nicht nur der Schneiderssohn, nicht nur das arme Kind des Proletariats, sondern er war auch Hadschi Omanah, der Dichter der »Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder.«(122)

Auch die geliebte Fanny sieht in Robert keinen unstandesgemäßen Partner: »Du wirst zum Adel des Geistes zählen und Deine Werke werden Dir Reichthum bringen.«(123)

Die ernsthafte Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Rangs einer Adligen und eines berühmten Dichters macht greifbar, in welchem Maße May sich von der Profession des Dichters gesellschaftlichen Aufstieg erträumte. Auch Robert triumphiert schließ-


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lich, ähnlich wie Brandt, und findet Entschädigung für Armut und Haft. Roberts Machtmittel aber ist die Poesie. Schon sein erster Gedichtband war ein außerordentlicher Erfolg. Unter dem Pseudonym "Hadschi Omanah" ist er bald in der ganzen Residenzstadt berühmt. Macht in der Gesellschaft und über andere Menschen gewinnt Robert durch seine Lyrik, deren Wirkung und Bann sich niemand entziehen kann:

Wie Robert so dastand und ihm die Worte aus dem Munde strömten, war er nicht nur ein Dichter von Gottes Gnaden, sondern ein Redner, welcher seine Bilder mit erschütternder Tragik zeichnete. Aller Augen hingen an ihm und alle Ohren lauschten, damit keins seiner Worte verloren gehen möge. Es war eine Declamation, wie sie noch von Keinem jemals gehört worden war.(124)

Auch dies ist ein Erfüllungsort des Mayschen Tagtraums: In überströmenden Phantasien gestaltet der Autor den triumphalen Erfolg eines Dichters. Grell überzeichnend und bar aller nüchterner Einschätzung realer Möglichkeiten erstrebt hier der Tagtraum nur die "Erfüllung" eines glücklichen Zustands: »Jahrmarkt wie Kolportage [...] bewahren vor allem Seinwollen wie das fehlende Leben, wie buntes Glück. [...] Kolportage [...] ist als Lektüre, was der Marktzauber zum Teil optisch war.«(125)

Daß May der Traum vom Erfolg des Dichters auch in der Realität vor Augen stand, ist kaum zweifelhaft. Noch aus den diversen Äußerungen über das Dichtertum in der Selbstbiographie spricht eher der Überschwang des Tagträumers May, nicht aber ein nüchterner Blick zum Beispiel hinsichtlich der Grenzen, die seinem Schaffen physisch wie psychisch gesetzt waren: Für alle Fälle aber hielt ich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife, ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen [...].(126)

*

Inwieweit Karl May bewußt war, daß die Schriftstellerei eine der wenigen respektablen beruflichen Möglichkeiten war, die ihm überhaupt noch offenstanden, bleibt unklar. In der Autobiographie bezeichnet er das Schreiben als einen Jugendtraum(127), erweckt also den Eindruck, als habe er längerfristig sowieso keine anderen Pläne gehegt.


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Dennoch geht aus Selbstbiographie und Roman deutlich hervor, daß die Schriftstellerei für May von existentieller Bedeutung war, und zwar gerade in Hinsicht auf seine Vorstrafen: Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen Manuskripten bewaffnet.(128)

Im Roman findet sich eine Textstelle ähnlichen Inhalts. Brandt erkundigt sich nach Bertrams Befinden, als dieser aus der Haft entlassen werden soll, und Bertram verweist auf die Gedichte, die währenddessen entstanden sind: »Und Sie fühlen sich wirklich kräftig genug, es wieder mit dem Leben aufzunehmen?« - »Vollständig! Sehen Sie hier diese Papiere, Durchlaucht! Seit einer Woche arbeite ich wieder. Es sind Gedichte.«(129) Formulierungen wie es mit dem Leben aufnehmen und zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand belegen, wie groß May die Schwierigkeiten, die den Haftentlassenen erwarten, einschätzte. In Roman wie Selbstbiographie aber betrachtet der ehemalige Häftling die im Gefängnis entstandene Literatur als geeignete Waffe, um den zu erwartenden Problemen begegnen zu können.

Es liegt auf der Hand, daß die Schriftstellerei May mindestens zweierlei garantieren mußte, um ihn vor einer neuerlichen Straftat zu bewahren: sie mußte ihm einerseits eine materielle Lebensgrundlage schaffen, andererseits aber auch eine Identität, kraft der ihm eine Integration in die Gesellschaft gelingen konnte.

*

Karl May lebte, zumindest zeitweise, in einer selbstgeschaffenen Phantasiewelt. In der Vorstellung gelang es ihm, seine Rolle als Schriftsteller mit der fiktiven Persönlichkeit des Helden "Old Shatterhand" zu verquicken und dieses Bild von sich auch nach außen vor die Öffentlichkeit zu tragen. Die Identifikationsmöglichkeiten, die "Shatterhand", der Schriftsteller und exotischer Held in einer Person ist, anbot, existieren bereits auch schon im "Verlorenen Sohn", sind hier allerdings noch auf zwei Gestalten verteilt, auf Brandt und Bertram.

Will man ein Bild davon gewinnen, auf welchem Wege die Schriftstellerei May zu einer stabileren Identität verhalf, so muß


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Mays Bereitschaft, in Rollen der selbstgeschaffenen Gegenwelt zu schlüpfen, entsprechend berücksichtigt werden.

Heinz Stolte betont in einem Aufsatz Mays Lust an jeglichem Rollenspiel: »Ein Proteus, der sich immerfort zu verwandeln strebt; ein Chamäleon, das in immer anderen Farben zu erscheinen vermag. Dem Rollenspiel hat er sein Leben lang wie ein Süchtiger gefrönt.«(130) Diese Ambition lebt May auf drei verschiedenen Ebenen aus. Zunächst spielt er Rollen in der Realität. So gab er sich, im Jahre 1870 als streunender Landstreicher aufgegriffen und von der Polizei verhört, als der Plantagenbesitzer Albin Wadenbach aus und erfand aus dem Stegreif auch dessen phantastische Lebensgeschichte bis in kleine Details hinein.(131)

Später bietet die Schriftstellerei dem Autor quasi die legitime Möglichkeit, Rollen zu gestalten, in der Imagination zu durchleben und mit der Kraft seiner Phantasie die Erinnerung an die ursprüngliche Rolle als sozialer "outlaw" zurückzudrängen: »Schriftstellern, Erzählen, Phantasieren, das hieß ihm vor allem: Auslöschen, [...] Tabula-rasa-machen mit dem, was gewesen und falsch gewesen war.«(132)

Drittens ist das Rollenspiel in sich auch das Thema der schriftstellerischen Arbeit. Im "Verlorenen Sohn" tritt dies deutlich hervor. Brandt zum Beispiel schlüpft ständig, allerdings unter dem Vorwand kriminalistischer Ermittlungsarbeit, in angenommene Identitäten, wobei May die Requisiten solcher Verwandlungen ausführlichst beschreibt:

Er schlug die Schöße des Ueberrockes ein und zog ihn an, that einen Griff an den Gürtel, und sofort gingen zwei schwarze Hosenbeine nieder, ein schwarzer Bart aus der Tasche mit dem blonden vertauscht, eine blaue Brille aufgesetzt und die Mütze umgewendet - der Schwarze stand vor dem Wirthe. Sogar die Gesichtszüge schienen ganz andere geworden zu sein.(133)

Der Lust Mays an Verkleidungen entspricht die Vorliebe für falsche Namen, Inkognitos, die die Verwandlung einer Person vervollständigen. Bedeutungsträchtige Titel wie etwa "Fürst des Elends" scheint May besonders zu bevorzugen. Daneben weiß Brandt aber auch immer wieder Verwirrung zu stiften, indem er einmal als Polizist Arndt, ein anderes Mal als der exotische Adlige "Fürst von Befour" oder auch nur einfach als Herr Brenner auf-


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taucht. So erweist es sich wieder, daß May, der nach pseudologischer Manier, das heißt unter Vorgabe einer falschen Identität, Betrügereien verübte, diesen "Zug" seiner Persönlichkeit später in die Literatur transponierte, wo er ungestraft täuschen und "betrügen" durfte.

Es ist müßig, an dieser Stelle herausfinden zu wollen, was eher existierte, die Fähigkeit Mays, in angenommene Rollen schlüpfen zu können, oder eine entsprechende äußere Situation, die dazu veranlaßte, durch Träume von einer anderen Identität dem Druck der Tatsachen zu entkommen. Unzweifelbar aber ist, daß May bei entsprechendem Anlaß die Flucht in eine Traumidentität vollzog. Nun stellt sich bei Betrachtung dieses Verwechselspiels von Identitäten wohl die Frage, welche denn nun die eigentliche, eben nicht verwechselbare Identität dieses Autors gewesen sein mag? Zugrundegelegt, daß das subjektive Gefühl, eine Identität zu besitzen, in jedem Fall ein Akzeptieren der eigenen Person, auch dessen, was sie in der Vergangenheit war und tat, voraussetzt, so konnte May zu einer wirklichen Identität eigentlich nicht gelangen, da er stets bemüht war, die "dunklen Punkte" seiner Vergangenheit zu verdrängen. Die Rolle, die May in vorderster Front spielte, war die des Schriftstellers, aber auch diese konnte ihm kaum in dem oben umrissenen Sinne Identität verschaffen, da er seine Vergangenheit nie als Teil seiner Persönlichkeit begreifen, akzeptieren und mit der neu gewonnenen Aufgabe als Schriftsteller verschmelzen konnte.

Der Traum, ein anderer zu sein, bedeutete für Karl May Entlastung und Befreiung wie wahrscheinlich für jeden anderen Menschen auch. Der Fülle der Möglichkeiten, in der Phantasie dieser oder jener sein zu können, steht natürlich die vernunftsmäßige Beschränkung entgegen, tatsächlich nur jene Rolle und Funktion auszuüben, die durch die soziale Ordnung und die individuellen Fähigkeiten angelegt zu sein scheint, »das sich selber bescheidende Einverstandensein mit dem, was man als Glied der Gesellschaft in Staat, Beruf und Familie nun einmal ist«.(134)

Auf diesem Wege konnte May sich allerdings nicht mit seiner Vergangenheit, vor allem nicht mit seinen Haftstrafen, arrangieren. Das, was er nun einmal war, bot ihm anscheinend wenig Anlaß für ein Einverständnis. Ohne die Ergebnisse eines langwierigen Entwicklungsprozesses abzuwarten, gewann May nicht Identität als


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Schriftsteller, sondern er schlüpfte in die Rolle desselben, und jene Rolle, die May spielte, war die des Schriftstellers mit der unbefleckten (weil verdrängten) Vergangenheit. Die Kraft seiner Phantasie oder, wie Bloch es nennt, die »Traumkraft« schuf dem Autor diesen Ausweg und befähigte ihn wohl über ein gewöhnliches Maß hinaus, selbsterschaffene Rollen zu gestalten und konsequent auch gegenüber der Öffentlichkeit mit Leben und Glaubwürdigkeit zu erfüllen.

So ist es nicht verwunderlich, daß der Dichter Robert Bertram unschuldig im Gefängnis einsitzt, denn das Schaffen dieser fiktiven Dichterfigur hatte für May sicherlich auch die Funktion einer Einübung in die Dichterrolle, beziehungsweise so weit er diese bereits innehatte, einer weiteren Bestätigung derselben.

Im "Verlorenen Sohn" findet sich eine für den hier zu erörternden Zusammenhang sehr vielsagende Szene, die gleichnishaft den Rollentausch, durch den der Vorbestrafte verschwand und der Dichter entstand, wiedergibt: Robert Bertram liegt verletzt und ohne Bewußtsein in seiner Gefängniszelle. Der "Fürst von Befour" und andere versuchen, ihn aufzuwecken. Die Bemühungen fruchten nichts. Nun soll die Geliebte Bertrams diesen wieder zu Bewußtsein bringen. Fanny ruft ihn an und nennt wiederholt seinen Namen, aber Robert reagiert nicht. Erst als sie ihn "Hadschi Omanah" nennt, also sein Dichter-Pseudonym benutzt, erwacht Bertram aus seiner Ohnmacht:

Und als auch dieser Ruf ohne Erfolg blieb, da gab ihr der weibliche Scharfsinn einen

Gedanken ein.

»Omanah! Hadschi Omanah!« sagte sie, sich noch weiter zu ihm niederbeugend.

Die Anderen sahen in größter Spannung zu. Und wirklich, er öffnete langsam, langsam die Lider.(135)

Die Anspielungen auf die Lebensgeschichte Mays sind überdeutlich. Robert, der in bitterer Not aufgewachsene Proletarier, liegt ohnmächtig in einer Gefängniszelle. Die Ohnmacht, die nicht weichen will, entspricht den "Dämmerzuständen", in die May seit seiner ersten Verhaftung verfallen war. Das Dichter-Pseudonym aber signalisiert die Chance, jenseits der übermächtigen Vergangenheit einfach mit neuer, unbefleckter Identität wieder auferstehen zu können. Der Wunsch nach Vergessen dieser Vergangenheit


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wird deutlich durch die Weigerung Bertrams, auf seinen ursprünglichen Namen überhaupt noch zu reagieren.

Die Szene hält den Zeitpunkt einer Verwandlung fest. Spontane Verwandlung, nicht aber Entwicklung zu einer gefestigten Identität hin, kennzeichnete auch Mays Dichter-Werden. Die Romanszene offenbart den Traum des Autors von einer restlosen Verwandlung wie im Märchen, die so vollkommen in der Realität natürlich nicht gelingen konnte. Gleichzeitig teilt May durch das Bild des starren, leblosen Bertram auch den eigenen verheerenden Zustand mit, der den Wunsch nach blitzartiger Erlösung bestimmte.

*

Die Rolle des Schriftstellers, die May über Jahre hinweg immerhin eine gewisse innere Stabilität sicherte, wäre ihm versagt geblieben, hätte die schriftstellerische Arbeit ihm nicht gleichzeitig eine materielle Existenzgrundlage verschafft. May widmet sich diesem problematischen Aspekt seines Gewerbes im Roman besonders ausführlich. Das größere Problem ist für den Dichter Bertram nicht die Anerkennung durch das Lesepublikum - er ist im Gegenteil sogar von Anfang an sehr erfolgreich -, sondern die durch seinen Verleger, und zwar in finanzieller Hinsicht. Der Verleger Zimmermann nutzt den schriftstellernden Neuling schamlos aus. Der erste Gedichtband Bertrams bringt dem Verleger hohen Gewinn, der Autor aber wird mit einem Hungerlohn abgespeist.

Es ist recht offensichtlich, daß der Verleger Zimmermann eine Spiegelung von Mays Kolportageverleger Münchmeyer darstellt. May hat sich zwar in seiner Selbstbiographie nicht unmißverständlich darüber ausgelassen, daß er sich von Münchmeyer auch finanziell übervorteilt fühlte, aber aus der Bemerkung Mays, daß Münchmeyer eine ganz ausgesprochene geschäftliche Vorliebe grad für bestrafte Mitarbeiter hatte(136), läßt sich schließen, daß der Verleger versuchte, die soziale Schwäche der Vorbestraften auch entsprechend auszunützen.

Jedenfalls wurde May, wie Hans Wollschläger errechnete, von Münchmeyer sehr schlecht bezahlt. Bei einem Bruttoumsatz von 200 000 Mark entfielen nur 3500 Mark auf den Autor.(137)

Ein weiteres Indiz spricht dafür, daß die Schilderung der Ausbeu-


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tung Bertrams auf Mays Verhältnis zu Münchmeyer anspielt, und zwar der Name des Verlegers im Roman: Zimmermann. Mays Angaben zufolge war Münchmeyer nämlich als Zimmermann tätig gewesen, bevor er den Beruf wechselte: »Er war Zimmergesell gewesen [...] und war dann Kolporteur geworden.«(138) Der "Zimmergesell" wurde für May offensichtlich zu einer Art Etikett, mit dem er den Charakter Münchmeyers zu umschreiben pflegte: Er war Zimmergesell gewesen und innerlich geblieben.(139) Von daher liegt die Vermutung nahe, daß May jene Vokabel wählte, um die Spiegelung des von ihm wenig geachteten Münchmeyer im Roman zu kennzeichnen.(140)

Weitaus schärfer als in der Autobiographie umreißt May im "Verlorenen Sohn" das Problem der materiellen Abhängigkeit eines Autors von seinem Verleger. Dies mag damit zusammenhängen, daß May in der entsprechenden Zeit noch sehr stark mit materieller Unsicherheit zu kämpfen hatte. Während May in der Selbstbiographie schwerpunktmäßig die innere Problematik seines schriftstellerischen Strebens herausstreicht(141) und, wie es scheint, die materielle Seite seiner Tätigkeit fast ganz vergessen hat, thematisiert er im "Verlorenen Sohn" auf höchst sarkastische Art und Weise die Ausbeutungspraxis eines Verlegers, die dieser durch Phrasen zu bemänteln versucht: »Junger Mann, das Genie verkommt im Glück. Nur im Ringen, im Kampfe mit dem Leben erstarkt es und kommt zu Kräften. Ich kenne das; ich habe mit so sehr viel Talenten und Genies zu thun. Wollte ich Ihnen Geld zahlen, so wäre das eine Beleidigung Ihres Genies.«(142)

Die Art der tagträumerischen Korrektur der Ausbeutung legt Zeugnis davon ab, daß May sich durch die schlechte Bezahlung Münchmeyers gedemütigt fühlte. May setzt auch im Falle des ausgenutzten Robert Bertram wieder Brandt als mächtigen Vollstrecker ein, der Gerechtigkeit im Sinne des Autors herzustellen hat: Der Held deckt einen Betrug des Verlegers auf, und zwar so wirkungsvoll, daß die Kunden, die sich zur gleichen Zeit im Geschäft des Verlegers befinden, Zeugen der Auseinandersetzung werden: Solche Worte waren hier noch nie gesprochen worden. Durch sie war, das sah der Buchhändler ein, seinem Geschäfte der Todesstoß versetzt worden, denn sie wurden jedenfalls von allen Anwesenden weiter getragen und hatten sich bereits morgen in der ganzen Resi-


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denz verbreitet.(143) Aus dem emphatischen Ton dieser Textstelle wird einmal mehr deutlich, wie der Autor sich im Rahmen der Kolportage Genugtuung zu verschaffen versucht. Auch hier lebt er in der Phantasie einen exzessiv gesteigerten Sieg durch, der sein Ausmaß nicht zuletzt dadurch gewinnt, daß der Verleger Zimmermann als überaus wohlhabender, arrivierter und vornehmer Geschäftsmann dargestellt wird: Die hohen, breiten Fenster waren mit werthvollen Gemälden und Kupferstichen belegt, und dazwischen erblickte man die hervorragendsten Erzeugnisse der Literatur.(144) Das Bild dieses Verlagsgeschäftes deckt sich wohl kaum mit dem realen Geschäft Münchmeyers. Die Erhöhung aber, die Münchmeyer hier in der Fiktion erfährt, hat wohl die Funktion, den anschließenden Sieg um so triumphaler empfinden zu können: Je tiefer der Sturz des "Prinzipals", desto intensiver kann das Gefühl der Genugtuung ausgekostet werden.

Es sei noch darauf hingewiesen, welch ungeheuren Arbeitsaufwand May für Münchmeyer zu leisten hatte. In knapp fünf Jahren verfaßte der Autor fünf Kolportageromane, von denen jeder, gemessen am Satzspiegel des hier zugrundeliegenden Nachdrucks, über 2 000 Seiten dick war. May mußte das Mißverhältnis zwischen der von ihm geleisteten Arbeit und Münchmeyers Entlohnung hierfür zwangsläufig auch als Degradierung seiner Person empfinden. Die materielle Anerkennung seiner Arbeit war für May in dem hier maßgeblichen Zeitraum ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Bestätigung, die er suchte und brauchte: Er fühlte plötzlich, daß er auch eine Bedeutung habe; es überkam ihn eine Sicherheit, welche er vorher an sich gar nicht gekannt hatte. Er galt Etwas in der grossen Zahl jener Wesen, welche man mit dem Sammelworte Menschheit bezeichnet. Und das, was er galt, war ihm in Guldenscheinen zugemessen worden!(145)

*

Materielles Elend und Gefangenschaft werden im Roman in fast allen Fällen überwunden. Das Dichtertum, welches im realen Leben Mays eine Möglichkeit bot, den vielschichtigen Problemen zu begegnen, wird von störenden Aspekten befreit und dann der Erfüllung zugeführt.


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Diese in der Literatur niedergelegten Wunschträume korrigieren das Schicksal des Autors, indem sie alle Gesetze und Normen der Wirklichkeit spielerisch handhaben können, um sie schließlich ganz zu überschreiten.

Natürlich bietet der Roman keine Ansätze dafür, wie reale Konflikte in der Realität zu lösen wären. Die "Erfüllungsorte" des "Verlorenen Sohns" sind Fluchtorte. Im Eskapismus der Tagträume Mays aber liegt eine Bewegung der Hoffnung, die gegen die Resignation ankämpft und am Bild eines besseren Zustands wenigstens in der Imagination festhält: »Kolportage aber ist [...] offene und ehrliche Entfernung von der Wirklichkeit, die sie gerade deshalb nicht zur unveränderlichen hypostasiert.«(146)

Daß es dem Autor mit dauerhafter Wirkung gelang, sich »Nöte und Kümmernisse [...] von der Seele zu schreiben«(147), ist nicht anzunehmen. Die befreiende Wirkung des Traums bleibt wohl gebunden an dessen Dauer. Die schönen Ziele, die dem Schreibenden durch die Vorstellungskraft greifbar wurden, entschwanden, wenn er sich wieder der Wirklichkeit zuwandte: »[...] er fühlt sich während des Schreibens als Glücklichster der Sterblichen und sinkt, wenn er die Feder fortlegt, dem Knochengespenste des Hungers und des Elends wieder in die Arme.«(148) Nicht von ungefähr hinterließ May ein riesiges Werk. Sein seelisches Wohlbefinden schien gebunden an die Kontinuität des Tagträumens, an kontinuierliche »Arbeit gegen die Lebensangst«.(149)



1 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1973, 172

2 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände. Frankfurt a. M. 1978, Bd. I, 107

3 Bloch (wie Anm. 1), 181

4 Ernst Bloch: Ästhetik des Vor-Scheins. 2 Bände. Hrsg. von Gert Ueding. Frankfurt a. M. 1974, 90

5 Karl May: Der verlor(e)ne Sohn oder Der Fürst des Elends. 6 Bände. Hildesheim-New York 1970-72 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1883-85), Bd. l, 103. Vgl. auch Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, 69

6 Karl May: Mein Leben und Streben. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim-New York 1975 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Freiburg i. Br. 1910), 170

7 Ebd. 132

8 Ebd. 130

9 Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. Frankfurt a. M. 1977, 24

10 Bloch (wie Anm. 4), Bd. 1, 88

11 May: Verl. Sohn (wie Anm. 5), Bd. 1, 253

12 Bloch (wie Anm. 1), 169


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13 Vgl. May: Verl. Sohn, Bd. 1, 90

14 Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil, in: Jb-KMG 1972/73, 234

15 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 89 f

16 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 90

17 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 86

18 Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" ... 2. Teil. In: Jb-KMG 1975

19 Hoffmann (wie Anm. 14), 233 f.

20 Vgl. May (wie Anm. 6), 169

21 Ebd. 167 f

22 Vgl. Schmiedt (wie Anm. 5), 35

23 Ebd. 34

24 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 95

25 Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat. May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 121 f.

26 Schmiedt (wie Anm. 5), 32

27 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb-KMG 1975, 32

28 May: Verl. Sohn, Bd. 6, 2409 f.

29 Der Sieg steht aber durchaus im Einklang mit der Gesinnung des weisen und gütigen Königs des Landes, der abgehoben von den turbulenten Romanereignissen waltete und von Anfang an von Brandts Unschuld überzeugt war. Der König, der an der Spitze des fiktiven Romanstaates steht, gleicht einem "guten Märchenkönig" und ist sowohl den Intrigen der Schurkenbande als auch den Fehlern seiner Administration gegenüber anscheinend machtlos.

30 Bloch (wie Anm. 4), Bd. 1, 88

31 May: Verl. Sohn, Bd. 6, 2410

32 May (wie Anm. 6), 96 f.

33 Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73, 11 ff.

34 Ebd. 52

35 May (wie Anm. 6), 125

36 Wollschläger (wie Anm. 33), 52

37 Schmiedt (wie Anm. 5), 68

38 Autorenkollektiv: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1848/49. Berlin (Ost) 1973, 23

39 Vgl. Fischer Weltgeschichte, Bd. 26: Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848. Frankfurt a. M. 1977, 230

40 Autorenkollektiv (wie Anm. 38), 23

41 Vgl. Fischer Weltgeschichte (wie Anm. 39), 231

42 Friedrich Engels: Vorwort [zur zweiten, durchgesehenen Auflage "Zur Wohnungsfrage"]. In: Marx/Engels Werke, Bd. 21. Berlin (Ost) 1972, 330

43 Ebd. 329

44 Ebd. 331

45 Karl August Wittvogel: Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Von ihren Anfängen bis zur Schwelle der großen Revolution. O. O. u. J. ( = Wissenschaft und Gesellschaft, Bd. 2), 233

46 Ab 1846 kamen allerdings noch die Hebammen-Einkünfte der Mutter hinzu.

47 Vgl. May (wie Anm. 6), 40

48 Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, Bd. 2: 1870-1914. Hrsg. von Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka. München 1974, 263

49 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 14


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50 Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt a. M. 1973, 123

51 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt a. M. 1969, 13

52 Wollschläger (wie Anm. 49), 16

53 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 161

54 Bloch (wie Anm. 1), 171

55 Ueding (wie Anm. 50), 132

56 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 530 ff., 545 ff., 554 ff.

57 May (wie Anm. 6), 39

58 Plaul (in: May, wie Anm. 6), 346

59 May (wie Anm. 6), 82

60 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 495 f.

61 Ebd. 530

62 Schmidt (wie Anm. 51), 13

63 Deutsche Sozialgeschichte (wie Anm. 48), 262

64 May (wie Anm. 6), 39

65 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 501

66 Ebd. Bd. 2, 800 und Bd. 6, 2083

67 Ebd. Bd. 2, 564 f.

68 Deutsche Sozialgeschichte (wie Anm. 48), 249

69 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 155

70 May (wie Anm. 6), 19

71 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 799; vgl. auch Arno Schmidt (wie Anm. 51), 13

72 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 482

73 Fischer Weltgeschichte (wie Anm. 39), 259

74 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 795 und 798

75 Vgl. Deutsche Sozialgeschichte (wie Anm. 48), 254 f.

76 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 104 ff.

77 Ebd. 119

78 Ebd. 154

79 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt a. M. 1970, 347

80 Bloch (wie Anm. 1), 178

81 Ueding (wie Anm. 50), 125

82 Ebd. 126

83 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 958

84 Ueding (wie Anm. 50), 124

85 Volker Klotz: Woher, woran und wodurch rührt "Der verlorene Sohn"? Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman. In: Jb-KMG 1978, 107

86 Vgl. unten S. 114 ff.

87 Eingabe Mays an Untersuchungsrichter Larrass von 1908, abgedruckt in: Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Berlin-Charlottenburg (1910), 88 ff (89 f.)

88 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 344

89 May: Verl. Sohn, Bd. 3, 1127. Zwei Druckfehler (vertauschte Buchstaben) wurden bei der Zitierung korrigiert.

90 Volker Klotz (wie Anm. 85), 108

91 Vgl. May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 106 ff.

92 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt a. M. 1969 (Fischer-TB), 13

93 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 106

94 Ebd. 109

95 Ebd. 110

96 Ebd. 119

97 Wie Anm. 92

98 Vgl. Wollschläger (wie Anm. 49), 22. In einer seiner Amerika-Reiseerzählungen


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läßt May sich darüber aus, daß der Ehrgeiz vieler Väter den Söhnen eine Berufswahl aufzwingt, die ihren Neigungen und Anlagen nicht entspricht: Die Folgen bleiben niemals aus; die Enttäuschung läßt nicht auf sich warten, und wenn man zehn Menschen in die berühmte Klage vom »verfehlten Leben« einstimmen hört, so kann man getrost behaupten, daß acht oder neun von ihnen Söhne solcher Väter sind. (May: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, Ges. Reiseerzählungen XXIV, 347).

99 Vgl. May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 53 f.

100 Ebd. 97

101 Ebd. 105

102 Ebd. 135

103 Helmut Schmiedt (wie Anm. 5), 73

104 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 33 f.

105 Ebd. 289

106 Ebd. 284

107 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 119: Denn f ür mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann.

108 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 498. Eduard Hauser begeht den Holzdiebstahl schließlich aus Gewissensgründen doch nicht.

109 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 160 f.

110 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 68

111 Ebd. 99 ff.

112 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 9

113 Ebd. 166 f.

114 Hans Wollschläger (wie Anm. 33), 22 f.

115 Ebd. 23

116 Ebd. 31

117 Ebd.

118 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 33

119 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 167

120 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 33

121 Ebd. 67

122 Ebd. 350

123 Ebd. Bd. 6, 2179

124 Ebd. Bd. 1, 453

125 Ernst Bloch (wie Anm. 1), 177

126 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 150

127 Ebd. 110

128 Ebd. 153

129 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 447

130 Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978, 37 ff (48)

131 Heinz Stolte (wie Anm. 130), 37 ff.

132 Ebd. 39

133 May: Verl. Sohn, Bd. 2, 601; vgl. auch u. a. ebd., 514 f., 557 und 879 f

134 Heinz Stolte (wie Anm. 130), 45

135 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 417

136 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 237

137 Hans Wollschläger (wie Anm. 49), 62

138 May: Mein Leben und Streben (wie Anm. 6), 175 - Vgl. M-KMG Nr. 9. S. 30 ff., wo Hartmut Kühne zum erstenmal auf die Gleichung Münchmeyer/Zimmermann hinweist.

139 May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin, 2. Fassung vom 3. 12. 1911 (Privatdruck), zitiert nach Wollschläger (wie Anm. 49), 63

140 Vgl. auch Schmiedt (wie Anm. 5), 74

141 Vgl. Mein Leben und Streben, 208 ff.


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142 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 123

143 Ebd. 416

144 Ebd. 123

145 Ebd. 450

146 Gert Ueding (wie Anm. 50), 148

147 Otto Forst-Battaglia: Karl May. Ein Leben, ein Traum. Zürich-Leipzig-Wien 1931, 48

148 May: Verl. Sohn, Bd. 1, 142

149 Ernst Bloch (wie Anm. 2), Bd. 1, 1


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