(Aus: Z. Škreb / U. Baur (Hg.): Erzählgattungen der Trivialliteratur. Innsbruck 1984. S.125-148.)
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Harald Fricke

WIE TRIVIAL SIND WIEDERHOLUNGEN?

Probleme der Gattungszuordnung
von Karl Mays Reiseerzählungen


Das befremdlichste aller literarischen Fänomene...
Arno Schmidt(1)


   "Nicht gefördert haben möchte er [sc. der Verfasser Hans Wollschläger] freilich eine Richtung, die May in letzter Zeit besonders starke Stücke ihres Interesses zuzuwenden begonnen hat. Daß es sich bei der sogenannten Trivialliteraturforschung, die ihn jetzt in toto für sich reklamiert, durchaus viel weniger um ein Erkenntnisinstrument als um eine bloße akademische Sportart handelt, bestimmt einzig, sich selber zu pflegen, - das auszusprechen ist dem Autor, der gerade die Multivalenz der Erscheinung May sichtbar machen wollte, ein starkes Bedürfnis auch auf das Risiko hin, daß er damit einer mächtig vorüberradelnden Mode in die Speichen greift."(2) Man sieht: die Literaturwissenschaft hat es nicht leicht mit Karl May. Erst hatte sie diesen der Untersuchung so sehr bedürftigen Gegenstand 50 Jahre lang völlig ignoriert; nun hat sich im Zuge der allgemeinen Gegenstandserweiterung des Faches unter dem Etikett "Trivialliteratur" eine Forschungsnische aufgetan, in der Karl May endlich literaturwissenschaftlich behandelt werden kann und auch behandelt wird - und gleich muß diese Forschungsrichtung wieder harte Worte einstecken, noch dazu aus einem so kompetenten Munde wie dem von Hans Wollschläger.

   Was also soll die Literaturwissenschaft mit Karl May machen? Ihn unerschrocken vor solcher Kritik in der trivialliterarischen Dépendance weiterbehandeln? Ihn doch lieber gleich ins Allerheiligste der Literaturgeschichte hinaufheben, empor ins Reich der dichtenden Edelmenschen? Oder soll sie ihn als ein nicht ganz geheures Objekt doch besser wieder ignorieren und ihn anderen überlassen - den pädagogisch besorgten Jugendbuchforschern etwa oder der durchaus ehrbaren Karl-May-Gesellschaft, die ihrem Autor von psychologischen, kriminologischen, soziologischen bis hin zu philosophisch-theologischen Abhandlungen (es gibt sogar eine medizinische Dissertation über Karl May(3)) vielfältige Forschungsenergien widmet und dabei doch trotz gegenteiliger Beteuerungen eine hagiographische Grundtendenz nicht verheimlichen kann?

   Vielleicht ist es zur Klärung dieser Fragen dienlich, wenn man sich zunächst aller wertenden Stellungnahmen über ,Trivialität' oder ,Klassizität' Karl Mays enthält und erst einmal sachlich untersucht, um was für eine Gattung von Literatur es sich hier eigentlich handelt. Wenn ich diese Frage im folgenden stelle, so nicht in bezug auf die zuletzt besonders häufig traktierten(4) fünf frühen Kolportageromane und auch nicht auf die eigentümlichen Spätwerke Mays, die mit ihren demonstrativen Allegorisierungen und ihrem Vers-Prosa-Konglomerat unüberhörbar hochliterarische Ansprüche anmelden und immerhin selbst dem hellsichtigen Spötter Arno Schmidt Respekt abnöti-


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gen(5). Vielmehr will ich mich hier gerade mit den ,typischen' Werken Mays befassen, nämlich mit den pseudo-autobiographischen ,Reiseerzählungen' in der Ich-Form, und dabei exemplarisch wiederum mit einem der meistgelesenen und besonders charakteristischen: mit dem Old Surehand.

   Die Konzentration auf Gattungsprobleme impliziert nun allerdings den Verzicht auf eine Reihe anderer Fragestellungen, die in der bisherigen Diskussion über Wert oder Trivialität Mays eine dominierende Rolle gespielt haben. So muß ich es mir hier gänzlich versagen, auf Ernst Blochs Spuren mit beliebig dehnbaren inhaltlichen Kategorien wie "Utopie", "Tagtraum" oder "Vorschein besseren Lebens" den Standort Mays zwischen trivial-affirmativem ,Kitsch' und untrivial-revolutionärer ,Kolportage' zu eruieren(6); und auch die dieser ,innenpolitischen' entsprechende ,außenpolitische' Debatte über Mays pazifistischen Antiimperialismus oder aber kämpferischen Panteutonismus muß ich vernachlässigen(7). Ebensowenig interessiert mich in diesem Zusammenhang, daß der katholisierende Protestant May von beiden konfessionellen Seiten wegen unreiner Gangart in Glaubensfragen attackiert worden ist (ein ziemlich abschreckendes Beispiel kirchlicher Vereinsmeierei); und schon gar nicht will ich mich in jenen absonderlichen wissenschaftlichen Streit zwischen ,Männerarsch'(8) und ,Mutterbrust'(9) einmischen, der um die richtige psychoanalytische Diagnose von Karl Mays Landschaftsbeschreibungen entbrannt ist. Statt dessen beschränke ich mich auf das klassische literaturwissenschaftliche Verfahren, für dessen Anwendung auf Karl May noch ein beträchtlicher Nachholbedarf besteht: erst einmal den Text genau zu lesen und vor allem zu prüfen, ob das, was da allgemein gelesen wird, überhaupt der richtige Text ist.

   Denn wie sich mittlerweile ja zumindest in Fachkreisen herumgesprochen hat, stellt die vom eigens dafür gegründeten Karl-May-Verlag unter Mißbrauch seiner langjährigen Monopolrechte vertriebene Werkausgabe einen verlegerischen Skandal dar, der jedenfalls in diesem Jahrhundert ohne Beispiel ist. Unter Berufung auf angebliche und zumindest willkürlich ausgelegte testamentarische Bestimmungen Mays, aber entgegen seinen zu Lebzeiten abgegebenen unmißverständlichen Erklärungen(10), hat diese Firma die Originaltexte im vermeintlichen kommerziellen Interesse von 1913 bis heute immer mehr verändert; dabei hat sie sie durch radikale Kürzungen, Änderungen von Handlung und Personen sowie durch (kaum einen Satz ungeschoren lassende) sprachliche Verschlimmbesserungen in dem Maße verfälscht, daß sich anhand dieser Ausgaben kaum noch etwas Zutreffendes oder gar wissenschaftlich Verläßliches über Karl May ermitteln läßt. Nichtsdestoweniger haben sich, da die originalen Fehsenfeld-Bände der ,Freiburger Ausgabe' (1892-1910) antiquarisch schwer zu haben und selbst in wissenschaftlichen Bibliotheken der ,Trivialität' des Objekts wegen in der Regel nicht greifbar waren, viele fachliche Publikationen (das Wort "wissenschaftlich" möchte ich in diesem Zusammenhang vermeiden) allein auf die bearbeitete ,Radebeuler' (1913-45) bzw. ,Bamberger Ausgabe' (1961-?) gestützt, bis hin zu zwei literaturkundlichen Dissertationen(11) (ein in anderen Fällen an deutschen Universitäten kaum vorstellbarer Vorgang - man denke sich einmal einen Altphilologen, der über Homer promoviert und ihn dabei nur aus Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums kennt!). Erst seit 1978 gibt es - nach einzelnen Reprints, nach verschiedenen Anläufen und nach Überwindung offenbar erheblicher rechtlicher Schwierigkeiten (es kann nach unserer Rechtsordnung erlaubt sein, alte Texte zu verfälschen, und verboten, sie wieder im Urtext zugänglich zu machen) - nun endlich wieder eine fast vollständige und zwar


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nicht historisch-kritische, aber für die meisten Zwecke dem Original ausreichend genau entsprechende Werkausgabe(12), so daß jetzt auch eine breitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Karl May möglich wird.

   Von besonderer Bedeutung ist dieser Sachverhalt für den Old Surehand. Denn dieser dreibändige Roman ist über 60 Jahre lang nur in der zweibändigen Bearbeitung des Karl-May-Verlages im Handel gewesen, die trotz Bezeichnungen wie "Ungekürzte Volksausgabe"(13) den originalen Text um insgesamt fast ein Drittel gekürzt und den verbliebenen Rest durch (nach Stichprobenzählungen) etwa 15 sprachliche Eingriffe pro Druckseite ,verderbt' hat. Im Detail reichen diese willkürlichen Änderungen vom unmotivierten Umtaufen vieler Personen(14) über eine Reihe besserwisserischer Verballhornungen(15) bis zur ahnungsvollen Tilgung diverser Küsse (meist unter Männern) und ähnlicher Belege für Arno Schmidts ,Elbogensche Hypothese'(16); im ganzen lassen sie sich der groben Tendenz nach zusammenfassen als der Versuch, ,Überflüssiges', vermeintlich ,Abseitiges', ,nicht zur Sache Gehöriges' oder scheinbar ,bloß Wiederholtes' auszumerzen ("tunlichst von Fremdkörpern, Weitschweifigkeiten und Unstimmigkeiten befreit"(17) nennt man das in Bamberg).

   Meine im folgenden zu belegende These lautet nun: diese editorischen Eingriffe haben den Old Surehand nicht nur irgendwie verändert, sondern in seiner wesentlichen Struktur entstellt - und dies aufgrund einer falschen Gattungserwartung. Denn die Bearbeiter haben den Originaltext offenbar als einen nicht ganz gelungenen Abenteuerroman aufgefaßt, dem man durch Korrektur oder Streichung des Gattungsfremden helfen müsse, 'zu sich selbst zu kommen'. So wurde dann schließlich in der Tat ein beinahe reinrassiger Abenteuerroman daraus (und als Vertreter der Gattung "Abenteuerroman" ist Karl May denn auch ursprünglich in diesen Sammelband geraten - eine kleine Hinterlist der Vernunft).

   So ganz schief liegt die Abenteuer-These natürlich auch wieder nicht: grundlegende Elemente des Abenteuerromans spielen unbestritten auch bei Karl May eine wichtige Rolle. Denn will man der Gefahr entgehen, mit leider üblicher terminologischer Unschärfe jede etwas längere Erzählung mit ,spannenden' Aktionen gleich als Abenteuerroman zu bezeichnen, so wird man als wesentliches Merkmal der Gattung eine das ganze Werk durchziehende Folge gefahrvoller Ereignisse, die ,Aventiurekette', ansehen können(18). Von der Odyssee über die meisten Artusepen und die Amadisromane bis zu Burroughs Tarzan-Bänden bleibt das Grundschema stets gleich: ein einzelner, gelegentlich von (ihm freilich niemals gleichrangigen) Gefährten begleiteter Held gerät in immer neue bedrohliche Situationen, von denen die Spielregel der Gattung verlangt, daß sie wenigstens teilweise lebensgefährlich sein müssen und dabei doch jedenfalls von der Hauptperson glücklich überstanden werden: mögen auch seine Gefährten ihr Leben lassen - der Held stirbt im Bett oder am Schreibtisch.

   Um möglichst viele und möglichst verschiedenartige der stets von außen andringenden Abenteuer zu ermöglichen, findet das Ganze in der Regel auf einer (freiwilligen oder unfreiwilligen) Reise statt: zu Fuß vom Peloponnes nach Athen (wie Theseus), auf gepanzertem Pferd durchs gefahrenwimmelnde Artusland (wie die Ritter der Tafelrunde), mit dem Flugzeug über Berge und Wüsten (wie die Helden Saint-Exupérys) oder mit den verschiedensten Fahrzeugen in 80 Tagen um die Erde (wie Phileas Fogg). Dominierend als abenteuerspendendes Fortbewegungsmittel aber ist von den Argonauten und Sindbad dem Seefahrer bis zu Herman Melville und Joseph Conrad das


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Schiff; das hängt mit der historisch dauerhaften (und sachlich naheliegenden) Symbiose von exotischem und Abenteuerroman zusammen, die sich in Herzog Ernsts orientalischen Erlebnissen vor Kreuzzugshintergrund ebenso verwirklicht wie in den Indianerromanen der Cooper, Ferry, Sealsfield, Gerstäcker und Möllhausen und wie noch in der Science Fiction der Gegenwart, die angesichts einer geographisch restlos erfaßten und für Abenteuer alter Schule kaum noch ergiebigen Erde ihre Abenteuer in ,extraterrestrischer' Exotik stattfinden läßt.

   Jedes einzelne Glied der Aventiurekette hat dabei dieselbe typische Struktur: plötzliches Auftauchen einer Gefahr (Spannungsaufbau) - aktives Bekämpfen der Gefahr (Spannungshöhepunkt) - Überwinden der Gefahr (Entspannung). Die Quellen der tödlichen Gefahren lassen sich fast durchweg auf drei Grundmotive reduzieren: Naturgewalten, wilde Tiere und böse Feinde. Diese Feinde erscheinen zur Erhöhung des Wagnisses zumeist als der ,Papierform' nach übermächtig: durch Überzahl (die Standardsituation in der germanischen Heldenepik), durch Körpergröße und rohe Kraft (der Kyklop Polyphem ist nur der erste in einer langen Reihe gattungsspezifischer Riesen, und auch einäugige Bösewichte folgen ihm noch in erklecklicher Zahl), durch körperliche Ausstattung (die mädchenräubernden Kranichmänner im Herzog Ernst etwa setzen außer ihren Waffen auch noch ihre tödlich zustoßenden Schnäbel ein), durch magische Kräfte (z. B. des Zauberers Arcalaus im Amadis) oder einfach durch überlegene Waffen (der spießbewehrte Parzival vor dem hochgerüsteten Ither - vielleicht die klarste all dieser Ausprägungen der Konstellation von David und Goliath). Mythische Übermacht ist auch beim Kampf mit wilden Tieren im Spiel, von der neunköpfigen Hydra und den eisengefiederten Harpyen der Antike über die Drachen und Greifen des Mittelalters bis zu den mutierten Rieseninsekten, Monstern und Grubenhunden in der Horror-Abteilung des Science Fiction-Romans; und selbst in der Kategorie realistischer Abenteuergeschichten, in denen wir noch ans Biologiebuch glauben dürfen und uns mit Coopers Bären, Kiplings Tigern und Jack Londons Wölfen bescheiden müssen, begegnet uns ein geheimnisvoller weißer Wal, dessen anthropomorphe Individualisierung sich schon in dem sehr menschlichen Namen Moby Dick andeutet(19). Dagegen ist in der literarhistorischen Entwicklung bedrohlicher Naturgewalten die Entmythologisierung der Abenteuerwelt deutlich abzulesen: hat Odysseus noch mit den widrigen Stürmen des Windgottes Aiolos persönlich und mit dem von Poseidon selbst vor Zorn aufgewühlten Meer zu kämpfen, und haben auch die Argonauten mit den zusammenschellenden Symplegaden und Herzog Ernst (wie schon Sindbad) mit dem Magnetberg übernatürliche Hindernisse zu überwinden, so reduziert sich das in der Neuzeit auf eine Unzahl ganz natürlicher Schiffbrüche (mit obligater Robinsonade) sowie auf Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wüstensand und Packeis (im 20. Jahrhundert besonders bei Hammond Innes); im Science Fiction-Roman schließlich werden diese Ereignisse dann vollends von nach Art einer Naturkatastrophe eintretenden technischen Defekten abgelöst.

   Es fällt nicht schwer, die solcherart charakterisierten Grundelemente des Abenteuerromans in der Fabel des Old Surehand wiederzufinden. Der Held ist ebenso da wie die vielgliedrige Aventiurekette: Old Shatterhand reist mit wechselnden Gefährten durch Wüsten und Berge Nordamerikas, kämpft gegen verschiedene Indianerstämme und weiße Schurken, besiegt zahlenmäßig weit überlegene Feinde durch List und bewaffnete Gegner allein durch seinen betäubenden Fausthieb. Dabei muß er nicht nur seine


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Gefährten zu wiederholten Malen aus der Gefangenschaft befreien, sondern wird auch selbst mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen, gefangengenommen und mit dem Tode bedroht; akuter noch wird die Lebensgefahr durch drei Gewehrattentate auf den Helden, von denen er zweimal um Haaresbreite verschont bleibt und das dritte Mal nur am Bein verwundet wird. Auch an Tierabenteuern fehlt es nicht: Old Shatterhand zähmt wilde Indianerpferde und erlegt mit seiner Jagdgesellschaft vier Grizzlybären, darunter (zwecks ritterlicher Waffengleichheit) nur mit dem Messer einen uralten und riesigen "Koloß", den "König der grauen Bären", der sich als zählebig wie Rasputin erweist und dessen mythisches Wesen durch Namen wie "Vater Ephraim" und "sohlengängerischer Adonis" (alle Zitate III 324) noch hervorgehoben wird. Dagegen sind die lebensbedrohenden Naturgewalten im Gegensatz zu anderen Werken Mays im Old Surehand relativ schwach vertreten; sie beschränken sich auf einen zu durchschwimmenden See und eine zu durchreitende Wüste (den unvermaydlichen "Llano estacado"), auf einen Wirbelsturm in einer Binnenerzählung und auf männermordend herabstürzende Felsen am Schluß (in den beiden letzten Fällen allerdings handelt es sich, in jüdisch-christlicher Füllung des antiken Musters, nicht um blinde Naturkatastrophen, sondern um Werkzeuge Gottes, der dabei unverkennbar seine Hand im Spiele hat). Die bösen Feinde allerdings sind hier besonders böse; vor allem der ,General' Dan Etters (dem freilich kein Auge fehlt, dafür aber zwei Zähne) scheint so ziemlich alle Paragraphen des Strafgesetzbuches durchprobiert zu haben, und sein Komplize Thibaut ist zwar kein richtiger Zauberer mehr, wird aber doch für einen "großen Zauberer gehalten" (III 83 sowie I 397), weil er als "Taschenspieler", "Juggler" und "Escamoteur" angeblich "nicht nur unvergleichlich, sondern geradezu unerreichbar" ist, dadurch bei den Weißen den Ehrentitel "the king of the conjurers" erhält und später zum ob seiner magischen Kräfte gefürchteten Medizinmann der Comanchen wird (alle Belege III 83-85). Dafür finden die Bösen dann aber auch ausnahmslos ihre gerechte Strafe: der ,General' und der zu Old Shatterhands Todfeinden übergelaufene Old Wabble durch eine Art unmittelbaren Gottesgerichts, Thibaut und der brutale Toby Spencer durch förmliches Gottesurteil im - nein, nicht im Tjost, aber im rituellen Zweikampf mit Schmiedehämmern bzw. Gewehren.

   Es kann also kein Zweifel bestehen, daß May die Gattungstradition des Abenteuerromans bis in Einzelheiten hinein aufgenommen hat. Zweifel sind hingegen anzumelden, ob dabei wirklich ein Abenteuerroman im traditionellen Sinne herausgekommen ist. Erste Unterschiede zeigen sich schon, wenn man näher untersucht, wie und wodurch die einzelnen Abenteuer miteinander verbunden sind. Was im Abenteuerroman die Glieder zur Aventiurekette zusammenschließt, ist in der Regel das Ziel der Reise bzw. der Kampfserie: Odysseus will (wie später Robinson) zurück in seine alte Heimat, Äneas sucht eine neue Heimat; Jason muß das Goldene Vlies aus Kolchis holen, um sein königliches Erbe antreten zu können; der Artusritter will seine oder der Tafelrunde ritterliche Reputation zurückgewinnen(20) und Phileas Fogg sein verwettetes Vermögen; Michael Strogoff muß durch seine Nachricht nach Irkutsk das Zarenreich vor dem Untergang retten und die Batmans, Supermans und Barbarellas meist gleich die ganze Erde. Fast immer ist dabei Liebe im Spiel, die als treibendes Moment die Fabel in Gang hält und für ihren Zusammenhalt sorgt: die treue eheliche Liebe des Odysseus zu Penelope (standhaft trotz mancher erotischen Anfechtungen durch Sirenengesang, Becircung, Kalypso und Nausikaa); die erst glücklich geschlossene, bald aber kriseln-


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de und schließlich durch Aventiuren wieder gekittete Ehe von Erec und Enite wie von Iwein und Laudine; die unproblematische, doch abenteuerzeugende Liebe zwischen Amadis und Oriane oder zwischen Chingachgook und Wah-ta-Wah; die unglückliche Liebe der Dido zu Äneas und die zunächst glückliche Liebe Medeas zu Jason mit ihrem sehr griechisch-schrecklichen Ende.

   Bei Karl May liegen die Dinge anders. Zunächst einmal gibt es hier keine Liebesgeschichten (den möglichen Gründen dafür nachzugehen, muß ich mir in diesem Zusammenhang versagen). Es gibt aber auch kein übergreifendes Ziel, das von vornherein feststünde und so die abenteuerliche Reiseroute bestimmte. An die Stelle von Liebe und Endziel tritt im "Old Surehand" (und fast immer bei Karl May) ein einheitsstiftendes Moment anderer Art: ein dunkles Rätsel und seine allmähliche Lösung. Denn jedes neue Abenteuer macht den Helden mit geheimnisumwitterten Personen oder unerklärlichen Ereignissen bekannt, die auf irgendeine düstere Vergangenheit hindeuten und, so wird bald erkennbar, alle irgendwie miteinander in Zusammenhang stehen müssen. Zunächst lernt Old Shatterhand als Gefangenen der Comanchen den verschlossenen Westman Old Surehand kennen, der auf der Suche nach Unbekanntem und Unsagbarem einsam durch den Wilden Westen streift. Bei der Befreiung seines alten Negerfreundes ,Massa Bob' begegnet dem Helden die wahnsinnige Indianerin Tibo-wete-elen mit ihren mysteriösen Fragen nach ihrem "Wawa Derrick" und einem "myrtle-wreath". Ihr Sohn, der edle Comanchenhäuptling Apanatschka, begegnet Old Shatterhand dann im Llano estacado und sieht seinem Zweikampfgegner Old Surehand merkwürdig ähnlich. Sein Vater Tibo-taka, Medizinmann der Comanchen und ein verdächtig auskunftscheuer, dunkler Ehrenmann, gehört zu den Indianern, die den Oasensiedler Bloody-Fox überfallen wollen und dabei von dessen Freunden Winnetou und Old Shatterhand gefangengenommen werden. Deren unersetzliche Gewehre werden bald darauf von einem angeblichen ,General' gestohlen, der ein zwielichtiges Interesse an Old Surehand hat und den von diesem lang gesuchten Dan Etters zu kennen scheint. Bei den 50 Hieben, die er als Strafe für den Gewehrdiebstahl erhält, gleitet dem ,General' ein Ring mit mysteriöser Inschrift vom Finger. Der Bankier Wallace, bei dem der ,General' einen gestohlenen Scheck einlöst, scheint in Old Surehands Geheimnis eingeweiht oder sogar verstrickt zu sein, gibt es aber nicht preis. Der Osagenhäuptling Schahko Matto, als Verbündeter des abtrünnigen Old Wabble gefangengenommen, hat eine alte Rechnung mit Tibo-taka und einem weißen Offizier, der teils dem unbekannten Dan Etters und teils dem bekannten ,General' ähnelt. Der Farmer Harbour, in dessen Haus Old Shatterhand beinahe erschossen wird, berichtet vom Verschwinden des christlichen Indianerpriesters Padre Diterico und seiner beiden Schwestern; in den Bergen hat er später das Felsengrab des Padre gefunden, auf dem die aus dem Ring des ,Generals' bekannten Initialen "E.B." wiederkehren und auf dem Harbour von einem unsichtbaren Helfer vom Hungertode errettet wurde. In ebendiesen Bergen begegnet den Abenteurern schließlich der geisterhafte, zwischen Mann und Frau, Alt und Jung, Rot und Weiß, Tod und Leben stehende Indianer Kolma Puschi, das letzte und größte unter allen diesen Rätseln. Obwohl Old Shatterhand durch seine Kombinationsgabe allmählich immer mehr Licht ins Dunkel bringt, werden die mindestens 13 einzelnen Geheimnisse erst auf der 1272. von 1273 Seiten, mit den falschen Zähnen des beim letzten Abenteuer tödlich abgestürzten ,Generals', endgültig und zusammenhängend aufgeklärt: der ,General' selbst ist Dan Etters, der zusammen mit


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Thibaut Schahko Mattos Stamm beraubt, den Padre Diterico (=Wawa Derrick) ermordet und dessen Schwestern (Kolma Puschi und Tibo-wete-elen) unschuldig in Zuchthaus und Wahnsinn gestürzt hat. Kolma Puschi (=Tehua= Emily Bender), der der Ring mit den Initialen "E.B." gehört, die das Grab ihres Bruders angelegt und unsichtbar ihrem alten Freund Harbour das Leben gerettet hat, ist die Mutter der beiden unerkannt befreundeten Mestizenbrüder: Apanatschkas, der bei seiner Tante Tokbela (=Tibo-wete-elen=Ellen Thibaut) als Indianer aufwuchs, und Old Surehands, der von seinem Pflegevater Wallace, dem einstigen Gefängniswärter und Fluchthelfer seiner Mutter, als Weißer erzogen und zur Suche nach den Mördern seiner Angehörigen angehalten wurde.

   So wird die vorwärtsgerichtete Abenteuerhandlung des Romans von der rückwärtsgewandten Aufklärungshandlung überlagert - und dadurch zugleich grundlegend verändert. Denn in der klassischen Aventiurekette steht jedes einzelne Abenteuer für sich und hat - nicht im Sinne Arno Schmidts, sondern Clemens Lugowskis(21) - seine "Motivation von hinten', ist also isoliert auf das Ziel der Gesamthandlung und nicht auch auf die anderen Abenteuer bezogen. Das hat zur Folge (und zum Kriterium für den analysierenden Literaturwissenschafter), daß man ohne Schaden für die Gesamtstruktur jedes einzelne Abenteuer auch weglassen (bzw. überlesen), durch ein anderes ersetzen und vor allem die Reihenfolge der Aventiuren in einer Kette nahezu beliebig vertauschen kann. (Testfrage: welcher Leser kann ohne Nachschlagen die Reihenfolge der einzelnen ,Irrfahrten des Odysseus' überhaupt noch angeben?) Bei Karl May dagegen hat jedes Abenteuer zugleich seinen genau fixierten zeitlichen und funktionalen Wert für die fortschreitende Aufklärung des Rätselkomplexes: jedes Abenteuer bringt neue Geheimnisse hervor und damit neue Schlüssel zur Lösung - und jedes dieser Indizien wiederum beeinflußt über kurz oder lang den weiteren Verlauf der Aventiurekette.

   Die lineare Handlungsstruktur des reinen Abenteuerromans wird also in eine stufenartig aufsteigende umgeformt - und mehr noch: das der Aufklärungshandlung zugrundeliegende Prinzip von Rätsel und Lösung ergreift bei Karl May sogar die Abenteuerhandlung selbst und verwandelt sie sich nachhaltig an. Denn der eigentliche Lebenszweck aller Abenteuerliteratur, die ausführliche und mitreißende Schilderung spannender Kampfhandlungen und gefährlicher Situationen im Sinne filmischer ,action', kommt im Old Surehand kaum noch vor. Muß Old Shatterhand wider Willen einmal Gewalt anwenden, so tut er dies in der Regel mit Hilfe seines Jagdhiebes höchst human: er verabreicht eine schmerzlose und nebenwirkungsfreie Vollnarkose, die ob ihrer klinischen Perfektion jeden modernen Anästhesisten vor Neid erblassen machen müßte. Meist aber kommt es gar nicht dazu: die Methode des rationalen Kombinierens beherrscht nämlich nicht nur die Ebene der Geheimnisaufdeckung durch nachträgliche Rekonstruktion des vor langer Zeit Geschehenen, sondern auch die Ebene des Abenteuers durch vorausschauende Konstruktion des kommenden Geschehens: die Feinde werden nicht durch überlegene Kampfkraft niedergerungen, sondern immer und immer wieder belauscht, in eine Falle gelockt, umzingelt, argumentativ zur Kapitulation gebracht und gefangengenommen - kurz: sie werden mit geistigen Mitteln besiegt, nämlich durch richtige Hypothesen über die erwartbaren Handlungen des Gegners aufgrund aufmerksam gesammelter und sorgfältig durchdachter Indizien. Deshalb dienen die zahllosen Fälle von Spurenlesen, von Anschleichen und Belau-


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schen auch nicht einer vermeintlichen Handlungsspannung, sondern der vom Autor wohldosierten Informationsvermittlung für den am intellektuellen Spiel beteiligten Leser.

   Daß das genannte Prinzip von Rätsel und Lösung Karl Mays Erzählweise vom Gesamtverlauf bis in die Mikrostrukturen hinein bestimmt, läßt sich allein schon an den ersten vier Seiten des Old Surehand erkennen. Old Shatterhand will sich mit Winnetou treffen, aber am verabredeten Ort "war weder Winnetou noch eine Spur von ihm zu sehen" (I 8). Dieser Umstand, bei dem preußischen Apachen zunächst ein Rätsel, löst Überlegungen aus, die in der Vermutung enden: gewiß war Winnetou schon da und hat ein Zeichen hinterlassen - "und richtig!" Die postlagernde Sendung steckt im Baum und ruft Old Shatterhand zu Bloody-Fox. Auf dem Ritt dorthin entdeckt er Pferdespuren - und zu seiner "Verwunderung, daß die Pferde beschlagen gewesen waren; die Reiter hatten also nicht der roten Rasse angehört. Wer waren sie, und was wollten sie hier?" (I 9 f.) Die Auflösung dieses Rebus läßt nur zwei Zeilen auf sich warten: "Ich betrachtete die Stelle genau und erkannte zur linken Seite seiner Fußspuren mehrere kurze, messerrückenschmale Einritzungen. Wovon? Hatte dieser Reiter einen Säbel getragen? Dann hatte ich Soldaten, Kavalleristen, vor mir. War etwa Militär gegen die Comanchen ausgerückt, um sie für die erwähnten Raubzüge zu züchtigen? Auf die Beantwortung dieser Frage höchst gespannt" ist freilich nur noch Old Shatterhand; der Leser hingegen weiß ja schon von den drei vorigen Buchseiten her, daß er sich auf die genialische induktive Logik des Erzähler-Helden verlassen kann. Dieses Modell des syntaktischen Schemas von Frage und Antwort und des semantischen Schemas von Rätsel und Lösung bestimmt dann beinahe Seite für Seite den gesamten Roman - und zwar nicht nur in den (meist als erinnerter innerer Monolog vorgebrachten) Erzählermitteilungen, sondern ebenso in den quantitativ weit überwiegenden Dialogen. So wird aus der äußerlich handelnden Aventiure das Abenteuer der Erkenntnis von Verborgenem. Selbst wilde Tiere und Naturgewalten, die physisch elementarsten Gefahrenquellen des Abenteuerromans, werden bei Karl May eher zu Denksportaufgaben: indianische Mustangs überlistet Old Shatterhand durch Maskerade und Kräuterduft, Bären lockt er unter geodätisch und beschleunigungsphysikalisch abgezirkelten Maßnahmen in den tödlichen Hinterhalt, und die Schrecken der Wüste nutzt er durch genaue Ortskenntnis im Kampf gegen menschliche Feinde sogar noch zu seinen Gunsten aus. Die strukturelle Botschaft dieses Erzählens kann bei einem Kind des frühpositivistischen Zeitalters nicht überraschen: die Welt ist erkennbar, und Wissen ist Macht.

   Die These liegt nahe, May habe hier statt eines Abenteuer- einen Detektivroman geschrieben. Und in der Tat ist es frappierend zu sehen, wie sehr auf den Old Surehand paßt, was Zdenko Škreb als das Grundschema des Detektivromans ermittelt hat: "Ein rätselhaftes Ereignis, das teils tiefe Besorgnis, teils würgende Angst, zumeist aber lähmendes Grauen auslöst, wird durch die den Durchschnitt weit überragende Denktätigkeit eines häufig als Sonderling geschilderten Menschen, der zumeist Detektiv ist, völlig aufgeklärt, worauf die Betroffenen von Besorgnis, Angst, Grauen erlöst und befreit werden."(22) Über den unverkennbaren Analogien darf man freilich die Unterschiede nicht übersehen: die Aufdeckungsleistung des Kriminalromans ist rein technisch, nicht moralisch; der Detektiv sucht den Verbrecher, nicht die Schuld. Das Rätsel des Old Surehand dagegen lautet weniger "Whodunit?" als "Who's who?": Die Täter sind zu-


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mindest den Betroffenen längst bekannt, aber erst Old Shatterhand entdeckt verborgene Identitäten, sühnt geheime Schuld und enthüllt geheime Unschuld und ermöglicht so die Restitution der familiären wie der rechtlichen Ordnung. Karl May wird hier also nicht zum Mitbegründer des gleichzeitig entstehenden Detektivromans, sondern zum Erben älterer Traditionen: zum einen des analytischen Dramas vom König Ödipus (auch strukturell genial parodiert in Kleists Zerbrochnem Krug) über den für May so bedeutsamen Nathan den Weisen(23) bis zum Käthchen von Heilbronn, zum anderen des englischen "Gothic novel" und des Geheimnisromans der deutschen Romantik (Goethes von den Romantikern in Haßliebe der eigenen Richtung zugerechneter Wilhelm Meister, Brentanos Godwi, Jean Pauls Titan, Novalis' Ofterdingen, viele Erzählwerke Eichendorffs und E.T.A. Hoffmanns samt ihren ungezählten Nachfolgern im trivialen Schauerroman). Etwas vorschnell und unscharf sind der König Ödipus durch Ernst Bloch(24) und Das Fräulein von Scuderi durch Richard Alewyn(25) zu direkten Vorläufern des modernen Detektivromans erklärt worden: besser sollte man mit Dietrich Weber(26) von einem allgemeinen Typus der ,analytischen Erzählung' sprechen, für den der Detektivroman ein Spezialfall ist, ein anderer Spezialfall aber der Schauerroman und die bei Karl May ermittelte Art der Geheimnisenthüllung.

   So wäre der Old Surehand also das Resultat einer Gattungsmischung von Abenteuerroman und analytischer Erzählung? Nicht nur das: es handelt sich um ein Konglomerat aus einer ganzen Reihe tradierter literarischer Gattungen. Neben Abenteuerroman und analytischer Erzählung (oder meinetwegen: Detektivroman) wären hier wenigstens noch zu nennen: Bekehrungsgeschichte, ,Geographische Predigt' (s. u.), allegorische Erzählung und Humoreske. Die auffälligste dieser synkretistisch verbundenen Gattungsebenen ist sicher die der Bekehrungsgeschichte. Religiöse Streitgespräche durchziehen den gesamten Roman und bereiten so die am Ende stehende Bekehrung des zynischen Gotteslästerers Old Wabble zu einem christlichen Sterben und des zweifelnden Gottsuchers Old Surehand zu einem christlichen Leben vor. Über den religiösen Inhalt dieses Handlungselements hat der Literaturwissenschafter nicht zu urteilen; ihm obliegt allein die Feststellung, daß May hier nicht nur strukturell und explizit(27) das für sein Leben und Schaffen so zentrale Motiv des verlorenen Sohnes aufnimmt, sondern daß die an Old Wabble vollzogene "Wunderbare Umwandlung eines Greises durch plötzliche Bekehrung"(28) durch die Läuterung gerade eines besonders hartnäckigen Sünders und Christenfeindes genau dem Gattungsschema folgt, das nach dem Vorbild der sprichwörtlichen Wandlung des Saulus zu Paulus und der Legenden um Kaiser Konstantin oder Gregorius zahllose Traktate und biographische Beispielerzählungen(29) besonders des Pietismus(30) und der neupietistischen Erweckungsbewegung(31)' bestimmte und mit dem Karl May aus seiner Jugendzeit bestens vertraut war.(32)

   Nicht nur, aber doch auch von dieser zeitgenössischen Traktätchen-Literatur beeinflußt ist ein anderes Element der Mayschen Gattungsmischung, das ich mit seinem eigenen Ausdruck als "Geographische Predigt" bezeichnen will. Unter diesem Titel hatte der junge Redakteur May 1875/76 eine Reihe erbaulicher, aus Faktenwissen, Literatur und Christentum zusammengeschweißter Aufsätze veröffentlicht: Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Tal, Wald und Feld, Mensch und Tier, Strom und Straße, Stadt und Land, Haus und Hof(33). Die Tradition solcher frei assoziierenden Betrachtungen von Kosmos, Landschaft, Fauna und Flora als Spiegelungen menschlicher Lebensverhältnisse ist natürlich viel älter und hat von den Bucolica und Georgica Vergils


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über die großen lehrhaften Naturgedichte des englischen 18. Jahrhunderts (etwa Popes, Dyers oder Thomsons) bis zu den ausladenden Landschaftsmetaphern Celans ihr Residuum vornehmlich in der lyrischen Dichtung gehabt. Karl May fügt nun auch in den Old Surehand allerorten solche Geographischen Predigten ein, für die sich häufig Titel ganz nach seinem eigenen Muster anbieten: "Wüste und Straße" (I 103f.), "Wüste und Weltall" (I 265-267), "Meer und Prärie" (II 81 - 83), "Weiße und Wilde" (III 7 bis 9), "Himmel und Erde" (III 39f.), "Berg und Tal" (III 263f.), "Engel und Mensch" (III 119-124), "Mensch und Tier" (III 330f.). Nach dem Muster seiner eigenen Frühschriften dieses Typs führt er dabei einen der Homilie zugrundeliegenden biblischen Text entweder wörtlich an (in der "Berg und Tal"-Predigt übernimmt er III 264 sogar haargenau das Motto seines gleichnamigen Aufsatzes, Psalm 121, 1(34)), oder er läßt sich leicht erschließen: Wenn etwa in der "Mensch und Tier"-Predigt die "Büffelleichenfelder" und die "halb vermoderten Schädel" verstorbener Westmänner als Mahnmale irdischer Vergänglichkeit zusammengestellt werden (III 330f.), dann ist dies unverkennbar angelehnt an Prediger Salomo 3, 19: "Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch." May hat diesen erzählerischen Rückgriff auf die frühen "Geographischen Predigten" später sogar programmatisch erklärt: "Schon der Titel besagt, was ich damals wollte und auch heute noch will: Geographie und Predigten! Kenntnis der Erde und ihrer Bewohner und Aufschau nach einer lichteren Welt! Dieser Anfang meiner literarischen Laufbahn bildete die Grundlage für meinen späteren Werdegang; die ,Geographischen Predigten' enthalten die Leitgedanken zu meinen sämtlichen Werken, die ich in der Folge treulich beibehalten habe."(35)

   In dieser Äußerung Mays ist zugleich schon die Möglichkeit angedeutet, Werke wie den Old Surehand auch im ganzen als eine große 'Geographische Predigt', als eine epische Allegorie aufzufassen. Gegen Ende seines Lebens hat May diese Selbstinterpretation mit Nachdruck vertreten: "Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag"(36), nämlich: "Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und an einem amerikanischen."(37) Natürlich ist dies eine mit Vorsicht zu genießende, nachträgliche Selbststilisierung, die May aus dem Blickwinkel seiner eindeutig allegorischen Spätwerke vornimmt; aber während etwa Volker Klotz Mays ethisches Programm bis ins Alterswerk hinein "mehr als dramaturgische Funktion denn als ,Botschaft"' interpretiert(38), muß man bei genauerer Betrachtung des Old Surehand doch immerhin soviel konzedieren, daß die wesentlichen Handlungsstrukturen und Personenbeziehungen eine allegorische Deutung in Mays Sinne überraschend gut zulassen: Wie viele andere und besonders die letzten Romane zeichnet auch der in der Wüste beginnende und auf Berggipfeln endende Old Surehand den Weg vom Tiefland (,Ardistan') ins Hochland (,Dschinnistan'), von rätselvoller Verwirrung zu vollendeter Klarheit, vom atheistischen Dunkel ins christliche Licht.

   Aufgrund der bisherigen Darlegung müßte jemand, der Karl May nicht aufgrund eigener Lektüre kennt, unvermeidlich annehmen, es handle sich da um eine todernste und tiefsinnstriefende Angelegenheit. Jeder May-Leser weiß, daß davon keine Rede sein kann: gerade seine Reiseerzählungen sind über weite Strecken durch komische Elemente, durch Gattungsmerkmale der Humoreske bestimmt. Das Spektrum des Ko-


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mischen reicht dabei von sächsischer Klamotte à la Hobble-Frank und Tante Droll über solche zwar derben, aber in ihrer gelungenen Skurrilität entwaffnend witzigen Karikaturen eines Sir David Lindsay oder Doktor Morgenstern (im Vermächtnis des Inka, mit seinem unbezahlbar trockenen, proletarischen Sancho-Pansa-Ersatz Fritze Kiesewetter) bis hin zu der subtilen rhetorischen Komik der Religionsgespräche zwischen Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Im allgemeinen gilt dabei übrigens die alte Ständeklausel: Während auf der heroischen Ebene fast nur Häuptlinge, Scheiks und Stammesfürsten agieren (und selbst die Schurken noch als ,General' oder ,king of the conjurers' auftreten), gehört das komische Personal in der Regel den niederen Chargen an (etwa als Diener oder als hierarchisch untergeordneter Reisegefährte). Die große Ausnahme ist hier der Hauptheld selbst: Old Shatterhand bewegt sich souverän auf beiden Ebenen. Im Old Surehand etwa ist er Blutsbruder Winnetous und Seelengefährte Old Surehands ebenso wie kräftig mitwitzelnder Freund der humoristischen Figuren Dick Hammerdull, Pitt Holbers und Massa Bob. Dem Karl-May-Verlag allerdings wird diese Fallhöhe zwischen Erhabenem und Ulkigem häufig zu groß: er streicht einfach Stellen wie Old Shatterhands Jugenderlebnis bei einem Leipziger Friseur (der ihn an seinem "dichten Urwald von Haaren" schmerzlos in die Höhe zieht, II 425), seinen Gedanken an einen verwacklungsfrei arbeitenden Fotografen des Zweikampfes Old Surehand-Apanatschka (I 383) oder seine sächselnde Bierruhe inmitten feindlicher Cheyennes, "als ob sie alle ,Wurst und Schnuppe' für mich seien" (III 131). Die Bearbeiter haben offenbar gar nicht bemerkt, daß dieser Held selbst seine gefährlichsten Abenteuer immer wieder durch listig-lustige Verstellungen nach Art des Schelmenromans besteht: Old Shatterhand hat nicht nur die heroischen, sondern auch die picaresken Abenteuerhelden beerbt.

   In all diesen literarischen Gattungen hat sich Karl May auch einzeln erprobt, vor allem in seinen früheren Texten(39). Wie gelingt es ihm nun, im Old Surehand so viele und vor allem so verschiedenartige Genres wie Abenteuerroman und Geographische Predigt, Bekehrungsgeschichte und Humoreske, analytische und allegorische Erzählung zu integrieren? Die erste Antwort muß lauten: durch Einbeziehung einer weiteren Gattung, nämlich der Autobiographie. Er gibt dies alles ganz unverfroren als lautere Wahrheit aus dem Leben des Radebeuler Schriftstellers Carl Friedrich May aus; und die Autorität dieses erzähltaktisch raffiniert gestützten Wahrheitsanspruchs vermag selbst heterogenste Elemente zusammenzuhalten.(40) Wenn irgendwo, dann liegt hier auch die eigentliche literarische Innovation Mays: Aus so vielen traditionellen Einzelquellen sein heldischer Ich-Erzähler auch schöpfen mag, in dieser allumfassenden Vereinigung von Ratio und Sentiment, Körperlichem und Geistigem, Weltlichem und Geistlichem, Heroischem und Komischem, Übermenschlichem und Allzumenschlichem, von Wahrheit, Fiktion und Lüge ist er ohne eigentlichen Vorgänger oder Nachfolger.

   Bekanntlich hat Karl May diese mit großer erzählerischer Überzeugungskraft aufrechterhaltene Fiktion der Nichtfiktionalität jahrelang in sein bürgerliches Leben hinein zu verlängern versucht, bis die Legende durch die publizistische Bloßstellung der wahren Vergangenheit des Zuchthäuslers May brutal zerstört wurde. Das hat die Bearbeiter des Karl-May-Verlages bewogen, nun auch aus den Werken die Indizien der Gleichsetzung Old Shatterhand/Kara ben Nemsi = Karl May großenteils zu tilgen. Schon die für die Rezeptionssteuerung so wichtige Leseranrede in der Einleitung (3.


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Satz!) wird gestrichen: "Alle meine Leser kennen ihn [d. h. Winnetou], den edelsten der Indianer; sie wissen, wie ich [d. h. der zu seinen Lesern sprechende Schriftsteller May] mit ihm bekannt geworden bin`' (I 7; vgl. KMTb I 5). Entsprechend entfallen später Mitteilungen wie die, daß May-Shatterhand die philosophischen Werke seiner Bibliothek noch heute sehr schone (I 273: KMTb I 212), daß seine Leser ihm häufig dieselben Vorwürfe machten wie früher seine Gefährten (III 7: KMTb II 36), daß er sich noch heute über eine damalige Unachtsamkeit ärgere (III 140: KMTb II 126), sowie das schon erwähnte Jugenderlebnis beim Friseur in Leipzig. Vor allem aber fehlt jene Schlüsselstelle, an der May mit bemerkenswerter Chuzpe auf die Gewehre in seiner Radebeuler "Villa Shatterhand" und auf die berüchtigten "Bilder von mir, unter denen es welche mit der Bezeichnung ,Old Shatterhand' mit ,Winnetous Silberbüchse' gibt", zu sprechen kommt (III 255: KMTb II 199). Hier wie an anderen Stellen benutzt May seine Reiseerzählungen zwischenzeitlich sogar ganz ungeniert als Schwarzes Brett für seine Leser: Es werde noch weitere Bände über die Hauptpersonen geben (III 432), man möge denen aber nicht durch briefliche und mündliche Anfragen vorgreifen wollen (III 255), ihm auch unberechtigte Vorwürfe (III 7) und Hinweise auf angebliche Widersprüche ersparen (III 255); sein Schutzengel-Gedicht sei ein Jugendwerk, für das er um Schonung bitte (III 123; gekappt in KMTb II 115); von Besuchern sei mehr Rücksicht auf seine kostbare Zeit zu nehmen (III 255), und vor allem möge ihn das resp. Publikum nicht dauernd anpumpen, "Howgh!" (III 358). So skurril solche Einschübe im einzelnen auch sein mögen - im ganzen spielt die pseudoautobiographische Fiktion eine zu entscheidende Rolle für die epische Integration, als daß diese Fälschung Mays nun ihrerseits wieder editorisch verfälscht werden dürfte.

   Daneben tritt nun ein zweites Integrationsmoment, das man zugleich wohl als das fundamentale Strukturprinzip des Old Surehand (und von Mays Werk überhaupt) ansehen kann; die Wiederholung. Wenn trotz der radikalen Heterogenität der Bestandteile dennoch kein Element isoliert oder dysfunktional wirkt, so deswegen, weil jedes Element in vielfacher Abwandlung wiederholt und auf den verschiedensten Ebenen gespiegelt wird. Am deutlichsten wird das natürlich bei den immer und immer wiederkehrenden Grundmotiven Mays: dem Anschleichen und Belauschen, dem Gefangennehmen und Befreien, dem Eintreffen von Vorahnungen und dem Aufdecken von Fälschungen. Das Motiv der Fälschung etwa beherrscht nicht nur die Geheimnis-Ebene des Romans (Falschmünzerei, falsche Zähne, falscher Zauber, gefälschte Schuldbeweise, falsche Namen; Kolma Puschi als falscher Mann), sondern kehrt auch auf der Abenteuer-Ebene wieder (in sich erneut gedoppelt: als listige Verstellung Old Shatterhands und als Hinterlist des heimlich bewaffneten Nale-Masiuv bei Friedensverhandlungen mit den Comanchen) und wird auf der Ebene der Humoreske komisch imitiert (Old Shatterhand gibt sich aus purer Schalkhaftigkeit als weltfremder Gräbersucher oder als taubstummer Schauspieler aus; Pitt und Dick parodieren mit ihrem vorgetäuschten Goldschatz, an dessen Stelle sie ein Spottgedicht vergraben, die lebensrettende Gold-List Winnetous). Wie die Fälschungen dürften auch die manisch wiederholten Gefangenschaften und Befreiungen bei einem einst wegen Betrugsdelikten strafgefangenen Autor unter anderem(41) biographisch motiviert sein: wenn ich nichts übersehen habe, wird in den drei Bänden 32mal jemand gefangengenommen und 14mal durch List oder Gewalt wieder befreit (in den übrigen Fällen aus Milde freigelassen). Beinahe schon jenseits des Zählbaren bewegt sich das Anschleichen und Be-


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lauschen, dessen Wiederholungsstruktur einmal sogar noch durch eine punktuelle Verdoppelung pointiert wird: Zwei Parteien belauschen sich gegenseitig derart, daß die Belauschenden sich als Belauschte wissen (II 122f.).

   Bei der mysteriösen Ähnlichkeit der Ereignisse auf Fenners und dann auf Harbours Farm wird der Wiederholungscharakter sogar ausdrücklich hervorgehoben: In beiden Fällen wird Old Shatterhand durchs Fenster beschossen und verfehlt, worauf dann noch ein Indianerüberfall folgt - genau wie dies angesichts der äußeren Ähnlichkeit der Farmen vom Helden befürchtet worden war (dessen warnendes Daimonion dem des Sokrates verdächtig ähnlich sieht). Dies hängt mit einem weiteren Grundzug des Romans zusammen, mit dem Eintreffen von Flüchen und Ahnungen und Visionen und Prophezeiungen - einer festen Struktureigenschaft dieser fiktiven Welt, die sich in derselben Häufigkeit wie bei May höchstens noch in der dramatischen italienischen Oper des 19. Jahrhunderts findet(42). Am markantesten zeigt sie sich im Geschick Old Wabbles, dessen Tod ihm nicht nur von seinem späteren Mörder, dem ,General', zugeschworen (I 428), sondern auch von Old Shatterhand gleich dreimal in allen Einzelheiten prophezeit wird (I 270, II 431, III 152); und daß Winnetou zu Recht in Old Wabble einen "Sterbenden" ahnt (III 38), erweist sich bald in einer eindrucksvollen Reihe vorbotenhafter Leidensstationen: Old Wabble verliert im (Fege-?)Feuer sein langes weißes Haar (III 163), bricht sich stürzend den Arm zwischen den gestohlenen Gewehren Old Shatterhands und bleibt zuerst scheintot liegen (III 201 f.), sieht durch das Wundfieber bald darauf wie ein "Gerippe" samt "Totenkopf" aus (III 366), bevor er dann wirklich einen qualvollen, aber seelenrettenden Tod stirbt (III 375-385).

   Aber auch kleinere Motive werden häufig wiederholt - etwa das der auffallenden Ähnlichkeit (noch über später aufgeklärter Familienbande hinaus: Tibo-wete-elen ähnelt Old Surehand (I 175), dieser wiederum Apanatschka (I 382); derselbe sieht Winnetou ähnlich (I 359), der später von Old Shatterhand beinahe mit Kolma Puschi verwechselt wird (III 143), welche(r) wiederum ihn für seinen Vater Intschu tschuna hält (III 144); und sie alle haben ihr Gegenbild in Old Wabble mit seinen ebenso langen, aber weißen Haaren (I 140 explizit mit Winnetou und Old Surehand verglichen). Bemerkenswert oft kommen auch Gefängnis- und Gerichtsszenen vor - als dunkle Vergangenheit (III 388f., III 405f), als Abenteuer (I 52ff., I 306ff., III 66-71, III 273 ff., III 282, III 421 f.), als Predigt (III 7ff., III 238f.) und natürlich wieder als Spiegelung in der Humoreske (in Dicks Zuchthaus-Witz, III 82, ebenso wie in Pitts Jugenderinnerungen an seine prügelnde Tante, die die Prügelstrafe für den ,General' und die ,Rowdies' konterkarieren, II 406 u.ö.). Eine nur auf den ersten Blick triviale Wiederholung erfährt der Trick, Indianer durch Raub ihres kultischen Medizinbeutels zur Kapitulation zu zwingen: nachdem Old Shatterhand dieses Verfahren dreimal erfolgreich angewendet hat (I 251, I 326, I 372ff.), bedient sich auch Winnetou desselben (III 134f.); obwohl er selbst noch die traditionelle Medizin am Hals trägt (I 216), erweist er sich so als dem indianischen Aberglauben schon entwachsen und auf dem Weg zu seiner eigenen Bekehrungsgeschichte (in Winnetou III), wie er ja auch zu Old Wabbles religiöser Läuterung schon durch Mitbeten beiträgt (III 384). Wenn in dieser Sterbeszene Old Shatterhand scheinbar spontan die Rolle des fehlenden Priesters übernimmt und dem reuigen Old Wabble seine Sünden vergibt ("Geht also heim in Frieden! . . . Eure Sünden bleiben hier zurück", III 385), dann ist auch dies durch wiederholte Andeutungen längst vorbereitet worden: Schon ein seinen Mord an gefangenen Comanchen be-


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reuender Apache erbittet und erhält von Old Shatterhand Vergebung seiner Tat (I 157); als der fromme Westmann in der Sprache der Bergpredigt Old Wabble zurechtweist ("Ihr sagt, daß . .. ich aber sage Euch", I 270), bezeichnet dieser ihn abschätzig (aber unwidersprochen) als "Hirten, der seine Schäflein weidet", wie vorher schon als "besserer Pfarrer und Kanzelredner" (164). Und nachdem er auch an Old Surehand seelsorgerische Aufgaben erfüllt hat, möchte dieser ihm (wie einem katholischen Priester) "die Hände dankbar küssen" (III 277 - wie vieles dergleichen nur im Originaltext zu finden(43)).

   Und durch das Prinzip der Wiederholung sind nun auch die zahlreichen Binnenerzählungen in den Roman integriert, die ich bisher noch ausgeklammert hatte. In den seit 1913 erschienenen zweibändigen Ausgaben des "Old Surehand" kommen freilich die sechs längsten dieser 14 Binnenerzählungen gar nicht mehr vor - nämlich all die Geschichten, die im originalen zweiten Band in Mutter Thicks Gasthaus erzählt werden. Da Karl May hier (wie auch sonst) einige seiner frühen Erzählungen in nur oberflächlich überarbeiteter Fassung(44) noch einmal verwertet, kann sich in diesem Fall die Streichungspolitik des Karl-May-Verlages sogar einmal auf das Urteil Arno Schmidts und einer Publikation aus der Karl-May-Gesellschaft berufen(45). Mit dem Hinweis auf die ökonomisch motivierte Wiederverwertung hat man sich offenbar der Mühe enthoben gefühlt, auch nur die nächstliegenden Fragen genauer zu prüfen: nämlich welche der vielen in Frage kommenden Erzählungen May denn für den Kontext des Old Surehand ausgewählt und in welcher Weise er sie in die Handlung eingefügt hat.

   Mays Schachzug ist ein ganz einfacher - und zugleich von höchster Raffinesse: er legt die Erzählung verschiedenen Gästen bei Mutter Thick in den Mund und läßt sie dann inhaltlich, literarisch und vor allem ihrem Wahrheitsgehalt nach kritisieren - teils wechselseitig durch die Sprecher und Zuhörer, teils durch den inkognito lauschenden Old Shatterhand und teils durch Kommentare des Ich-Erzählers. Durch diese explizite Kritik schiebt er aber die Verantwortung für die Blutrünstigkeit der Geschehnisse, für manche literarische Schlampigkeit und für besonders grobe Unwahrscheinlichkeiten von sich weg(46) - und läßt zugleich die von ihm selbst erzählte Haupthandlung durch Kontrastwirkung im hellstmöglichen Licht erscheinen. Denn wer in der Lage ist, andere Wildwestgeschichten als bloßes Westmannslatein zu entlarven, gelegentlich auch gönnerhaft als der Wahrheit "ähnlich" zu bestätigen (z. B. II 125) oder aber aufgrund besseren Wissens zu korrigieren, der bringt damit unmißverständlich einen nichtfiktionalen Wahrheitsanspruch ins Spiel und etabliert zugleich sich selbst als höchste und einzige Instanz dieser Tatsachenfeststellung. So wird selbst aus den Binnenerzählungen ein wichtiger Trumpf in Mays Strategie der Beglaubigung des Erzählten als autobiographischer Wahrheit.

   Darüber hinaus hat May die Binnenerzählungen aber auch so ausgewählt, daß sie durch eine Vielzahl von Wiederholungen, von Spiegelungen und Parallelen, Äquivalenzen und Korrespondenzen mit der Haupthandlung verknüpft sind. Wegen der Vielfalt der Fabeln kann ich hier nur kurz die wichtigsten Übereinstimmungen in den Personen, Motiven und Strukturen andeuten. Zunächst kommen in den Binnenerzählungen immer wieder auch die Helden der Haupthandlung vor: Old Shatterhand und Winnetou spielen überall eine Rolle, Old Surehand, Pitt und Dick jedenfalls gelegentlich; der Detektiv Treskow, mitbeteiligter Erzähler der Geschichte vom Schwarzen Kapitän und der Miss Admiral, ist auf dienstlicher Suche nach den Hauptschurken Etters


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und Thibaut, die in den Binnenerzählungen zwar nicht selbst, aber in Gestalt eindeutiger Stellvertreter vorkommen: dem mörderischen Taschenspieler und falschen Medizinmann Thibaut entspricht der Serienmörder Kanada-Bill, ein betrügerischer Kartenkünstler und falscher Arzt; der von seiner dunklen Vergangenheit gejagte Rollins hat genau wie Etters (alias Raller!) einst seinen Schwager aus Goldgier ermordet und findet schließlich wie jener am Ort der Tat seinen verdienten Tod durch (einmal von "Gott", III 430, einmal vom "gerechten Manitou", II 166, gelenkte) Naturgewalten - von einem Baum zerquetscht wie Old Wabble, mit dem er auch die letzte Beichte und den gnädigen Tod teilt. Hierher gehören auch zwei weitere eingeschobene Bekehrungsgeschichten: die in der Schutzengel-Predigt als Predigtmärlein angeführte Sinneswandlung eines agnostischen deutschen Gelehrten durch wunderbare Errettung beim Bergabsturz (III 120-122) und die sehr ad hoc eingefügte Episode mit dem Comanchenjüngling Schiba-bigk, den Old Shatterhand erfolgreich zu christlichem Denken erzieht. Der als Mann auftretende und Männer niederschlagenden Miss Admiral entspricht in der Haupthandlung die androgyne Kolma Puschi, die den um ihre Gunst werbenden Häuptling Tusahga Saritsch im Kampf bezwingt (III 407; Brunhild läßt schön grüßen!) - und auf der komischen Ebene die Erörterung einer möglichen Geschlechtsumwandlung Pitts und seiner Heirat mit Dick(47). Ein ähnliches Satyrspiel erfährt auch das in Haupthandlung und Binnenerzählungen mehrfach repetierte Motiv familiärer Anagnorisis, wenn Pitt endlich seine langgesuchten Ziehbrüder Joel und Hosea Holbers wiederfindet - leider als moralisch verkommene Tramps, so daß er auch bei ihnen seinen lästigen Reichtum wieder nicht loswerden kann.

   Vor allem aber wiederholen sich in den Binnenerzählungen die Grundstrukturen des ganzen Romans: alle Rätsel werden schließlich gelöst, die dunkle Vergangenheit wird aufgehellt, Fälschungen werden entlarvt und verborgene Identitäten erwiesen, alte Schuld wird aufgedeckt und gesühnt; beim Zusammentreffen von Rot und Weiß erweisen sich nicht die Indianer, sondern stets Weiße als die eigentlichen Schurken (wie in der Haupthandlung, so als explizites ,fabula docet' aller Gasthauserzählungen: II 81, II 168, II 170, II 285; ähnlich dann III 8, III 21, III 88, III 224); und für die Helden gehen selbst die gefährlichsten Abenteuer schließlich gut aus. Durch diese spiegelnde Vorwegnahme der Gesamtkonstruktion werden die Binnenerzählungen zu strukturellen Vorausdeutungen: sie halten die vorwärtsdrängende Haupthandlung als spannungsstauende Elemente auf und geben zugleich doch dem Leser kleine Winke, wie es mit ihr weiter - und ausgehen wird. Besonders deutlich wird dieses Moment an den drei Binnenerzählungen auf den ersten 30 Seiten des Romans, die als mikrokosmische Antizipation der kaum noch angelaufenen Haupthandlung vorangestellt werden: Das alte Rätsel des geheimnisvollen ,Mistake Cañon' wird gelöst; das Schuldgefühl des von seiner Vergangenheit gequälten Josua Hawley, der dort einst irrtümlich einen Freund erschossen hatte, besänftigt Old Shatterhand in erfolgreicher Seelsorge durch seine Erzählungen von der ähnlich schuldlosen Schuld eines alten Schieferdeckers, der seinen vom Schwindel gepackten Sohn vom Turm stürzen mußte, um der Familie wenigstens einen Ernährer zu retten; und diese beiden Aufdeckungsgeschichten erhalten sogleich ihre komische Kontrafaktur in Sam Parkers humoresker Beichte einer lange geheimgehaltenen Fälschung, seines (in Wahrheit nicht erjagten, sondern geschenkten) ersten Elks.


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   Es besteht also kein unbegrenzter Anlaß, die Binnenerzählungen aus dem Text des Old Surehand zu streichen; sie sind keine überflüssigen Einschiebsel oder ,bloße' Wiederholungen, sondern tragendes Element der Gesamtkonstruktion. Sie machen aus der erzählenden Geschichte eine erzählte Welt; aus der novellistischen Abenteuerstory einen vielschichtigen Roman. Denn erst durch vielfältige Spiegelung zwischen Rahmen- und Binnenhandlungen werden aus zufälligen Geschehnissen Wesenszüge einer fiktiven Wirklichkeit; einer fiktiven Wirklichkeit, die so erst ihren exemplarischen Charakter erhält und auf mehreren Gattungsebenen gleichzeitig zu verstehen ist.

   Sollte also im Prinzip der Wiederholung wirklich das eigentliche Geheimnis Old Surehand aufgedeckt sein? Dann müßte sich dieses Prinzip der Makrostruktur nach oft bestätigter literaturwissenschaftlicher Erfahrung auch in der Mikrostruktur wiederholen; dann müßte es sich bis in die Ebene des stilistischen Details hinein nachweisen lassen. Und richtig: kein anderer Zug ist auch für Mays Sprachstil so charakteristisch wie seine Neigung zu Wiederholungen. Nicht nur wird das (der Rätselstruktur des Gesamtwerks korrespondierende) Frage-Antwort-Schema bis zum Ärgerlichen wiederholt (und zwischen vielen Dialogen und des Erzählers Monologen dann noch einmal gespiegelt) - May greift zum Zwecke der Emphase auch immer und immer wieder zum stilistischen Mittel der Wortwiederholung. Was machen nun die Bearbeiter des Karl-May-Verlages mit diesen emotionalen Epanalepsen? Sie halten nicht nur strukturbildende Motivwiederholungen im Handlungsgang für überflüssig - und streichen sie; sie halten auch emphatische Wortwiederholungen für überflüssig - und streichen sie. Stellvertretend für Hunderte von Beispielen(48) führe ich hier die zwölf Wiederholungsfiguren an, die auf einer einzigen Druckseite der Bamberger Ausgabe (KMTb I 207) getilgt wurden - obwohl sie unverkennbar als stilistisches Äquivalent des Inhalts dieser Geographischen Predigt in der Wüste gesetzt sind, in dem es "immer von neuem" um "Ewigkeit", "Anfangs- und Endlosigkeit" und die "Unendlichkeit im eigenen Innern" geht, um Regungen, "die nicht auszudenken sind", "die man vergeblich in Worte fassen möchte", "die man aber nicht einzeln [!] zu fühlen und zu empfinden vermag" und über die man deshalb nur "stammeln" (!) kann (I 266):

"von Mond zu Mond, von Stern zu Stern", "immer andre und andre, immer mehr und mehr Lichter", "es wallen und wallen Gefühle und Empfindungen empor", "mit welcher man weiter und weiter schwebt; immer tiefer und tiefer hinein", "allgegenwärtige Liebe, welche der Mensch trotz des Wörterreichtums aller seiner Sprachen und Zungen nur durch die eine Silbe anzustammeln vermag: . . . Gott . . . Gott . . . Gott . . .!", "Sand und Sand und wieder Sand", "stunden- und stundenlang", "immer und immer erneuert", "lange, lange Zeit", "Für einen solchen Unglücklichen kann man nichts tun als nur beten. - Wirklich? Kann man wirklich gar nichts, gar nichts für ihn tun als nur beten?".

   Damit ist nun endgültig aufgedeckt, daß es sich bei den allerorten und auf allen Ebenen vorhandenen Wiederholungen in Mays Werk nicht um aus literarischer Unfähigkeit passierte Unfälle handelt, sondern um die von Arno Schmidt gesuchte "Central-Heizung des Ganzen"(49); zwar um Tollheit, aber mit Methode. Denn das nunmehr enträtselte Prinzip der permanent sich spiegelnden, verdoppelnden und wiederholenden Elemente auf motivischer, struktureller und stilistischer Ebene sprengt in seiner extremen Realisierung jede vorgegebene Norm: der Wiederholungszwang wird, was den Autor betrifft, manisch - und was das Resultat betrifft, artistisch.


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   Freilich droht hier die Gefahr, einer völlig falschen Spur zu folgen: Ist nicht kunstbewußt gemachte Hochliteratur gerade durch ein Wiederholungsverbot charakterisiert, dem in der normativen Stilistik etwa das Prinzip der ,variatio' entspricht? Ist die Wiederholung demgegenüber nicht das klassische Kennzeichen der in einem ewig repetierten Schematismus befangenen Trivialliteratur?

   Das ist in gewisser Weise völlig richtig und trifft doch den Fall May nicht recht. Ohne Zweifel übernimmt Karl May die Methode der wiederholenden Kumulation verschiedenster Reize aus seiner fast ausschließlich trivialliterarischen Leseerfahrung und aus seiner frühen Tätigkeit als Kolportageschriftsteller - aber er macht durch Radikalisierung der Methode aus einer Verlegenheit ein konstruktives Prinzip. Aus der Armut der Motive wird so ein Reichtum an Äquivalenzrelationen, aus der trivialen Dutzendware ein bizarres Monstrum. Nichts beweist dies besser als die Bearbeitungsweise des Karl-May-Verlages, der um der kommerziellen Nutzung willen gerade das Extreme an May ausgemerzt und damit das Bizarre zum Trivialen verwässert hat: In der Bamberger Ausgabe trifft man einfach auf Wiederholungen - bei Karl May dagegen auf Wiederholungen, Wiederholungen und nochmals Wiederholungen.

   Das Gesagte gilt nun ganz allgemein für Mays Umgang mit trivialliterarischen Klischees seiner Zeit: er nimmt sie auf und unterläuft sie doch auf seine persönliche Weise. Besonders deutlich ist das am Problem der Gattungszuordnung geworden: aus sechs alten, durch massenhafte Erfüllung bis zur Trivialität abgebrauchten Gattungsformen macht May eine neue, ganz unverwechselbare Mischung. Der Old Surehand etwa gerät erst durch die Textverfälschung in Gefahr, als reinrassiger Abenteuerroman trivialliterarisch mißverstanden zu werden; in Wahrheit aber erweist sich nicht nur Old Surehand, sondern auch Old Surehand bei genauerer Nachforschung als Mischling. Und so wie Maultier und Maulesel zwar besonders lebenstüchtig, aber zeugungsunfähig sind, so bleibt auch die erfolgreiche Gattungskreuzung Karl Mays ohne Nachfolger.

   Darin liegt nun der auffälligste Unterschied zwischen üblicher trivialliterarischer Produktion und dem in so vielem damit verwandten Werk Karl Mays. Eine trivialliterarische Gattung ist in erster Linie extensional durch die Massenhaftigkeit ihres Auftretens definiert; sie wird nicht nur in Unmengen gelesen, sondern auch von einer Unmenge nahezu anonymer Autoren nach einem feststehenden (und oft von den Verlagen sogar explizit festgelegten) Schema immer aufs neue erfüllt. Mays Romane dagegen sind zwar mit ihren manischen Wiederholungszwängen ihrer inneren Struktur nach von einem festen und in seinem gesamten Œuvre nur geringfügig weiterentwickelten Schematismus bestimmt - aber dieses Schema ist von anderen eigentlich niemals mit Erfolg nachgeahmt, geschweige denn zu einer der für viele Autoren und Verlage kommerziell ergiebigen trivialliterarischen Branchen ausgebaut worden. Im Genre des Detektivromans etwa, dessen Typus ungefähr gleichzeitig mit Karl Mays idiosynkratischer Gattungsmischung entstand, sind den modellbildenden Helden, nämlich Poes Auguste Dupin und Doyles Sherlock Holmes, ganze Generationen von kriminalistischen Sonderlingen gefolgt (Hercule Poirot, Miss Marple, Father Brown, Commissaire Maigret, Nero Wolfe, Perry Mason, Mike Hammer, Philip Marlowe - um von den Hunderten, wenn nicht Tausenden weniger berühmter Imitationen in aller Welt zu schweigen). Dagegen hat der pseudoautobiographische Abenteuermissionar und detektivische Predigerschelm May-Shatterhand zwar viele Verwandte, aber keine Nach-


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kommen. So entsteht aus der Dialektik von Schematismus und Individualität ein hölzernes Eisen: ,singuläre Trivialliteratur'.

   Daß May in dieser Weise auch unter den Produktionsbedingungen und mit den Elementen der Massenliteratur seine individuelle Persönlichkeit in sein Werk einzubringen vermochte, mag wohl auch die seit 100 Jahren anhaltende Faszination für ebenso breite wie heterogene Leserschichten erklären. Besonders in der als autobiographisch ausgegebenen und schon deshalb biographisch relevanten Originalfassung des Old Surehand wird beinahe in jeder Zeile deutlich: hier schreibt einer nicht bloß um sein Honorar, sondern um sein Leben. Dieser ganz untrivialen persönlichen Betroffenheit des Autors korrespondiert denn auch ein von der Konsumtion trivialer Massenerzeugnisse stark abweichendes Leseverhalten: Krimis, Westernhefte, liebesseufzende Groschenromane und dergleichen werden nur einmal gelesen und dann meist als Einwegware weggeworfen; im Fall Karl May dagegen werden seine Werke nicht nur aufgehoben, sondern mit dem Ziel der Vollständigkeit gesammelt, verborgt, vererbt und vor allem immer aufs neue gelesen(50). Da man dabei die Auflösung des Rätsels (wie im Detektivroman) schon ebenso kennt wie (analog zum Liebesroman) das Happy-End, kann die erneute Lektüre durch dieses Spannungsmoment nicht motiviert sein; vielmehr kann man Karl May vor allem deshalb wiederholt lesen, weil sich ja ohnehin im Werk schon alles wiederholt - ja, gerade die durch den Wiederholungscharakter bedingte extreme Geschlossenheit dieser fingierten Welt kann besonders jugendliche Leser in solchem Maße süchtig machen, daß man hier fast noch eine Lücke im Betäubungsmittelgesetz vermuten möchte.

   Vielleicht gewinnen wir hier auch ein Indiz für die Beantwortung unserer Frage, welche Gattungsbezeichnung man für Mays Werke wählen soll. Daß naheliegende Etikette wie "Abenteuerroman", " Exotischer Roman ", "Detektivroman", " Reiseroman" (Verlagstitel 1890-96) oder "Reiseerzählung" (Verlagstitel seit 1896) die Sache nicht recht treffen, ist im Verlauf unserer Analyse wohl deutlich geworden; und es wird von kompetenter Seite bestätigt. Denn nichts von alledem wird jemals ein Junge vor Weihnachten auf seinen Wunschzettel schreiben; sonst bekäme er ja womöglich einen Sealsfield, Sven Hedin oder Hammond Innes und müßte sie noch vor Neujahr wieder umtauschen. Nein, er wird sich unmißverständlich und unverwechselbar "Karl-May-Bücher" wünschen. Und die hier durchgeführte literaturwissenschaftliche Untersuchung darüber, wie Mays Old Surehand gemacht ist, legt es nahe, sich zu diesem naiven Glauben an die individuelle Besonderheit Karl Mays zu bekehren und als einzig adäquate Gattungsbezeichnung "Karl-May-Buch" zu verwenden. Hinreichend gefüllt ist das Genre gewiß: während es bei anderen Gattungen (wie ,Groteske' oder ,Monodrama') oft gar nicht leicht ist, ohne wissenschaftliche Skrupel mehr als eine Handvoll eindeutiger Beispiele anzuführen, kann man hier jedenfalls sicher sein, wenigstens 74 einwandfreie Vertreter der Gattung "Karl-May-Buch" vorzufinden.

   Was also soll die Literaturwissenschaft mit Karl May machen? Sprechen die gewonnenen Ergebnisse nicht dafür, ihn nach Wollschlägers einleitend zitiertem Postulat aus den Gegenständen der Trivialliteraturforschung zu streichen? Nun, das wäre sicher eine übereilte Konsequenz: auch so bleibt an dem Autodidakten und ingeniösen Dilettanten May noch Triviales genug. Und einem mit so vielen Grundlagenproblemen belasteten Forschungszweig kann es gewiß nur nützen, die Bedingungen literarischen Massenerfolgs auch an dem Sonderfall Karl May zu untersuchen: nirgendwo sonst


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kann man sich so gründlich über die Grenzen trivialliteraturwissenschaftlicher Forschung informieren wie hier. Genauso wichtig dürfte es aber für die an kanonisierter Literatur orientierte poetologische und literarhistorische Forschung sein, diesen Gegenstand nicht länger als verloren anzusehen; man weiß vieles nicht über die Möglichkeit von Literatur, von literarischem Leben und vom Leben der Literaten, wenn man sie nicht auch an dem extremen Fall Karl May studiert hat - einem Fall, der auf seine Weise ja nicht weniger extrem und nicht weniger dunkel ist als etwa diejenige seiner Zeitgenossen Kafka und Trakl.

   Es ist an der Zeit, daß die Karl-May-Forschung - bisher vor allem Freizeitbeschäftigung nostalgischer Fans - in die Hände der für sie zuständigen Literaturwissenschaft kommt. Auch diejenigen Literaturwissenschafter also, die May nur in ihrer Jugend und in der trivial-abenteuerlichen Fassung des Karl-May-Verlages gelesen haben, sollten nun das endlich wieder greifbare Original mit den erwachsenen Augen des Philologen lesen. Sie werden staunen, wenn ich mich nicht irre.



Anmerkungen

1 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Neuausgabe Frankfurt 1969, S. 7.

2 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Neuausgabe. Zürich 1976, S. 10 f. (Vorwort zur Neuausgabe).

3 Gert Asbach: Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden. Diss. med. Düsseldorf 1972.

4 Literaturwissenschaftlich wichtig vor allem: Volker Klotz: Ausverkauf der Abenteuer. Karl Mays Kolportageroman "Das Waldröschen". In: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käte Hamburger. Hrsg. v. F. Martini, Stuttgart 1971, S. 159-194. - Ders.: Woher, woran und wodurch rührt "Der verlorene Sohn"? Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 8, 1978, S. 87-110. - Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt 1973.

5 z. B. Schmidt, Sitara, a. a. O., S. 232 f.

6 Vgl. besonders: Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe im Rahmen der Gesamtausgabe. Band 4, Frankfurt 1962; bes. S. 169-173: Die Silberbüchse Winnetous; sowie die o. a. und weitere Arbeiten Gert Uedings.

7 Vgl. dazu z. B.: Rainer Jeglin: "Das Vermächtnis des Inka" und "Der Ölprinz" - eine ideologiekritische Studie. In: Mitteilung der Karl-May-Gesellschaft, 9/1971. S. 3-14, und 10/1971, S. 3-12; Ekkehard Bartsch: "Und Friede auf Erden!" - Entstehung und Geschichte. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 3, 1972, S.93-122.

8 So Schmidt, Sitara, a. a. O.

9 So Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2/1971, S. 39-73 (gegen Schmidt bes. S. 56: "Arno und Po - difficile est Sitaram non scribere, wäre man, Juvenal variierend, hier fast zu bargfeldern versucht").

10 "Wagte es etwa Jemand, auch nur eine Zeile meines Manuskriptes zu ändern oder gar sogenannte Verbesserungen anzubringen, so bekommt er keinen einzigen Buchstaben mehr von mir. Du weißt ja, wie streng meine Verleger sich an diese meine stets allererste Bedingung zu halten haben. Es ist genug, daß ich ihnen die neue, noch gar nicht reife Orthographie gestatte, Korrekturen aber auf keinen Fall, denn jedes meiner Worte ist mein unangreifbares geistiges Eigenthum. Andere mögen sich von den Redaktionen um- und ausflicken lassen, ich nicht!" (Brief an Richard Plöhn aus Jerusalem, August 1899; zitiert nach: Bartsch, a. a. O., S. 112.)

11 Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden. Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane. Weinheim 1973; Ingrid Bröning: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Ratingen 1973.

12 Diese Edition, zu Ehren des für sie verantwortlichen verlegerischen Außenseiters als "Paw-


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lak-Ausgabe" bekannt geworden, erscheint seit 1976 o. J. in Herrsching/Ammersee und umfaßt (bisher) 74 Bände; das Vexierspiel zwischen "Pawlak Verlag, Herrsching" und "Wiener Verlag, Wien" im Impressum scheint auf die komplizierte Rechtslage hinzuweisen. Wie schwer es die neuen Originale gegen die etablierten Fälschungen des Karl-May-Verlages haben, wird schon daran deutlich, daß die Pawlak-Ausgabe trotz niedrigeren Preises bisher vom Sortimentsbuchhandel kaum akzeptiert wird und fast nur über spezialisierte Bestellbuchhandlungen zu bekommen ist (auch ein großes Versandhaus macht's möglich). - Die Pawlak-Ausgabe hat zwar modernisierte Orthographie, bewahrt aber idiosynkratische Schreibungen ("Stopp", "Good lack", u. ä.) und Dialektalismen ("grad", "heut" u. ä.) im allgemeinen sehr getreu; nur das wohl noch gar nicht so veraltete Dativ-e ist unnötigerweise durchgehend getilgt. Leider sind auch offensichtliche Lese-, Setz- und Bindefehler recht häufig; sie beeinträchtigen jedoch die wissenschaftliche Brauchbarkeit kaum. (Korrekturzusatz: Über den seit 1979 erheblich veränderten Editions- und Forschungsstand informiert jetzt eine von mir betreute Göttinger Magister-Arbeit von Jürgen Wehnert, auszugsweise publiziert in: Karl May, hrsg. v. H. Schmiedt, Frankfurt 1983, S. 310-361.)

13 Dieser (im Unterschied zum hochentwickelten Käuferschutz in der Lebensmittelbranche offenbar von keinerlei rechtlichen Sanktionen bedrohte) Etikettenschwindel findet sich zum Beispiel auf der Lizenzausgabe in den "Karl May Taschenbüchern", nach deren Band 14 und 15 (Wien o. J.) als der billigsten und derzeit wohl verbreitetesten Edition ich die Bamberger Ausgabe im folgenden zitiere (mit dem Kürzel "KMTb", Bandzahl und Seitenangabe). Zur deutlichen Unterscheidung von den immer zahlreicher werdenden Nachdrucken des originalen Texts tragen die Bamberger Fälschungen seit 1976 teilweise (in der Reihe "Karl-May-Bestseller") sogar den Aufdruck "Ungekürzte Originalfassung". Origineller geht's nimmer.

14 Sam Parker wird zu Ralph Webster, Witsch Panahka zu Makhi Moteh, Schahko Matto zu Matto Schahko (!), Honskeh Nonpeh zu Numbeh-grondeh, Tehua zu Tahua und Cox zu Redy.

15 Einige Beispiele (Originalbelege im folgenden nur noch ohne Zusatz mit römischer Bandzahl = Old Surehand I-III und arabischer Seitenzahl der Pawlak-Ausgabe): Aus Mays genauer und eleganter Beschreibung "Dann spitzten einzelne Gräser aus dem Sand" machen die Bearbeiter ein semantisch farbloses und grammatisch falsches "Dann sprießten . . ." (KMTb I 312); ähnlich KMTb I 267 (falsches Tempus "rasieren muß" statt originalem "mußte", I 359) und KMTb II 199 ("überhaupt nie ein einziges Mal" statt "nicht ein einziges Mal", III 254). Nach Bamberger Vorstellung (KMTb I 178) wäscht der reinliche Winnetou "seinen Oberkörper in einem mit Wasser gefüllten großen Kürbis" (wie kriegt er den da rein? May schrieb: "mit dem Wasser eines gefüllten, großen Kürbisses", I 228). Und bei Dick Hammerdulls und Pitt Holbers' komischen Reimversuchen "Brei und Ei, Rumpf und Strumpf, Syrup und . . . und . . . Syrup und . . . und . . . und . . . " (III 251) ist einem der Textverdreher die alte Legende eingefallen, daß sich auf "Mensch" nichts reime, und gleich hat er den viel drastischeren "Syrup" dadurch ersetzt (KMTb II 196) - obwohl doch gerade einem Karl-May-Leser bei dieser Version sofort der im Milieu naheliegende Reim "Mensch und Ranch" einfallen muß.

16 Der Sittenstrenge Bamberger Zensoren fielen unter anderem zum Opfer: der Kuß zwischen Winnetou und Old Shatterhand (I 216; vgl. KMTb I 168) ebenso wie der, den Old Shatterhand von Tibo-wete-elen/Tokbela bekommt (I 173; dafür wird diese wahnsinnige Indianerin, die bei May in I 171 ausdrücklich als "alt" bezeichnet wird und eine seiner faszinierenden Greisengestalten aus der Reihe der Marah Durimeh, Old Wabble, Old Death, Klekih-petra, El viejo Desierto, Haukas Anciano und Ustad darstellt, in der Bearbeitung, KMTb I 134, aus unerfindlichen Gründen zu einer Vierzigjährigen verjüngt); das schäkerhafte "Liebesgeständnis" (I 380) zwischen Old Surehand und Old Shatterhand ist ebenso gestrichen wie Dicks Kußhand an seinen "herzlieben Schatz" (III 337).

17 Editorischer Kommentar des Verlags. In: "Ich". Karl Mays Leben und Werk. 27. Aufl., Bamberg 1968, S. 368.

18 Im Gegensatz zum so definierten Abenteuerroman hat etwa der triviale Western-Heftroman der Gegenwart (in der Nachfolge der Buffalo-Bill-Serie) meist eher novellistische Struktur: ein eng begrenztes, kurzfristiges, wiewohl aktionsreiches Ereignis (Mord und Rache, Raubüberfall und Wiederbeschaffung des Geraubten usw.) macht die Handlung aus.

19 So wie die Romane Melvilles, Defoes oder auch Mays heute zu Kinder- und Jugendbüchern


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herabgekommen sind, so flüchten sich im 20. Jahrhundert auch die mythischen Tiere in die abenteuerliche Kinderliteratur - am eindrucksvollsten vielleicht als Ungeheuer "Katla" (Kontamination aus "Hitler" und "Kapital"?) in Astrid Lindgrens Die Brüder Löwenherz. Freilich scheint es mir riskant, diesen bedeutenden Text nur als Kinderbuch zu lesen; es wäre nicht die erste Allegorie, die sich durch solche Gattungswahl maskiert.

20 Daß die oft schlecht motivierten und sehr ad hoc eingeführten Störungen der ritterlichen Ordnung vorrangig erzähltechnisch begründete, austauschbare Anlässe zu neuen Aventiureketten sind, scheint manchen tiefsinnsverliebten Altgermanisten entgangen zu sein, die aus der arturischen Unterhaltungsliteratur partout weltanschauliche Problemdichtungen machen wollen. Das hat dann teilweise zu merkwürdigen Phänomenen selektiver Wahrnehmung geführt: so wird oft übersehen, daß sowohl Erec als auch Iwein eine zweiteilige Struktur haben, in der jeweils nur eine von zwei Aventiureketten durch das vielbeschriene "sich verligen" bzw. "sich verrîten" ausgelöst wird. Und im Parzival wird oft nur der Handlungsstrang des Titelhelden näher zur Kenntnis genommen, der doch bei Wolfram kaum mehr als die Hälfte des Werks ausmacht, während das ritterliche Aventiureprinzip in Gestalt der Abenteuer Gahmurets, Gawans, Parzivals und Feirefiz' allen vier raffiniert verknüpften Erzählsträngen gleichermaßen zugrundeliegt.

21 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Neuausgabe mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt 1976, bes. S. 66 ff.

22 Zdenko Škreb s. oben S. 207, A. 9, S. 81.

23 Vgl. dazu Heinz Stolte: auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 7, 1977, S. 17-57. Auffallend ähnlich vor allem die Art der Anagnorisis und ihre Vorbereitung durch Namensentschlüsselungen, im Fall Lessing detailliert untersucht von Hendrik Birus: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings "Nathan der Weise". Göttingen 1978. Eine ähnlich gründliche Studie zur Namengebung Mays (besonders im Spätwerk) wäre sehr zu wünschen, freilich auch kaum weniger schwierig, weil hier neben den orientalischen auch noch die indianischen Wörterbücher durchforscht werden müßten.

24 Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Hrsg. v. V. Zmegac. Frankfurt 1971, S. 111-131.

25 Richard Alewyn: Die Anfänge des Detektivromans. In: Der wohltemperierte Mord, a. a. O., S. 185-202. Alewyns These, daß hier "die Detektion ... durch den Außenseiter, ein altes Fräulein" erfolge (197), geht daran vorbei, daß das Fräulein von Scuderi das kriminelle Geheimnis gar nicht aufdeckt, sondern nur Zuhörerin von Olivier Brussons langer Erzählung über die Taten des Cardillac wird. Im übrigen wird so auch der Leser schon etwa in der Mitte der Erzählung eingeweiht - sehr undetektivisch.

26 Dietrich Weber: Theorie der analytischen Erzählung. München 1975.

27 "Ein verlorener Sohn kehrt jetzt zurück ins Vaterhaus", sagt Old Shatterhand in Anwesenheit der buchstäblich ,verlorenen Söhne' Apanatschka und Old Surehand über Old Wabbles reuiges Sterben (III 383). - Vgl. allgemein: V. Klotz: Woher, woran und wodurch rührt "Der verlorene Sohn"? (a. a. O.).

28 Titel eines der Traktate aus der Beispielsammlung in: Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt 1970, S. 319.

29 Vgl. hierzu allgemein den in Sache und Quellenlage dieses wenig erschlossenen Gebiets einführenden Abschnitt "Tractate" in Schendas Buch, a. a. O., S.315-321.

30 Z. B. Heinrich Daniel Müller: Geschichte bekehrter Seelen/und der göttlichen Führung derselben besonders in ihren letzten Stunden. Marburg 1755.

31 Z. B. Johann Arnold Kanne: Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe. 3 Teile, Nürnberg 1815-1822, 2. Aufl. 1836; sowie gehäuft in den sog. ,Baseler Sammlungen', der Zeitschrift: Sammlung für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit, Basel 1786 - 1912. (Für diese Quellenhinweise danke ich meinem Göttinger Kollegen Hans-Jürgen Schrader, der die Tradition solcher pietistischer Sammelbiographien in einer demnächst erscheinenden Untersuchung über Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus vorstellen wird.)

32 "Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek . . ., der mir zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugend-


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schriften von Redenbacher und andern guten Menschen fügte." Mein Leben und Streben. Hrsg. v. H. Plaul. Hildesheim 1975, S. 70. Bei dem genannten Autor handelt es sich um den bayrischen Theologen und Volksschriftsteller Wilhelm Redenbacher (1800-1876).

33 Karl May: Geographische Predigten. In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter (1875/76). Faksimilierter Neudruck Hildesheim 1979. Vgl. dazu Arthur Schütz: Die allegorische Deutung des Grubenhunds in Karl Mays "Schacht und Hütte". In: Der Bergmann 67 (1932) Heft 2, S. 9-16.

34 "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hülfe kommt." Schacht und Hütte, a.a.O., Heft 19, S. 149.

35 "Ich", a. a. O., S. 201; der zitierte Abschnitt ist vom Karl-May-Verlag aus einem anderen Text Mays in die Bamberger Ausgabe der Autobiographie eingefügt worden.

36 Mein Leben und Streben, a. a. O., S. 141.

37 Ebda., S. 143.

38 Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. Über Karl May. In: Akzente 1962, S. 356-383, hier S. 382. Freilich macht sich hier bemerkbar, daß selbst diese glänzende Studie zu Mays Erzähltechnik durch die Berücksichtigung allein der vom Karl-May-Verlag bearbeiteten Texte (zweibändiger Old Surehand, Das Buschgespenst usw.) stark beeinträchtigt wird. In den Originaltexten verlagern sich die Gewichte bei weitem nicht so eindeutig zum Abenteuerlichen hin (wie ich im folgenden noch zeigen werde).

39 So ist der Old Firehand von 1875 (nachgedruckt in Band 40 der Pawlak-Ausgabe) ein reiner Abenteuerroman, hier auch noch (im Gegensatz zur Umarbeitung des Textes für "Winnetou II") mit der obligaten Liebesgeschichte als Klammer der Aventiurekette. Als analytische Erzählungen wären etwa Der Talisman (in Auf fremden Pfaden, Band 30) und, als detektivische Variante, Aqua benedetta zu nennen (nachgedruckt in Band 71 der Bamberger Ausgabe). Maria oder Fatima und Der Flucher (=Old Cursing-dry, als nach lebenslangem Fluchen betend sterbender Alter eine deutliche Parallelfigur zu Old Wabble) sind typische Bekehrungsgeschichten, wiewohl schon vor exotischer Kulisse (beide zuerst in Marienkalendern, dann in Auf fremden Pfaden, a. a. O.). Für den reinen Typus der allegorischen Erzählung wäre unter vielen Spätwerken etwa auf Merhameh (im Pawlak-Band 41) zu verweisen; Humoresken hat May explizit unter dieser Gattungsbezeichnung eine ganze Reihe geschrieben, zu deren frühesten wohl Die Fastnachtsnarren gehören (abgedruckt in Band 72 der Bamberger Ausgabe). Auf die zuerst gesondert erschienenen Geographischen Predigten habe ich bereits hingewiesen.

40 Wie entscheidend dieser Faktor ist, erkennt man erst richtig bei seinem Fehlen in den für die Jugend geschriebenen Romanen in der 3. Person (die Bände 5, 10, 11, 26, 32 und 36 der Pawlak-Ausgabe bzw. 35-37 und 39-41 der Bamberger Ausgabe): während May als Ich-Erzähler eine geradezu brillante epische Integration leistet, ist er ein dilettantisch schwacher Er-Erzähler; hier gelingt ihm die Integration nicht einmal technisch, etwa in der unbewältigten Zeitstruktur (mit gelegentlich hilflos vor- und zurückhüpfender Chronologie) oder in den unmotiviert schwankenden Erzählperspektiven. Die Vorstellung eigenen Erlebens war offenkundig die conditio sine qua non seines erzählerischen Ingeniums; insofern ist es gar nicht verwunderlich, daß sein im ganzen wohl bedeutendster Text dann erst die wirkliche Autobiographie werden sollte (Mein Leben und Streben, a. a. O.).

41 Daß das Motiv der Gefangenenbefreiung weit mehr ist als nur der individuelle Wunschtraum eines Zuchthäuslers, führt Gert Ueding literarhistorisch aus in: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 8, 1978, S. 60-68 (vgl. schon: Glanzvolles Elend, a. a. O., S. 132 ff.). Dies hat May selbst genau gesehen: "Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu fühlbar vorhanden sind?" (Mein Leben und Streben, a. a. O., S. 134.)

42 Das Motiv beherrscht die Opern Bellinis und Donizettis ebenso wie noch die des frühen und mittleren Verdi, dessen Librettowahl eine auch musikalisch motivierte Vorliebe für all die ,maledizioni' der Monterones, Azucenas, Ulricas, der Macbeth-Hexen, des sich unerkannt selbst verfluchenden Paolo (im Simone Boccanegra) oder des sterbenden di Vargas (in der das Motiv kumulierenden Forza del destino) beweist. Auf die Verwandtschaft zwischen der Großen Oper und der literarischen ,Kolportage' vom Typus Karl May hat am Beispiel Wagners und des Fi-


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delio zuerst Ernst Bloch aufmerksam gemacht (z. B. in.: Erbschaft dieser Zeit, a. a. O., S. 181 und 372 - 380).

43 In der Bamberger Ausgabe will Old Surehand die Hände nur unpastoral "drücken" (KMTb I 215)? die biblische Anspielung wird als ("Ich aber sag Euch" verwässert (KMTb I 210); andere religiöse Elemente sind vollständig getilgt, so das Tibo-wete-elen umgebende "Aureolenartige" mit dem begründenden Zusatz, daß "Wahnsinn heilig ist" (I 174: KMTb I 137); das in der geistlichen Zwiesprache mit Old Surehand angestimmte Kirchenlied ebenso wie der Hinweis auf Augustinus (I 276: KMTb I 215; die Annahme des ,Katholisierens' wäre hier übrigens nicht einmal triftig, da der Verfasser der Confessiones nicht etwa als "St. Augustin" oder "Hl. Augustinus" eingeführt wird, sondern gut protestantisch als "der Kirchenvater Augustinus von Tagasta", zu dessen Lebzeiten bekanntlich das Schisma noch gar nicht erfunden war).

44 Sehr deutlich wird das etwa an der Charakterisierung Winnetous, der im Gegensatz zur Haupthandlung noch als rabiater "Wilder" (II 92) geschildert wird, der die Sprache der Bleichgesichter gelegentlich noch mit syntaktischen Inversionen, ohne verbale Klammer, verwendet ("Winnetou ist gewesen hinter ihrem Rücken" - aber dann gleich geschraubtes "Und der Pferde sind noch viel mehr", II 100f.), dessen indianische Interjektionen teils noch als "Ugh", teils schon als "Uff" wiedergegeben werden (z. B. II 109: II 107) und der schließlich sogar einen feindlichen Indianer unter Triumphgeheul lebendig skalpiert (III 114), obwohl er ihn nicht einmal selbst besiegt hat. - In der Kapitän-Kaiman-Geschichte, die May bei seiner Umarbeitung dem beteiligten Detektiv Treskow in den Mund legt, gerät streckenweise der Charakter einer Ich-Erzählung ziemlich in Vergessenheit, so daß einmal sogar das Nahen des Erzähler-Ichs aus der Erzählperspektive anderer Personen dargestellt wird - eine narrativische Konstruktion, die im 20. Jahrhundert vielleicht als avantgardistisch, bei Karl May aber doch wohl eher als dilettantisch zu klassifizieren wäre.

45 Schmidt, Sitara, a. a. O., S. 123: "Bd. II stellt ... eine einwandfreie ziemlich freche ,Notlösung' dar ... die ,Notlösung' besteht darin, daß die [Binnenerzählungen] sämtlich nichts mit SUREHAND oder auch nur miteinander zu tun haben, sondern einfach aus früheren Büchern herausgebrochen sind." So voreilig dieses Verdikt aus der Heide auch ist, es wird doch nachgeplappert, und von überraschender Seite zumal: "Die offensichtliche Notlösung, für den zweiten Band ältere Erzählungen ... mit einer Rahmenerzählung zu verbinden, mißlingt", heißt es in dem von der Karl-May-Gesellschaft initiierten (und im ganzen vorzüglichen) "Großen Karl May Bildband" (Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hrsg. v. G. Klußmeier und Hainer Plaul, Hildesheim 1978, S. 139). Es ist aufschlußreich, daß Klußmeier (S. 279 als Verfasser der Stelle ausgewiesen), obwohl er Schmidts "Sitara" doch im Auftrag seines Dichtervereins als ,wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen' verbellt hat (Heinz Stolte, Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973), nichtsdestoweniger aus diesem Buch als einer ungeprüften Autorität abschreibt.

46 Diesen Trick beschreibt schon Lichtenberg: "Ich glaube, der schlechteste Gedanke kann so gesagt werden, daß er die Wirkung des besten tut, sollte auch das letzte Mittel dieses sein, ihn einem schlechten Kerl in einem Roman oder Komödie in den Mund zu legen." (Sudelbuch D 273; Promies' Zählung.) - Sogar auf den Vorabdruck einer Geschichte läßt May ihren Erzähler hinweisen: über den Kanada-Bill hat man "sogar drüben im alten Land in den Zeitungen" geschrieben (II 11). Woher weiß das der biedere Westläufer? Old Shatterhand löst auch diese Rätsel (II 56f.): Der Erzähler ist gar nicht wirklich der Colorado-Mann Tim Kroner, sondern bloß ein Angeber, der vermutlich den "Deutschen Hausschatz" abonniert hat.

47 III 310 f. Wenn Arno Schmidt Dick Hammerdull über "Hammer" als maskulin und Pitt Holbers über "hole/hohl" als tuntig-feminin deutet, dann hat er sich die deftigste Pointe noch entgehen lassen: im amerikanischen Slang ist "Dick" = Penis und "pit" = Vagina; Vor- und Zuname sind also jeweils tautologisch. Hier jedenfalls scheint die Bargfelder Etymforschung über die Sexualisation als sprachbildende Kraft auf eine warme Spur gestoßen zu sein.

48 Stil- wie Streichungsprinzipien setzen sich sogar in der Zeichensetzung durch: z. T. werden auch die von May oft zwei- oder dreimal wiederholten Gedankenstriche getilgt (z. B. I 275: KMTb I 214; III 375: KMTb II 279). Im Faksimile eines Textes von Mays eigener Hand (Bildband, a. a. O. S. 79 ff.) erkennt man, daß er sogar die Kustoden verdoppelt.

49 Schmidt, Sitara, a. a. O. S. 24.

50 Eine gewiß nicht repräsentative, aber als eindeutiger Trendhinweis vielleicht doch charakteri-


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stische Umfrage unter 35 Teilnehmern eines Seminars (deren akribischen May-Kenntnissen und anregenden Diskussionsbeiträgen diese Studie viel verdankt) ergab, daß etwa ein Drittel May kaum oder gar nicht gelesen hatte (0-3 Bände), die anderen zwei Drittel dagegen (davon die Hälfte weiblich) 30 oder mehr Bände, und zwar wenigstens einige Bände mehrfach und in verschiedenem Alter. Auch unter professionellen Germanisten habe ich bemerkenswert viele aktive May-Leser gefunden, und ein hochliterarisch höchst Belesener unter ihnen bekannte, er habe noch heute seinen Winnetou auf dem Nachttisch liegen. - Dagegen zum Detektivroman treffend W. H. Auden: "Ich vergesse die Geschichte, sobald ich sie beendet habe, und empfinde keine Lust, sie von neuem zu lesen. Wenn ich, was gelegentlich vorkommt, einen Detektivroman zu lesen anfange und nach wenigen Seiten feststelle, daß ich ihn bereits kenne, vermag ich ihn nicht weiterzulesen. - Solche Reaktionen gaben mir die Gewißheit, daß, wenigstens in meinen Fall, Detektivgeschichten nichts mit Kunst zu tun haben." (Das verbrecherische Pfarrhaus. In: Der wohltemperierte Mord, a. a. O., S. 133.)


Harald Fricke: Ein wirkungspsychologisches Stilexperiment
Inhaltsverzeichnis Jahrbuch 1981


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