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WALTHER ILMER

Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan

Karl Mays erster großer literarischer Streifzug durch seine Verfehlungen*



V o r b e m e r k u n g

Innerhalb meiner Versuchsreihe, die großen Reiseerzählungen Karl Mays aufzuschlüsseln als Ausdruck, als Niederschlag wirklicher innerer und äußerer Erlebnisse des Autors, Bezüge sichtbar zu machen zwischen dem Fabulierten und Mays Biographie bzw. seiner Empfindenswelt, den jeweiligen seelischen Hintergrund der Geschichte und die in May beim Schreiben wirksamen inneren Vorgänge zu rekonstruieren, hätten die Ausführungen über die Erzählungskette der Bände "Durch die Wüste" bis "Der Schut" eigentlich an erster Stelle stehen müssen, da diese große Orienterzählung, die die "Gesammelten Reiseerzählungen/Gesammelten Werke" einleitet, vor den anderen Werken entstand und die entscheidende Wende im Schaffen Karl Mays markiert. Im Zuge der Arbeiten der Karl-May-Gesellschaft - insbesondere im Zusammenhang mit der Herausgabe der Reprint-Reihe der "Hausschatz"-Erzählungen - ergab sich jedoch so manche zeitliche Verschiebung und Abänderung von Vorhaben, ohne daß dies der Sache im geringsten geschadet hat. Die von mir schon vor vielen Jahren geplante sehr detaillierte Analyse der sechs Orientbände kommt spät, aber wohl doch nicht zu spät, und kann, wie ich hoffe, die bereits vorliegenden und grundlegenden Arbeiten Claus Roxins und Heinz Stoltes, denen ich verpflichtet bin, ergänzen und vertiefen. Vom Umfang her - der sich von Anfang an absehen ließ - eigneten meine Ausführungen sich nicht sonderlich als Dreingabe zu den entsprechenden "Hausschatz"-Reprints; sie lassen sich auch keinesfalls in einem einzigen Jahrbuch unterbringen, wenn dieses Jahrbuch nicht der gebotenen Vielfalt der Beiträge entraten soll. Die Arbeit wird mehrere Teile umfassen und beim Leser nicht wenig Geduld voraussetzen, zumal bei

* Vortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Berlin am 2. Oktober 1981.


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dieser Art der Darstellung Wiederholungen unumgänglich sind. Wenngleich es dank Claus Roxin und Heinz Stolte und vielleicht auch aufgrund einiger meiner bisherigen Beiträge gelungen ist, die »Entschlüsselung« Karl Mays auf breite Basis zu stellen, so soll auf weitere Arbeiten in dieser Richtung nicht verzichtet werden. Liefert doch gerade Mays erste mehrbändige Reiseerzählung eine überwältigende Fülle an Beispielen der Seelenschau des Autors, die prägnant belegen, worum es Karl May zu tun war, und die darum den an diesem Phänomen interessierten May-Freunden nicht vorenthalten werden sollen. Die Befunde stützen, wie die aus anderen Reiseerzählungen gewonnenen Erkenntnisse, meine Behauptung, Karl May habe in diesen seinen Reiseerzählungen von Anfang an biographische Spiegelungen nach einem ganz bestimmten System niedergelegt, das sich an den Stationen seines Lebens orientierte. Engelbert Botschen, der zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangt ist, hat es mir gegenüber einmal als »ein Raster zur Karl-May-Forschung« bezeichnet. Vermutlich glaubte Karl May seinerzeit, sich durch die große, vielschichtige Orienterzählung völlig freischreiben zu können von allem ihn damals Bedrückenden; aber unerwartet erstanden ihm laufend neue Probleme, u. a. insbesondere die zweite Periode seiner Tätigkeit für Heinrich Münchmeyer und der wenig glückliche Verlauf der Ehe mit Emma Pollmer, und auch diese Lasten wollten durch die Therapie des Schreibens bewältigt werden. Unter ihrem quälenden Eindruck meldeten sich auch die alten, erledigt geglaubten Traumata immer wieder neu. Der Sieg über das eigene schuldgeschüttelte Ich, die innere Befreiung ließ viel länger auf sich warten, als Karl May ursprünglich einmal angenommen hatte, und wurde schließlich noch verzögert, als May sich ungezügelt jener Episode krankhaft übersteigerter Renommiersucht, der »Old-Shatterhand-Legende«, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre überließ. Kurz vor der Jahrhundertwende, als er "Am Jenseits" schrieb, war die langersehnte Schwelle endlich erreicht. May durfte hoffen. Aber dann warfen die äußeren Ereignisse der Pressefehde, der Prozesse, der Ehescheidung ihn zurück, während sein Ich doch zugleich gewaltige Sprünge vorwärts tat. Wieder verarbeitete er aktuelle Ereignisse seines Lebens, doch in allegorisierter Form, in einer Art Weltensicht, und in seinem schriftstellerischen Schaffen wurden Mischformen erzeugt, die die Literatur bis dahin nicht kannte. Sie gipfeln in "Ardistan und Dschinnistan", dem Werk der reinsten Seelenläuterung, der überhöhten Darstellung des menschlichen Strebens vom Urgrund der Tiefe zur stillen Höhe, wo der Weg endet. So wie derselbe Karl May es


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sich in der großen Odyssee von "Durch die Wüste" bis "Der Schut" im Entwurf bereits vorgezeichnet hatte - einem Entwurf, der in sich selbst auch schon ein Meisterwerk ist.


E i n f ü h r u n g

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»Karl May? Na klar. Den haben wir verschlungen. Bei dem war toll was los. Der Old Shatterhand und der Kara Ben Nemsi - die konnten alles. Bloß daß der so gern die Lumpen laufen ließ und auf ihre Besserung hoffte und daß er manchmal so fromm daherredete - nee, das paßte uns nicht so recht.«

   »Karl May? Aber sicher. Ungemein spannend. Aber im Grunde doch immer wieder dasselbe, nicht wahr: Anschleichen, Belauschen, Gefangennahme, Befreiung. Das kannte man bald auswendig -«

   »Karl May? Großartig. Von dem konnte man lernen. Geographie und so. Völkerkunde. Auch Sprachen. Und über den Islam wußte der alles. Dabei war er doch, bevor er darüber schrieb, nie aus Deutschland herausgekommen, sondern hatte im Zuchthaus gesessen . . . «

   Das sind wohl, auf einfachste Formel gebracht, die häufigsten Aussagen über Karl May, sind die hervorstechenden Merkmale, die bei der überwiegenden Zahl der Leser das Bild des Autors bestimmen. Laienhaft mögen uns »Eingeweihten« diese vergröbernden, verallgemeinernden Klischees vorkommen, die da im breiten Lesepublikum die Runde machen. Aber sie stimmen alle, diese Klischees. Und die ungezählten Leser wissen gar nicht, wie recht sie haben - und warum sie recht haben.


2

Karl Mays wahrhaft einzigartige und frappierende Erscheinung und Wirkung in der deutschen Literatur - und über die Grenzen der deutschen Sprache hinaus - wird belegt durch die schier unvorstellbare Auflagenstärke von über sechzig Millionen Exemplaren seiner Bücher.(1) Gerechter können Generationen von Lesern über verheerende Kriege hinweg und über gewaltige gesellschaftliche Umwälzungen hinweg einen Schriftsteller kaum beurteilen. Ihm daher - endlich! ernsthafte, eingehende Untersuchungen zu widmen, ist schlicht ein Gebot des Respektes vor einem Unverwüstlichen. Dabei kann uns der


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Grund für die anhaltende Fasziniation des May-Werkes nicht gleichgültig sein.

   Wieso konnte ausgerechnet ein in bedauerlicher Halbbildung steckengebliebener Aufschneider, den eine seltsame Veranlagung zu unsinnigen Betrugsdelikten trieb und den gräßliche Psychosen heimsuchten, derartige unsterbliche Erzählungen schreiben?

   Die Antwort lautet meiner Überzeugung nach: In seinem Werk schildert Karl May - obgleich märchenartig, »fabelhaft«, verkleidet buchstäblich die subjektiv reine Wahrheit -, und zwar aus unmittelbarem seelischem Engagement heraus. Die Echtheit dessen, was ihn bewegte, was ihn mitriß beim Schaffen, wird von den Innenbezirken des Lesers, vom Unterbewußtsein, von den Tiefenschichten als echt, als wahr, als bewegend und mitreißend erkannt. Hier spricht unmittelbar Seele zu Seele, werden Ereignisse lebendig, die urtümlich und ganz menschlich sind, die es stets gegeben hat und stets geben wird, jenseits aller politischen, wirtschaftlichen, sozialen, technischen Entwicklungen: Grundsituationen menschlichen Anstands und menschlichen Fehlverhaltens, Hunger nach Anerkennung, inneres Ringen zwischen dem Hellen und dem Dunklen der Seele. Dargeboten, immer wieder neu, in scheinbar gleichen und doch subtil differenzierten Varianten, am lebenden Beispiel eines verirrten Ringenden, eines ringenden Verirrten - des aufstrebenden Proletariers Karl May. Der Mensch Karl May wollte durch den Schriftsteller Karl May frei werden von Schuld und Trübsal.


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Ja - er war schuldig geworden, hatte die vom Schicksal gewährten Gunstbezeigungen gründlich mißverstanden und sie schlecht gelohnt: Er hatte Kerzen entwendet im Lehrerseminar, um den Weihnachtsbaum daheim zu schmücken und den bitterarmen Eltern zu imponieren, - und war wegen Diebstahls relegiert worden(2); er hatte die Taschenuhr des Zimmergefährten ohne dessen ausdrückliche Erlaubnis mitgenommen in die Ferien, abermals, um den Eltern und den Dorfbewohnern zu imponieren, und war wegen Diebstahls verurteilt worden(3); er hatte, aus der erstrebten bürgerlichen Bahn geworfen, Pelzwerk erschwindelt und ins Leihhaus getragen, hatte sich als Augenarzt ausgegeben und ein Rezept verblüffend glaubhaft ausgestellt; er hatte als angeblicher Polizeileutnant angebliches Falschgeld beschlagnahmt und wollte mit listigem Pferdeverstand ein gestohlenes Pferd weiterverkaufen. Er hatte Billardkugeln und einen Kinderwagen und


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anderes nutzloses Gerät mitgehen heißen und sich zeitweise in einer Höhle verborgen und hatte Verfolgern eine Schußwaffe entgegengehalten. Er hatte mit dem Mut des Verzweifelten die eiserne Handschelle, mit der er gefesselt war, zerbrochen und war entwischt, als habe er sich in Luft aufgelöst.(4) Er hatte kurzzeitig ein glanzvoll täuschendes Dasein als Pflanzer Wadenbach aus Martinique und als natürlicher Sohn des Prinzen von Waldenburg geführt - und war schandvoll entlarvt worden.(5) Er hatte im Gefängnis und im Zuchthaus gesessen(6) obwohl er vielleicht nicht hineingehörte. Verübte er seine seltsamen, eulenspiegelartigen und in materieller Hinsicht eigentlich nie lohnenden »Untaten«, die jede für sich eher komisch als kriminell anmuten mußten, doch zwanghaft im Griff von »Dämmerzuständen«, die ihn peinigten und des freien Willens beraubten. Unkontrollierbare Handlungen - unter Schockeinwirkung - eines unter Liebesentzug heftig leidenden Neurotikers.(7)

   Dennoch: Vor der Welt ein Bösewicht, ein Schandfleck, ein »unwürdiges Glied des Lehrerstandes«, dem er hatte angehören sollen. Vor den Eltern, den Geschwistern ein erbärmlicher Versager, für den sie immer nur Opfer gebracht hatten und den sie, selbst kärglich vegetierend, durchschleppen mußten. Was immer die Triebfedern für sein Fehlverhalten auch gewesen sein mochten - er hatte etwas Bösem in sich nachgegeben, obgleich er das Böse fürchtete und haßte. Er trug schwer an seinen Schuldgefühlen; es belastete ihn, aus der Bahn geraten zu sein, unedel gehandelt zu haben. Würde er je von dem Makel loskommen? Voraussetzung dafür war, daß sein Leben einen Sinn erhielt.


4

Der wohlwollende Laienprediger im Zuchthaus Waldheim, der Katechet Kochta, hatte ihm geraten, alles ihn Bedrückende dem Papier anzuvertrauen, Geschichten zu schreiben - eine Tätigkeit, zu der er sich schon lange hingezogen gefühlt hatte, für die er zweifelsohne Begabung mitbrachte.(7a) Karl May glaubte dem gütigen Mann, dessen unverbogener Instinkt die Bedeutung des Schreibens als Therapie für den entlassenen Strafgefangenen erkannte. Der Silberstreif am Horizont wurde jählings zum Leitlicht, aus dem der arme kleine und sehnsuchtsvolle Ex-Schullehrer eine ungeheure Energie gewann . . . 

   Rasch ward ihm zur Gewißheit, wie gut ihm das Ausspinnen und das Hinschreiben von der Hand ging, wie er sich mühelos anpaßte an den Geschmack bei der Gestaltung von Themen, die gefragt waren in sei-


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ner Heimat: Lustige oder auch ernste Geschichten von Dorfbewohnern oder historisierende Darstellungen um Leopold von Dessau oder die frühen Hohenzollern oder auch die eine oder andere exotisch eingefärbte Erzählung, die da geheimnisvoll hindeutete auf ein an Abenteuern reiches Leben des Verfassers. Die ihm so unverhofft angetragene Tätigkeit als Redakteur und als Lieferant von Beiträgen beim Kolportageverleger Heinrich Gotthold Münchmeyer war so recht eine gute Lehrzeit für ihn als Schriftsteller auf dem Wege zum Erfolg(8) - aber auch für den Menschen Karl May auf dem Wege zum Leben in Anstand und Würde: Münchmeyers unsaubere Geschäftspraktiken stießen May ab; und so sehr es dem vorbestraften Redakteur schmeicheln mochte, von Münchmeyer allüberall als »der Herr Doktor May« eingeführt zu werden - ein sehr durchsichtiges Manöver zur Hebung des Ansehens des Verlages(9) -, so konnte May in dem tolpatschigen Versuch Münchmeyers, ihn durch Verschwägerung auf Dauer an sich zu binden, keinerlei Schmeichelei sehen. Die Eltern hatten ihm zugeredet, die Redakteurstelle bei Münchmeyer anzunehmen, waren überzeugt, Münchmeyers Großzügigkeit sei  d i e  Glückschance für den verlorenen Sohn; und er hatte zugegriffen, aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt, um die Eltern von seinem Können und von seiner ernsthaften Absicht, endlich die Dankesschuld abzutragen, zu überzeugen.(10) Doch der innere Widerstand gegen Münchmeyer und dessen Frau und Schwägerin war stärker als die Verlockung, Verlagsteilhaber zur werden. Dieser Verlag war ein Sumpf. Die eigentlichen, zu fernen hohen Zielen führenden schriftstellerischen Pläne, die der Reinigung des Ich und der Hinführung der Leser zum Edlen dienen sollten, hätte er hier nie verwirklichen können. Denn das bohrte und rumorte im Inneren: Nicht mehr einer von vielen Gleichartigen sein, nein, unverwechselbar werden, innerlich frei werden dabei . . . Mochten die Eltern auch seufzen: Karl mußte sich von Münchmeyer trennen, den eigenen, schweren Weg gehen.

   Er verhungerte nicht. Er schrieb, erhielt eine neue Redakteurstelle, schrieb unermüdlich, sah seine Geschichten gedruckt. Zufrieden war er nicht mit dem, was er da ausspann, zu hastig, zu undurchdacht abhaspelte: Eine sonderbare Mischung von Kriminalerzählung ohne rechten Pfiff, Seeräubergarn und Prärieabenteuern ("Auf der See gefangen" = "Schloß Wildauen"), einen konfusen Wust von Zigeuner-Schandtaten, Revolutionsgelüsten, orientalischem Schwulst mit schalkhaften Einlagen, Klostergreueln und einer seelisch maroden Skalpjägerin ("Scepter und Hammer" / "Die Juweleninsel"), und hier und da scheute er unter dem Druck des Erwerbs des Lebensunterhal-


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tes auch nicht vor handfesten Plagiaten zurück(11) - aber es entstand doch auch noch die eine oder andere Dorfgeschichte, die ihm vorzüglich gelang; und der rein handwerkliche Lernprozeß, den er durcheilte, lieferte Einsichten in das tatsächliche Können. Er wagte sich ein weiteres Mal in die Prärie, diesmal in Ich-Form, schrieb die Geschichte vom tödlichen Goldstaub, nannte seinen meisterhaft schießenden Erzähler Old Shatterhand . . . 


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Irgend etwas gärte. Er spürte, daß er vor der Schwelle stand. Er wußte auch, daß er zurückgeworfen worden war in seiner schriftstellerischen Entwicklung, wahrscheinlich auch in seiner persönlichen, menschlichen Entwicklung: Emma Pollmer war in sein Leben getreten, und er hatte sich an diese geistig und psychisch ganz anders als er geartete Frau verloren.(12) Der in Liebessehnsucht Befangene, nach Anerkennung dürstende Haltsucher sah weit mehr in ihr, als sie zu sein vermochte. Um ihretwillen hatte er sich sogar noch einmal in Konflikt mit den Behörden begeben: Eine trübe Mischung aus fehlgesteuertem Imponiergehabe und eitlem Drang, sich Emma zuliebe detektivisch genau so zu bewähren wie damals als selbsternannter Polizeileutnant, hatte ihn Nachforschungen anstellen lassen über die Ursache des Todes von Emmas Onkel Emil Pollmer; sein Tun hatte das Mißfallen der Ermittlungsbehörden erregt und ihm eine Haftstrafe wegen Amtsanmaßung eingetragen(13); Emma zog sich von ihm zurück - und doch hielt sie ihn fest. Fehlgeleiteter Trieb war's, der ihn an sie band - etwas, das er wohl als "niedrig" empfand, wie das verderbliche Abgleiten ins Kriminelle, doch etwas, wogegen er sich nicht zur Wehr setzen konnte, das er mit Lust und Schaudern akzeptierte. Er, der alles Niedrige in sich besiegen wollte, klammerte sich an die eitle, hoffärtige, nur zu gern zur Tändelei bereite, so gar nicht bildungsbeflissene Frau - und schrieb, schrieb, schrieb, damit sie sein sauer erarbeitetes Geld ausgeben konnte. Karl May wußte, wie falsch er handelte, welcher Qual er sich aussetzte, als er diese Verbindung einging, der der Gleichklang der Seelen fehlte. Doch mit geradezu missionarischem Ernst übernahm er die Aufgabe, der Flatterhaft-Koketten die Stütze zu sein, damit sie nicht abgleite ins Elend. Er, der selbst der Stützung bedurfte.

   Und merkwürdig: Aus dieser ungünstigen Verbindung, aus dieser Last erwachsen ihm jetzt ungeahnte innere Kräfte. Die Notwendigkeit, ein selbstverschuldetes Alltagsleben mit Emma zu ertragen, erzeugt ein Gegengewicht: Die Mobilisierung des Dranges nach innerer


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Freiheit und die Mobilisierung der wahren schriftstellerischen Begabung Karl Mays. Unversehens ist die Meisterschaft erreicht, betreten mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar die ausgeprägtesten Schöpfungen eines Bußfertigen die literarische Szene. Und Karl May legt Rechenschaft ab über sich und sein Tun. Und wird es von nun an immer wieder tun - weil sein Leben, sein leidendes, mutiges Ich, sein Pendeln zwischen Falsch und Richtig ihn nie loslassen wird und ihm nahezu unerschöpflichen Stoff bietet für immer neue Bücher . . . 


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Natürlich dachte Karl May sich als Inhalt dieser seiner Bücher spannende, abenteuerliche Geschichten aus, die das Geschehen bestimmten, nicht pausenlos monologisierende Selbsterkenntnisse eines Sünders. Er legte nicht von vornherein nach Plan fest, wie und wo er seine Probleme und Traumata in ihnen sprechen lassen wollte. Er durfte sich auf den Instinkt des talentierten und von »strukturell vordeterminiertem Innen-Material«(14) berstenden Schriftstellers verlassen: alles würde rechtzeitig und in passender Form Gestalt annehmen. May wußte um die Macht des Unbewußten, des Unterbewußten, des Halbbewußten, das sich Bahn bricht im ernsthaft motivierten Künstler, wenn er wie Karl May sich in beglückendem Schaffensrausch dem traumhaften Zurechtschneiden des innerlich Erschauten überläßt und dem rein Verstandesmäßigen - als manchmal unentbehrlichem Regulativ nur gerade so viel Zutritt gewährt, wie nötig ist, um beim Leser nie Zweifel an der Authentizität des Dargebotenen aufkommen zu lassen.

   Der Rahmen der Thematik freilich war ihm vorgegeben: Immer mußte es um Bosheit, um Verbrechen, um Unrecht gehen - Herausforderung für einen unbestechlichen Helden, aller Schändlichkeit den Garaus zu bereiten. Für einen Helden, der das Wunsch-Ich verkörperte. Und so wie der Karl May der Vergangenheit böse Pläne ausgebrütet und ausgeführt hatte, so wie er gefangengenommen wurde und gewaltsam oder legal - die Freiheit wieder erlangt hatte, so wie er damals im steten Kampf lag zwischen Gut und Böse, so mußte das alles Einzug halten in den Geschichten des Karl May von jetzt und mußte dramatisch zugespitzt die Leser in Atem halten - weil er erst dann an sich und sein Können und seine Läuterung glauben konnte. Überdimensionale Helden und überdimensionale Schurken -: Karl May jagt Karl May.

   Was ging in diesem Manne vor sich, während er schrieb? Dieweil aus dem einen Teilstrang seiner gedanklichen Energie die bunte ober-


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schichtige Story entstand, aus der Phantasie geboren und - dank der May eigentümlichen Suggestivkraft der Mischung aus Schlichtheit und Großmäuligkeit - von der Leuchtkraft des glaubwürdigen erfüllt, wob sich heimlich, aus anderem, ungebändigtem Teilstrang der Gedankenwelt gespeist, das Seelenprotokoll in die Handlung und Darstellung hinein (»die Binnenhandlung«, wie Claus Roxin treffend sagt(15)), unzweifelhaft oftmals jenseits der Bewußtseinskontrolle des Autors und dennoch aus Urschichten des Ich heraus gewollt. Das System der Orientierung an den wesentlichen Lebensstationen ergab sich auch ohne vorgefaßte Planung ganz von selbst. Immer ist die Wahrheit eingebettet zwischen die Blüten der Phantasie, ist »verdichtet« sowohl als auch verdünnt, komprimiert wie zerdehnt, dünn maskiert oder stark vermummt. Und aus diesem Können und Wollen heraus wird alles echt und glaubhaft und wahr, was er da schreibt, trägt in der Tat das herbeigewünschte Merkmal der unbezweifelbaren Authentizität.


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Karl May schreibt seine berühmten Reiseerzählungen. Alt und Jung, Hoch und Niedrig begeistert sich dafür. Und in diesen seinen ureigensten Schöpfungen, wie sie nie einer vor ihm und nie einer nach ihm zuwege gebracht hat, weht die Faszination des Unverwechselbaren. Mit ihnen gelingt dem realistischen Phantasten und phantasieerfüllten Realisten in zweifacher Hinsicht etwas Einmaliges: Er wird durch sie innerlich und äußerlich im besten Sinne resozialisiert - , und er schenkt einem seither nie versiegenden Lesepublikum auf fesselnde Weise den Zugang zu den erstrebenswürdigsten Werten des Menschentums.

   Er zeichnet sich selber in diesen Erzählungen, den niedrigen, verwerflichen Karl May, der er war, ebenso wie den untadelig Heldenhaften, der er sein möchte, dessen hohe Tugenden er anstrebt. Und auch all die anderen zwischen den Extrempolen eingebetteten Eigenschaften, Züge und Verhaltensweisen, die je in ihm sichtbar wurden, läßt er in den Figuren seiner Erzählungen erstehen. Er spaltet sein Ich auf in viele viele Teil-Ich; er steckt in jedem anständigen Burschen und in jedem Bösewicht und in so manchem Clown; und gleichermaßen verfährt er mit all denen, die irgendwann, irgendwie für ihn zu einem großen oder kleinen Stück Schicksal wurden. Und mit Recht sagte er später von sich, ich bin Psycholog(16), denn er betrieb komplexe und kunstvolle, ergebnisreiche psychologische Studien im Gewande der abenteuerlichen Reiseerzählung und einer von Gefahrensituationen strot-


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zenden spannenden Handlung. Vieles gelang ihm unbewußt, sicherlich, aber gerade darin zeigt sich, welch verblüffend sicherer Instinkt ihn leitete und welch verblüffend urmächtiges Talent zum Schriftsteller in diesem Manne steckte.

   Er war unerbittlich mit sich selbst - aber auch kühn genug, sich vor dem Druck der eigenen Unzulänglichkeit zu retten durch Hineinschlüpfen in die Pose des nahezu unfehlbaren Heros. Und sein Anliegen, im Überwinden des eigenen Bösen sowohl die Aussöhnung des Ich mit der Welt als auch die Unterwerfung der Welt unter die Leuchtkraft des Guten zu erzielen, beflügelt ihn zu steigenden Leistungen.

   Er lacht und weint mit seinen Gestalten - wie glaubhaft überliefert wird -, er ist ganz und gar eingesponnen in die von ihm ersonnene Erzählwelt, geht auf in deren ganz ganz eigene(r) Seelenwelt.(17) Und das ist eben deshalb so leicht erklärlich, weil sich wirkliches Erleben in die Phantastik mengte. Karl May gestaltete Wahrheit im Glitzergewande - Wahrheit, wie sie sich  i h m  darstellte, seinem subjektiven Empfinden entsprach; Wahrheit, wie sie hätte sein können, nicht unbedingt wie die Umwelt sie sah und gesehen hatte. Für ihn war der unverzeihlich schimpflich handelnde, erschreckend verbrecherische Karl May den es  s o  nie gab - genau so wahr wie der zu Unrecht beschuldigte, stets nur verleumdete, zum Sündenbock erkorene Karl May, an dem immer die anderen schuldig wurden und den es auch nie gegeben hatte. Er verschob die Perspektive der Tatsachen, indem er seinen ganz persönlichen und nur ihm eigenen Blickwinkel einnahm -, aber Tatsachen blieben es doch, die er da immer wieder schilderte und abspiegelte.


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Am Ende seines Lebens, als er Bilanz zieht und seine an Fehlhandlungen so reiche Vergangenheit in positiver Wertung als geradezu notwendigen Nährboden für zeitlose wirkungsvolle dichterische Schöpfungen würdigt, formuliert er es eindeutig:

Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre . . . . meine Seele soll zu den Lesern reden.(18) - Ich habe in diesen meinen »Reiseerzählungen« genau so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen.(19)

   Dies Hervorheben des seelischen Moments, die bruchlose Verbindung zwischen Autorenseele und Leserseele legt das Geheimnis der nahezu magischen Wirkung Karl Mays bloß. May schrieb aus der Seele


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- aus den seelischen Bezirken schmerzlicher Erfahrung, gefiltert durch die wandlungsfähigen Gestaltungskräfte geistiger Anstrengung, unterlegt mit den Positiva der Gutmütigkeit und des Optimismus, und so rührt er überwiegend an eben diese Seelenbezirke im Leser, in denen die Erfahrung des Bedrohlichen oder die Ahnung des Bedrohlichen oder die Aufnahmefähigkeit für ewig gültige Wahrheiten, die im Schicksal des Einzelnen wie in dem der Allgemeinheit durchschlagen, lebendig sind und der Kommunikation harren. Bezirke, die das Wesen des May-Werkes erfühlen, noch ehe die geistige Aufnahme erfolgt. Das dem Autor aus der Seele Kommende, in ihm Klingende nahm zwangsläufig suggestiv-mächtige Gestalt an, weil es sein Gemüt heftig bewegte, schlichtweg auf Wahrheit beruhte, der Realität entnommen war, und dieses seelische Gut transponierte er nur deshalb ins Exotische und umkleidete es mit dem Flitter-Kolorit des Märchenhaften, weil die Weite des Raumes, die er dadurch gewann, ihm auch die unentbehrliche Freiheit des Handelns gewährte. Ein schüchterner Vorbestrafter namens Karl May durfte sich nichts herausnehmen - ein Old Shatterhand, ein Kara Ben Nemsi hatte von vornherein das Wohlwollen des Lesers auf seiner Seite und agierte freizügig im Wissen um seine aus moralischer Kraft geborene Überlegenheit. Ungeschminkt sagt Karl May in seiner Selbstbiographie:

Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen. In die Prairie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des wilden Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten.(20)

Meine »Reiseerzählungen« haben . . . bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen . . . . Indem mein Kara Ben Nemsi . . . in diese Wüste tritt und die Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch niemals in einer der heiligen Städte des Islam war, wo man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt.(21) - Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege also eine Beichte ab . . . (22)

   All diese offenen Bekenntnisse Karl Mays in seiner Selbstbiographie sind oftmals und lange Zeit als Geschwafel, als billige Effekthascherei, als nachträglich aufgesetzter Rechtfertigungsversuch, als Selbsttäuschung oder gar als absolut absurd dummes Zeug angesehen


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und weggewischt worden. Doch wir müssen sie als buchstäblich wahr ansehen. Und sobald wir das tun, erschließt sich bei näherem Hinsehen beinahe jede Szene in seinen Reiseerzählungen - nicht nur in dem allegorisch-mystisch überhöhten Alterswerk, sondern im Gesamtwerk der achtziger und neunziger Jahre - als eine Spiegelung wirklichen Geschehens.

   Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen - : Schon die hier unkontrolliert oder gar bewußt durchgeschlagene Wortwahl, die Formulierung verrät das Entscheidende. Ich hatte . . . zu nehmen ist einmal der unmittelbare Hinweis auf den innewohnenden Zwang (»Ich mußte nehmen«, »Ich sah mich genötigt«), zum anderen ist es, und zwar gerade aus dem für Mitteldeutschland bis (hierher) in den Berliner Raum üblichen Sprachgebrauch heraus, der direkte Fingerzeig auf wartend Vorhandenes: »Ich hatte hinreichend zu lesen«, »Ich hatte eine Tante in Strelitz zu wohnen« - solche und ähnliche Wendungen besagen immer: dies und das ist da, ist vorrätig, ich brauche nur zuzugreifen, um Gebrauch davon zu machen. Und eben das tat Karl May.

   (Ähnlich drückt die Aussage Meine Reiseerzählungen haben . . . aufzusteigen einmal das programmatisch Festgelegte, das Sollen, Müssen, die Notwendigkeit, zum anderen die "Vorratswirtschaft", die Einteilung und Zuteilung vorhandener "Rationen" aus.)


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Ich möchte versuchen, am Beispiel jener großen zusammenhängenden Reiseerzählung, die sechs Bände umfaßt und die sich von der tunesischen Wüste bis hinauf in die albanischen Berge zieht, die Spiegelungen aufzuzeigen, zu denen Karl Mays Seelenprotokoll sich verdichtet, möchte im Rahmen dieses zeitlich begrenzten Vortrages vor allem nachzuweisen trachten, wie schon die ersten Szenen das ganze Programm des Autors in sich schließen, seine Meisterschaft der Selbstanalyse verkünden und harmonisch-konsequent hinüberführen zum Ende des riesigen Bogens. Gleichzeitig aber wölbt sich über der Analyse die geschickt gebaute Story, wird die Analyse in sich wiederum zur vielfältigen Synthese. Die Zergliederung des Ich und die der Innenschau ist auch stets zugleich bewegte Handlung. Ruhelos pulsierendes Geschehen, dem der Ich-Erzähler sich vertrauensvoll überläßt, denn als lernwilliger Pilger auf dem Reuepfad zum Edelmenschentum weiß er sich geborgen in der Hand des allmächtigen Gottes, der ihm Gnade erweist. So lautet denn auch der ursprüngliche Titel dieser in der Wüste


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einsetzenden Erzählung beziehungsvoll "Giölgeda padishanün - Im Schatten des Großherrn", will sagen im Schutze des Allmächtigen, auf dessen Erbarmen der Bußfertige seine Hoffnungen setzt.

   Indem ich bei meinen Überlegungen (wenngleich sie weit weit zurückreichen) dankbar anknüpfe an den Wegbereiter Heinz Stolte, dessen Ausführungen über "Die Reise ins Innere"(23) gerade jene ersten Szenen in der Wüste und beim Wekil von Kbilli als handgreifliche Auseinandersetzung Mays mit dem Uhrendiebstahl und der schicksalhaften ersten Verurteilung bereits längst erwiesen haben - so wie er auch in dem Amadijah-Abenteuer die literarische Umformung der "Stollberg-Affäre" erkannte(24) -, will ich nicht etwa Heinz Stoltes Gedanken schnöde plagiieren. Notwendigerweise gerate ich bei dem Bemühen, vielleicht noch weiter ins Detail einzudringen als er, in die Lage, einige seiner Feststellungen zu wiederholen. Er wird es mir verzeihen. Gleicherweise sind die von Claus Roxin in den Einführungen zu den "Hausschatz"-Reprints "Giölgeda padishanün"(25), "Die Todes-Karavane"(26), "Durch das Land der Skipetaren"(27) vorgetragenen Überlegungen Ansporn und Verpflichtung. Und auch die mannigfachen Feststellungen von Wolf-Dieter Bach über "Fluchtlandschaften"(28) und Namen(29) bei Karl May bestärken mich immer wieder, geheimnisvolle Fäden im May-Werk aufzuspüren.


D e r  g r o ß e  B o g e n  v o n  d e r  S c h u l d  z u r  S ü h n e

»Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß Du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?« - »Ja«(30)

Welcher May-Leser kennt nicht diese berühmten Worte, den Anfang des ebenso berühmten ersten Bandes der "Gesammelten Reiseerzählungen"/"Gesammelten Werke": "Durch die Wüste". Mitten hinein in ein Gespräch des kleinen, zappeligen, großsprecherischen und zugleich loyalen Halef Omar, der sich unberechtigt Hadschi nennt, mit seinem seriösen und bildungsbeflissenen Herrn Kara Ben Nemsi führt die Geschichte. Halef schildert in bewegten Worten die Vorzüge des Islam, zu dem er Kara Ben Nemsi bekehren will; dieser hält gelassen die Leuchtkraft des Christentums dagegen. Und als der beredte Kleine nicht aufgeben will in seinen schier beschwörenden Versuchen, weist Kara Ben Nemsi ihm - wenn auch gutmütig - nach, daß Halef unter


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schwindelhaften Vorzeichen wandelt und weder für sich noch für seine Vorfahren den Ehrentitel eines Hadschi in Anspruch nehmen darf . . . 

   Da ist es gleich zu Anfang der großen Odyssee: das Programm Karl Mays und sein glaubensbekenntnis. Ein Christ will er sein - und das Falsche will er entlarven. Streben nach Schlackenreinheit soll seinen Weg bezeichnen. Aber immer wieder, er weiß es, wird die Versuchung an ihn herantreten. Immer wieder wird Halef, der Unverbesserliche, einen Bekehrungsversuch unternehmen oder heillos aufschneiden, und immer wieder wird Kara Ben Nemsi Gefahr laufen, selbstgerecht zu schulmeistern. Im ständigen Hin und Her dieser seiner beiden besten Schöpfungen wird Karl May die große Reise zum Ziel der Selbstbefreiung und Selbstreinigung unternehmen.

   Denn  e r  ist ja Kara Ben Nemsi, der große Könner, und e r ist auch Halef, der oftmals Unbedachte. Und so gewinnt der berühmte Dialog, der die abenteuerliche Handlung "Durch die Wüste" einleitet, eine ganz bedeutende Dimension jenseits der sichtbaren Zeilen:

   Was Halef den "Unglauben" nennt, ist ja für den Christen Karl May der rechte, wahre glauben. Es ist aber auch die rechte, wahre Lebenshaltung. Indem Karl May alias Kara Ben Nemsi ein Christ bleiben will, entgegen allen Anstrengungen des im Islam befangenen Halef, erteilt Karl May seiner ruhmlosen Vergangenheit die endgültige Absage. Er kehrt sich ab von der Neigung zu verbrecherischen Taten und gelobt, vom rechten Pfad nie mehr abzuweichen.

   » . . . ist es wirklich wahr, daß Du ein Ungläubiger bleiben willst - ?« fragt verwundert der auf einem großen Pferd, also wörtlich "auf hohem Roß" sitzende kleine Wicht, der Kismetgläubige, der die Wonnen des Paradieses auszumalen weiß und der sich einen Mekkapilger, einen Erleuchteten nennt. Halefs Eitelkeit und Gebaren spiegeln Mays einstige trotzige Auflehnung gegen Regeln und Normen, seine Großmannssucht, sein Hochstaplertum(31), sein Vortäuschen von Ehren, Titeln, Identitäten, die ihm nicht zustanden. Er will gefeit sein gegen derartige Lockungen. Halefs frohgemutes Daherreden von sieben Himmeln gemahnt an die törichte Vorstellung, die Wonnen der Leistung auch durch geringstmöglichen Aufwand bei Einsatz betrügerischer Mittel zu erlangen - ein Fehlschluß, wie der weiland schmarotzend durchs Land ziehende Pelzschwindler, Pferdedieb, lügnerische Falschgeldfahnder, hochtrabend schwadronierende angebliche Pflanzer aus Martinique zu seinem Leidwesen hatte erleben müssen. Dieser Last will Karl May nicht wieder anheimfallen . . . Und in der unbekümmerten Sorglosigkeit, die Halef bald darauf, als Kara Ben Nemsi und er den Ermordeten entdecken, hinsichtlich Tat und Täter an den Tag


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legt, während der Tod des Reitkamels ihm nahegeht, spiegelt Karl May die Furchtvision dessen, was aus ihm hätte werden können, wäre er in den Fängen der Kriminalität verstrickt geblieben: unempfindlich gegen menschliches Leid, befangen in falschen Wertvorstellungen. Mehr noch: es zeigt den unerfahrenen, neugierigen, alle etwaige Unsicherheit keck verbergenden Karl May, dem jählings - so wie dem kleinen Halef die Rolle des sprachkundigen Reisebegleiters bei Kara Ben Nemsi - die unverhoffte Stelle als Redakteur bei Heinrich Gotthold Münchmeyer zugefallen ist, der sich aber um die Hintergründe des Unternehmens gefälligst nicht zu kümmern hat. Wenn ein Konkurrent auf der Strecke bleibt oder wenn der Verlag sonstwie anrüchig handelt, was geht das Karl May an, solange er bequem sein Gehalt kassiert und an den Schlüpfrigkeiten des Herrn Münchmeyer nicht aktiv Anteil hat? Längst als falsch erkannt hat Karl May diese Haltung; er wird sie nicht wieder einnehmen, hat mit Münchmeyer gebrochen. So redet der "Versucher" Halef, der Kara Ben Nemsi weder zum Islam bekehren noch von der Verfolgung der Mörder abhalten kann, gegen eine unerbittliche Wand: Karl May wird immer der mahnenden Stimme seines gefestigten Gewissens folgen - und wird immer ein Christ bleiben, bereit, für seine Überzeugung einzutreten, aber auch nachsichtig gegen andere, die, wie früher er, der Verzeihung bedürfen. Für das Heer der Lockeren, der Leichtfertigen, die ziellos ihr Leben vergeuden, ist Karl May verloren. Unter diesem Blickwinkel ist er freilich ein »Ungläubiger«, denn er glaubt nicht daran, in den Niederungen des Lebens den Sinn und das Glück finden zu können.

   Aber schon läßt diese Perspektive sich umwenden, und wie so oft bei Karl May wird die Kehrseite sichtbar, welche ergänzende Merkmale zum gleichen Sachverhalt unter Änderung der Vorzeichen weist: So wie Kara Ben Nemsi der Unbeirrbare und Halef der "Versucher" ist, so wird in der Umkehrung Kara Ben Nemsi zum Träumer, der unbewiesenen Idealen anhängt, und Halef zum Lebenstüchtigen, kräftig den Belangen des Diesseits Zugekehrten, der genau weiß, daß die reine Wahrheit manchmal viel schädlicher ist als ein kleiner Schwindel . . . Dieser Karl May raunt seinem Ideal-Ich zu, hübsch auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Die »Maskerade«, wie Heinz Stolte den berühmten Anfangsdialog einst treffend nannte(32), schließt auch diese Fähigkeit Mays ein, im Wechsel der Identitäten und Positionen die Fäden der Wahrheit anders zu schlingen und dennoch das zutreffende Bild zu zeichnen. Damit ist Halef ein für allemal als das höchst irdische Ich des Autors Karl May, mit all dessen Schwächen und Stärken, etabliert.


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Doch auch auf andere Weise porträtiert sich Karl May. Der Tote(33), den Kara Ben Nemsi und Halef entdecken, ist, wie der Leser später erfährt, was aber der Autor natürlich bereits zu diesem Zeitpunkt weiß, der einzige Sohn eines ebenfalls ermordeten Kaufmanns; er war jung verheiratet und trug einen mit der Gravur »E. P. 15. juillet 1830« versehenen Ehering am Finger. Der einzige Sohn ehrbarer Eltern - in jungen Jahren aller Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte beraubt, erschlagen durch einen Bösewicht. Also Karl May, der als junger Mann dem Bösen nachjagte und vom rechten Wege abkam und seinen Eltern nur Kummer bereitete und seine Talente unterjochen ließ von dem Bösen, dem er nachgejagt war und das ihn überfiel. Karl May ist tot - sein Mörder heißt Karl May.

   Karl May - ermordet, verloren in der Wüste des Lebens. Und zugleich sein eigener Täter, finster-verschlagen durch die Wüste streifend: das wird gleich noch zu erörtern sein. Und der Vater, der, in der Story, die in den Wechselfällen des Lebens aufgetretenen Schwierigkeiten gemeinsam mit dem Sohn meistern will, und den im Leben der Niedergang des einzigen Sohnes im Mark getroffen hatte, wurde gleichfalls ein Opfer des Tunichtguts, der die ihm erwiesene Großmut mit Tücke lohnte. Freilich - eine physische Untat am Vater beging Karl May nicht, aber im moralischen, im übertragenen Sinne hatte das Abgleiten Karls dem Vater quasi den "Todesstoß" versetzt. Auch war freilich der Vater Heinrich May kein reicher Kaufmann, sondern ein armer Weber, doch er hatte immerhin einmal Gelüste verspürt, sich als Händler und Freischaffender den Lebensunterhalt zu verdienen(34), und dem nie ganz ersterbenden Hang zum Großspurigen, der Vater und Sohn eigen war, entsprach es, daß der Schriftsteller verschönend-verklärend das Mordopfer Vater in ein höheres Milieu versetzte, um die niedrigen Beweggründe des Täters um so krasser herauszustellen.


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Zweierlei hat der Mörder bei seinem Opfer übersehen: die Zeitungsausschnitte, die jener bei sich führte, und den Ehering mit der Gravur »E. P. 15. juillet 1830«, den der Jungverheiratete am Finger trug. Diese stummen Zeugen der Identität des Toten werden getrennt von seinem übrigen Besitztum: die Persönlichkeit des Ermordeten spaltet sich. Von allen denkbaren, unzähligen Varianten, die sich für die Ringinschrift anboten, wählte Karl May ausgerechnet »E. P.«. Den


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Vornamen der Frau des Ermordeten gibt er später, in der denkwürdigen Unterredung Kara Ben Nemsis mit dem geretteten Henri Galingré im Schar Dagh, worin das Erlebnis vom Wadi Tarfaui noch einmal in seinen Eindrücken die Szene beherrscht, mit »Emilie« an, und auch deren Mutter hieß so.(35) »Emma« . . . »Emilie« - welche Ähnlichkeit. Und »Ernestine Emma« war der Vorname der längst verstorbenen Mutter Emma Pollmers; sie war unverheiratet; ihr Name lautete Pollmer, als sie Emma das Leben schenkte. Und nicht nur lautet in der Geschichte der volle Mädchenname der jungen Frau des Toten »Emilie Pouillet«, auch der Mädchenname ihrer Mutter beginnt mit »P«: »Emilie Palangeur«. Das geht weit über den Zufall hinaus; das ist mit Herzblut geschriebene Verarbeitung tiefsitzender Ängste.

   So ist der Tote in der Wüste nicht nur der aufstrebende Jungbürger Karl May, der dem tüchtigen Vater Ehre machen wollte, aber von der Macht des Bösen übermannt wurde; er ist auch der jungverheiratete Ehemann Karl May, der das beklemmend Fehlerhafte dieser seiner Eheschließung gleich zu Anbeginn erkannt hat und für das Aufblühen seines Ich, seiner Persönlichkeit als Ehemann Emma Pollmers keine Chance sieht, sein Hoffen und Sehnen erstickt sieht - und der doch Ausschau hält nach Möglichkeiten einer positiven Entwicklung, einer Neuerstehung alten Zaubers. Emma ist die beherrschende Person in seinem Leben geworden. Die Bindungen an die Eltern und Geschwister, unlängst noch erfreulich gut infolge Karls Arbeitsamkeit und redlichem Streben, haben sich infolge Karls Heirat mit Emma gelockert, denn bei Karls Anverwandten war Emma nicht als Familienmitglied willkommen.(36) Auch insoweit hatte der Sohn dem empfindsamen Vater eine Art "tödlichen Stoß" versetzt.

   Bezeichnenderweise sind es gerade - und nur - der Ring und die Zeitungsausschnitte, die erhalten bleiben; alles andere, das Kara Ben Nemsi sicherstellt, versinkt im todbringenden Schott el Dscherid - auch die Uhr, das Symbol für den Weg ins Dunkel: deutlicher Ausdruck der Hoffnung, sich zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Szene schon endgültig vom Druck der Gewissenslast in Sachen Uhrendiebstahl freigeschrieben zu haben. Das Vorkommnis, diese Jugendtorheit, liegt lange zurück; die hochoffizielle Bindung an Emma Pollmer aber ist noch neu und hält an. Der böse Karl May, der dem guten Karl May die Luft abschnürte und sich mit der Uhr und anderem fremden Eigentum aus dem Staube machte, ließ den Ring und die Papiere unberührt, weil dieser böse Karl May, dieses Teilstück des Ich, ja keinen Anteil daran hatte: der kriminelle Karl May hatte Emma Pollmer noch gar nicht gekannt. Ihr ist er erst viel später begegnet, und in seiner Be-


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ziehung zu ihr war er meist ein trauriges Opfer - wie der Tote im Wüstensand. Um seiner Selbstachtung willen muß Karl May hierin neue Verhaltensregeln festlegen.

   Ich nahm die Papiere an mich, wie ich auch den Ring an meinen Finger gesteckt hatte(37), sagt Karl May als Kara Ben Nemsi, dem die Rolle des Verfolgers, des Rächers, des um Ausgleich und Gerechtigkeit bemühten Helden, des Wunschbildes Karl Mays, zukommt. Unversehens und selbstverständlich übernimmt der Autor, der sich soeben sein unrühmliches Ende ausgemalt hatte und am Boden lag, in seinem Ich- Erzähler die Funktion des Schicksalslenkers.

   Papiere und Ring bleiben in seinem Besitz: Die Ehe wahrt ihren Bestand, allen Unzuträglichkeiten zum Trotz; sie führt Karl May sogar ein zweites Mal in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Heinrich Gotthold Münchmeyer mit vielen erstaunlichen - und auch üblen - Folgen. Davon weiß Karl May noch nichts, als Kara Ben Nemsi zum Schott el Dscherid unterwegs ist, doch er ist dessen sehr gewärtig beim Zwiegespräch des Helden mit Henri Galingré, dem er Papiere und Ring vorweist. Das aus der Ehe und aus der Fronarbeit für Münchmeyer erwachsene Leid ist längst nicht durchgestanden, während die Erzählreihe der "Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche" in den albanischen Bergen ihr Ende findet; doch Karl May hat sich mittlerweile in die lebensrettende Illusion geflüchtet, die ihn immer neu aufrecht hält, daß er und Emma einander in Wahrheit doch das große Glück bedeuten, daß alle Mängel und Unzulänglichkeiten Emmas wohl nur deshalb weiter bestehen, weil er, Karl, versagt hat im liebevollen Hinführen seiner Frau zu höheren Werten. Wie sagt er doch gegen Ende der Erzählung - Jahre nach der Eingangsszene - über Emilie Pouillet, deren Paul eines Tages aufbrach zur Selbstbewährung und von dem sie nie mehr etwas hörte - : »die junge Frau hat sich über sein Verschwinden zu Tode gegrämt«.(38) In derart versöhnlichem Licht will Karl May das Geschehen sehen, die Wahrheit umkehren, damit sie erträglich wird: Als damals im Gefolge der Stollberg-Affäre die Entfremdung eintrat zwischen diesen beiden Menschen Karl und Emma(39), die vor der Welt bereits als miteinander verheiratet gegolten hatten, ohne es zu sein, da war es Emma, die sich abwandte, weil sie sich bei anderen, begüterteren Männern bessere Chancen ausrechnete. Doch nach dem Tode des Großvaters, ihrer einzigen Stütze, blieb nur der Rückgriff auf Karl May als mitleidigen Helfer in der Not, den sie unter Tränen bat, sie nicht zu verlassen, weil sie ihn brauche.(40) Sie hatte sich über sein Verschwinden zu Tode gegrämt - und es verstanden, May dahin zu bringen, daß er sie aus falsch verstandener Rechtlichkeit heiratete.


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»E. P. 15. juillet 1830.« Für die Jahreszahl 1830 gibt Karl May innerhalb der Erzählung eine etwas gequält klingende Erklärung: Die Schwiegermutter des in der Wüste Ermordeten, Emilie Palangeur, habe 1830 geheiratet, die Tochter habe aus Pietät ihren Ring als Ehering mit dem jungen Manne getauscht. Das ist ein wenig umständlich, nicht wahr; für die Belange der Erzählung wäre es viel einfacher gewesen, das Jahr der Eheschließung des jungen Paares - z. B. etwa 1870 - anzugeben und die Mutter ganz aus dem Spiele zu lassen. Doch in Karl May waren ja fast ununterbrochen und unaufhaltsam Assoziationen wirksam, von denen sachliches Vernunftdenken überlagert wurde; in ihm brachen zwanghaft Gedankenströmungen durch, die auf das Dingfestmachen und damit auf das Verbannen seelenschädigender Einflüsse abzielten. So gewinnt die umständliche Erklärung für die Zahl 1830 ein anderes Gesicht: Die Initialen im Ring sind die Initialen von Mutter  u n d  Tochter; die Tochter hielt das Andenken an die verstorbene Mutter hoch in Ehren - wohl weil sie ihr ähnlich war. Ähnlich - wie die leichtfertige, keiner reizvollen sexuellen Beziehung abholde Emma Pollmer ihrer Mutter Ernestine Pollmer ähnlich war, die sich auch nicht gerade durch sittsames, gediegenes Betragen ausgezeichnet hatte . . . gerade umgekehrt wie die beiden Damen in der Story. Und diese Ernestine Pollmer war 1830 geboren. E. P., belastet mit einer unheilbergenden Veranlagung, ohne Streben nach innerer und geistiger Höhe. Emma und ihre Mutter in einer Person, gebunden an Karl May, der um sein Ich und um sein Seelenheil unaufhörlich ringt und sich mit E. P. die denkbar ungeeignetste Last freiwillig auferlegt hat.

   Das Datum »15. Juli« freilich ist nicht unmittelbar belegbar. Niemand aus Karl Mays naher Umgebung wurde an einem 15. Juli geboren. Seine standesamtliche Eheschließung erfolgte am 17. August 1880, einem Dienstag seltsamerweise, die kirchliche Trauung am 12. September 1880, einem Sonntag. Aber der 15. Juli - ? Der Ring mit diesem Datum wird stets in Verbindung mit Papieren genannt, bedruckten, beschriebenen Papieren. In der Erzählung sind es Zeitungsausschnitte; in Mays Leben kann es etwas Ähnliches gewesen sein, vielleicht auch etwas von mehr dokumentarischem Charakter. Und sofort springen drei mögliche Erklärungen ins Auge, von denen mindestens eine zutreffen dürfte:

1. Die Papiere beziehen sich auf eine Anzeige über das Erscheinen


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von Karl Mays Erstlingswerk "Geographische Predigten" oder auf ein Exemplar dieser Aufsatzsammlung. Emma Pollmer machte, als sie Karl May kennenlernte, viel Aufhebens von diesen gerade im Druck erschienenen Aufsätzen, auf die May nicht wenig stolz war. Emmas Bemerkungen erweckten in May seinerzeit den fatalen Eindruck, sie besitze Veranlagung zur Schriftstellersfrau.(41) Die Bekanntschaft Karl/Emma fällt in den Sommer 1876. War der 15. Juli der Tag des Kennenlernens?

2. Die Papiere beziehen sich auf Karl Mays Manuskript "Giölgeda padishanün", und es war am 15. Juli 1880 - noch vor seiner Heirat - , als er jene Szene der grausigen Entdeckung im Wüstensand niederschrieb und sich, genau wie schon seit Jahren vorher, bereits unauflöslich, zum Schlechten oder zum Guten, an Emma Pollmer gebunden fühlte. Er hatte unmittelbar vorher noch, insgeheim schwankend zwischen Selbstironie und Resignation, seinen Kara Ben Nemsi zu dem von der Liebe schwärmenden Halef sagen lassen: »ich bin ein Feind aller Frauen und Mädchen«(42) - eine glatte Umkehrung der wirklichen Einstellung Karl Mays, der während seiner Straftäter-Zeit nie Mangel an intimen Freundinnen gehabt und sich ja schon während seiner Zeit als Hilfslehrer in Glauchau freudig seiner verheirateten Quartierwirtin genähert hatte.(43) Die trotzige Aussage »ich bin ein Feind aller Frauen und Mädchen« ist nichts als ein kümmerlicher, schwacher Versuch, die immer näher heranrückende Heirat, die er Emma versprochen hatte, zumindest gedanklich von sich abzuwehren.(44) Gleich darauf findet Kara Ben Nemsi Papiere und Ring(45) . .: sein weiterer Weg ist ihm vorgezeichnet. Wie dem Menschen und Schriftsteller Karl May.

3. Die Papiere beziehen sich auf Dokumente zur Person und Abstammung, wie sie anläßlich einer beabsichtigten Eheschließung im Standesamt vorzulegen sind. Im Hinblick auf die für Aufgebote vorgeschriebene Frist ist es nicht auszuschließen, daß Karl und Emma am 15. Juli 1880 ihr Aufgebot bestellten - Bekräftigung der Bereitschaft zur ständigen Bindung aneinander.


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Die Mörder werden aufgespürt. Karl May, aufgespalten in Kara Ben Nemsi und Halef, stellt sich seinem früheren Teil-Ich, das auch wie der in sich aufgespalten ist in zwei Teil-Sünder: den absolut gewissenlosen Armenier Hamd el Amasat, der den Ton angibt, und ein(en) jungen Mann von auffallender Schönheit(46), der sich fast völlig passiv


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verhält. Diese Zweiteilung ist wesentlich - aber nur aus den psychologischen Umständen heraus; für die Belange der oberschichtigen Erzählung ist der Begleiter des Armeniers überhaupt nicht erforderlich.(47) Karl May braucht jedoch beide, um zwei Schichten der dunklen Bezirke seiner Seele zu verdeutlichen. Natürlich versteigt er sich nicht dazu, sich selber eine »auffallende Schönheit« zuzuschreiben; dieser Terminus paraphrasiert vielmehr das täuschend einnehmende Wesen, mit dem der Betrüger und Hochstapler Karl May sich zu umgeben wußte, den Charme, dem vor allem die weiblichen Dienstboten und Zimmerwirtinnen erlagen, und der dennoch nur forciert war, nur eine Larve war, denn Man konnte unmöglich Vertrauen zu ihm haben(46), das heißt, wirkliche Menschenkenner durften auf den trotz aller zur Schau getragenen Raffinesse reichlich ungeschickten Karl May der sechziger Jahre eigentlich nicht hereinfallen. Die Leidenschaften hatten sein Auge umflort, seine Nerven entkräftet und seine Stirn und Wangen zu früh gefurcht.(46) Dies - und sein Verharren in Schweigsamkeit während der von Feindseligkeit geprägten Szene - charakterisiert jenen Karl May, der unter seinen unheimlichen Dämmerzuständen und seinen unerklärlichen kriminellen Handlungen viel mehr litt, als verstandesmäßig erfaßbar war, und der mit starrem Gesicht schweigsam ins Leere sah und sich nicht zu äußern wußte, wenn er ertappt worden war(48): ein Bild der Bedrückung. Er ließ mich vermuten, daß er . . . ein Europäer sei(46) - keineswegs ein tropischer Pflanzer, wenn auch europäischen Ursprungs, wie er einst den Behörden hatte weismachen wollen; ganz sicher ein furchtsamer Mensch, der sehr froh war, auf diese Weise davonzukommen(49) - exakt formuliert sowohl in Hinsicht auf den Karl May, der oft genug dem strafenden Zugriff entrann, als auch auf jenen, dem dann doch noch einmal die Chance zur Resozialisierung geboten wurde.

   Der Wortführer aber, Hamd el Amasat, ist das Abbild des Urschlechten, das Karl May in sich fürchtet, dessen Wiederaufleben als Schreckensvision in ihm wabert. Ein Armenier, also ein Christ, der sich aber für einen Moslem ausgibt - ein Mensch, der unter falscher Flagge segelt und die Wahrheit nicht bekennt, der vor dem hohen, wahren Glauben flüchtet in die Niederungen(50), ein Abtrünniger. Armenier waren für May, aufgrund eines pauschalen Vorurteils, durchweg üble Vertreter der Menschheit; ein armenischer Händler gar der Inbegriff des Schlechten, ein Ausbund der Verworfenheit; Rainer Jeglin hat es uns ausführlich dargelegt.(51) Indem Karl May mit sich ins Gericht geht, sich abstempelt zum Schuft, wählt er absichtlich einen Vertreter der für ihn schlimmsten Sorte Mensch. So niederträchtig


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wie dieser Schurke ist Karl May niemals gewesen; doch eben die Übersteigerung des Negativen macht den Abstand zur bürgerlichen Sauberkeit, der er im Zeitpunkt des Entstehens dieser Geschichte entgegenblickt, klarer und deutlicher.

   Jedoch auch noch einen anderen Zweck erfüllt dieser Hamd el Amasat, dieser höchst unangenehme Zeitgenosse: Der äußere Gegenspieler des Helden in der Erzählung ist auch der äußere Gegenspieler Mays im Leben. In das Abbild des finsteren Karl May mischt sich der Schatten des zeitweiligen Zimmergefährten in Altchemnitz(51a), des Buchhalters, dem die von May benutzte und von ihm in die Weihnachtsferien mitgenommene Taschenuhr gehörte . . . »Hier, nimm . . . die Uhr«(52), sagt der heimtückische Gegner, der mehr Verschlagenheit als Mut zu besitzen schien(53), und dann wiegt er Karl May alias Kara Ben Nemsi, der die Uhr ja nicht als sein persönliches Eigentum betrachtet, in Sicherheit . . . 


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Kara Ben Nemsi fühlt sich nicht berechtigt, Hand an den Übeltäter zu legen. »Ich will nicht erproben, wer von uns der Stärkere ist; ich übergebe dich der Rache Gottes, des Allwissenden, der alles sieht und keine That unvergolten läßt«(53), sagt er in christlicher Demut. Kara Ben Nemsi wird, wie Old Shatterhand, immer verzeihensbereit sein, sich nie zum Richter aufspielen, nie Gott vorgreifen. Solange Karl May fehlbar und sündhaft ist und Buße tun muß im Schreiben, solange hat er kein Recht, über andere den Stab zu brechen. In jedem Lumpen in seinen Erzählungen lebt ein Stück seiner selbst; und so wie er für sich Verständnis und Verzeihen erhofft, so will er dies auch den Sündern in seinen Geschichten nicht streitig machen. Darum läßt er so oft die Halunken laufen: sie sollen, wie er selber, die Chance zur inneren Umkehr haben.

   Die christliche Grundhaltung des Autors fließt mit dem Geschick des Schriftstellers und dem Bekenner der eigenen Sünden zusammen. Karl May holt aus zu einer der aufwühlendsten, spannendsten Schilderungen, die er je gestaltete: den Ritt über den Schott el Dscherid. Die Perspektive des inneren Hintergrundes verschiebt und erweitert sich. Hier ist ein Könner am Werk.

   Kara Ben Nemsi, am Beginn seines Weges, noch keineswegs umfassend erfahren, begleitet vom Gezwitscher des auf Bekehrung sinnenden, munteren und dienstfertigen, mutigen und aufschneiderischen, doch in Bezug auf die Gefahren des Schott el Dscherid sehr


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einsichtigen Halef, bedarf - wie früher bereits einmal erwähnt(54) - des Führers, um diesen Schott zu überqueren; Karl May, im Zwiespalt zwischen dem Vertrauen auf seine Leistungskraft und den Einflüsterungen der Verlockungen aus niedrigerem Metier, deren bequeme Lebensmaximen ihn zum Widerlegen herausfordern; Karl May, der lenkender, helfender Einflüsse bedarf, insbesondere solcher aus seinem Inneren, um bösen Gefahren zu entgehen - insbesondere solcher aus seinem Inneren. Der Schott el Dscherid ist das Sinnbild der überall lauernden schlüpfrigen Gefahren im Boden des menschlichen Lebens schlechthin: Ein Fehltritt reicht zum Verderben.

   Das Geschehen vollzieht sich unter zweifachem Aspekt. Zwei Gruppen bewegen sich auf dem Schott, jede das Zerrbild der anderen. In der Gruppe Kara Ben Nemsis personifizieren sich die Elemente des Guten, das trotz aller Heimsuchungen an seinen Überzeugungen festhält; in der Gruppe Hamd el Amasats verkörpern sich Neid, Bosheit, Eifersucht, Gier, Rücksichtslosigkeit und Menschenverachtung - kurz, alle Elemente des Üblen, das nie ruhen will im zerstörerischen Wirken. Jede der beiden Gruppen ist Karl May in vielerlei Schattierungen - doch ebenso ist die Gruppe der Bösen auch das von außen, als Fremdes, auf May einwirkende Unheil. So häuft sich in diesem Ereignis auf dem Schott el Dscherid die "Symbolik", die May seinen Erzählungen unterlegte, und der Mord an Sadek mit all seinen Folgen ist eine ins Extrem verschobene Darstellung des Schicksals Karl Mays.


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Auf dem schmalen Pfad, zwischen zwei Etappen der Lebensreise, an der gefährlichsten Stelle des Schott el Dscherid - wir denken unwillkürlich dabei an die "zwischen den Jahren" liegende Weihnachtszeit, die Karl May als Unglückszeit ansah - , gibt Hamd el Amasat den tödlichen Schuß ab, beraubt Kara Ben Nemsi des sicheren Führers, gibt ihn dem Verderben preis.

   Der Schuß trifft Sadek mitten im Gebete - ein schreckliches Zusammenfallen gegensätzlicher Einzelfakten. Die Hinwendung des angstvollen und doch vertrauenden gläubigen Menschen zu Gott, mit dem Flehen, die Gefahr abzuwenden; und die Mordkugel, die alles auslöscht . . . :

   »Hier, nimm . . . die Uhr«, hat der Widersacher heimtückisch gesagt, und Kara Ben Nemsi hat sie eingesteckt - und Karl May fuhr mit der


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Uhr des Zimmergefährten in die Weihnachtsferien. Und der von Haß und Bosheit Getriebene läßt die Falle zuschnappen: er schwärzt Karl May an; er feuert den Schuß ab, der Karl Mays Fortkommen hindert, ihn des Leitbildes beraubt. Gerade noch hatte der junge Karl, hatte auch sein Vater Anlaß gesehen, Gott zu danken an diesem Weihnachtsfest für die augenscheinlich günstige Entwicklung des Geschicks des Lehramtskandidaten - da traf sie unerwartet die Faust dieses Schicksals. Etwas in und von Karl May versank ins Nichts. Der Widersacher, geführt vom Neid, vertrat bei der Behörde wider besseres Wissen die Behauptung, jener Karl May - jener Kara Ben Nemsi - sei ein Dieb, ein Verbrecher . . . . vor uns sah ich den Mörder entrinnen, der dies alles verschuldet hatte!(55) Und er wird ungestraft entrinnen. Der Mensch, der schuldig wurde an Kara Ben Nemsi und Karl May, der Heimtückische, durch dessen Unredlichkeit ein junger Lehrer den Boden unter den Füßen und die Orientierung verlor, gewinnt mit Unterstützung der Ortsbehörde das böse Spiel und kann sein Buchhalter-Dasein fortsetzen. (Nicht ohne Grund taucht Hamd el Amasat später als eine Art Buchhalter bei Henri Galingré, dem Bruder des von ihm in Algier Ermordeten, auf.(56))

   Der Angriff des äußeren Feindes und das Entkommen dieses Feindes zeitigen eine unmittelbare Folge: der jüngere Begleiter des hinterhältigen Buben wird gleichfalls, wie Sadek, ein Opfer des Schotts; und mit ihm versinkt alles, was Karl May jenem Buchhalter, der ihm die Uhr zum Gebrauch überließ, jemals zubilligte an begreiflicher menschlicher Fehlbarkeit, an fehlgeleitetem menschlichen Tun. Im Gedächtnis blieb nur das Schemen, die personifizierte Bosheit, ein Lebewesen ohne Gewissen.(57)

   Soweit dieser eine Aspekt, der nur die Hälfte des Bildes erklärt. Mit dem gräßlichen Ereignis auf dem Schott werden die Geschehnisse im Leben Karl Mays wie in einem Zeitraffer eingefangen. Der Angriff auf Kara Ben Nemsi ist ja auch der Angriff Karl Mays auf Karl May. Er selbst hat damals sich den Mächten des Dunkels anheimgegeben, hat sein Leitbild mutwillig zerstört, hat sich zum Verbrecher degradiert. Sein dunkles Ich, das den Behörden Lügen auftischt und wortgewandt die eigene Person ins rechte Licht rücken möchte, wie jener angebliche Wadenbach, ersteht zu unheilvollem Leben. Ein anderes, relativ kurzlebiges Stück Ich aber, an das Karl May sich auch nur sehr ungern erinnert, geht unter auf der Flucht vor der jählings auftauchenden Verkörperung positiven menschlichen Leistungswillens: Der Begleiter Hamd el Amasats flieht vor Kara Ben Nemsi - und stirbt. Mit ihm hat Karl May endgültig - wie er hofft - den Lumpen in sich getötet, zu dem


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man unmöglich Vertrauen haben konnte, der wie im Schatten eines anderen, mächtigeren Willens handelte und der, wegen seiner Gaunereien zur Rede gestellt, starr in Schweigen verharrte . . . 

   Kara Ben Nemsi und Halef überleben das Unglück: Karl May, der sich dank eigener Anstrengung gerettet hat vom Untergang und der nun aufbrechen darf zu neuen Ufern.


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Der Schuft glaubt den Helden zur Strecke gebracht. Er weiß nicht, daß Kara Ben Nemsi noch auf einen anderen Führer hoffen darf, der sich dann auch wirklich einstellt. Und mit Omar Ben Sadeks Auftreten verändert die Perspektive sich erneut. Auch Omar liegt, wie andere, außerhalb des Ichs des Autors, dem beim Schreiben der Szene vor Augen steht, wie Menschen ihm einst, aus unterschiedlichen Motiven, jedoch hilfreich, die Hand boten: Kochta, Münchmeyer, Radelli, Pustet. Ein bißchen von jedem von ihnen wird gerafft in Omar lebendig. Im wesentlichen jedoch blendet die Szene in das Innere zurück, denn Omar ist ein weiteres abgespaltetes Stückchen Karl May.

   Omar, jung, stolz, unverbildet, ehrlich, von besonnenem Ernst und geradlinig und verantwortungsbewußt, übernimmt in sich zwei Funktionen: Er ist der existenzrettende Führer, und ihm fällt - mehr noch als Kara Ben Nemsi - die Rolle des gerechtfertigten Rächers zu: Karl May, der den Weg aus dem Verderben fand, das ihn zu verschlingen drohte, und Karl May, der die Erinnerung an das ihm angetane Unrecht stets wach hält, der sich insgeheim wünscht, Vergeltung üben zu können. Der resozialisierte, erneut am bürgerlichen Leben orientierte Karl May, der Schriftsteller, darf nicht rachsüchtig sein, will er sich nicht seiner christlichen Leitlinien begeben - die natürlichen primitiven Regungen in ihm aber bedürfen ganz selbstverständlich des Ventils.

   Er gesteht unumwunden ein, daß er, kaum durch Gottes Gnade vom Untergang gerettet, schon wieder keck die Nase hebt und dazu neigt, sich für mehr auszugeben, als er ist: Halef ist wie Kara Ben Nemsi auf Omar als Retter angewiesen, doch ohne Zögern verlangt er zunächst, von Omar mit »Hadschi« angeredet zu werden - Mays unerfreuliche Neigung, sich als Doktor, als Weitgereister, als Sprachgelehrter auszugeben, um Eindruck zu schinden, sich aufzuspielen. Aber Halef fügt sich dann schnell wie Kara Ben Nemsi dem Wegekundigen und geht unverdrossen die ganze Nacht hindurch, um festes rettendes Land zu erreichen - die hier innewohnende Allegorie erläutert sich selbst.


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Der Übeltäter wird bis Kbilli verfolgt und dort als Gast des Statthalters angetroffen; ihm glaubt dieser Wekil aus lauter Bequemlichkeit viel lieber als dem armen Karl May - aufgespalten in Kara Ben Nemsi, Halef und Omar Ben Sadek -, der auf Gerechtigkeit pocht. Heinz Stolte hat früher bereits eindringlich geschildert, wie Karl May hier in einem Prozeß der "Umkehrung" auf dem Papier die eigene Schuld aus vergangenen Tagen von sich wälzt und die anderen schuldig macht, indem er sich zum Helden Kara Ben Nemsi erhebt, dem Sinnbild der Lauterkeit. Ja, das Geschehen in Kbilli ist eine kräftige Abrechnung mit den lokalen Mächtigen, die einst Karl May aus der Bahn drängten: Der Wekil, der kaltschnäuzig Kara Ben Nemsis Paß einbehält, verkörpert in sich den Seminardirektor von Waldenburg, der als erster den Jüngling May seiner Legitimation beraubte, indem er ihn aufgrund der Anschuldigungen zweier Mitschüler wegen Diebstahls relegierte(58); verkörpert den Gendarm, der den Jüngling im Besitz der Uhr ertappte, und den Richter, der ihn zur ersten Haftstrafe verurteilte und ihm damit die Legitimation als Lehrer nahm(59); und verkörpert so manchen anderen Gesetzesvertreter, der den Straftäter Karl May festnahm und verhörte. Und in Hamd el Amasat, dem lügnerischen "Zeugen", erstehen schattenartig die Mitschüler, die den Kerzendiebstahl entdeckten, und der Buchhalter, der May als Dieb anzeigte, und die vielen Betrogenen, die er wirklich schädigte und die dann zur Polizei liefen; und erstehen wohl auch die wahrscheinlich zur objektiven Schilderung eines nicht alltäglichen Sachverhaltes nicht fähigen Landbewohner aus Niederwürschnitz und Nachbarschaft, deren Aussagen Karl May seine Verurteilung in der Affäre Stollberg verdankte. Sie alle sind schuldig an Karl May. Aber Karl May wird als Kara Ben Nemsi mit ihnen allen fertig. Denn das ist seine Waffe: daß er sein Ich herausputzen kann als alles Dunkle überstrahlende Siegesmacht und es auch erstehen lassen kann in vielerlei Gestalten unterschiedlichster Färbung - die er mit dem heraufbeschworenen Strahlen konfrontiert und die dann ganz entsprechend ihren Bosheiten oder ihren Verdiensten behandelt werden.


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Hamd el Amasat entkommt noch einmal, weil Justitia scheinbar ihr Haupt verhüllt, weil die Zeit noch nicht reif ist für seine Aburteilung, weil Karl May noch beträchtliche innere Prozesse durchlaufen muß,


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um sich klarzuwerden, zu welcher seelischen Einstellung in bezug auf Vergeltung an den persönlichen Widersachern und endgültiger Abrechnung mit dem eigenen dunklen Ich er sich durchringen soll. Omar Ben Sadek, das Teil-Ich mit Rachegelüsten, verläßt zeitweilig die Szene, damit der Mensch und Schriftsteller Karl May weiter reifen kann; Halef, der Impulsive, und Kara Ben Nemsi, der Verständige, setzen die Reise ins lockende Unbekannte, die sich fortgesetzt als "Reise ins Innere" (Stolte) erweist, unverdrossen fort.

   Nicht ohne einen leichten ironischen Blick rückwärts zu werfen - und den aufquellenden Spott alsbald gegen eine bittere Zwischenerkenntnis einzutauschen: Durch den Wekil von Kbilli und sein rechthaberisches, auf Komplimente erpichtes Weib hindurch schimmert etwas vom windigen, unlauteren Herrn Münchmeyer und seiner herrschsüchtigen Pauline, die beide dem Herrn Redakteur schöntaten, ihn aber nicht einfangen konnten. Und da gefriert das Bild: Im Wekil von Kbilli lebt, neben vielen anderen, auch die Vision eines Karl May, wie er sein könnte: ohne Initiative, isoliert, auf gelegentliche Kontakte mit unangenehmen Zeitgenossen angewiesen, damit etwas Würze in sein Dasein kommt, aufgeblasen von der Überzeugung der eigenen Wichtigkeit, doch in Wirklichkeit ein ewig Subalterner. Und zu diesem Mann paßt das stimmgewaltige Weib, das ihn beherrscht. Oh du beglückende Pantoffelherrschaft, dein Zepter ist ganz dasselbe im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen!(60) sagt Karl May launig - und doch geduckt. Denn diese Frau ist nicht nur Phantasiegestalt; sie ist Wirklichkeit. Der Gefahr der Pantoffelherrschaft hat er sich ausgesetzt in der Verbindung mit Emma; seine Frau ist wie die Wekila immer bereit, im unpassenden Moment ihre Funktion zur Geltung zu bringen, den im inneren Ringen mit den Stimmen der Vergangenheit befindlichen Mann abzulenken oder mit ihm zu schelten. Mit dieser Erkenntnis muß Karl May leben. Er verschafft sich beschwingenden Ausgleich, indem er als Kara Ben Nemsi aufbricht zu neuen kühnen Taten . . . 


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Gewaltig und weitreichend spannt sich über Land und Meer und Zeit hinweg der Bogen der äußeren und inneren Handlung, der vom Anfang zum Ende, vom Schurken Hamd el Amasat zum Schurken Hamd el Amasat führt. Die Gestaltung der Gesamthandlung der sechsbändigen Orienterzählung läßt ein klares schriftstellerisches Konzept erkennen; die einzelnen Episoden dienen, jede für sich, dem Werden und Reifen des Helden und dem Anwachsen seiner Befähigung, es mit Wi-


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derständen aller Art und Widersachern allen Kalibers erfolgreich aufzunehmen.(61) Die weiträumige Ausdehnung des Bogens, die auch einen langen Zeitraum umspannt(62), dient dem Autor dazu, klarsichtig zu werden. Hamd el Amasat ist der erste Schurke, der dem Leser begegnet; er ist auch der letzte in der Kette all der Bösewichter, deren Schicksal sich in dieser Erzählung erfüllt. Die innewohnende Absicht des Autors ist unverkennbar. Von der Ursprungs-Schuld zur endgültigen Sühne führt der Riesenbogen.

   Omar Ben Sadek ist im Laufe der Handlung wieder aufgetaucht. Noch immer sucht er den Mörder seines Vaters. Zum verbissenen Einzelgänger ist er geworden. Ließe Karl May diesen Omar, diesen gemütsbelasteten Grübler, allein das in treuer Seelengemeinschaft dahinziehende Gespann Kara Ben Nemsi/Halef begleiten, so wäre die Gefahr der Disharmonie, der Eifersüchtelei, der Fehlreaktion bei jedem einzelnen gegeben, weit brisanter als im Falle der harmlos-naiven Eifersucht Halefs auf Sir David Lindsay. Der Autor stellt daher dem Bluträcher Omar flugs einen Gleichgesinnten an die Seite, Osko, der den Bruder Hamd el Amasats verfolgt. So ist die innere Gewichtung geradegerückt; der ältere, bedächtige Mann wirkt wohltuend ein auf den jungen Beduinen, der sich immer weiter von seiner Heimat entfernt(63) - so wie Karl May sich im Verlaufe des heilkräftigen Niederschreibens seiner "Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche" immer weiter entfernt hat von den Niederungen seiner Seele . . . 


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Die Konfrontation Omar Ben Sadeks mit Hamd el Amasat(64) ist die nach vielen Jahren des inneren Reifeprozesses vollzogene geistige Auseinandersetzung mit dem Buchhalter in Altchemnitz, dem Unglücksbringer, und allen ähnlichen Widersachern Karl Mays - und ist zugleich der humane und doch in grandioser Schrecklichkeit allumfassende Sieg des Geläuterten über das äußere und innere Böse. Indem Karl May mit Hamd el Amasat als dem Ausbund der Schlechtigkeit ins Gericht geht, erfüllt er zu guter Letzt den eigenen Anspruch wie den Anspruch des Lesers auf ausgleichende Gerechtigkeit und wahrt dennoch - statt sich den primitiven Instinkten zu beugen - die Forderung christlicher Moral, auch dem Sünder die Chance zum tätigen Bereuen einzuräumen. Omar Ben Sadek, der arme Wüstensohn, der nur dank eigener Tüchtigkeit Ansehen bei Freunden und Fremden erworben hat, den Oskos ritterlich-kämpferisches Betragen dem Feind gegenüber nicht unbeeindruckt ließ, und dessen Gemüt im Umgang mit dem


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bei aller Tapferkeit, bei allem Mannesmut stets unbeirrbar christlich handelnden Kara Ben Nemsi zugänglich wurde für Sinngebungen, die jenseits der simplen Forderung "Leben um Leben" wirkungsvolle Vergeltung erkennt, dieser Omar Ben Sadek alias Karl May vernichtet das Böse, indem er es blendet und zum Dahinstolpern in Finsternis verurteilt. So straft Karl May im Geiste alle, die ihm Übles taten: er schickt sie in die Finsternis, die ihn als Kind umgab. Blind zu sein, wieder blind zu werden, war ihm, dem als Vierjährigen glücklich Geheilten, eine der schauerlichsten Vorstellungen überhaupt. Indem er die persönlichen Gegner und auch das eigene in ihm lauernde Häßliche zum Wandeln in ewiger Dunkelheit verbannte, ließ er der Kreatur das Leben und die Chance, um der Erhaltung dieses Lebens willen von jeder weiteren bösen Tat Abstand zu nehmen; und zu gleicher Zeit schloß er das stets auf Böses ausgerichtet Gewesene permanent aus von der erleuchtenden Gnade, die dem Unschuldigen wie dem wahrhaft tatkräftig Reuigen vom Himmel zuteil wird. Das dem Gotteswalten und dem glauben an Engelswirken zugewandte positive Gemüt des Kindes Karl May war der Gnade teilhaftig geworden; das, was je in ihm rumort hatte an Schändlichem, versank mit Hamd el Amasats Blendung in ewige Nacht. Und damit auch der Wunsch, Rache zu nehmen an denen, die ihn, Karl May, der bürgerlichen Gesellschaft entfremdeten: Sie alle waren blind in ihrem Tun, blind wie er sie jetzt zurückließ; vom Buchhalter angefangen, wußten sie nicht, was sie bewirkten, als sie ihn ausstießen.(65) Aus ihrer Schuld an ihm war unvorhergesehen Verheißung von Glück geworden. Er hatte unter viel befriedigenderen Aspekten als damals den Weg in diese Gesellschaft zurückgefunden und sich erfolgreich in ihr etabliert. Mit dem Sieg auf den Höhen des Schar Dagh glaubte Karl May damals frei zu sein von allem inneren Druck. Aber nicht erhaben über seine Verfehlungen, Irrtümer und Mängel. Nach der Abrechnung mit Hamd el Amasat steht der Erzähler in sich gekehrt in der lautlose(n) Morgenstille(66): Das war der geeignete Ort zum lnsichschauen; aber je tiefer der Blick nach innen dringt, desto mehr sieht man ein, daß der Mensch nichts ist, als ein zerbrechliches Gefäß, mit Schwächen, Fehlern und - Hochmut gefüllt!(67) Bilanz einer Reise ins Innere, eines literarischen Streifzuges durch Allzumenschliches . . . 


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Nur ein winziges Bruchstück aus der großen Erzählung "Giölgeda padishanün - Durch das Land der Skipetaren - Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche" wurde vorgestellt, um Karl Mays treffsichere


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Führung des äußeren wie inneren Bogens herauszuarbeiten, das inneliegende Thema Schuld-und-Sühne als Leitmotiv der Gesamterzählung zu kennzeichnen. Wenige Szenen nur, denen hier längere Betrachtungen gewidmet wurden, wenige Seiten von über 3 600 Buchseiten, im Versuche, aufzuzeigen, wieviel bedeutsame Innenschau der Autor hat einfließen lassen, wieviel an Erkenntnissen über seine Gestaltungskraft bei der Bewältigung all seiner Ängste und Probleme sich in der Analyse erschließt, wird sie "mit anderen Augen"(68) vorgenommen, mit der Sicht, die Karl May selber einnahm - ob unbewußt oder bewußt -, dabei instinktiv sicher geleitet von den mächtigen schöpferischen Kräften seiner Seele.

   Ich glaube fest, daß diese Betrachtungsweise des Werkes Karl Mays über die nie endende Freude an der immer wieder spannenden Lektüre hinaus Einsichten vermittelt, die den Autor als einen der ganz großen Schilderer von Verstrickung und Erlösung erweisen. Es soll meine Aufgabe sein, im Bemühen um Darlegung der maßgeblichen inneren Antriebskräfte Karl Mays, die Kette der Ereignisse zwischen dem Schott el Dscherid und dem Schar Dagh als verkleidete Schilderung seiner Straftaten und seiner Reue, seiner ersten Ehejahre und seines Aufbegehrens gegen die Tätigkeit für Heinrich Münchmeyer nachzuweisen zu versuchen. Welch eine Menge von Vermutungen und Fragen! . . . Ich bitte um Geduld; wir haben ja Zeit; wir sind erst im Beginn . . . Wer Mut hat, gehe mit; . . . der Weg . . . ist nicht leicht und führt über jene Stelle, jenseits der nur noch innere Ereignisse Geltung haben (69) - Ich richte mich danach.

(Das Thema wird, über diesen Vortrag hinaus, in künftigen Jahrbüchern weiterbehandelt.)



1 Nach dem Stand vom Sommer 1981. Diese am 13. Juli 1981 fernmündlich übermittelte freundliche Auskunft verdanke ich Frau Schmid vom Karl-May-Verlag Bamberg

2 Klaus Hoffmann: Der Lichtwochner . . . , in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1976. - Mays eigene, hiervon abweichende und mehrere Schutzbehauptungen enthaltende Darstellung siehe in: Karl May: Mein Leben und Streben (künftig hier: Leben). Reprint der 1. Aufl. (1910), Olms Presse Hildesheim 1975, S. 100- 102

3 Leben, S. 103-107

4 Zu den einzelnen Delikten siehe die ausführlichen Darstellungen von Claus Roxin (Vorläufige Bemerkungen . . . , in: Jb-KMG 1971); Klaus Hoffmann (Zeitgenössisches . . . , in: Jb-KMG 1971, Karl May als »Räuberhauptmann« . . . , in: Jb-KMG 1972/73 und 1975); Hainer Plaul (Auf fremden Pfaden? . . . , in: Jb-KMG 1971; Alte Spuren . . . , in: Jb-KMG 1972/73). - Die Karl May bei seiner Flucht am 26. Juli 1869 angelastete Gewaltanwendung (Zerbrechen der eisernen Bretze = Hand-


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schelle) ist ganz untypisch für ihn und mag eine Schutzbehauptung des von May düpierten Polizisten gewesen sein. Dennoch ist eine an Verzweiflung grenzende Keckheit Mays nicht auszuschließen, und mutmaßlich hat May selbst in seiner phantasiereichen Vorstellungswelt die Tat weidlich ausgeschmückt. - Sehr wenig glaubhaft - weil durch kein anderes bekanntgewordenes Dokument belegt - erscheint die in damals verbreiteten Steckbriefen enthaltene Behauptung einer Geschlechtskrankheit Mays (Jb-KMG 1971, S. 116-117; ähnlich in "Der große Karl-May-Bildband . . . " Olms Presse 1978, S. 59). Der Ärger der Behörden über das Entweichen des langgesuchten »infamen Subjectes« mag sehr wohl zu entstellenden bzw. auf Abschreckung hilfsbereiter weiblicher Wesen abzielender Angaben geführt haben. Mays Möglichkeiten zu erfolgreicher Beschwerde gegen unzutreffende Behauptungen durften sehr gering gewesen sein.

5 Hierzu auch Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach . . . , in: Jb-KMG 1978

6 Hainer Plaul: »Besserung durch Individualisierung« . . . in: Jb-KMG 1975, ders.: Resozialisierung durch »progressiven Strafvollzug« . . . , in: Jb-KMG 1976

7 Grundlegend hierzu Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung . . . «, in: Jb-KMG 1972/73; Kurt Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays . . . . in: Jb-KMG 1978

7a Vgl. Hainer Plaul: Ererbte Imagination . . . , in: Jb-KMG 1981

8 Vgl. Hainer Plaul: Redakteur auf Zeit . . . , in: Jb-KMG 1977

9 Karl May: Ein Schundverlag und seine Helfershelfer, Band I. Privatdruck 1905 (als Torso erhalten), S. 283-284

10 Leben,S. 182-183

11 Leben S. 221ff., auch in Jb-KMG 1976, S. 242ff. - Vgl. auch Josef Höck/Thomas Ostwaid: Karl May und Friedrich Gerstäcker, in: Karl-May-Jahrbuch 1979. Karl May-Verlag Bamberg/A. Graff Braunschweig

12 Leben, S. 187ff. - Ferner Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichts III in Berlin (Privatdruck 1911), S. 53ff. - Walther Ilmer: Nachworte zu den Faksimile-Reprints (aus "Deutscher Hausschatz") "Die Felsenburg"/"Krüger Bei"/ "Die Jagd auf den Millionendieb"/"Im Reiche des silbernen Löwen". KMG/Pustet Regensburg, 1980, 1981, und die darin angegebenen Quellen

13 Erich Schwinge: Karl Mays Bestrafung wegen Amtsanmaßung (Fall Stollberg), in: Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Karl-MayVerlag Bamberg 1973

14 Hans Wollschläger, wie bei Anm. 7, S. 13

15 So u. a. in seiner Einführung zum Faksimile-Reprint (aus "Deutscher Hausschatz") "EI Sendador". KMG/Pustet Regensburg 1979

16 Im Brief vom 6. Oktober 1905 an Hans Möller, zitiert bei Claus Roxin: »Dr. Karl May genannt Old Shatterhand« . . . , in: Jb-KMG 1974, S. 62

17 Karl May im Brief vom 4. April 1901 an Heinrich Kirsch, faksimiliert in Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG), Nr.2, Dezember 1969

18 Leben, S. 228

19 Ebd. S. 226

20 Ebd. S. 139

21 Ebd. S. 209

22 Ebd.S. 211

23 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere . . . , in: Jb-KMG 1975

24 Ders.: Die Affäre Stollberg . . . , in: Jb-KMG 1976

25 Faksimile-Reprint aus "Deutscher Hausschatz", wie bei Anm. 12 und 15. KMG/Pustet Regensburg 1977

26 Wie Anm.25, KMG/Pustet Regensburg 1978

27 Wie Anm.25, KMG/Pustet Regensburg 1978

28 Im Jb-KMG 1971

29 Wolf-Dieter Bach: Sich einen Namen machen, in: Jb-KMG 1975

30 Karl May: Durch die Wüste, Bd.1 der Gesammelten Reiseerzählungen. Freiburg, S. 1 (künftig hier: Wüste); Karl May: Giölgeda padishanün - Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche, Deutscher Hausschatz. Pustet Regensburg, VII. Jahrgang,


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1880- 1881 (künftig hier: DH VII), S. 254 linke Spalte (li). - Siehe zu diesem Dialog auch die Ausführungen von Helmut Schmiedt in seinem Buch "Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers". Hain, Königstein Ts., 1979,S 209-212

31 "Hochstapler" wird von mir hier als pauschale Beschreibung, in der volkstümlichen Manier, ohne Einschluß aller Prägemerkmale, verwendet. Daß May kein krimineller Hochstapler im exakten Sinne scharf abgegrenzter Charakteristika war, belegt Claus Roxin in seiner Abhandlung "Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays", in: Jb-KMG 1971.

32 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere . . . , Jb-KMG 1975, S. 25

33 Die Namenswahl Paul Galingré ist - im Hinblick auf die Französisch-Kenntnisse Mays - eine der verblüffendsten Leistungen des Unterbewußten oder vielleicht gar Durchschauten "Paul" enthält Anklänge an "Karl", Paul(us) war, bevor er fromm wurde, der Sünder Saul(us), "Karl" steckt klanglich auch in "Gal"; "linge" bedeutet neben mancherlei anderem auch »Dreckspatz« oder »Schlappschwanz«, und zu den zahlreichen Bedeutungen von "gre" gehören »Willkür«, »eigenes Ermessen«. Alles in allem der negative, arbeitsscheue Nonkonformist Karl, der nur dem eigenen Gutdünken folgt und sich der Willkür des Schicksals aussetzt; zugleich der um innere Wandlung Bemühte, der sich durch Leistung vom Ruch des Versagers befreien will.

34 Leben,S. 17-18

35 Karl May: Der Schut, Bd. 6 der Ges. Reiseerzählungen. Freiburg, S. 475-478. Karl May: Durch das Land der Skipetaren - Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreich, DH XIV, 1887-1888, S. 724 rechte Spalte (r) bis S. 726 li. - Die Szene könnte von May bereits bei der Niederschrift von "Giölgeda padishanün" (= "Durch die Wüste") vorskizziert worden sein, um die erforderliche Eindringlichkeit des Tons zu treffen.

36 Karl May: An die 4. Strafkammer . . . , wie bei Anm. 12, S. 59

37 Wüste, S. 16, DH VII, S. 269 li

38 Der Schut, S. 476; DH XIV, S. 724 r. - Soweit hier die Illusion über das eheliche Glück aufrechterhalten wird, ist es unerheblich, ob May die Aussage bereits 1880 zu Papier brachte und erst Jahre später in die Gesamterzählung einfügte, es stand ihm frei, sich jeweils nach Belieben zu äußern. - In »pouillet« stecken, unter Berücksichtigung unerheblicher Buchstaben- und Lautverschiebungen, sowohl »sehr arm; armselig; erbärmlich« als auch die zwischen Karl und Emma gebräuchliche Kosebezeichnung »Hühnlichen«.

39 Fritz Maschke, wie bei Anm. 13. S. 21. - Walther Ilmer: Nachwort zum Faksimile Reprint (aus "Deutscher Hausschatz") "Im Reiche des silbernen Löwen", KMG/Pustet Regensburg 1981

40 Leben, S. 195. - Karl May: An die 4. Strafkammer . . . , wie bei Anm. 12, S. 59

41 Leben, S. 190

42 Wüste, S. 42; DH VII, S. 255 r

43 Klaus Hoffmann: Nach vierzehn Tagen entlassen. Karl Mays zweites Delikt. In: Jb-KMG 1979

44 Mays durchaus zwiespältige Einstellung zu seiner Ehe - die ihm ja Pflichten auferlegte - spiegelt sich auch in der scheinbar nur komischen, bei näherer Betrachtung aber ins Fatalistische reichenden Schilderung des jeweils unerwarteten Zustandekommens der Ehen von Halefs Großvater und Vater während ihrer Pilgerfahrt: diese Eheschließung lenkte vom eigentlichen Ziel ab und verhinderte den Erwerb des Ehrentitels Hadschi. May mußte als Ehemann Emma versorgen und nun erst recht für den reinen Broterwerb tätig sein an seine ernsthafte geistige Weiterbildung der Art, durch die May sich etwa dem Wissens- und Kenntnisstand wirklich »Studierter« hätte annähern können, war nicht mehr zu denken. (Der heißersehnte »Doktor«-Titel sollte immer ein Traum bleiben.) - Auch Halef wird, als Pilger, unverhofft Ehemann und dieserhalb von Kara Ben Nemsi verspottet: May konnte das Thema nicht ruhen lassen. (Dieser Aspekt wird in einem späteren Beitrag noch im einzelnen zu behandeln sein ) Sehr aufschlußreich ist dabei einmal das Einbringen des gefangenen und doch beweglichen Teufels als Hochzeitsgeschenk für Hanneh und Halef


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und zum anderen Mays Verschleiern, ob Halef in Mekka sämtliche vorgeschriebenen Pilgerpflichten erfüllt hat. - Daß Halef - als Mays Alter ego - im weiteren Verlauf der Erzählung sich erneut Kara Ben Nemsi anschließt und nicht bei Hanneh bleibt, obwohl er sie liebt, ist die Spiegelung der Fluchtbewegung Mays aus der selbstauferlegten Gefangenschaft in die Welt des (Schriftsteller-) Abenteuers, das die eigenen inneren Kämpfe schildert.

45 Natürlich ist es denkbar, daß Emma Pollmer in der Tat einen ähnlichen Ring von ihrer Mutter her besaß.

46 Wüste, S. 21, DH VII, S. 270 li

47 Insoweit ist z. B. auch die Erwähnung des Taschenbuches Paul Galingrés überflüssig da es dem Zugriff des Helden sofort verlorengeht, anstatt ihm z B. - und sei es auf dem Umwege über einen anderen Menschen, der später die vom Helden nicht deutbaren Stenographiezeichen liest - eine bedeutungsvolle Botschaft zu übermitteln derlei hätte sich wirkungsvoll einbeziehen lassen. May verzichtet jedoch darauf (Wüste, S. 24-25, DH VII, S. 2711i) - ein Umstand, der sich auch nur im Lichte der maßgeblichen inneren Vorgänge erklären läßt. M. E. nahm May hierbei im Geiste Abschied von dem einst aufgestellten "Repertorium C. May" (Jb-KMG 1971, S 132-143) und der darin enthaltenen Titelliste und Skizzensammlung er war den damaligen Gedankenströmungen sowohl entwachsen als auch entfremdet, hatte zu einer ganz anderen - und besonderen - Art der Gestaltung gefunden Die Wiederbelebung einiger der im "Repertorium" angedeuteten Einfälle im Zuge der fünf Münchmeyer-Romane steht nicht der Annahme entgegen, May habe sich vorher von seinen alten Plänen lösen wollen.

48 Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« . . . , in: Jb-KMG 1972/73, S.

49 Wüste, S. 28; DH VII, S. 271 r

50 Die harte Konfrontation hie Christentum, dort Islam ist bei May stets allegorisierend aufzufassen. Er war kein Zelot; der islamische Glaube hatte für ihn nichts Heidnisch-Schimpfliches. Doch nur das Christentum war für May die Basis für edelmenschliches Handeln; daher stellte er es über die anderen Religionen. Auch gab die ständige offene Betonung seiner Glaubensgrundsätze ihm die Gewißheit, ernsthaft um Gottes Gnade bemüht zu sein.

51 Rainer Jeglin: Karl May und die Armenier . . . , in: M-KMG Nr. 7 und Nr. 8, beide 1971

51a Die Alliteration Altchemnitz /Amasat /Armenier liegt auf der Hand. Leider ist der Name des Buchhalters nicht überliefert.

52 Wüste, S. 27; DH VII, S. 271 r

53 Wüste, S. 26, DHVII,S. 271r

54 Walther Ilmer: Karl May auf halbem Wege . . . , in: Jb-KMG 1979, S. 243-244

55 Wüste, S. 49, DH VII, S. 298 li

56 In dem von Kara Ben Nemsi aus prekärer Lage befreiten Henri Galingré steckt allerdings auch etwas von Heinrich Münchmeyer, den May mittlerweile dank "Waldröschen" etc. aus mißlichen Verhältnissen gerettet hatte, und insoweit lebt im »Disponenten« Hamd el Amasat auch jenes Münchmeyer-Faktotum August Walther, dem May mißtraute.

57 In diesem Lichte ist der seinerzeitige objektive Tatbestand einschließlich der Person und des Charakters des Buchhalters ohne Belang. Es geht nur darum, wie Karl May wahrscheinlich die Angelegenheit sah und sich mit ihr rückschauend auseinandersetzte.

58 Klaus Hoffmann: Der Lichtwochner . . . , wie bei Anm.2. - Auch hier ist entscheidend, wie May für sich die Angelegenheit sehen wollte, nicht, wie sie sich wirklich abspielte.

59 Vgl. hierzu die Konfrontation des Ich-Helden mit »Major« Cadera in "Am Rio de la Plata", analysiert von Claus Roxin in seiner Einführung zu "El Sendador" - bei Anm. 15 - und vom Verf. in dem in Anm. 54 genannten Beitrag (Jb-KMG 1979, S. 252-253).

60 Wüste, S. 82; DH VII, S. 304 r


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61 Die im Gesamtwerk Mays so wesentlichen staunenswerten Heldentaten Kara Ben Nemsis und Old Shatterhands wurzeln u. a., wenn auch nicht maßgeblich, in einem heimlichen Bedürfnis des Autors, die eigene geringe Körpergröße (1,66 m) durch erdachte Leistungen zu kompensieren.

62 Selbst wenn Karl May die große Orienterzählung sozusagen "in einem Zuge durch" geschrieben und nicht zwischenhinein die Münchmeyer-Romane "Das Waldröschen" usw. verfaßt hätte, müßte allein schon wegen der reinen Schreibleistung eine beträchtliche Zeitspanne angenommen werden.

63 Daß ausgerechnet Omar es ist, der in Stambul Abrahim Mamur tötet, wiewohl es für ihn eigentlich keinen persönlichen Anlaß gibt, sich an diesem Manne zu vergreifen, ist m. E. die Spiegelung besonderer und förmlich brodelnder innerer Vorgänge in Karl May: Karl entledigt sich als Omar einmal der negativen Vaterfigur, d. h. all dessen, was ihn an Heinrich May und an den von diesem ererbten Eigenschaften stört eine sowohl vom Willen wie auch von unkontrollierten Reflexen diktierte, natürlich aber nur in der Phantasie vollzogene Tat; Gewalttätigkeit gegen den Vater stand dem Sohn nicht zu. Es ist die Umkehrung des Mordes an Galingré senior in Algier durch Hamd el Amasat: Dort fällt der Gute dem Bösen zum Opfer, in Stambul der Böse dem Guten. - Zum anderen lebt hier das Erinnerungsbild an die hochfahrende Behandlung, die der von Emma geblendete Karl May dem alten Christian Pollmer angedeihen ließ. - Zum dritten nimmt May hier im Geiste Rache an H. G. Münchmeyer für dessen ungehöriges Umschwärmen Emmas während der "Waldröschen"- Entstehung - eine Rache, die eines Karl May unwürdig war. - Und viertens ist Omars jähe Aktion in Stambul eine Art Generalprobe auf dem Wege des Autors zur endgültigen Überwindung seiner Visionen von Vergeltung zugunsten Karl Mays: Die Tat in Stambul ist praktisch Mord, die Abrechnung im Schar Dagh ein Zweikampf . . . 

64 Der Schut, S. 521-526, DH XIV, S. 746, 747 li

65 Vgl. hierzu Mays Schilderung seiner Wiederbegegnung mit dem Buchhalter in: Leben, S. 107- 108. Dort bittet der Buchhalter den stellungslos gewordenen Karl May um Verzeihung. Den Gegenpol hierzu bildet die auf beide Identitäten, May und Widersacher Buchhalter, anwendbare Schilderung der letzten Begegnung Kara Ben Nemsis mit Hamd el Amasat: Kaum hörte der Verletzte (!) meine Stimme, so schleuderte er mir Flache und Verwünschungen entgegen, welche mich augenblicklich umkehren ließen. (Der Schut, S. 526; DH XIV, S. 747 li)

66 Der Schut, S. 526; DH XIV, S. 747 li - Die Vermutung drängt sich auf, May habe in der Tat die Szene in den frühen Morgenstunden, wahrscheinlich nach durcharbeiteter Nacht, zu Papier gebracht. Wenn er beim Schreiben die Sonne aufgehen sah, ist es erklärlich, daß dies sofort im Werk Eingang fand. Zu dieser Annahme paßt auch die Erwähnung des frühen Morgengrauens (Der Schut, S. 489; DH XIV, S. 729 li). (Die Sichtverhältnisse in diesem frühen Morgengrauen konnten jedoch nicht die bei der Verfolgung des Schut und Hamd el Amasats erforderlichen Beobachtungen ermöglichen. Insoweit ging hier die aus dem Dramatischen angeheizte Phantasie mit May durch.)

67 Der Schut, S. 526; DH XIV, S. 747 li

68 "Karl May mit anderen Augen. Die Reiseerzählungen als Spiegel der Biographie. Versuch einer Rekonstruktion seelischer Vorgänge" ist der Titel eines vom Verfasser dieses Beitrages vorbereiteten Buches, worin die Einzelanalysen zusammengestellt werden und das den Spiegelungen zugrundeliegende "System" näher erläutert wird.

69 Karl May: Nachwort zu "Winnetou III", Bd.9 der Ges. Reiseerzählungen. Freiburg, ab 41. Tsd. (1904).


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